Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Fragestellung, wie es für manche Jugendliche im Anschluss an eine betreute Unterbringungsform nach §34 KJHG weiter gehen soll und kann. In vielen Fällen bekommen sie (meist aus Kostengründen) mit 16 oder 17 Jahren eine eigene Wohnung zugewiesen und müssen aus dem gewohnten Umfeld ausziehen, Tendenz steigend. Die Finanzierung diesbezüglich sieht in Hamburg wie folgt aus: ein Wohngruppenplatz wird durchschnittlich monatlich vom Jugendamt mit 3000 Euro vergütet. Die Unterbringung in einer eigenen Wohnung mit einer ambulanten sozialpädagogischen Betreuung kostet weitaus weniger. Eine Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes gibt dazu Auskunft: „Der Anteil der in einer eigenen Wohnung sozialpädagogisch unterstützen Jugendlichen und jungen Erwachsenen stieg von 2% auf 5% (1500)“ (vgl. Statistisches Landesamt 2001). Und weiter unten:
„Diese Entwicklung zeigt, dass Jugendämter immer häufiger junge Menschen im Rahmen der notwendigen Jugendhilfeleistungen in Eigenverantwortung einbinden, indem sie entweder in Wohngruppen oder in einer eigenen Wohnung betreut werden, anstatt im Heim, der traditionell bevorzugten Unterbringungsform“ (ibid.).
Wie sieht das persönliche Umfeld dieser Jugendlichen aus? Wie viel Unterstützung bekommen sie? Gibt es genügend Rückhalt? Haben sie alle Kompetenzen erlernt, um das Alleinleben zu schaffen? Oder vereinsamen und verwahrlosen sie?
INhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definitionen
2.1 Soziale Netzwerke
2.2 Soziale Integration
2.3 Soziale Unterstützung
2.4 Positive vs. negative Auswirkungen sozialer Unterstützung
3. Jugend
3.1 Definition Jugend
3.2 Lebensphase Jugend aus psychologischer Sicht
3.2.1 Psychosoziales Modell nach Erikson
3.2.2 Lerntheoretisches Modell nach Havighurst
3.2.3 Zusammenfassung
3.3 Lebensphase Jugend aus soziologischer Sicht
3.4 Lebensphase Jugend im Wandel
3.4.1 Peer-group
3.4.2 Eventuelle Probleme innerhalb und mit einer Peer-group
3.4.3 Flexible Hilfen: Entwicklung, Definition und pädagogischer Ansatz
3.5 Zusammenfassung und Ausblick auf die weitere Arbeit
4. Untersuchungsplanung
4.1 Fragestellung und Zielsetzung
4.2 ProbandInnenauswahl
4.3 Erhebungsmethode – Forschungsansatz nach SONET –
4.3.1 Aufbau des Interviews
4.3.2 Interviewleitfaden
4.4 Auswertungsstrategien
5. Durchführung der Studie
6. Durchführung der Datenerhebung
7. Datenaufbereitung
7.1 Die Jugendlichen
- Lars, 20 Jahre
- Natascha, 16 Jahre
- Ralf, 20 Jahre
- Stefan, 16 Jahre
- Manuela, 20 Jahre
- Sören, 17 Jahre
- Nil, 19 Jahre
- Natalie, 16 Jahre
7.2 Die Netzwerke
- Individuelles Netzwerk von Lars
- Individuelles Netzwerk von Natascha
- Individuelles Netzwerk von Ralf
- Individuelles Netzwerk von Stefan
- Individuelles Netzwerk von Manuela
- Individuelles Netzwerk von Sören
- Individuelles Netzwerk von Nil
- Individuelles Netzwerk von Natalie
7.3 Netzwerke im Vergleich
7.3.1 Soziographische Merkmale
7.3.2 Netzwerkpersonen aus verschiedenen Lebensbereichen
7.3.2.1 Herkunftsfamilien
7.3.2.2 Nachbarn
7.3.2.3 Arbeitskollegen und MitschülerInnen
7.3.2.4 BetreuerInnen
7.3.2.5 Gute FreundInnen
7.3.2.6 Gute Bekannte
7.3.2.7 Ambivalente und belastende Beziehungen
7.3.2.8 Gelegentliche und oberflächliche Kontakte
7.3.3 Unterstützungsressourcen
7.3.3.1 Erhaltene Unterstützung
7.3.3.2 Potentielle Unterstützung
7.4 Bezug zu Ergebnissen anderer Untersuchungen
8. Schlussbetrachtung
9. Literaturverzeichnis
Anhang A – C
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Fragestellung, wie es für manche Jugendliche im Anschluss an eine betreute Unterbringungsform nach §34 KJHG[1] weiter gehen soll und kann. In vielen Fällen bekommen sie (meist aus Kostengründen) mit 16 oder 17 Jahren eine eigene Wohnung zugewiesen und müssen aus dem gewohnten Umfeld ausziehen, Tendenz steigend. Die Finanzierung diesbezüglich sieht in Hamburg wie folgt aus: ein Wohngruppenplatz[2] wird durchschnittlich monatlich vom Jugendamt mit 3000 Euro vergütet. Die Unterbringung in einer eigenen Wohnung mit einer ambulanten sozialpädagogischen Betreuung kostet weitaus weniger. Eine Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes gibt dazu Auskunft: „Der Anteil der in einer eigenen Wohnung sozialpädagogisch unterstützen Jugendlichen und jungen Erwachsenen stieg von 2% auf 5% (1500)“[3] (vgl. Statistisches Landesamt 2001). Und weiter unten:
„Diese Entwicklung zeigt, dass Jugendämter immer häufiger junge Menschen im Rahmen der notwendigen Jugendhilfeleistungen in Eigenverantwortung einbinden, indem sie entweder in Wohngruppen oder in einer eigenen Wohnung betreut werden, anstatt im Heim, der traditionell bevorzugten Unterbringungsform“ (ibid.).
Wie sieht das persönliche Umfeld dieser Jugendlichen aus? Wie viel Unterstützung bekommen sie? Gibt es genügend Rückhalt? Haben sie alle Kompetenzen erlernt, um das Alleinleben zu schaffen? Oder vereinsamen und verwahrlosen sie?
Vor dem Hintergrund dieser Fragen erfolgt eine empirische Untersuchung, um die sozialen Netzwerke der in Frage kommenden Jugendlichen zu erforschen.
Hierbei bildet der Definitionsteil unter Punkt 2 eine wichtige Grundlage, um im Vorwege eine Klärung der Begriffe des sozialen Netzwerkes, der sozialen Unterstützung und der sozialen Integration zu leisten. Zudem kommt noch die besondere Entwicklungsstufe der Jugend bzw. Adoleszenz mit all ihren zusätzlichen Problemen hinzu, auf die in dem zweiten Definitionsabschnitt unter Punkt 3 ebenfalls eingegangen wird. In dieser Phase wird die Peer-group[4] für die Jugendlichen als bedeutungsvoll erachtet, wodurch eine kurze Einführung in dieses Gebiet notwendig wird (Kapitel 3).
Auf Grundlage des theoretischen Fundamentes wird in Kapitel 4 das Untersuchungsdesign entwickelt; abschließend erfolgt in Kapitel 5 die Darstellung der Studie und in Kapitel 6 die der Datenerhebung. Die Datenaufbereitung erfolgt in Kapitel 7, in dem die einzelnen Jugendlichen und ihre Netzwerke vorgestellt werden, um sie danach zu vergleichen. Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung und die Erstellung einer Hypothese, die den Forschungskontext abrundet.
Persönlicher Bezug zum Feld
Das Schlagwort der sogenannten „Heimerziehung“ mit seinen in der Öffentlichkeit negativen Konnotationen ist durch meine regelmäßige Arbeit mit Kindern und Jugendlichen alltäglich präsent. Seit Januar 2000 bin ich in einer Kinder- und Jugendwohngruppe der Pestalozzi-Stiftung-Hamburg beschäftigt, um eine bessere Verknüpfung der theoretischen Grundlagen des Studiums mit einer praxisnahen Tätigkeit zu erhalten.
Hierbei ist die besondere Problematik der Kinder und Jugendlichen interessant, die teils auf eigenen, teils auf Wunsch der Eltern außerhalb ihrer Herkunftsfamilie untergebracht werden. Dieses ist ein großer Einschnitt in die seelische, geistige und emotionale Entwicklung, da sich - je nach Situation - die zu Betreuenden auf eine andere Form des Zusammenlebens einstellen müssen und meist auch eine Klärung bzw. Verarbeitung familiärer Unstimmigkeiten ansteht.
Innerhalb der Pestalozzi-Stiftung gründete sich im Oktober 2000 ein Arbeitskreis, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, neue Wohn- und Betreuungsformen für die in der Stiftung betreuten Kinder und Jugendlichen zu entwickeln. Dieses Konzept sollte nicht von den Betreuern erstellt werden, sondern auf der Grundlage von Befragungen der Kinder und Jugendlichen entwickelt werden, d.h. unter Einbeziehung der unmittelbar Betroffenen.
Hauptsächlich wurde das Forum von den PädagogInnen[5] des flexiblen Teams[6] ins Leben gerufen, die mit der Problematik vertraut sind, dass Jugendliche mit 16 Jahren eine eigene Wohnung gestellt bekommen und sich innerhalb kürzester Zeit verselbständigen müssen. Gerade bei ihnen ist die Frage nach einer anderen Wohn- oder Betreuungsform relevant, da viele von ihnen mit der Situation im eigenen Wohnraum überfordert sind.
Aus Interesse beteiligte ich mich an diesem Projekt; jedoch war das Ergebnis der durchgeführten Befragungen innerhalb der stiftungsinternen Einrichtungen nicht so ergiebig wie erhofft, da es einen sehr niedrigen Rücklauf der konzipierten Fragebögen gab. Teilweise war die Klientel zu jung, teilweise haben die betreuenden PädagogInnen eine Kooperation abgelehnt, da sie die Kinder und Jugendlichen als psychisch zu instabil erachteten. Doch entstand hieraus eine Weiterentwicklung der Idee einer Untersuchung in diesem Bereich und eine abgewandelte Fragestellung. Insbesondere ist die Frage nach einem sozialen Rückhalt bei diesen Jugendlichen und des Aufbaues von ebendiesem Gefüge interessant. Diesem soll u.a. in dieser Abhandlung nachgegangen werden.
2. Definitionen
Im Folgenden geht es um die Differenzierung der Begriffe soziale Netzwerke, soziale Unterstützung und soziale Integration, die das theoretische Fundament der vorliegenden Arbeit bilden.
2.1 Soziale Netzwerke
Der Begriff der sozialen Netzwerke wird oft synonym mit dem der sozialen Unterstützung verwendet, wobei die Bezeichnung sozialer Netzwerke im Vergleich jedoch abstrakter ist und eine umfassendere Beschreibung darstellt. Im Unterschied zur sozialen Unterstützung wird hier das System sozialer Beziehungen zwischen Individuen oder sozialen Einheiten wie z.B. Gruppen, Organisationen oder Nationen beschrieben.
Keupp schreibt dazu:
„Es bezeichnet die Tatsache, daß Menschen mit anderen sozial verknüpft sind und vermittelt für dieses Faktum eine bildhafte Darstellungsmöglichkeit. Menschen werden als Knoten dargestellt, von denen Verbindungsbänder zu anderen Menschen laufen, die wiederum als Knoten symbolisiert werden.“ (Keupp 1987: 11f)
Seit Beginn der Netzwerkforschung summieren sich die charakteristischen Merkmale für soziale Netzwerke und werden je nach Forschungsinteresse unterschiedlich genutzt. Gab es anfänglich nur wenige Merkmale, entwickelte sich die Liste allmählich zu einem umfangreichen Fundus (vgl. Röhrle 1994: 15f).
In der Literatur lassen sich diverse Besonderheiten zur Einteilung und Gruppierungsvorschläge der sozialen Netzwerke finden (vgl. Reisenzein / Baumann / Laireiter / Pfingstmann / Schwarzenbacher 1989: 225ff). Erwähnenswert ist vor allem, dass die soziale Struktur des Netzwerkes von der Person selbst erschaffen und aufrechterhalten wird (vgl. Klusmann 1986: 3). Dieses beinhaltet eine regelmäßige positive Aktivität, sich um seine persönlichen Kontakte zu kümmern. Durch besondere Ereignisse, wie beispielsweise eine lang andauernde Krankheit oder Arbeitslosigkeit, kann es zu einer Reduktion der sozialen Netzwerkbeziehungen kommen und kann zu einem Netzwerk führen, dass fast ausschließlich auf der Herkunftsfamilie beruht:
„Zugleich sind diese Beziehungsmuster ständig auch bedroht. Es muß etwas für sie getan werden, sonst zerfallen sie und verengen sich auf die letzten Stützpfeiler der dann häufig überlasteten Kernfamilie [...].“ (Keupp 1987: 23).
Hierbei wird deutlich, dass eine hohe Bereitschaft vonnöten ist, permanent Beziehungsarbeit zu leisten, da sich ein Netzwerk immer verändern kann (vgl. Keupp 1987: 24).
Um die diversen Faktoren zur Beschreibung eines Netzwerkes zu bündeln, bietet sich ein Ordnungssystem an, dem die unterschiedlichen Merkmale in drei Gruppen zugeordnet werden. (vgl. Röhrle 1994: 15ff)
Kategorisierung der Merkmale für soziale Netzwerke
Eine Rekonstruktion und Beschreibung sozialer Netzwerke erfolgt innerhalb von drei Kategorien. Die erste, bezeichnet als „ relationale Merkmale“, subsumiert formale Eigenschaften einzelner sozialer Beziehungen. Die zweite Kategorie, die „ kollektiv und individuell bedeutsamen Merkmale“, zielt insbesondere auf die sozialen Netzwerke und deren Relevanz für das einzelne Individuum ab. Drittens sind die „ strukturellen Merkmale“ zu nennen, die ein soziales Netzwerk als Ganzes beschreiben. (vgl. Röhrle 1994: 15ff)
Im Folgenden werden diese drei Kategorien detailliert dargestellt.
Relationale Merkmale
Die in dieser Kategorie beschriebenen formalen Eigenschaften der individuellen sozialen Beziehungen innerhalb eines Netzwerkes hängen eng mit der Qualität und der möglichen Bewertung durch die Mitglieder dieses Netzwerkes zusammen. Eine besondere Bedeutung hat hier der Faktor der Intensität und Intimität der Beziehungen. Es gibt demnach unterschiedliche Arten von Beziehungen zwischen den einzelnen Individuen, es herrschen starke und schwache Bindungen vor. (vgl. Röhrle 1994: 17)
Als ein weiterer Aspekt ist die Kontakthäufigkeit zu nennen. Durch sie wird die Verhaltensnähe zwischen den einzelnen Individuen eines sozialen Netzwerkes veranschaulicht (vgl. Röhrle 1994: 17).
Die Dauer ist ein weiteres Merkmal. Sie dokumentiert, wie konstant das Netzwerk im Zeitablauf ist und ob es andauernde Beziehungen gibt (ibid.). Diese Kennzeichen der Dauer steht somit für die Länge der Zeit, die ein Individuum ein anderes kennt (vgl. Pfingstmann / Baumann 1987).
Ferner existieren multiplexe oder uniplexe Beziehungen. Diese weitere Unterscheidungsvariable wird auch Multidimensionalität genannt. Ein Netzwerk wird als multiplex bezeichnet, wenn die vorhandenen Beziehungsmuster des Netzwerkes zur Bewältigung und Erreichung verschiedener Aufgaben und Ziele von beiden Seiten genutzt werden. Uniplexe Beziehungen hingegen sind von einer Einseitigkeit gezeichnet (vgl. Röhrle 1994: 17). Des Weiteren kann dieses Merkmal auch die verschiedenen Rollen eines Individuums charakterisieren. Fungiert eine Person als Nachbar und zugleich als Arbeitskollege, ist dieses eine multiplexe Rolle (vgl. Pfingstmann / Baumann 1987: 80). Die diversen Kontakte eines Individuums mit verschiedenen Netzwerkmitgliedern, die in unterschiedlichen Kontexten stattfinden und sich sehr stark überschneiden können, werden auch als Segmentierungsunterscheidung bezeichnet. Z.B. geht ein Schüler mit seinem Klassenkameraden in den gleichen Sportverein (vgl. Kolip 1993: 59).
Kollektiv und individuell bedeutsame Merkmale
Soziale Netzwerke lassen sich außerdem nach kollektiv und individuell bedeutsamen Merkmalen analysieren. Durch diese Merkmale wird die Funktion eines Netzwerkes für das jeweilige Individuum deutlich und die Bedeutung und Einfluss auf das Wohlbefinden.
S oziale Unterstützung[7], durch die ein Individuum Sicherheit und Rückhalt erfährt und die soziale Kontrolle, die für die Normengebung und Übermittlung von Werten maßgeblich ist sind zwei dieser Merkmale.
Als besonders relevant sticht aus einer Liste von möglichen Funktionen, zu denen emotionale Unterstützung, Herstellung neuer sozialer Kontakte oder Vermittlung von Informationen zählen können, die Vermittlung sozialer Unterstützung heraus. Durch den kommunikativen Aspekt und das soziale Handeln sind soziale Unterstützungen der Pflege von sozialen Beziehungen und der Lebensbewältigung dienlich. Die soziale Kontrolle hingegen wird in sozialen Netzwerken wenig beachtet, obwohl dieses Merkmal zur Stabilität eines Netzwerkes durch Beachtung von Vorgaben und Sanktionen bei Abweichungen beitragen dürfte. (vgl. Röhrle 1994: 18)
Strukturelle Merkmale
Drittens ist die Kategorie der strukturellen Kennzeichen zu nennen. Diese beschreiben die äußere Form und die Gegebenheiten eines sozialen Netzwerkes. Hierzu zählen u.a. die Größe und die Dichte (vgl. Röhrle 1994: 18).
Die Größe beschreibt die Anzahl der Elemente, wie beispielsweise die der Personen oder der Organisationen; sie wird durch die Angabe der Personenanzahl, zu denen regelmäßiger Kontakt besteht, definiert. (vgl. Röhrle 1994: 18f).
Die Dichte eines sozialen Netzwerkes leitet sich aus der Zahl der tatsächlichen Verbindungen zur Menge der potentiell möglichen ab. Dabei ist eine reine quantitative innere Verbundenheit gemeint, die nichts über die Qualität aussagt. (vgl. Keupp 1987: 26f, Röhrle 1994: 18)
Innerhalb dieser Kategorie werden die Kontakthäufigkeiten für die wechselseitigen Beziehungen der Mitglieder des Netzwerkes dargestellt. Es wird vermutet, dass ein Individuum umso mehr Unterstützung erfahren kann, je dichter ein Netzwerk ist (vgl. Kolip 1993: 58f). Klusmann führt dazu folgendes Beispiel an: Er geht davon aus, dass bei acht Netzwerkmitgliedern 28 mögliche Verbindungen existent sind. Bestehen davon 14, beträgt die Dichte 50%. Darüber hinaus unterscheidet er zwei Extremformen persönlicher Netzwerke. Zum einen beschreibt er: „[...] den Fall, in dem jeder jeden kennt [...]“ (Klusmann 1987: 46) und den er als maximale Dichte betitelt und anderseits eine minimale Dichte, „[...] in dem keine Netzwerkpersonen jemals die Bekanntschaft einer anderen gemacht hat, also alle nur allein den Netzwerkbesitzer kennen.“ (ibid.) Die meisten Netzwerke pendeln sich nach Klusmann zwischen diesen beiden Extremen ein (ibid.)
Die Erreichbarkeit ist ein weiterer wesentlicher Aspekt, durch den die Möglichkeit zur Herstellung von direkten und indirekten sozialen Beziehungen beschrieben wird. Hierbei wird in der Regel festgelegt, wie schnell und unmittelbar dieser Kontakt herstellbar ist. Sind Personen in sozialen Netzwerken gut erreichbar, wird ihnen dadurch eine hohe Stellung innerhalb des Konstruktes beigemessen (Röhrle 1994: 19). Hierbei wird die durchschnittliche Anzahl der Verbindungen zwischen Paaren von beteiligten Individuen erfasst (vgl. Keupp 1987: 26).
Meist sind bei einem Individuum bereits bestehende Netzwerkstrukturen vorhanden, wie beispielsweise die zu den Eltern (vgl. Klusmann 1986: 3) oder durch eingegangene Beziehungen wird das Individuum in ein bestehendes Netzwerk integriert. Dieses ist z.B. der Fall, wenn eine Person eine Partnerschaft aufbaut und in das soziale Gefüge des Partners eingegliedert wird. (vgl. Klusmann 1986: 69).
Durch diese sozialen Netzwerke werden Handlungsspielräume bestimmt und das gesellschaftliche Leben gekennzeichnet. Die mikrosoziale Struktur des Einzelnen ist somit stark mit der makrosozialen verwoben. (vgl. Klusmann 1986: 3f)
Laireiter und Baumann unterscheiden zudem verschiedene Teilnetzwerke, da es nicht das Netzwerk an sich gibt; vielmehr kennt ein Individuum verschiedene Personen, mit denen es in einem unterschiedlichen Kontext und mit einer divergierenden Intensität agiert. (vgl. Laireiter / Baumann / Feichtinger / Reisenzein / Untner 1997: 16, sowie Baumann 1987: 306)
Am geläufigsten ist hier eine Differenzierung in Teilbereiche: ein interaktives / aktualisiertes, ein affektives, ein Rollen- und ein Austausch-Netzwerk.[8]
Das interaktive oder auch aktualisierte Netzwerk skizziert jene Netzwerkmitglieder, zu denen ein regelmäßiger Kontakt besteht. Das affektive Netzwerk stellt die emotional wichtigen Personen und den Freundeskreis dar. (vgl. Laireiter / Baumann / Feichtinger / Reisenzein / Untner 1997: 16) In einem Rollennetzwerk werden Personen aufgrund der sozialen Rollen, die sie innehaben und zu denen ein persönlicher und enger Kontakt besteht, erfasst (vgl. Reisenzein / Baumann / Reisenzein 1993: 67).
Ergänzend schließt das Austauschnetzwerk die Summe der Personen ein, die als Unterstützer fungieren (vgl. Laireiter / Baumann / Feichtinger / Reisenzein / Untner 1997: 16). Hier findet sich nach Meinung der Autoren ein Manko: trotz der Plausibilität der Theorie sei es schwierig, diese verschiedenen Teilnetzwerke empirisch zu differenzieren (ibid.). Allerdings ist diese Unterscheidung m.E. nützlich, in der Untersuchung wird auf diese Differenzierung im Weiteren eingegangen.
2.2 Soziale Integration
Auf Grundlage der oben erfolgten Darstellung wird nachfolgend davon ausgegangen, dass durch ein soziales Netzwerk eine Form der sozialen Integration gegeben ist.
Ist eine Person in ein umfangreiches Netzwerk integriert, so ist die Wahrscheinlichkeit der andauernden Integration höher als bei Individuen mit einem nicht so umfangreichen Kontext. Dabei wird nicht die Quantität der Beziehungen, sondern die Qualität als wichtig erachtet (vgl. Klusmann 1986: 4f).
Bach definiert weiterhin Merkmale, deren Summe soziale Integration ausmacht. Auf der Individualebene nennt er die Anzahl von Kontakten, die Wohnsituation, die Beziehung zur Nachbarschaft, die Akzeptanz und die Verfügung über Gruppennormen. Auf der Kollektivebene fasst er Faktoren wie Schichtzugehörigkeit, Statusintegration und Gemeindezugehörigkeit zusammen. (vgl. Bach 1990: 368)
2.3 Soziale Unterstützung
Es gibt diverse und breitgefächerte Ansätze zur Definition der sozialen Unterstützung (z.B. Cobb 1976, Klusmann 1986, Pfingstmann / Baumann 1987), die im Folgenden ausgeführt werden.
Der relevanteste Unterschied zu den sozialen Netzwerken nach Pfingstmann und Baumann besteht darin, dass der Terminus der sozialen Unterstützung ein Teilaspekt des sozialen Netzwerkes ist. Zudem ist dieser nicht so abstrakt gehalten und zielt auf die helfenden Aspekte des Sozialsystems eines Individuums ab.
Allgemein wird soziale Unterstützung als die Menge an Unterstützung charakterisiert, die ein Individuum von Personen, mit denen es in Verbindung steht, erfährt. (vgl. Pfingstmann / Baumann 1987: 77)
Folgende Aussage beschreibt dieses m.E. sehr treffend: „Social support is defined as the resources provided by other persons“ (Cohen / Syme 1985: 4). Zimbardo führt weiter dazu aus: „Sie [Die Ressourcen, d.A.] können materielle Hilfe, soziale und emotionale Unterstützung (Liebe, Fürsorge, Wertschätzung, Sympathie, Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe) und Hilfe durch Informationen (Ratschläge, persönliches Feedback) einschließen“ (Zimbardo 1995: 591) .
Eine der ersten Definitionen stammt von Cobb (1976) und besagt, dass soziale Unterstützung auf subjektiver Wahrnehmung beruht (vgl. Cobb 1976: 300f). Durch spezielle Informationen, die eine Person der sozialen Umgebung entnimmt, resultieren bestimmte Überzeugungen (vgl. Cobb 1976: 300f, sowie Klusmann 1986: 7).
Es gibt demnach drei verschiedene Arten von sozialer Unterstützung:
„ 1. Information leading the subject to believe that he is cared for and loved. 2. Information leading the subject to believe that he is esteemed and valued. 3. Information leading the subject to believe that he belongs to a network of communication and mutual obligation “ (Cobb 1976: 300).
Es ist definitionsabhängig, ob soziale Unterstützung nur auf der psychischen Ebene der subjektiven Wahrnehmung gesehen oder aber weiter gefasst wird. Durch Kritik an dieser, von vielen Autoren (z.B. Schwarzer / Leppin 1989: 14ff) als zu einfach betitelter Definition, ergeben sich weiterführende Entwicklungen und daraus wiederum andere Perspektiven, die nicht ausschließlich auf die subjektive Wahrnehmung abzielen, sondern auch den Handlungs- und Interaktionsaspekt betonen (vgl. Klusmann 1986: 7, sowie Schwarzer / Leppin: 1989: 18ff). Jedoch wird der wahrgenommenen emotionalen Unterstützung die relevanteste Unterstützungsfunktion zugesprochen. (Schwarzer / Leppin 1989: 22) Weitere nennenswerte Faktoren sind zusammenfassend die der instrumentellen, materiellen oder der aktiven Ebene, die unten genauer erläutert werden.
Laireiter und Baumann differenzieren fünf Referenzebenen der Unterstützung. So werden erstens die unterstützende Atmosphäre sozialer Gruppen und Beziehungen als „soziale Klimata“ (Laireiter / Baumann / Feichtinger / Reisenzein / Untner 1997: 17) bezeichnet. Zweitens erläutern die „sozialen Objekte“ (ibid.) die Unterstützung als Menge der unterstützenden Personen. Synonym wird hierbei auch der Begriff der „Unterstützungsressourcen“ verwendet. (ibid.) Drittens wird der Beistand als sozialer Austausch und interpersonales Verhalten oder auch das Unterstützungsverhalten als soziales Verhalten tituliert. Als viertes Kriterium wird die soziale Kognition genannt, die wahrgenommene Unterstützung bezeichnet. Das befriedigte soziale Bedürfnis umschreibt fünftens die Unterstützung als Relation zwischen Bedürfnis und Angebot an stützenden Interaktionen. (vgl. Laireiter / Baumann / Feichtinger / Reisenzein / Untner 1997: 15ff)
Allen diesen verschiedenen Punkten der Unterstützungsebenen ist gemein, dass sie ein Gefühl der Unterstützung hervorrufen. Sie sind jedoch ein komplexes Konstrukt und können unterschiedlich aussehen.
Daher bietet sich eine Einteilung einerseits in emotionale, materielle und informelle Unterstützung an sowie anderseits eine weitere Differenzierung der informellen vs. formellen Unterstützungsformen.
Emotionale, materielle und informelle Unterstützung
Der Oberbegriff der sozialen Unterstützung kann in drei Kategorien unterteilt werden. Reisenzein und Baumann differenzieren ihn wie folgt: emotionale, materielle sowie informelle Unterstützung (vgl. Reisenzein / Baumann / Reisenzein 1993: 71). Hierbei umfasst die emotionale Unterstützung Faktoren wie Erleichterung verschaffen oder sich auszusprechen. Die materielle bezieht sich u.a. auf finanzielle Hilfen, während informelle Unterstützung die von einem Individuum benötigten Informationen und Ratschläge meint.
Hier stellt sich eine zentrale Frage zur Diskussion: Inwieweit spielen welche Aspekte sozialer Unterstützung unter welchen Bedingungen bei welchen Personen eine relevante Rolle? (vgl. Kolip 1993: 63).
Nicht alle Netzwerkmitglieder können die gleiche Art von einer benötigten Unterstützung erfüllen. Emotionale Unterstützung wird weitgehend von Personen geleistet, zu denen das Individuum eine enge Beziehung unterhält. Materielle Unterstützung hingegen kann von anderen Mitgliedern des Netzwerkes geleistet werden, wie z.B. die finanzielle Unterstützung von den Eltern (vgl. Kolip 1993: 65f).
In Hamburg lässt sich diese Verteilung im Jahr 1996 für Jugendliche folgendermaßen darstellen: 76,8 % der 15 bis 20-jährigen erhielten ihre finanzielle Unterstützung für ihren Lebensunterhalt von den Angehörigen. 7,4 % beziehen ihn aus anderen Quellen, zu denen Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, etc. zählen (vgl. Jugendliche in Hamburg, Tabelle A im Anhang).
Die informelle Unterstützung wird von Personen erbracht, denen das Individuum eine Kompetenz in diesem Bereich zuspricht. In einer Untersuchung von Reisenzein, Baumann und Reisenzein kam heraus, dass die informelle Unterstützung am wenigsten gewährleistet ist. (vgl. Reisenzein / Baumann / Reisenzein 1993 : 72)
In der Literatur lassen sich darüber hinaus noch weitere Kategorisierungsmöglichkeiten finden. So erarbeitet Aymanns eine Einteilung in vier Unterstützungsformen: instrumentelle oder materielle Unterstützung, emotionale Unterstützung, kognitive oder „informationale“ (Aymanns 1995: 25) Unterstützung, und evaluative Unterstützung (vgl. Aymanns 1995: 25). Grundlage der vorliegenden Arbeit ist der Ansatz von Reisenzein und Baumann, da auch hier der Punkt der evaluativen Bewertung in die Forschung integriert wird (vgl. Reisenzein / Baumann / Reisenzein 1993: 71).
Formelle und informelle Unterstützung
In der Regel wird zwischen formeller und informeller sozialer Unterstützung differenziert. Zu dem formellen Unterstützungssystem zählen u.a. Personen, die helfende oder soziale Berufe ausüben (ÄrztInnen, PädagogInnen, PsychologInnen).
Zu dem informellen Unterstützungssystem, dem eine weitaus größere Bedeutung zugemessen wird, zählen die Familienmitglieder als familiäre Netzwerkmitglieder auf der einen, Freunde und Bekannte als außerfamiliäre Netzwerkmitglieder auf der anderen Seite. (Kolip 1993: 66)
2.4 Positive vs. negative Auswirkungen sozialer Unterstützung
Es ist davon auszugehen, dass jeder Mensch schon soziale Unterstützung in prekären Situationen erfahren hat und auch erfährt. Fraglich ist nach Aymanns jedoch, ob diese von einem Individuum als ausreichend empfunden wird, um das belastende Ereignis zu bewältigen. Er sagt, dass nicht jedes Individuum die Unterstützung erfährt, die es in prekären Situationen benötigt. (vgl. Aymanns 1995: 24)
Vielen Definitionen (z.B. Cobb 1976, Cohen / Syme 1985, Kolip 1993, Niepel 1994) über soziale Netzwerke und Unterstützung liegt zugrunde, dass sie von einer positiven Korrelation zwischen einem sozialen Netzwerk und der Befindlichkeit eines Individuums ausgehen. Um dieses zu untermauern, lassen sich folgende Untersuchungen bzw. Ergebnisse anführen.
Es gibt in der Netzwerkforschung empirische Belege (u.a. Cobb 1976, Perrez / Baumann 1998), die von einer positiven Wirkung eines persönlichen Netzwerkes auf eine Beeinträchtigung und ihre Bewältigungsstrategien ausgehen:
„Als stabilisierende und stützende Faktoren tragen die Bindungen an andere Personen und soziale Unterstützung zum seelischen und körperlichen Wohlbefinden bei. Fehlen diese Faktoren oder sind sie nur unzureichend verfügbar, so sind negative Effekte unter Belastungsbedingungen zu erwarten“ (Perrez / Baumann: 1998: 315f).
So erkennt schon Cobb (1976), dass ältere Menschen mit sozialer Unterstützung und Interaktionen weniger depressiv sind als solche, die nicht sozial eingebunden sind:
„[...] there are a lot of strong impressions about the importance of social support in protecting people from the consequences of the stress of growing old an infirm. [...] in a sample of 280 persons aged 63 and older that 85% of those with low social interaction were depressed, whereas only 42% of those with high social interaction were depressed.” (Cobb 1976: 309)
Ebenfalls hat die Single-Parent-Forschung (das amerikanische Gegenstück zur deutschen Alleinerziehendenforschung) ergeben, dass soziale Netzwerke für die Bewältigung der Alltagsprobleme der Alleinerziehenden hilfreich sind[9]:
„Ihre Ergebnisse [der Single-Parent-Forschung, d.A.] zeigen, daß in der Verfügbarkeit quantitativ ausreichender und qualitativ zufriedenstellender sozialer Unterstützung, die in einem reziproken Austauschprozeß zwischen den Alleinerziehenden und ihren Netzwerkmitgliedern transferiert wird, neben der ökonomischen Situation der Schlüssel zu einer positiven Bewältigung der Einelternschaft zu sehen ist“ (Niepel 1994: 111).
Im Umkehrschluss kann also davon ausgegangen werden, dass sich mangelnde soziale Unterstützung negativ auswirkt.
So wird ein Ereignis als belastend erlebt, wenn das bis dato existente soziale Gefüge aufgrund des Ereignisses und der daraus resultierenden Folgen gestört ist und die Person sich an die neuen Umstände anpassen muss. Wird hierbei die Grenze der persönlichen Möglichkeiten erreicht, kann die Situation als bedrohlich empfunden werden. Besteht das Umfeld nur aus einem kleinen Netzwerk, kann die Person an ihre Grenzen der Lösung stoßen, da die Ressource der Unterstützung schnell ausgeschöpft sein kann. (vgl. Aymanns 1995: 25)
Aymanns zeigt auf, dass sich bei der wohlgemeinten Unterstützung immer zwei Seiten gegenüberstehen, d.h. positive vs. negative Auswirkungen. Im Falle einer informativen Unterstützung kann z.B. positiv durch eine Präzisierung des Problems gewirkt werden – die neuen Informationen lassen das Individuum zu einer besseren Einschätzung seiner Bewältigungsstrategien kommen und können so zu einer neuen Sichtweise führen. Negativ könnte hingegen daraus resultieren, dass die Aufmerksamkeit auf ein ungelöstes Problem gelenkt wird und die Person sich durch die Informationsvermittlung bevormundet fühlen könnte. (vgl. Aymanns 1995: 28)
In erster Linie ist jedoch wichtig, dass sich eine Person öffnet und das Umfeld auf ihre unterstützungsbedürftige Lage aufmerksam macht, damit der Prozess der Unterstützung aktiviert wird. Diese Offenbarung stellt oft ein Dilemma dar: wird die Lage als sehr belastend eingestuft, werden Personen eher gehemmt, Unterstützung anzubieten, da sie sich hilflos und überfordert fühlen. Wird das Problem nicht als solches eindeutig geäußert, kann es nicht erkannt werden und die benötigte Hilfeleistung bleibt aus.
Hier würde nun eine gleichgewichtige Form der Offenbarung hilfreich sein, um einerseits die Belastung transparent zu machen und anderseits die Eigenverantwortlichkeit zu suggerieren. (vgl. Aymanns 1995: 33) Wird trotz intensiver Bemühungen die Lage nicht entschärft, kann es den Unterstützer enttäuschen und ein Gefühl der Hilflosigkeit verursachen. Der Ratsuchende merkt dieses und wird versuchen seine eigentlichen Bedürfnisse zu unterdrücken, um den anderen nicht zu enttäuschen und eine Stabilität der Beziehung zu erhalten. (vgl. Aymanns 1995: 35f)
Oftmals basiert eine geringe soziale Unterstützung aber auf einer negativen Selbsteinschätzung:
„Personen, die sich wenig unterstützt sehen, haben in der Regel ein negatives Selbstkonzept, schlechtere soziale Fertigkeiten, eine geringere Selbstwirksamkeitsüberzeugung und eher die Erwartung, daß andere den Umgang mit ihnen unattraktiv erleben als jene, die sich in hohem Maße unterstützt sehen“ (Aymanns 1995: 37).
Inwieweit dieses auf Jugendliche zutreffen kann wird u.a. im nächsten Kapitel – nach einer Abgrenzung, Differenzierung und Definition des Begriffes „Jugend“ erörtert.
3. Jugend
Da sich die vorliegende Arbeit mit Jugendlichen beschäftigt, ist im Vorwege eine Definition des Begriffes Jugend nötig. Relevant ist hier eine Klärung dieses Begriffes weiterhin, da dieser als Grundlage dient, um näher auf die Identitätsbildung Jugendlicher einzugehen.
In den anschließenden Ausführungen wird die Lebensphase Jugend aus psychologischer und soziologischer Sicht betrachtet sowie die Lebensphase „Jugend“ im Wandel der letzten Jahrzehnte aufgezeigt.
In der Annahme, dass der Peer-group eine wichtige Bedeutung beigemessen wird folgt eine Erläuterung dieser, um die Peer-group als mögliche Quelle der Problemlösung und Unterstützungsfunktion zu betrachten.
3.1. Definition Jugend
Die Begriffe Jugend und Jugendzeit werden alltäglich benutzt. Dennoch ist eine klare Begriffsfindung schwierig, da es vielfältige Bedeutungszuschreibungen gibt. Hier sei die Definition von Olbrich angeführt, die der vorliegenden Arbeit als Grundlage dient:
„Es ist die Periode körperlicher Entwicklung, Jugend ist aber auch ein soziokulturelles Phänomen, sie kann als Altersspanne gesehen werden, genauso gut als eine distinkte Entwicklungsstufe, Jugend kann auch als eine bestimmte Art zu denken und zu leben verstanden werden“ (Olbrich 1984: 3)
Anhand dieser Definition lassen sich zwei wesentliche Bereiche anführen, die mit dem Begriff Jugend beschrieben werden können. Zum einen ist damit eine besondere und eigenständige Phase im Lebenslauf eines Individuums gemeint, in der sich bestimmte Entwicklungen vollziehen. Zum anderen ist Jugend ein Überbegriff für alle Individuen, die sich in dieser Lebensphase befinden.
3.2 Lebensphase Jugend aus psychologischer Sicht
Eine kurze Darstellung der Lebensphase Jugend aus psychologischer Perspektive befasst sich im Folgenden mit den stattfindenden vielfältigen Veränderungen und der Bewältigung unterschiedlicher Entwicklungsaufgaben eines Individuums.
Dieser Abschnitt schafft ein Verständnis für die Jugendlichen in dieser Situation und die dadurch eventuell bedingten Probleme. Es darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass auch Störungen oder Beeinträchtigungen in der Kindheit zu einer Schwierigkeit in der Jugend führen können, da die jeweilige Vorgeschichte immer eine Rolle spielt:
„Die Entwicklungsaufgaben definieren für jedes Individuum in bestimmten Lebenslagen die vorgegebene Anpassungs- und Entwicklungsprobleme, denen es sich stellen muß. Die Entwicklungsaufgaben sind also psycho-soziale Bezugssysteme, innerhalb derer die eigene Persönlichkeitsentwicklung vorgenommen werden muß“ (Hurrelmann 1999: 33).
So muss in diesem Lebensabschnitt die körperliche Veränderung verarbeitet werden, der Ablösungsprozess von der Herkunftsfamilie findet statt und damit einhergehend eine Entwicklung einer Eigenverantwortlichkeit, ein eigenes Wertesystem wird aufgebaut. Außerdem werden sinnvolle Konzepte der zukünftigen Lebensplanung gestaltet (vgl. Oerter / Dreher 1995: 311). Hurrelmann führt noch weitere zentrale Entwicklungsaufgaben an, wie die Entwicklung eines sozialen Bindungsverhalten zu Gleichaltrigen, die Entwicklung von intellektuellen Kompetenzen und sozialer Verantwortungsbereitschaft und einen Aufbau eines ethischen und politischen Bewusstseins (vgl. Mansel / Hurrelmann 1994: 10f).
Im Gegensatz zur Soziologie, die diese Phase als soziales Gruppenphänomen betrachtet und sie als Jugend tituliert (vgl. Gudjons 1999: 132), nutzt die Entwicklungspsychologie den Begriff der Adoleszenz und untersucht vor allem die psychische Ebene. Beachtenswert sind die Besonderheiten der psychischen Gestalt und des psychischen Erlebens im Kontext eines Entwicklungsmodells. Es wird zwischen der Früh-, Mittel-, und Spätadoleszenz differenziert. (vgl. Fend 2001: 22) In der vorliegenden Arbeit wird Adoleszenz synonym mit der Mittel- und Spätadoleszenz verwendet, da die Übergänge fließend sind. Somit umschließt die hier verwendete Definition eine Altersspanne von 14 bis 20 Jahren.
Je nach Modell scheint der Adoleszenz oft eine größere Bedeutung beigemessen zu werden als allen anderen Entwicklungsphasen. Bei Erikson beispielsweise wird diese Phase als prägnanteste tituliert, wohingegen den anderen eine geringere Relevanz zugewiesen wird (vgl. Erikson 1959 / 1998: 150f). In dieser Phase müssen diverse altersspezifische Entwicklungsaufgaben im Sinne von Lernaufgaben bewältigt werden. Diese treten im Gegensatz zu den anderen, vorhergehenden Etappen komprimiert auf.
3.2.1 Psychosoziales Modell nach Erikson
Da die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragten Jugendlichen sich neben ihrer Verselbständigung in dieser Entwicklungsstufe befinden, wird im Folgenden näher auf das psychosoziale Modell nach Erikson eingegangen.
Erikson beschreibt die Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums in dessen gesamter Lebensphase als ein Modell von insgesamt acht Phasen, die aufeinander aufbauen. Dem Abschnitt des Jugendalters wird jedoch eine besondere Bedeutung beigemessen und als Generalthema bezeichnet (vgl. Oerter / Dreher 1995: 322).
Diese Lebensphase der Adoleszenz fokussiert Erikson, da ein Individuum in ihr sein Ich und seine Identität entwickeln muss und diese Integration eng miteinander verwoben ist (vgl. Oerter / Dreher 1995: 324). Das Ich repräsentiert hierbei ein organisatorisches System von Einstellungen, Motiven und Bewältigungsstrategien. Durch eine Bewältigung von Krisen wird die wachsende Persönlichkeit gekennzeichnet, die in einem aktiven Austausch mit der Umwelt steht. Die Ausbildung von Ich-Identität entspricht dem Aufbau eines Selbstzusammenhaltes, d.h. ein Individuum bekommt eine Sicherheit dafür, wer es ist, die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit der Person wird begründet. (vgl. Oerter / Dreher 1995: 322f)
Die menschliche Entwicklung ist laut Erikson generell von zahlreichen inneren und äußeren Konflikten geprägt. In jeder der Phasen durchlebt das Individuum eine Krise und findet zum Schluss der Entwicklungsphase eine Lösung (vgl. Erikson 1959 / 1998: 60f). Krise meint hierbei den Wendepunkt einer entscheidenden Periode, die einerseits erhöhte Verletzlichkeit, anderseits auch ein erhöhtes Potential in sich birgt (vgl. Oerter / Dreher 1995: 322, Erikson 1959 / 1998: 144f).
Der Lebensabschnitt der Adoleszenz ist vor allem durch eine starke körperliche Veränderung und durch die Überflutung mit neuen Impulsen gekennzeichnet. Zudem muss sich der Jugendliche seine autonome Identität aufbauen, seine soziale Integration finden und sich mit den divergierenden Meinungen der Eltern, Gleichaltrigen – der Peer-group[10] – und der Gesellschaft auseinandersetzen (vgl. Erikson 1959 / 1995: 106f).
In dieser Phase orientieren sich die Jugendlichen vor allem an ihren gleichaltrigen FreundInnen und helfen sich gemeinsam durch Cliquenbildung[11] durch die für sie unbekannte Lage und vereinfachen ihre Ideale und Feinde zu Stereotypen (vgl. Erikson 1959 / 1998: 111).
Der Gewinn von Identität wird durch eine Bewältigung von Anforderungen, die in der Einbettung der Person in eine Sozialordnung resultieren, gewonnen (vgl. Oerter / Dreher 1995: 322). Wird die Integration beispielsweise durch die Eltern, die vielleicht andere Vorstellungen von der Identitätsfindung haben, eingeschränkt und fühlt sich der Jugendliche seines Identitätsgefühls hierdurch beraubt, wird er versuchen, dieses trotzdem durchzusetzen. Teilweise kann diese Identitätsfindung mit Rebellion einhergehen:
„[...] die Adoleszenz ist eine Krise, in welcher das Gefühl der Peinigung durch innere und äußere Forderungen oft nur bewältigt werden kann, wenn die Abwehrkräfte beweglich sind; der junge Mensch muß sich durch immer neue Experimente einen Weg suchen, auf dem er sich am besten bestätigen und ausdrücken kann“ (Erikson 1959 / 1998: 146).
Aufgrund persönlicher praktischer Erfahrungen in der Jugendhilfe lässt sich m.E. sagen, dass Jugendliche, die in einer betreuten Wohnform untergebracht sind, negative Verhaltensweisen wie Gewalttätigkeit oder Delinquenz aufweisen können. Jedoch wäre es vermessen, bei allen eine Störung in ihrer Entwicklung diagnostizieren zu wollen.
Eine Tendenz der Beeinträchtigung ihrer Entwicklung kann m.E. vorliegen. Aus der unangemessenen Bewältigung vorhergegangener Krisen im Alter zwischen sechs Jahren bis zur Pubertät können mangelndes Selbstvertrauen und Gefühle des Versagens resultieren. (vgl. Zimbardo 1995: 90f) Zudem kann eine problematische Beziehung im Sinne von Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung zu den Eltern als weiterer Faktor angeführt werden (vgl. Post 2002: 76f). Ist dieses der Fall, liegt die Vermutung nahe, dass die Phase der Adoleszenz nach Erikson beeinträchtigt ist.
So wird m.E. ein Jugendlicher, der als Kind misshandelt wurde und dem damit ein Gefühl von Nutz- und Wertlosigkeit vermittelt wurde, nicht die gleiche Selbstsicherheit aufbauen können und sein Selbst als unscharfe Kontur sehen. Im Vergleich zu anderen Jugendlichen seines Alters wird er dazu auch in seiner Identitätsbildung beeinträchtigt sein. Er wird das Gefühl der Wertlosigkeit übernehmen und nichts Konstruktives erreichen wollen und können, da er kein selbstverständliches Vertrauen in seine Person aufbauen konnte.
[...]
[1] Zur Vollständigkeit lautet der §34 KJHG wie folgt: „Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie 1. eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder 2. die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder 3. eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten. Jugendliche sollen in Fragen der Ausbildung und Beschäftigung sowie der allgemeinen Lebensführung beraten und unterstützt werden.“
[2] Da diese Begriffsbezeichnung sehr variieren kann, beziehe ich mich auf folgende Wohnform (falls nicht anders vermerkt): Unterbringung nach §34 KJHG, d.h. Betreuung rund um die Uhr
[3] Die Zahlen beziehen sich auf einen Anstieg im Zeitraum der Jahre 1993 bis 2000.
[4] Es herrschen diverse Schreibweisen vor. In dieser Abhandlung wird durchgängig die oben aufgeführte genutzt (vgl. Prior, Harm 1994: 697)
[5] Für eine einfache Lesbarkeit wird bei der Bezeichnung von Personengruppen im Plural das Binnen-I verwendet.
[6] Das flexible Team besteht aus mehreren PädagogInnen, die vom Jugendhilfezentrum aus agieren. Jede PädagogIn kümmert sich um verschiedene Jugendliche.
[7] Eine genauere Erläuterung erfolgt unter Punkt 2.3.
[8] Hierbei ist jedoch zu beachten, dass das interaktive bzw. aktualisierte Netzwerk erst später in die Liste der Teilnetzwerke aufgenommen sein muss, da dieses noch nicht von den Autoren im Literaturverweis aufgeführt wird. (vgl. Reisenzein / Baumann / Reisenzein 1993: 67f).
[9] Im deutschen Raum ist dieses Forschungsgebiet noch unterversorgt, da sich bis jetzt darauf beschränkt wurde, die Lebenssituation Alleinerziehender zu beschreiben, aber keine Versuche zur Klärung der Bedingungen unternommen worden sind. (vgl. Niepel 1994: 11).
[10] Eine genauere Erläuterung erfolgt unter Punkt 3.2.
[11] Clique ist die Bezeichnung für eine Gruppe weniger Personen, die in Kontakt miteinander stehen und innerhalb dieser Gruppe ihre eigenen Werte, Ziele, Normen vertreten, die anders als die der sozialen Umgebung sein können. (vgl. Hillmann 1994: 129).
- Arbeit zitieren
- Nicole Heibeck (Autor:in), 2003, Jugendliche im Übergang von betreuter Unterbringung zur eigenen Wohnung - Eine Erkundungsstudie zu sozialen Netzwerken und sozialer Unterstützung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39073
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.