Sich freiwillig Schmerz zuzufügen, finden die meisten Menschen abschreckend und nicht nachvollziehbar. Dennoch gibt es bei vielen Jugendlichen ein impulsives selbstverletzendes Verhalten, das oft zur Sucht wird. Die Betroffenen fügen sich Schmerz zu, indem sie sich schneiden, ritzen, verbrennen, kratzen, beißen und sogar schlagen.
Dieses selbstverletzende Verhalten dient häufig der Kompensation enormer psychischer Spannungen. In vielen Fällen liegen die Ursachen dabei in traumatischen Erlebnissen, die häufig auf die Kindheit zurückzuführen sind.
Annika Althoff untersucht in dieser Publikation die Ursachen von selbstverletzendem Verhalten sowie Erklärungsansätze zur Entstehung und zum Verlauf der komplexen Störung. Die Autorin stellt dabei auch Möglichkeiten der Prävention und Therapie vor und gibt Ratschläge für den Umgang mit Betroffenen.
Aus dem Inhalt:
- Selbstverletzendes Verhalten;
- Jugendliche;
- Soziale Arbeit;
- Prävention;
- Therapie
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffsdefinitionen
2.1 Selbstverletzendes Verhalten (SVV)
2.2 Psychische Störung
3 Erscheinungsbild
3.1 Formen der Selbstverletzung
3.2 Lokalisation
3.3 Merkmale von SVV
4 Epidemiologie und Verlauf
5 Klassifikation und Diagnostik
5.1 Möglichkeiten der Klassifikation
5.2 Diagnostik
6 Risikofaktoren und Erklärungsmodelle
6.1 Risikofaktoren für die Entstehung von SVV
6.2 Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung von SVV
7 Funktionen selbstverletzenden Verhaltens
7.1 Selbstregulation
7.2 Bewältigung belastender Lebensereignisse
7.3 Soziale Funktionen
7.4 Wirksamkeit des Verhaltens
8 Behandlung von selbstverletzendem Verhalten
8.1 Prävention
8.2 Therapie
9 SVV als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit
9.1 Grundsätze professioneller Sozialer Arbeit
9.2 Soziale Arbeit in ambulanter und stationärer Jugendhilfe
9.3 Elemente der Begleitung von Menschen mit SVV
9.4 Notwendige Entwicklungen in der Sozialen Arbeit
9.5 Primärprävention von Selbstverletzung als Bestätigung der Notwendigkeit und des Ausbaus bestehender Handlungsfelder der Sozialen Arbeit
10 Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Entwicklungspathologisches Modell des SVV (Yates 2004 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 84)
Abbildung 2: Ein integratives Modell (Petermann/Nitkowski 2015, S. 129)
Abbildung 3: Gründe für SVV bei Jugendlichen (vgl. Nixon et al. 2002 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 65)
1 Einleitung
„Mit der Klinge fahre ich langsam
Meinen Unterarm hinauf
Dann ein Schnitt, klein und flach
Und die Welt um mich blüht auf
Schmerz schärft alle meine Sinne
Jede Faser ist gestimmt
Und ich hör' den Körper singen
Wenn der Schmerz die Last mir nimmt
Tiefer, noch ein bisschen tiefer
schneid Ich in den weißen Arm
Aus der Wunde sickert lautlos
Dunkles Blut - und mir wird warm
Das Blut so rot, das Blut so rein
Die Zeit heilt meine Wunden nicht
Mein Blut zu sehen ist wunderschön
Mein Blut zu sehen, tröstet mich
Glück durchströmt den ganzen Körper
Schmerz treibt jeden Schmerz heraus
Um auf diese Art zu fühlen
Nehm' ich all das Leid in Kauf […]“
(Subway to Sally 2003)
Das Thema dieser Bachelorarbeit ist das „Selbstverletzende Verhalten als psychische Konfliktbewältigung im Jugendalter“. Dieses wird auch in Kunst, Literatur und Filmen immer wieder aufgegriffen. Das oben genannte Zitat aus dem Song „Narben“ von der Band „Subway to Sally“ wurde 2003 veröffentlicht und steht stellvertretend für eine Vielzahl künstlerischer Darstellungen über Selbstverletzendes Verhalten (SVV). Das Lied „Narben“ veranschaulicht, welche Funktionen die Selbstverletzungen darstellen und in welcher aussichtslosen Situation sich viele Betroffene befinden. Mit dem zitierten Liedtext lassen sich bereits wesentliche Aspekte des SVV visualisieren. Es wird deutlich, dass SVV insbesondere der Kompensation enormer psychischer Spannungen dient und die Betroffenen ihren Körper mithilfe von Selbstverletzungen, dem daraus resultierenden Schmerz und dem Fließen des Blutes wieder spüren können. In vielen Fällen liegt der zentrale Fokus in Bezug auf die Ursachen des SVV auf traumatischen Erlebnissen, die häufig auf die Kindheit zurückzuführen sind.
Diese Erfahrungen können jedoch viele Betroffene nicht kommunizieren, sodass der tiefsitzende Schmerz erst durch selbst zugefügte Verletzungen, beispielsweise in Form von Ritzen, Schneiden, Verbrennen oder Ähnlichem sichtbar wird.
Grundsätzlich muss erwähnt werden, dass SVV ein noch relativ unerforschtes Phänomen darstellt, welches erst seit Ende der 80er Jahre in der Literatur verstärkt berücksichtigt wird (vgl. Wittchen/Hoyer 2011 zit. nach Gebhard 2013b, S. 10). Auch heute noch gilt SVV als Symptom für andere psychische Störungen und wird nicht als eigenständige Krankheit angesehen. Zwar lassen sich einige WissenschaftlerInnen finden, die die Symptomatik dahingehend untersuchen, um welche Art von Störung es sich bei SVV handelt, jedoch sind dies nur erste Versuche (vgl. Kapitel 5).
Es ist für die meisten Menschen eine alltägliche Erfahrung, durch Aktivitäten wie Duschen oder Bewegung den eigenen Körper intensiv zu spüren und dadurch in der Regel ein körperliches und psychisches Wohlempfinden zu erzeugen. Dies geschieht vor allem dann, wenn Körper und Geist eine Einheit bilden. Allerdings gibt es auch Menschen, die keine gute beziehungsweise gar keine Beziehung zu ihrem Körper spüren können und deshalb Wege suchen, wieder einen Zugang zu sich zu finden. Eine Möglichkeit, diese Schwelle zu überwinden, sehen die Betroffenen von SVV darin, sich selbst Schmerzen und Verletzungen zuzufügen. Der Gedanke, sich freiwillig Schmerz zuzufügen, schreckt viele Menschen ab und erzeugt Unverständnis. Es scheint ein Paradoxon zu sein, dass durch die Hilfe selbst zugefügter körperlicher Schmerzen der seelische Schmerz gelindert wird. Ebenso ist es für Außenstehende meist nicht nachvollziehbar, dass der Anblick von Blut Erleichterung und Entspannung bedeuten kann. Demgegenüber steht die Tatsache, dass dieses Verhalten für die Betroffenen meist der einzige Weg ist, sich am Leben zu halten beziehungsweise ins Leben zurückzufinden. Diese Bachelorarbeit soll einen Teil dazu beitragen, dass Betroffene von SVV besser von Außenstehenden verstanden und Nicht-Betroffene für dieses Thema sensibilisiert werden.
Auch in der pädagogischen Arbeit trifft man zunehmend auf Jugendliche mit psychischen Störungen und SVV. Wenn man bedenkt, wie viele Jugendliche in Deutschland von SVV betroffen sind (vgl. Kapitel 4.1), ist es nur eine Frage der Zeit, bis man als PädagogIn in Kontakt mit einem der betroffenen Jugendlichen tritt. Dennoch herrscht immer noch ein Mangel an pädagogischen Ansätzen für die Arbeit mit sich selbstverletzenden Jugendlichen, weshalb diese in dieser Arbeit aufgegriffen werden.
Im ersten Abschnitt der Arbeit wird der/die LeserIn mit allgemeinen Begriffsdefinitionen der Begrifflichkeiten „Selbstverletzendes Verhalten“ und „Psychische Störung“ in die Thematik eingeführt. Daraufhin folgt eine Darstellung des Erscheinungsbildes der Störung im Hinblick auf verschiedene Formen, Lokalisation sowie unterschiedliche Merkmale selbstverletzenden Verhaltens. Im Anschluss werden die Epidemiologie sowie der Verlauf der Störung beschrieben, bevor auf die Klassifikation und Diagnostik eingegangen wird. Unter dem darauffolgenden Oberpunkt „Risikofaktoren und Erklärungsmodelle“ werden die Ursachen von SVV sowie Erklärungsansätze zur Entstehung und Aufrechterhaltung der komplexen Störung analysiert. Weitere wichtige Aspekte, die darauffolgend in Bezug auf das Thema der Arbeit beleuchtet werden, stellen die Funktionen der Selbstverletzung für die Betroffenen dar, um den LeserInnen verständlich zu machen, warum ein Mensch keinen anderen Ausweg sieht, als sich selbst Schmerzen zuzufügen. Im Anschluss werden Möglichkeiten der Prävention und Therapie aufgezeigt, bevor die Verbindung von SVV und Sozialer Arbeit hergestellt wird, indem Grundsätze professioneller Sozialer Arbeit und Handlungsansätze im Umgang mit Betroffenen vorgestellt werden.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, das Phänomen des SVV einerseits für die LeserInnen und StudentInnen des Studienganges Soziale Arbeit verständlicher zu machen, andererseits soll diese Arbeit als Quelle dienen, in der man kompakte Informationen zur Selbstverletzung erhält und diese in Bezug zu anderen Störungsbildern setzen kann. Dabei wird das SVV als eigenständige Krankheit betrachtet.
Um sowohl Männer und Frauen als auch die Personen anzusprechen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, wird in dieser Bachelorarbeit die Form des Binnen-I verwendet. Beispiel: PatientInnen
2 Begriffsdefinitionen
2.1 Selbstverletzendes Verhalten (SVV)
Es existiert keine einheitliche Definition von SVV, da es innerhalb der Forschung keine adäquaten Übereinstimmungen hinsichtlich der Terminologie gibt, sondern stattdessen eine Reihe verschiedenster Begrifflichkeiten verwendet werden. Häufig verwendete Synonyme sind beispielsweise Autoaggression, Automutilation, Parasuizid, Selbstverletzung oder selbstschädigendes Verhalten. Die verschiedenen Begriffe beleuchten allerdings unterschiedliche Aspekte der Problematik (vgl. Warschburger/Kröller 2008, S. 210).
In aktuellen Arbeiten findet sich zunehmend der Begriff der „Nicht-suizidalen-Selbstverletzung“ (NSSV, vgl. beispielsweise Jacobson/Gould 2007; Muehlenkamp/Gutierrez 2007; Nock et al. 2008 zit. nach Plener et al. 2010, S. 78). NSSV meint nach Lloyd-Richardson et al. (2007, S. 1183) die freiwillige, direkte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht. NSSV sei sozial nicht akzeptiert, direkt, repetitiv und führe zu kleinen oder moderaten Schädigungen. Hier lässt sich eine klare Differenzierung zum Suizidversuch erkennen. In der deutschsprachigen Literatur wurde dieses Konzept von Petermann/Winkel (2009) aufgegriffen, wonach das
„[…] selbstverletzende Verhalten gleichbedeutend ist mit einer funktionell motivierten Verletzung oder Beschädigung des eigenen Körpers, die in direkter und offener Form geschieht, sozial nicht akzeptiert ist und nicht mit suizidalen Absichten einhergeht“ (Petermann/Winkel 2009, S. 23).
Mit dieser Definition wird versucht, sowohl die unterschiedlichen Erscheinungsformen als auch eine Bandbreite an Motiven und Funktionen zu erfassen und von ähnlichen Verhaltensweisen abzugrenzen (vgl. Liebsch 2001, S. 110). Wichtig ist die Beachtung des Ausdrucks „sozial nicht akzeptiert“ anstatt „kulturell nicht sanktioniert“. Letzterer Ausdruck könnte Missverständnisse auslösen, denn mit Sanktionierungen können sowohl negative als auch positive Reaktionen der Umwelt gemeint sein. Die Aufnahme einer sozialen Perspektive in die Definition ist entscheidend, um sicherzustellen, dass beispielsweise Piercings und Tätowierungen nicht zum SVV gezählt werden.
Somit ist die Definition nach Petermann/Winkel (2009, S. 23) umfassend und präzise genug, um SVV eindeutig von anderen Formen abweichenden Verhaltens abgrenzen zu können, und breit genug, um die verschiedenen Erscheinungsformen von SVV integrieren zu können (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 21 f.).
Ich werde im Zusammenhang mit dieser Arbeit den Begriff „selbstverletzendes Verhalten“ verwenden und gehe dabei mit der Meinung von Petermann/Winkel (2009, S. 23) konform.
2.2 Psychische Störung
Eine psychische Störung ist ein Konstrukt, auf das sich PraktikerInnen und ForscherInnen auf der Grundlage von Forschungsergebnissen geeinigt haben, die zu diesem Zeitpunkt den neusten Stand der Forschung widerspiegeln. Somit ist es die bestmögliche Lösung für eine begrenzte Zeit und kann auf der Grundlage neuerer Forschungsergebnisse eine Änderung erfahren (vgl. Gebhard 2013b, S. 10). Das Konstrukt versucht den Eindruck zu vermeiden, dass Dysfunktionen auf ein eindeutiges Prinzip zurückzuführen sind und darauf reduziert werden. Diese Zusammenhänge sind nicht einfach herzustellen, da die Ursachen und Verläufe psychischer Störungen wesentlich komplexer sind, als es bei somatischen Krankheiten beispielsweise häufiger der Fall sein kann (vgl. Gebhard 2013b, S. 10 f.).
„Unter einer psychischen Störung werden Symptome oder Symptommuster (Syndrome) im Denken, Erleben und/oder Handeln einer Person verstanden, die von der Norm abweichen, zu einer Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/oder sozialen Aktivitäten führen, durch ausgeprägtes Leiden gekennzeichnet sind und bei den Betroffenen ein Änderungsbedürfnis hervorrufen“ (Renneberg/Heidenreich/Noyon 2009, S. 21).
Besonders im Jugendalter müssen aufgrund des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsenenalter vielfältige Anforderungen, wie beispielsweise körperliche Veränderungen und die Zunahme von Verantwortung und Selbstständigkeit, im Spannungsfeld von Identitätsentwicklung und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bewältigt werden. Sollte diese Anforderungsleistung nicht gelingen oder sollten möglicherweise besonders belastende Ereignisse hinzukommen, so kann dies möglicherweise zur Ausbildung einer psychischen Störung beitragen (vgl. Gebhard 2013b, S. 11).
3 Erscheinungsbild
3.1 Formen der Selbstverletzung
Im Folgenden werden die religiösen und alltäglichen Formen der Selbstverletzung sowie die Selbstverletzung als Krankheit dargestellt, wobei darauf hinzuweisen ist, dass die Grenzen zwischen kulturell verankerter, alltäglicher und krankhafter Selbstverletzung fließend sind (vgl. Eckhardt 1994, S. 13).
3.1.1 Religiöse Formen; Alltägliche/Akzeptierte Formen
Selbstschädigung war schon immer Bestandteil verschiedener religiöser Rituale und Stammesriten; es soll Buße und die Kasteiung des weltlichen Körpers darstellen. So war und ist in verschiedenen Kulturen eine willentliche Beschädigung des Körpers üblich, um Schönheitsidealen zu entsprechen. Hier lassen sich beispielsweise die Verformung des Kopfes im alten Ägypten, die Verformung von Frauenfüßen in China oder die Skarifikation, also das Zufügen von Hautnarben, in Afrika nennen (vgl. Ackermann 2002, S. 15). Dies sind nur einige Beispiele für verschiedene Riten mit Selbstschädigungscharakter. Die einzelnen Riten sollten nur im entfernteren Sinne als SVV betrachtet werden, da sie sozial akzeptiert sind, kontrolliert vollzogen werden und in einen kulturellen Kontext eingebettet sind (vgl. Petermann/Winkel 2009, S. 17 ff.).
Unter alltäglichem selbstschädigenden Verhalten lässt sich eine indirekte Form verstehen, seinem Körper, meist unbewusst, Schaden zuzufügen. Viele Schädigungen des Körpers sind gesellschaftlich akzeptiert und erwünscht. Dazu zählen beispielsweise das Auszupfen von Härchen, Schönheitsoperationen, das Bräunen der Haut, Piercings und Tattoos (vgl. Smith/Cox/Saradjian 2000 zit. nach Ackermann 2002, S. 15). Eine weitere gesellschaftlich anerkannte Form der alltäglichen Selbstschädigung sind Extremsportarten, bei denen bis hin zur körperlichen Erschöpfung oder bis zur Entwicklung körperlicher Schäden trainiert wird. Auch sportliche Aktivitäten, die mit großen Gefahren verbunden sind, sind hier einzuordnen (vgl. Eckhardt 1994 zit. nach Ackermann 2002, S. 16). Weiterhin kann Risikoverhalten unter alltägliche Selbstschädigung gefasst werden.
Nach von Troschke (1979 zit. nach Ackermann 2002, S. 16) können unter Risikoverhalten Genussmittelkonsum, „falsche“ Ernährung, „leichtsinniges“ Verhalten, Bewegungsmangel, mangelnde Körperhygiene und mangelnde Psychohygiene gezählt werden. Auch Drogenmissbrauch und riskantes Sexualverhalten, im Hinblick auf Aids, werden als gesundheitsriskante Verhaltensweisen genannt (vgl. Schwarzer 2004, S. 249).
Es sind unterschiedliche Motive für diese Formen des selbstschädigenden Verhaltens bei einzelnen Menschen und Bevölkerungsgruppen bekannt. Das Verhalten kann Lebensqualität bedeuten, um in einer sozialen Gruppe dazuzugehören, als selbstverständlich angesehen werden und zur Gewohnheit geworden sein oder aber auch der Entspannung und Abreaktion von Alltagskonflikten dienen (vgl. von Troschke 1979 zit. nach Ackermann 2002, S. 16).
Es wird deutlich, dass eine klare Trennung von „normalem“ und „abnormalem“ Verhalten zwischen Gesundheit und Krankheit schwer möglich ist.
3.1.2 Selbstverletzung als Krankheit
In Bezug auf die krankhafte Form des SVV muss zwischen der artifiziellen Erkrankung, also der heimlichen Form der Selbstverletzung, und der offenen Form der Selbstverletzung, um die es in dieser Arbeit in erster Linie geht, unterschieden werden. Beide Formen werden im Folgenden dargestellt.
Das zentrale Symptom der artifiziellen Krankheit besteht darin, dass sich Menschen heimlich schädigen. Es werden körperliche und/oder seelische Krankheitssymptome künstlich erzeugt oder vorgetäuscht, um die PatientInnenrolle einnehmen zu können. So werden beispielsweise Blutungen erzeugt, toxische Substanzen injiziert sowie Schmerzen nachgeahmt; dies führt oft zu wiederholten Klinikaufenthalten und medizinischen Maßnahmen. Betroffene verleugnen das SVV und glauben schließlich selbst daran, unter einer komplizierten Krankheit zu leiden.
Kennzeichnend für diese Formen heimlicher Selbstverletzung ist, dass sich die Betroffenen ihres Verhaltens nicht bewusst sind. Dies ist ein Grund dafür, dass sie oftmals sehr schwer zugänglich sind, wenn es um die Ursachen ihrer „körperlichen“ Beschwerden geht (vgl. Ackermann 2002, S. 19 f.).
Unter offener Selbstverletzung lassen sich selbstzugefügte, direkte und körperliche Verletzungen verstehen, die nicht gezielt lebensbedrohlich sind (vgl. Herpertz/Saß 1994 zit. nach Ackermann 2002, S. 20). Der Unterschied zu den artifiziellen Erkrankungen besteht darin, dass die Betroffenen zu der Tatsache stehen, die Verletzung selbst herbeigeführt zu haben (vgl. Hänsli 1996, S. 33 f.).
Es lässt sich ein signifikanter Unterschied zur alltäglichen Selbstverletzung feststellen.
„Wenn jemand beschließt, einen Körperteil zu piercen oder tätowieren zu lassen, empfindet er diese Eingriffe als schmerzhaft und unangenehm. […] Eine Person, die sich selbst verletzt, befindet sich dagegen meistens in einem Trancezustand und sucht den Schmerz und das Blut. Sie denkt kaum darüber nach, wie ihre Haut später aussehen wird. Ein Mädchen, das sich selbst verletzt, handelt nicht nach den Normen einer bestimmten Gruppe: Sie plant ihr Vorgehen nicht, sondern ist überwältigt von dem Zwang, so handeln zu müssen, und folgt dabei keiner bewussten Absicht. Sie sucht bei ihrer Selbstverletzung den körperlichen Schmerz - der den noch schmerzlicheren psychischen Zustand übertüncht“ (Levenkron 2001, S. 22 f.).
Eine offene Selbstverletzung kann in Anlehnung an Favazza (1998 zit. nach Warschburger/Kröller 2008, S. 210 ff.) in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden: schwerwiegendes, stereotypes und impulsives SVV. Jede dieser Formen scheint nicht nur mit verschiedenen Störungsbildern einherzugehen, sondern auch unterschiedliche Ursachen zu haben.
Schwerwiegendes SVV tritt häufig im Rahmen psychotischer Erkrankungen, Intoxikationen mit Drogen oder auch bei neurologischen Erkrankungen, wie Enzephalitis auf (vgl. Simeon/Favazza 2001 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 30) und erfolgt in der Regel sporadisch. Die Betroffenen bestrafen sich meist infolge von Halluzinationen und Wahnvorstellungen, häufig mit religiösen Inhalten, mit Verletzungen wie Kastrationen, Amputationen oder Autokannibalismus (vgl. Favazza 1998 zit. nach Warschburger/Kröller 2008, S. 210).
Stereotype Selbstverletzungen bilden rhythmisch wiederholte gleichförmig und starr ablaufende Selbstverletzungen wie Sich-Beißen, Sich-Kratzen, Augen-, Nasen- und Ohrenbohren oder Kopfschlagen. Diese Formen von Selbstverletzungen werden häufig bei geistig behinderten oder hospitalisierten Menschen beobachtet (vgl. Simeon/Favazza 2001 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 30).
Die Verletzungen können einen sehr unterschiedlichen Schweregrad haben und insbesondere aufgrund ihrer häufigen Wiederholungen bei den Betroffenen zu schweren körperlichen Schädigungen führen (vgl. Favazza 1998 zit. nach Warschburger/Kröller 2008, S. 210 f.).
Impulsives SVV, welches als bekannteste und häufigste Form SVV bei Jugendlichen gilt, weist ebenfalls eine hohe Wiederholungstendenz auf und kann einen suchtartigen Charakter annehmen. Als typische Praktiken dieser Form gelten Schneiden, Ritzen, Sich-Verbrennen, Kratzen, Beißen und Schlagen. Meist handelt es sich um oberflächliche Schnittwunden, häufig durch Rasierklingen oder ähnliche Gegenstände, kleinere Verbrennungen durch Zigaretten oder weitläufige Kratzspuren (vgl. Favazza 1998 zit. nach Warschburger/Kröller 2008, S. 211). Die Selbstverletzungen dieser Form sind typischerweise leicht bis mittelschwer, aber nicht unmittelbar lebensbedrohlich und das Verhalten folgt häufig einem festen Ablaufschema, sodass ein Ritual entsteht (vgl. Simeon/Favazza 2001 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 31).
Da bei dieser deskriptiven Klassifikation keine Aussagen über die möglichen Ursachen der Störung genannt werden, lassen sich Hinweise auf mögliche Interventionen nur eingeschränkt ableiten.
3.2 Lokalisation
Im Allgemeinen können alle Körperregionen von SVV betroffen sein, es gibt jedoch einige bevorzugte Körperstellen. Als besonders verbreitet gelten Verletzungen der Haut, besonders an der Oberseite der Unterarme, den Handgelenken, Oberarmen, Oberschenkeln und im Abdominalbereich (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 23). Gründe dafür können sein, dass diese Stellen leicht erreichbar sind und situationsabhängig verdeckt oder offengelegt werden können (vgl. Warschburger/Kröller 2008, S. 212). Selbst zugefügte Verletzungen im Genitalbereich treten selten auf, wobei hier oftmals ein Zusammenhang mit sexuellen Traumatisierungen beschrieben wird (vgl. Alao/Yolles/Huslander 1999, S. 1362 f.).
Weiterhin ist bekannt, dass eine höhere Suizidalität und schwerere psychische Symptomatik bei jenen vorliegt, die sich auch an anderen Körperstellen als nur an Armen und Beinen verletzen (vgl. Laukkanen et al. 2013 zit. nach In-Albon et al. 2015, S. 3).
3.3 Merkmale von SVV
Da die Betroffenen oft darauf bedacht sind, ihre Selbstverletzungen Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld nicht direkt zu präsentieren, sondern eher versuchen diese zu verstecken, bekommt das Umfeld das SVV häufig gar nicht oder erst sehr spät mit. Zusätzlich wird eine ausgeprägte Wiederholungstendenz beschrieben, die diesem Störungsbild zugrunde liegt und die nur ausnahmsweise als isolierte Handlung vorkommt (vgl. Blanz et al. 2006, S. 58 ff.).
„In der Heidelberger Stichprobe zeigte sich, dass Selbstverletzungen als Einzelereignisse selten erscheinen. Nur vier Prozent der Patientinnen mit selbstverletzendem Verhalten hatten zum Untersuchungszeitpunkt erst einmal Hand an sich gelegt. 25 Prozent zwei- bis dreimal, aber 71 Prozent bereits mehr als dreimal“ (Resch 2001, S. A2268).
SVV kann auf viele unterschiedliche Arten und Weisen durchgeführt werden. Neben den eigenen Händen, Fäusten, Zähnen und Fingernägeln können alle verfügbaren Gegenstände als Instrumente zur Durchführung der Selbstverletzung verwendet werden. Nicht nur offensichtlich geeignete Instrumente wie Messer oder Rasierklingen kommen zur Anwendung, sondern auch harmlos erscheinende Gegenstände wie Schmuck, Stifte oder Nagelclips (vgl. Ferentz 2001). Die Verletzungen können beispielsweise durch Schnitte mit Messern, Rasierklingen, Glasscherben oder anderen scharfen Gegenständen oder aber auch durch Beißen, Kratzen mit den Fingernägeln, durch Nadelstiche, durch Verbrennungen mit Zigaretten oder durch Verbrühungen mit heißer Flüssigkeit herbeigeführt werden (vgl. Bjärehed/Lundh 2008). Nach Bennett/Trickett/Potokar (2009 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 23) können aber nicht nur die Haut, sondern auch das Körperinnere, wie die Atemwege und Verdauungsorgane, durch die Einnahme, das Einatmen oder die Injektion von Substanzen, Flüssigkeiten oder Gasen geschädigt werden.
Weiterhin bildet die Manipulation bereits bestehender Wunden zur Vermeidung einer Wundheilung eine Methode der Selbstverletzung (vgl. Warschburger/Kröller 2008, S. 212). Zudem stellen das Bohren in den Augen oder selbst zugefügte Knochenbrüche Erscheinungsformen von SVV dar (vgl. Hoffmann 2013, S. 127). Die häufigste Form bildet dabei das Ritzen, also das Zufügen von oberflächlichen oder auch tiefgehenden Schnittverletzungen (vgl. In-Albon et al. 2015 S. 3), auf welches im Folgenden ein hauptsächliches Augenmerk gelegt wird.
Nach Barrocas et al. (2012, S. 39) variieren die Methoden geschlechtsabhängig. Während Mädchen sich deutlich häufiger schneiden, fügen sich Jungen häufiger durch Verbrennen oder Sich-Schlagen Verletzungen zu. Weiterhin scheint die Art der gewählten Methode von der „gewünschten“ Funktion und spezifischen Persönlichkeitsfaktoren beeinflusst zu werden (vgl. Robertson et al. 2013 zit. nach In-Albon 2015, S. 3). Auch zeigen sich charakteristische Muster selbstverletzenden Verhaltens. Die meisten Betroffenen, die SVV durchführen, haben eine bevorzugte Methode (66,7%); es gibt jedoch auch betroffene Jugendliche, die mehrere unterschiedliche Methoden verwenden (22,7%, vgl. Ferentz 2001; Muehlenkamp/ Gutierrez 2004 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 36).
Viele Betroffene berichten trotz oft ernsthafter Verletzungen über nicht vorhandenes Schmerzgefühl während der Durchführung der Selbstverletzung; die Schmerz-wahrnehmung scheint in diesem Zustand verändert zu sein (vgl. Brunner/Schmahl 2012 zit. nach Petermann 2012, S. 1). Das mangelnde Schmerzempfinden wird mit der Freisetzung körpereigener Opiate (Endorphine) erklärt, die bei starken Stressreaktionen produziert werden. Das Schmerzempfinden kehrt vermutlich zurück, wenn die Wirkung der Endorphine nachgelassen hat; dies kann nach Minuten, Stunden oder sogar Tagen erfolgen (vgl. Darche 1990 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 26). Eine andere Erklärung für das mangelnde Schmerzempfinden während dem SVV bietet Ferentz (2001). Der Autorin zufolge befinden sich Betroffene während der Durchführung der Selbstverletzung in einem dissoziierten Zustand und verspüren daher keine körperlichen Empfindungen. Es muss allerdings erwähnt werden, dass das mangelnde Schmerzempfinden zwar auf sehr viele Betroffene, jedoch nicht auf alle zutrifft.
4 Epidemiologie und Verlauf
Allgemein sind die Prävalenzangaben schwer zu bestimmen und zu bewerten, was unter anderem in einer mangelnden terminologischen Klarheit des Konzeptes begründet ist. Zudem führen die meisten Selbstverletzenden das Verhalten im Privaten durch, verdecken ihre Kleidung oder erklären sichtbare Verletzungen mit angeblichen Unfällen; so gehen die Schätzungen der Forscher teilweise weit auseinander (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 51). Weiterhin wird die Bestimmung der Prävalenz durch unterschiedlich verwendete Erhebungsmethoden erschwert (vgl. Warschburger/Kröller 2008, S. 215).
Generell lässt sich sagen, dass Deutschland im europäischen Vergleich zu den Ländern mit den höchsten Prävalenzraten für SVV unter Jugendlichen gehört (vgl. Plener et al. 2012a, S. 16 ff.).
Im Folgenden wird versucht, verschiedene Prävalenzangaben unterschiedlicher Studien zusammenzufassen und daraus Schlüsse zu ziehen. Die Häufigkeiten in Schülerpopulationen variieren zwischen 3% und 37% (vgl. Vonderlin et al. 2011 zit. nach Petermann 2012, S. 1). Aus Stichproben von Schülerpopulationen in Deutschland wurde bei Jugendlichen eine Lebenszeitprävalenz von 25,6% für zumindest einmaliges SVV berichtet (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 6). Betrachtet man die Angaben für gelegentliches SVV (ein- bis dreimal) und repetitives SVV (mehr als viermal), so ergeben sich Prävalenzwerte von 2-15% (vgl. Warschburger/Kröller 2008, S. 215). Nach Untersuchungen von Brunner et al. (2007, S. 643) herrscht eine Ein-Jahresprävalenz von 10,9% für gelegentliches SVV und von 4% für repetitives SVV. Weitere Studien geben an, dass für Jugendliche der neunten Klasse eine Lebenszeitprävalenz von 25,6%, eine Ein-Jahresprävalenz von 14,9% und eine Sechs-Monatsprävalenz von 14,2% herrscht (vgl. Hoffmann 2013, S. 129). Auch hier lassen sich die verschiedenen Werte aufgrund der unterschiedlichen Eingrenzungen erkennen. Muehlenkamp und Gutierrez (2004) stellten in ihrer Studie an 390 High-School-SchülerInnen mit einem Altersdurchschnitt von 16,3 Jahren SVV in 15,9% der Fälle fest. Es ergeben sich Hinweise darauf, dass SVV bei Jugendlichen mit einer höheren Prävalenz auftritt als im jungen Erwachsenenalter (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 53).
„Auch wenn gelegentlich von einem Anstieg der Auftretenshäufigkeit der Störung bei Jugendlichen in den letzten Jahren berichtet wird (z.B. MacAniff Zila & Kiselica, 2001; Nock, 2010; Pipher, 1994), spiegelt dies, wie es scheint, nur die zunehmende Beachtung des Störungsbildes wider. Die wachsende Bekanntheit der Problematik erleichtert es wiederum den Betroffenen, sich Unterstützung zu suchen und offener mit ihrer Störung umzugehen. Es kann daher angenommen werden, dass selbstverletzendes Verhalten zukünftig als Störungsbild stärker wahrnehmbar wird, ohne dass eine tatsächliche Zunahme der Prävalenz vorliegen muss“ (Petermann/Nitkowski 2015, S. 61).
Fasst man die Aussagen der verschiedenen Studien und Autoren zusammen, so lässt sich davon ausgehen, dass ca. 25% der Jugendlichen in Deutschland zumindest einmalig SVV angewandt haben, wobei nur ein kleiner, aber nicht unerheblicher Teil davon auch repetitives SVV zeigt. Geht man davon aus, dass ca. 4% die Häufigkeitskriterien, die im DSM-V definiert werden, erfüllen und sich somit wiederholt selbstverletzen, so spricht man hier von einem gesundheitlichen Problem, das in etwa das Ausmaß der Prävalenz der ADHS annimmt (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 6 f.).
Die Frage einer unterschiedlichen Prävalenz selberverletzenden Verhaltens bei den Geschlechtern wird in der Literatur nicht eindeutig beantwortet. Viele Studien berichten, dass Mädchen und Frauen häufiger von SVV betroffen sind als Jungen und Männer. Resch (1998 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 55) beispielsweise berichtet als Ergebnis eines Vergleichs verschiedener Untersuchungen über ein Geschlechterverhältnis von 2:1 bis hin zu 9:1, also über deutlich mehr weibliche Betroffene. Auch in der Heidelberger Schulstudie wurde festgestellt, dass 14-jährige Mädchen SVV doppelt so häufig wie Jungen durchgeführt haben. Bei der repetitiven Form von SVV zeigten die Mädchen dreifach so hohe Häufigkeiten wie die Jungen (vgl. Resch 2005 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 53 ff.). Werden auch Praxen wie Sich-Schlagen oder nach Gegenständen treten, um sich zu verletzen, in die Definition integriert, steigt der Anteil männlicher Akteure deutlich an (vgl. Muehlenkamp/Gutierrez 2004 zit. nach Liebsch 2011, S. 111).
Eine mögliche Erklärung dafür, dass Mädchen häufiger von SVV betroffen zu sein scheinen als Jungen, ist, dass Frauen eher als Männer die Tendenz aufweisen, Aggressionen gegen sich selbst statt gegen ihre Umwelt zu richten (vgl. Muehlenkamp/Gutierrez 2004 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 56).
Da Frauen häufiger als Männer Opfer sexuellen Missbrauchs werden und dies als Risikofaktor für SVV gilt, liefert dieser Aspekt einen weiteren Erklärungsansatz. Zudem werden häufig Borderline-PatientInnen zu Stichproben herangezogen; hier überwiegt der Anteil an betroffenen Frauen deutlich (vgl. Muehlenkamp/Gutierrez 2004 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 56).
Durch bereits benannte Probleme bei der korrekten Bestimmung der Prävalenz ist es ebenfalls schwierig, zuverlässige Angaben über die langfristige Entwicklung zu machen. Eindeutige empirische Belege für Veränderungen der Prävalenz der Störung existieren daher derzeit nicht (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 61).
Unterschiedlichen Quellen zufolge liegt das durchschnittliche Alter, in dem SVV begonnen wird, zwischen dem zwölften und vierzehnten Lebensjahr (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 7; Petermann 2012, S. 1; Petermann/Nitkowksi 2015, S. 58; Warschburger/Kröller 2008, S. 215). In der Phase des Jugendalters tritt SVV am häufigsten auf, mit zunehmendem Alter, meist ab einem Alter von 30-40 Jahren, nimmt das Auftreten des SVV wieder ab (vgl. Petermann 2012, S. 1; Warschburger/Kröller 2008, S. 215; Ferentz 2001, S. 2). TeilnehmerInnen einer Studie bei Waters und Rolfe (2002 zit. nach Gast 2007, S.145) gaben dafür verschiedene Gründe an. Beispielsweise erläuterten sie, mit der Zeit ein höheres Selbstwertgefühl entwickelt oder gelernt zu haben, über ihre Gefühle zu sprechen oder ihnen auf andere Weise Ausdruck zu verleihen als durch SVV. Andere TeilnehmerInnen gaben an, nun eine stabilere und unterstützende Umgebung zu erfahren mit Menschen, mit denen sie über ihre Schwierigkeiten sprechen können. So tritt SVV zwar mehrheitlich in der Adoleszenz auf, es wäre aber falsch anzunehmen, dass SVV ein vorübergehendes Problem der Adoleszenz darstellt, denn es kann Jahrzehnte lang aufrechterhalten werden (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 7). Die Kontinuität scheint bei weiblichen jungen Erwachsenen größer zu sein als bei männlichen jungen Erwachsenen (vgl. Moran et al. 2012 zit. nach In-Albon et al. 2015, S. 7).
Beim Vorliegen einer geistigen Beeinträchtigung, einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung oder einer hirnorganischen Erkrankung kann das SVV auch schon im Kindesalter auftreten. SVV tritt zudem häufiger bei Menschen mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen oder einer geistigen Behinderung auf (vgl. Petermann 2008 zit. nach Hoffmann 2013, S. 129).
Je jünger der/die Jugendliche bei Beginn von SVV ist, desto schwerer scheint die Störung später ausgeprägt zu sein (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 59). Nixon/Cloutier/Aggarwal (2002, S. 1337 f.) konnten bestätigend dazu zeigen, dass Jugendliche mit schwerem SVV in einem signifikant jüngeren Alter begonnen haben als Jugendliche mit leichtem SVV. Bei ersteren liegt der Beginn im Durchschnitt bei elf Jahren, letztere beginnen im Durchschnitt mit vierzehn Jahren mit den Selbstverletzungen.
Hawton et al. (1996 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 59) postulieren hormonelle Gründe dafür, dass das SVV erst in der Pubertät einsetzt und bei Jugendlichen unter zwölf Jahren kaum zu beobachten ist. Dazu passt der Befund von Nixon/Cloutier/Aggarwal (2002, S. 1335), dass die Störung bei Jungen signifikant später beginnt als bei Mädchen (bei Jungen im Durchschnitt mit 15,2 Jahren, bei Mädchen mit 12,3 Jahren). Da Jungen im Durchschnitt ungefähr zwei Jahre später die Pubertät erreichen, stützt dieser Befund die hormonelle Hypothese.
Weiterhin wird SVV häufig durch bestimmte Ereignisse erstmalig ausgelöst. Dazu können nach Resch (1998 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 59) Misserfolgs- und Versagenserlebnisse gehören sowie Verlusterlebnisse, soziale Isolation oder Drucksituationen.
Als Prädikator für eine Inzidenz in der Adoleszenz sprechen eine Depression, Angst, antisoziales Verhalten sowie der Konsum von Nikotin, Cannabis und Alkohol. Prädikatoren für eine Inzidenz im jungen Erwachsenenalter bilden wiederum Angst- und Depressionssymptome in der Adoleszenz; repetitives SVV steht häufig im Zusammenhang mit weiteren psychischen Problemen (vgl. In-Albon et al. 2015, S. 7).
SVV nimmt in den meisten Fällen einen repetitiven Charakter an, wodurch eine Ähnlichkeit mit sucht- oder zwanghaftem Verhalten entsteht. Die meisten Betroffenen entwickeln ein spezifisches und für den Einzelfall charakteristisches Muster, sodass sich manche Betroffene täglich oder mehrfach täglich selbst verletzen, andere in einem wöchentlichen Rhythmus (vgl. Bywaters/Rolfe 2002 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 59).
Zudem tritt SVV häufig zyklisch auf. So wird nach einer Phase von SVV dieses oftmals zunächst beendet und dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen (vgl. In-Albon et al. 2015, S.7).
5 Klassifikation und Diagnostik
5.1 Möglichkeiten der Klassifikation
SVV kann nicht nur als Symptom einer psychischen Störung aufgefasst werden, sondern auch als eigenständige diagnostische Kategorie (vgl. Claes/Vandereycken 2007 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 159).
Seit den 1980er Jahren bemühten sich Forscher zu klären, ob das Verhalten besser als Impulskontroll- oder als Abhängigkeitsstörung beschrieben und klassifiziert werden kann. Mit der Veröffentlichung der aktuellen Ausgabe des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der amerikanischen Psychiatrie-Gesellschaft, in der SVV als Forschungsdiagnose vorgestellt wird, wurde die Frage vorläufig beantwortet. Dort wurden die Diagnosekriterien der „Nichtsuizidalen Selbstverletzung“ in der Tradition einer Impulskontrollstörung formuliert (vgl. Petermann/Nitkowski 2015, S. 159).
In der aktuellen Klassifikation psychischer Störungen der World Health Organization (WHO 1992) und der ICD-10 kann SVV nicht als eigenständige Störung bezeichnet werden. Grundsätzlich ist es im Rahmen des multiaxialen Klassifikationssystems der ICD-10 möglich, auf der vierten Achse eine „Vorsätzliche Selbstschädigung“ (ICD-10 X77-79, X88, X84) zu codieren, allerdings ohne genauere Definition dieser Gruppe, sodass diese Kategorie im klinischen Alltag häufig nicht verwendet wird (vgl. Plener et al. 2012 zit. nach In-Albon et al. 2015, S. 4).
5.1.1 SVV: Eine Störung der Impulskontrolle (IKS)?
„Es existieren deutliche Hinweise darauf, dass selbstverletzendes Verhalten insbesondere bei Menschen auftritt, deren Persönlichkeit sich durch das Merkmal Impulsivität auszeichnet (Herpertz, Saß & Favazza, 1997). Menschen mit selbstverletzendem Verhalten unterscheiden sich in ihrer Persönlichkeit nicht qualitativ von anderen Patienten mit selbstschädigenden Verhaltensweisen, sondern zeichnen sich durch eine besonders schwerwiegende Variante von impulsivem Verhalten aus“ (Herpertz/Saß/Favazza 1997 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 37).
Im Rahmen der Leitlinien der DGKJP (2007, S. 380) wird SVV als eine Ausdrucksform einer Impulskontrollstörung angesehen. Diese äußert sich allgemein darin, dass Handlungen wiederholt und ohne vernünftigen Grund oder entgegen vernünftiger Gründe durchgeführt werden, die betroffene Person keine Kontrolle über das Verhalten besitzt, dabei eigene oder fremde Interessen beeinträchtigt werden und das Verhalten von den Personen selbst als impulsiv erlebt und beschrieben wird (vgl. ICD-10 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 37).
Wichtige Kriterien für eine IKS nach DSM-5 (zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 38) bestehen in dem Unvermögen, einem Impuls, dem Drang oder der Versuchung zu widerstehen, eine schädliche Handlung durchzuführen, einer steigenden Spannung oder Erregung vor der Handlung, ebenso wie Genuss, Erleichterung oder Befriedigung, wenn die Handlung durchgeführt wird.
Im Folgenden werden die sieben Kriterien des vorsätzlichen Selbstverletzungssyndroms nach Muehlenkamp (2005; Petermann/Winkel 2009 zit. nach Petermann 2012, S. 2) genannt, die es ermöglichen, SVV als IKS zu klassifizieren. Für eine Diagnosestellung müssen alle der folgenden Kriterien erfüllt sein:
1. Die nichtsuizidale Beschäftigung mit körperlicher Selbstverletzung
2. Die Unfähigkeit, dem Impuls zur Selbstverletzung zu widerstehen
3. Dem Verhalten gehen emotionale Zustände wie zunehmende Anspannung, Wut, Angst, Traurigkeit oder allgemeine Belastung voraus, die weder kontrolliert noch gemieden werden können
4. Auf das SVV folgt unmittelbar ein Gefühl der Erleichterung, Zufriedenheit oder die Beendigung eines Depressionszustandes
5. Mindestens fünf selbstverletzende Handlungen sind ausgeführt worden
6. Die Selbstverletzung tritt nicht im Rahmen einer psychotischen Störung, Transsexualismus, geistigen Behinderung, Entwicklungsstörung oder als Folge einer körperlichen Erkrankung auf
7. Das Verhalten verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leid oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen bedeutsamen Funktionsbereichen
Für die Einordnung in eine IKS sprechen verschiedene Hinweise. Ein wesentliches Kriterium einer IKS besteht wie bereits erwähnt in der mangelnden Fähigkeit, das eigene Verhalten willentlich zu kontrollieren. Viele Betroffene beschreiben, dass das SVV eine unwiderstehliche Anziehungskraft besitzt und der Drang danach kaum unterdrückt werden kann (vgl. Ferentz 2001).
Briere und Gil (1998 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 38) bestätigen durch eine Studie eine eingeschränkte Kontrolle der selbstverletzenden Verhaltensmuster. 34% der Befragten mit SVV gaben an, dass sie ihr Verhalten in weniger als der Hälfte aller Gelegenheiten kontrollieren konnten, während 28% erklärten, dass sie stets die Kontrolle über das Verhalten besaßen. 84% der Befragten äußerten, dass sie in der Lage seien, das Verhalten in bestimmten Situationen zu unterdrücken. Es zeigte sich jedoch auch, dass 86% sich wünschten, mit dem SVV aufhören zu können (vgl. Briere/Gil 1998 zit. nach Petermann/Nitkowski 2015, S. 38). Aus den Angaben wird deutlich, dass einige der Betroffenen zwar eine gewisse Kontrolle über ihr Verhalten besitzen, dies allerdings nicht auf alle zutrifft. Der Wunsch einer großen Mehrheit der Betroffenen zeigt, dass ein Verzicht auf die Selbstverletzung scheinbar nicht ohne weiteres möglich ist und bei den Betroffenen ein gewisser Kontrollverlust besteht.
Auch in einer Umfrage von Nixon/Cloutier/Aggarwal (2002, S. 1336) gaben 78,6% der Jugendlichen an, fast täglich den Drang zur Selbstverletzung zu verspüren. Das SVV wurde allerdings mehrheitlich nur mindestens einmal wöchentlich ausgeführt (61,9%). Weiterhin gaben 69% der Befragten an, dass sie bestimmte Aktivitäten zur Ablenkung durchführten, wenn sie etwas daran hinderte, ihrem Drang nach Selbstverletzung nachzukommen. Daraus lässt sich schließen, dass der Drang zum SVV sehr intensiv ist und dass das Verhalten von den meisten Betroffenen teilweise, aber nicht vollständig unterdrückt werden kann.
Der Vorteil, SVV als Impulskontrollstörung zu klassifizieren, besteht darin, dass der instrumentelle und funktionelle Charakter des SVV hinreichend beachtet wird. Kritisch zu betrachten ist allerdings sowohl dass kein zeitlicher Rahmen definiert ist als auch dass keine suizidalen Gedanken vorliegen dürfen (vgl. Petermann/ Nitkowski 2015, S. 160).
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- Citar trabajo
- Annika Althoff (Autor), 2017, Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen. Ursachen, Behandlung und Umgang mit Betroffenen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/388683
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