Diese Arbeit zeigt zunächst auf, dass der islamische Fundamentalismus ein relevanter politischer Faktor nicht nur in Staaten der muslimischen Welt, sondern auch in der internationalen Politik ist. Dazu wird die Entwicklung des islamenischen Fundamentalismus als politischer Bewegung knapp skizziert.
Hauptanliegen der Arbeit ist es, die Grundzüge der Ideologie des islamischen Fundamentalismus herauszuarbeiten. Herangezogen werden dazu in erster Linie ausgewählte Werke einiger Vertreter der Gründergeneration des islamischen Fundamentalismus, so vor allem Abu l-A'la al-Maududi (1903-1979) und Sayyed Qutb (1906-1966). Diese Autoren werden bis heute von Islamisten weithin als Autoritäten anerkannt, und ihre Werke sind grundlegend für die Ideologie des (sunnitischen) islamischen Fundamentalismus. Schiitische fundamentalistische Ideologien bleiben in der Arbeit unbeachtet.
Die Untersuchung der Ideologie steht unter der Fragestellung, welche Ziele die Islamisten anstreben, wie sie Gesellschaft und Staat organisieren und mit welchen Mitteln sie ihre Ziele erreichen wollen. Zudem soll das Verhältnis des islamischen Fundamentalismus zur Demokratie näher beleuchtet werden, wobei auch auf den Umgang mit zentralen Menschenrechten eingegangen wird.
Diese Arbeit entstand im Sommersemester 2004 am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg im Rahmen des Seminars „Der islamische Fundamentalismus als Faktor der internationalen Politik“.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
1) Begriffsbestimmung
2) Fragestellung
II. Skizze der Entwickung des islamischen Fundamentalismus
1) Gründung der Muslimbruderschaft – Hasan al-Banna
2) Gründung der Jamaat-i-islami – Abu l-A'la al-Maududi
3) Der Kampf der Muslimbruderschaft in Ägypten – Sayyed Qutb
4) Der Zusammenhang mit dem arabisch-israelischen Konflikt
5) Fundamentalismus im Iran – die islamische Revolution unter Khomeini
6) Fundamentalismus in Afghanistan
III. Die Konzepte der Ideologie
1) Die Quellen
2) Weltbild und Geschichtsinterpretation
Ringen zwischen christlichem Westen und islamischem Osten
Die Jahilyyah der Gegenwart
3) Der totalitäre und univerale Anspruch
4) Die Schari’a als allumfassendes Gesetz Gottes
5) Das Konzept des islamischen Staates
Die Grundprinzipien
Ausgestaltung des Staates
6) Mittel zur Umsetzung – der Jihad
IV. Vereinbarkeit mit Demokratie und Menschenrechten
1) Das Verhältnis zur Demokratie
2) Das Verhältnis zu ausgewählten Menschenrechten
V. Fazit
VI. Literatur
I. Einleitung
1) Begriffsbestimmung
Mit den von islamistischen Terroristen verübten Anschlägen vom 11. September 2001 rückte die Problematik des islamischen Fundamentalismus schlagartig ins öffentliche Bewusstsein. Dabei darf angesichts der Fokussierung auf den Terrorismus jedoch nicht übersehen werden, dass der islamische Fundamentalismus eine viel breitere Bewegung ist und seine Vertreter vor allem innerhalb der islamischen Länder agieren, wobei sie ein umfangreiches, von Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit über Gerichtsverfahren und politischen Druck bis hin zu Gewalttaten und sogar Mord reichendes Instrumentarium verwenden.
Mit dem Terminus „islamischer Fundamentalismus“ wird hier die Strömung im Islam bezeichnet, die mittels theologischer Argumentationen eine Erneuerung der Religion Islam proklamiert, tatsächlich aber religiöse Konzepte zur Durchsetzung politischer Ziele instrumentalisiert und somit eine politisch-ideologische Bewegung darstellt[1]. Ziel dieser Strömung ist die Errichtung eines islamischen Systems, das alle Lebensbereiche nach von den Fundamentalisten als göttliches Gesetz angesehenen Regeln umgestalten soll. Damit ist klar, dass der islamische Fundamentalismus von der Religion Islam klar abgegrenzt werden muss[2]. Wie Tibi betont, greifen die Fundamentalisten auf die religiösen Symbole des Islams zurück, sind aber primär politisch interessierte Aktivisten.[3]
Die Anwendung des Fundamentalismusbegriffes ist dabei durchaus umstritten. Mit Verweis auf den christlichen Ursprung des Begriffes (Anfang des 20. Jahrhunderts nannten sich streng bibelgläubige Christen in den USA so, die Bibelkritik und moderne Naturwissenschaft strikt ablehnten und gegen die Säkularisierung eintraten[4] ) wird auf die Gefahr einer unpassenden Übertragung westlich-christlicher Konzepte auf die arabisch-muslimische Welt hingewiesen.[5] Zudem wird kritisiert, dass der Begriff mit einer negativen Bewertung verbunden sei und eine Vorstellung von Rückschritt impliziere.[6] Andere häufig verwendete Begriffe zur Kennzeichnung dieser Strömung sind „politischer Islam“, „Islamismus“ und, vor allem von ihren Vertretern selbst, „islamisches Erwachen“. Letzteres ist insofern unpassend, als es eine Renaissance islamischen Glaubens suggeriert und die politischen Implikationen ausblendet.
Der Vorteil des Fundamentalismus-Begriffs besteht darin, dass er umfassender ist und zur Beschreibung des heute in allen großen Religionen anzutreffenden Phänomens der Politisierung von Religionen dient. Marty und Appleby arbeiten als Hauptmerkmale des religiösen Fundamentalismus die Berufung auf absolute Autoritäten, den Willen zur Herrschaft, die radikale Ablehnung der Säkularität und der „Vorrangstellung der menschlichen Vernunft gegenüber allen anderen Formen des Wissens, einschließlich der religiösen Offenbarung“[7], sowie das Gefühl der Bedrohtheit der richtigen, von Gott gebotenen Lebensweise heraus.[8] Ziel der Fundamentalisten sei nicht die Rückkehr zur Vergangenheit, sondern die Gestaltung der heutigen Welt, indem „Gesetz und Gebräuche einer Gesellschaft unmittelbar auf die Grundlage heiliger Schriften und Traditionen“[9] gestellt werden.
2) Fragestellung
Diese Arbeit soll zunächst die Relevanz des islamischen Fundamentalismus als politischen Faktor nicht nur in Staaten der muslimischen Welt, sondern auch in der internationalen Politik aufzeigen, wozu seine Entwicklung näher betrachtet werden muss.
Hauptanliegen der Arbeit ist es, die Grundzüge der Ideologie des islamischen Fundamentalismus herauszuarbeiten. Dazu werde ich mich in erster Linie auf Werke einiger Vertreter der Gründergeneration der Islamisten beschränken, die bis heute von Islamisten weithin als Autoritäten anerkannt werden und deren Werke grundlegend für die Ideologie sind. Aus Platzgründen beschränkt ich mich dabei auf den sunnitischen Fundamentalismus, während entsprechende schiitische Konzepte unbeachtet bleiben.
Die Untersuchung der Ideologie steht unter der Fragestellung, welche Ziele die Islamisten anstreben, wie sie Gesellschaft und Staat organisieren und mit welchen Mitteln sie ihre Ziele erreichen wollen. Zudem soll das Verhältnis des islamischen Fundamentalismus zur Demokratie näher beleuchtet werden, wobei auch auf den Umgang mit zentralen Menschenrechten eingegangen werden wird.
II. Skizze der Entwicklung des islamischen Fundamentalismus
Vor der Untersuchung der Ideologie des islamischen Fundamentalismus soll zuerst das Phänomen Islamismus in seiner zeitlichen Entwicklung betrachtet werden. Angesichts des beschränkten Umfangs der Arbeit kann dies nur in Form einer groben Skizze geschehen, die schlaglichtartig wichtige Phasen und Entwicklungsfaktoren herausgreift und kurz auf einige ideologisch bedeutsame Vertreter des islamischen Fundamentalismus eingeht.
1) Gründung der Muslimbruderschaft – Hasan al-Banna
Im Jahre 1928 gründete der Grundschullehrer Hasan al-Banna (1906-1949) in Ägypten die „Gemeinschaft der Muslimbrüder“ und damit die erste islamisch-fundamentalistische Gruppierung. Diese Organisation zielte gleichermaßen auf religiöse Erneuerung und soziale Reformen und griff damit bereits verbreitete Reformideen auf. Al-Banna gelang es, diese Ideen zu einer Ideologie zu bündeln, deren zentraler Punkt das Streben nach Errichtung eines islamischen Systems („nizam al-islami“) war, das die Normen der ursprünglichen islamischen Ordnung wieder herstellen sollte.[10] Die Muslimbruderschaft verband dabei die Schaffung sozialer Institutionen mit religiöser Frömmigkeit und politischer Agitation[11]. Zu ihren Forderungen gehörten etwa die Einführung des islamischen Rechts, strenge moralische Restriktionen des gesellschaftlichen Lebens, aber auch die Verbesserung des Gesundheitswesens und Wirtschaftsreformen.[12]
Die Kombination sozialer Dienstleistungen mit einer Ideologie, die eine griffige Formel für das Ziel bereitstellte („islamisches System“) und unter dieser zahlreiche Reformziele unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen subsummierte, erwies sich als sehr wirksam: Die Muslimbruderschaft fand großen Zulauf und wurde in den dreißiger und vierziger Jahren zu einer Massenbewegung. Während des Zweiten Weltkrieges radikalisierte sich die Gruppe in ihrem Streben nach einer islamistischen Machtergreifung in Ägypten zunehmend, was in der Ermordung des Premierministers Pasha 1948 gipfelte. Daraufhin wurde Al-Banna selbst ermordet[13], was ihn in den Augen islamischer Fundamentalisten zu einem Märtyrer machte und seine Popularität weiter erhöhte. Al-Banna wird von ihnen noch heute als eine herausragende Persönlichkeit verehrt und als wichtige Autorität anerkannt.
2) Gründung der Jamaat-i-islami – Abu l-A'la al-Maududi
Der zweite islamistische Ideologe mit überragender Bedeutung in der Welt des sunnitischen Islams ist Abu l-A'la al-Maududi (1903-1979), der 1941 in Pakistan die Jamaat-i-islami (Islamische Gemeinschaft) gründete. Diese fundamentalistische islamische Partei verfolgte eine islamisch-universalistische Zielsetzung und setzte sich gegen die Teilung des indischen Subkontinents ein. Nach der Gründung Pakistans forderte sie die Etablierung eines islamischen Staates in Pakistan. Die Partei wurde zunächst verboten, doch beeinflussten Maududis Ideen bereits die erste Verfassung von 1956, die Pakistan als „Islamische Republik“ bezeichnete. Großen Einfluss erlangte die Partei ab 1977 unter dem Regime Zia ul-Haqq, das eine weitere Islamisierung vorantrieb.[14]
Anders als Al-Banna ging bei Maududi der Gründung der Islamischen Gemeinschaft die Entwicklung einer kohärenten islamistischen Ideologie voran. Diese fußt auf dem Gedanken, Gott allein stehe Souveränität und Herrschaft zu.[15]
Im Gegensatz zu Al-Banna und dem unter 3) vorgestellten Sayyed Qutb geriet Maududi nur zeitweise in Konflikt mit den politisch Herrschenden. Obwohl die Islamische Gemeinschaft auf strengen Grundsätzen beruht und Maududis Ideologie eine Theorie der islamischen Revolution enthält, ordnete sich Maududis Jamaat-i-islami ab Mitte der 1950er-Jahre in das politische System ein und agierte innerhalb der Verfassungsordnung.[16]
3) Der Kampf der Muslimbruderschaft in Ägypten – Sayyed Qutb
Nach der Ermordung Al-Bannas kooperierte die Muslimbruderschaft mit den „Freien Offizieren“ unter Gamal Abdul Nasser, die jedoch bald nach ihrer Machtergreifung 1952 versuchten, die Bruderschaft aufzulösen. Ein Attentatsversuch der Muslimbruderschaft auf den neuen ägyptischen Präsidenten Nasser scheiterte 1954, und in der Folge wurde die Bruderschaft stark verfolgt. Unter den inhaftierten Muslimbrüdern war auch der 1906 geborene Sayyed Qutb, der in den 1950er- und 1960er-Jahren ideologischer Vordenker der Bruderschaft war. Qutb, ursprünglich modernistisch eingestellter Literaturkritiker, wandte sich nach einem zweijährigen USA-Aufenthalt 1948-1950 dem radikalen Islam zu und trat der Muslimbruderschaft bei. Mit Ausnahme weniger Monate verbrachte er von 1954 an den Rest seines Lebens im Gefängnis, bis er 1966 hingerichtet wurde. Im Gefängnis entfaltete er eine rege schriftstellerische Tätigkeit, wobei er von Ideen Maududis beeinflusst wurde. Sein Werk „Wegzeichen“ wurde zu einer der einflussreichsten, weitverbreitetsten Schrift im arabischen Raum. Der umfangreichste Text war jedoch ein dreißig Bände umfassender Korankommentar mit dem Titel „Im Schatten des Korans“, der ebenfalls große Bedeutung für die islamistische Bewegung erlangte.[17] Insgesamt ist er mit „seiner Einheit von ideologischem Werk und persönlichem Leidensweg nach seinem Tod zu einer Kultfigur der islamistischen Bewegungen in aller Welt geworden.“[18] Tibi stellt fest, dass hinsichtlich Verbreitung und Einfluss Qutbs Schriften „ohne Übertreibung mit dem Kommunistischen Manifest […] verglichen werden“[19] könnten.
4) Der Zusammenhang mit dem arabisch-israelischen Konflikt
Ein wesentlicher Faktor für die Verbreitung des Fundamentalismus in der islamischen Welt ist im arabisch-israelischen Konflikt zu sehen. Wie Enayat am Beispiel der ägyptischen Muslimbruderschaft aufzeigt, standen die verschiedenen Phasen dieses Konflikts in engem Zusammenhang mit dem Aufstieg des Islamismus zu einer Massenbewegung und mit der Entwicklung und zunehmenden Verschärfung seiner Ideologie. Der Konflikt zwischen Arabern und Zionisten ab Mitte der 1930er-Jahre stellte Enayat zufolge einen wichtigen Grund für die Politisierung der Muslimbruderschaft sowie einen Katalysator für eine Neudefinition und Verschärfung ihrer Ideologie dar, die den Islam nun als „the ultimate path of life, in all its spheres“[20] sieht. Im Zuge der Gründung des Staates Israel und der Niederlage der Araber im ersten arabisch-israelischen Krieg 1948 radikalisierte sich die Muslimbruderschaft weiter und verübte zahlreiche Gewaltakte innerhalb Ägyptens, was zu ihrer Auflösung Ende 1948 und Al-Bannas Ermordung 1949 führte. Es war schließlich die arabische Niederlage im Sechstagekrieg 1967, die in der arabischen Welt eine geradezu traumatische Erfahrung darstellt, die der Ideologie des islamischen Fundamentalismus schließlich zu großem Auftrieb verhalf.[21] Islamische Fundamentalisten wie etwa Scheich Yusuf al-Qaradawi erklärten diese Niederlage mit der Abkehr der Muslime vom Islam und der Übernahme westlicher Konzepte wie Nationalstaat, Demokratie und Sozialismus. Er machte diese „importierten Lösungen“ für die Krise der arabischen Welt verantwortlich und forderte eine „islamische Lösung“.[22] Tatsächlich begann Tibi zufolge mit der arabischen Niederlage 1967 der „Zerfallsprozess des panarabischen Nationalismus“[23], womit diese in seinen Augen zur „Geburtsstunde des heutigen islamischen Fundamentalismus“[24] wurde.
[...]
[1] Synonym dazu verwende ich den Begriff “Islamismus” in Anschluss an die Definition in Meier 1994, S. 169-171.
[2] Auf die Diskussion, ob der Islam seinem Wesen nach fundamentalistisch sei, kann hier nicht näher eingegangen werden. Argumente dafür finden sich etwa bei Marty/Appleby 1996, S. 150f. Trotz des universellen Geltungsanspruchs des Islam (siehe Tibi 2001a, S. 323f.) ist es allein schon angesichts der Vielfalt innerhalb des Islams unumgänglich, eine klare Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus vorzunehmen. Vgl. dazu Tibi 2001a, S. 323; Marty/Appleby 1996, S. 152f. sowie Metzger 2002, S. 7.
[3] Vgl. Tibi 2001, S. 166.
[4] Vgl. Lücke 1993, S. 194f.
[5] Vgl. die Autorenhinweise bei Derselben, S. 198f.
[6] Vgl. Dieselbe, S. 199.
[7] Marty/Appleby 1996, S. 24.
[8] Vgl. Dieselben, S. 24-46.
[9] Dieselben, S. 24.
[10] Vgl. Meier 1994, S. 175f.
[11] Vgl. Marty/Appleby 1996, S. 162-164.
[12] Vgl. die Forderungen im Abschnitt „Einige Schritte der praktischen Reform“ in Al-Bannas Traktat „Aufbruch zum Licht“ von 1936; abgedruckt in Meier 1994, S. 180-185.
[13] Vgl. Marty/Appleby 1996, S. 165f.
[14] Vgl. Stichwort „Maududi“ in Elger 2002, S. 192f.
[15] Vgl. Meier 1994, S. 185f.
[16] Vgl. Enayat 1982, S. 102.
[17] Vgl. Meier 1994, S. 194f.
[18] Derselbe, S. 194.
[19] Tibi 2001, S. 137.
[20] Enayat 1982, S. 85.
[21] Vgl. Derselbe, S. 84-88.
[22] Vgl. Tibi 2001, S. 40f.
[23] Derselbe, S. 36.
[24] Derselbe, S. 36.
- Quote paper
- Diplom-Politologe Florian Wanke (Author), 2004, Die Ideologie des islamischen Fundamentalismus und ihre gesellschaftlichen und politischen Implikationen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39069
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.