51,9 % – mit dieser knappen Mehrheit brachten die Bürger des Vereinigten Königreichs am 23.06.2016 einen historischen Prozess ins Rollen. Erstmals in der europäischen Politik bestimmte die Bevölkerung einer Nation und nicht dessen parlamentarische Vertretung über den Verbleib innerhalb einer supernationalen Vereinigung. Über den Weg der direkten Demokratie entschied sich das Vereinigte Königreich für den EU-Ausstieg.
Damit verlässt nicht nur ein langjähriges Mitglied die EU, sondern vor allem eine der größten Volkswirtschaften innerhalb der Staatenvereinigung. Das Votum bedeutet daher nicht nur gravierende Veränderungen und Folgen für Großbritannien selbst, sondern auch für die EU und deren verbleibenden Mitgliedsstaaten.
Alexander Penner geht in dieser Publikation den Sorgen und Risiken, aber auch den Chancen und Hoffnungen in Bezug auf die künftige wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung des Vereinigten Königreichs nach. Der Autor gibt so einen ganzheitlichen Überblick über die Konsequenzen des Brexit für Großbritannien und erkundet zukünftige Möglichkeiten wirtschaftlicher Kooperationen des Landes auf europäischer und globaler Ebene.
Aus dem Inhalt:
- Brexit;
- Großbritannien;
- Europäische Union;
- EU-Ausstieg;
- Finanzsektor
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Zielsetzung
2 Einleitung
2.1 Geographische Abgrenzung
2.2 Brexit
3 Konsequenzen des Brexit für das UK
3.1 Politik
3.2 Einwanderung
3.3 Wirtschaft
4 Möglichkeiten künftiger ökonomischer Kooperation
4.1 Zusammenarbeit auf europäischer Ebene
4.2 Zusammenarbeit außerhalb Europas
5 Zusammenfassung und Fazit
6 Endnotenverzeichnis
Diese Arbeit widme ich meiner gesamten Familie
und insbesondere meinem kleinen „Sohnenschein“ Dima.
Niemand hat je zuvor mein Leben so verändert wie Du.
Bleib für immer so, wie Du bist.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: UK in der EU und in Europa
Abbildung 2: UK gegliedert
Abbildung 3: Großbritannien (GB) in Europa
Abbildung 4: Grossbritannien (Insel)
Abbildung 5: Entwicklung der Meinungsumfragen zum Brexit
Abbildung 6: Referendums-Wahrscheinlichkeit der EU-Mitglieder
Abbildung 7: Übersicht über die Migrationsströme des UK.
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Daten zum UK.
Tabelle 2: Gliederung des UK.
Tabelle 3: Quantitative Wählerdaten zum EU-Referendum des UK.
Tabelle 4: Stimmenverteilung nach Landesteilen.
Tabelle 5: Stimmenverteilung nach Alter.
Tabelle 6: Britische Außenhandelsbilanz des Jahres 2015.
Tabelle 7: Kostenfaktoren aufgrund des sinkenden Handelsvolumens des UK nach dem EU-Austritt gemäß CEP-Szenario.
Tabelle 8: Optionen des UK für europäische Kooperation außerhalb der EU.
Tabelle 9: Wichtigste britische Nicht-EU-Handelspartner 2015.
Tabelle 10: Am schnellsten wachsende Exportdestinationen des UK.
1 Zielsetzung
Am 23.06.2016 ereignete sich Historisches in der europäischen Politik. Erstmals wurde direkte Demokratie auf supernationaler europäischer Ebene angewandt. Dabei bestimmte direkt die Bevölkerung einer Nation und nicht dessen parlamentarische Vertretung über den Verbleib innerhalb einer supernationalen Vereinigung. Das Referendum über den Verbleib des UK in der EU endete mit einer Mehrheit von 51,9 % zugunsten der Vertreter des EU-Austritts, umgangssprachlich besser bekannt als Brexit. Dieses Votum prognostiziert gravierende Änderungen und Folgen innerhalb der EU und deren verbleibenden Mitgliedsstaaten. Insbesondere wird in der internationalen Berichterstattung die große Besorgnis zu wirtschaftlichen Konsequenzen sowie zur Stabilität und künftigen Entwicklung der Institution EU deutlich, verlässt die EU nicht nur ein langjähriges, wenn auch „spezielles“ Mitglied, sondern vor allem eine der größten Volkswirtschaften innerhalb der Staatenvereinigung. Darüber hinaus sorgt der Ausgang des Referendums aber auch für viele Chancen und Hoffnungen einerseits aber auch für viele Risiken und Besorgnisse über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung und Ausrichtung des UK andererseits. Ferner hat das Votum auch weitere Konsequenzen fernab ökonomischer Gesichtspunkte für das UK zur Folge.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen die Konsequenzen für das UK möglichst ganzheitlich thematisiert und die Möglichkeiten künftige ökonomischer Kooperationen aufgezeigt werden. Hierzu liefert eine Einführung zum Brexit einleitenden Informationen sowie Aufschluss über dessen Hintergründe (Kapitel 2), danach werden dessen politischen, sozialen sowie ökonomischen Konsequenzen dargestellt (Kapitel 3) gefolgt von einer Aufstellung der Möglichkeiten künftiger wirtschaftlicher Zusammenarbeit des UK auf europäischer und globaler Ebene (Kapitel 4). Abschließend wird die Arbeit durch ein zusammenfassendes Resümee des Autors abgerundet (Kapitel 5).
2 Einleitung
In diesem Kapitel werden einleitende Informationen zum Brexit vorgestellt. Nach einer geografischen Abgrenzung zwischen GB und UK wird auf frühere Referenden im Zusammenhang mit der EU, Hintergründe und die historischen Entwicklungen sowie interessante Kennzahlen der Abstimmung eingegangen.
2.1 Geographische Abgrenzung
Bevor auf die inhaltlichen Aspekte des Brexits eingegangen wird, ist es zunächst mal wichtig, zu verstehen, wer genau davon betroffen ist. Denn für viele ist verwirrend, wenn in diesem Zusammenhang vom Vereinigten Königreich, von Großbritannien oder gar von England gesprochen wird. Für viele EU-Bürger stellen all diese Begriffe Synonyme für jenes Land dar, das sich entschlossen hat, die EU zu verlassen. Doch das ist nicht ganz richtig, denn es gibt durchaus entscheidende Unterschiede, auf die im Folgenden eingegangen wird.
Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland (United Kingdom Great Britain and Northern Ireland) – UK
Hinter dem Begriff „Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland“ (in Folgenden mit UK abgekürzt) verbirgt sich ein Staat, welcher sich als Verbund aus den Landesteile England, Schottland, Wales und Nordirland zusammensetzt. Dazu gehören auch zahlreiche nahe gelegene kleinere Inseln (z. B. Isle of Wight, Hebriden, Orkney- und Shetlandinseln) sowie entlegenere abhängige Überseegebiete (z. B. Bermuda, Falklandinseln, Gibraltar, Kaimaninseln, St. Helena). Daneben gibt es zwei spezielle Gebiete, die nicht dem UK angehören, dafür aber als so genannte „Kronbesitzungen der britischen Krone“ nur dem britischen Monarchen unterstehen. Dabei handelt es sich um die Kanalinseln (u. A. Jersey, Guernsey) sowie um die Isle of Man. Ihr Sonderstatus beruht im Wesentlichen auf eigenen Gesetzgebungen und Rechtsprechungen. Die Vertretung in internationale Beziehungen sowie im Bereich Verteidigung wird von der britischen Regierung wahrgenommen. Historisch gesehen geht der Staatsname auf das Jahr 1927 zurück. Damals kam es zu einer Aufspaltung Irlands, das seit 1800 in seiner Gänze zum damaligen „Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland“ gehörte. Die nördliche Provinz Ulster, verblieb als Nordirland im Vereinigten Königreich, der südliche Teil bildete die unabhängige Republik Irland.
Das UK nimmt sämtlich politische Pflichten der in dessen geografischen Grenzen beheimateten Bevölkerung wahr und vertritt dessen Interessen nach innen und außen. Die Hauptstadt und gleichzeitig Sitz der Regierung ist London und es herrscht eine einheitliche Währung, der Pound Sterling. Kopf der konstitutionellen Monarchie ist Queen Elizabeth II, die darüber hinaus auch das Staatsoberhaupt einer Vielzahl weiterer, unabhängiger Commonwealth-Staaten darstellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: UK in der EU und in Europa.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: UK gegliedert. [1]
Tabelle 1: Daten zum UK. [2]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Gliederung des UK. [3]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Trotz der Abgrenzung zu Großbritannien, werden die Staatsbürger des UK dennoch als „Briten“ bezeichnet. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird das UK als Adjektiv sowie im attributiven Sinne als „britisch“ bezeichnet.
Großbritannien (Great Britain) – GB
Politisch gesehen ist Großbritannien der Staat, der sich aus den drei Ländern England, Wales und Schottland zusammensetzt, zu dem auch die Hebriden, die Orkney- und die Shetlandinseln als Teil Schottlands ebenfalls gerechnet werden. Demzufolge gehört Nordirland ebenso wenig zu GB wie die teils weit entfernten Überseegebiete sowie die Kronbesitzungen Isle of Man und die Kanalinseln. Großbritannien ist aber auch die Bezeichnung für die größte der britischen Inseln, die sich aus dem monoinsularen Teil der drei Ländern England, Schottland und Wales zusammensetzt. Die neuntgrößte Insel der Welt erstreckt sich über eine Fläche von 219.331 km² und beheimatet etwa 61 Millionen Briten. [4]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Großbritannien (GB) in Europa. [5]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Grossbritannien (Insel). [6]
GB als Einheit hat seinen Ursprung im „Act of Union“ aus dem Jahre 1707, bei dem sich die drei Landesteile England, Wales und Schottland zusammenschlossen. Vorausgehend wurde Wales im Jahre 1542 bereits England zugeordnet. Die Länder GBs bilden zusammen mit der Provinz Nordirland das UK. GB ist also nur Teil des UK und nicht mit diesem gleichzusetzen. Dennoch wird es oftmals in politischen Reden sowie in der medialen Berichterstattung fälschlicherweise synonym verwendet.
2.2 Brexit
Der Begriff Brexit steht für den Austritt des UK aus der EU und stammt als Neologismus von der Fusion der englischen Wörter „British“ und „Exit“. Im Folgenden werden historische Vorgänger, Hintergründe, die Chronologie sowie numerische Fakten des EU-Mitgliedsreferendums vorgestellt.
2.2.1 Frühere Referenden gegen die EU-Mitgliedschaft
Dem Brexit-Referendum standen bereits vorangegangene Volksentscheide gegen eine EU-Mitgliedschaft Pate. Eine Beitrittsverweigerung gab es bereits 1992, als die schweizerische Bevölkerung gegen einen Beitritt zum EWR und somit letztlich gegen den Beitritt zur EU votierte. Auf Grundlage eines sicher geglaubten Referendumssieges wurde bereits zuvor ein offizielles Beitrittsgesuch zur EU gestellt. Dieses wurde dann letztendlich 2016 offiziell zurückgezogen. [7]
Gar zweimal hat sich die norwegische Bevölkerung gegen einen Beitritt zur heutigen EU gewehrt – und das, obwohl Norwegen bereits viermal (1962, 1967, 1970, 1992) einen Antrag gestellt hatte. In den Jahren 1962 und 1967 scheiterte eine norwegische EG-Mitgliedschaft am schlechten Timing, denn zeitgleich bewarb sich das UK um eine Mitgliedschaft, dessen Antrag allerdings am Veto des damaligen Erzrivalen Frankreich ein jähes Ende fand. Norwegens Beitrittsantrag wurde daraufhin auch nicht weiterverfolgt. Bei den folgenden Bewerbungen war zwar eine Beteiligung des UK kein Hindernis mehr für den EU-Beitritt, dafür allerdings das eigene Volk. Im Jahr 1972 stimmten die Bürger knapp gegen einen Beitritt zur EG, welches einer der Vorläufer der heutigen EU war. Die direkte EU-Mitgliedschaft an sich wurde dann 1994 in einer Volksabstimmung abgelehnt. [8]
Zudem hatte Island im Jahr 2009 einen Beitritt zur EU beantragt. Die damalige europa-freundliche Regierung hatte dies auch aufgrund der Auswirkungen der Finanzkrise durchgesetzt. Nach zähen Verhandlungen über die Inhalte eines Mitgliedschaftsvertrages und Auseinandersetzungen bezüglich Fischfangquoten zog die 2013 neu gewählte isländische Regierung 2015 seine Kandidatur zurück. [9]
2.2.2 Hintergründe und historische Entwicklung
Im Januar 2013 hielt David Cameron, der britische Premierminister, eine Rede, in der er versprach, vor Ende 2017 ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft abzuhalten. Hintergrund sei die zunehmende Unzufriedenheit der britischen Bürger mit der EU, mit ihrer Agenda der zunehmenden Integration und mit dem großen Zustrom von EU-Migranten auf dem britischen Arbeitsmarkt. David Cameron hat versprochen, die Bedingungen der britischen Mitgliedschaft in der EU neu zu verhandeln, in der Hoffnung, dass die britischen Bürger bedingt durch die privilegierten Mitgliedsbedingungen in der EU verbleiben werden. Das Referendum würde wiederum dann Reformdruck in der EU erzeugen, da ein EU-Austritt des UK für die anderen Mitgliedsstaaten ein realistisches Risiko darstellen würde. Befeuert wurde diese Haltung durch das vorangegangene Agieren der EU in einer anderen Krisensituation. Denn zuvor hatte die EU mit allen Mitteln darum gekämpft, Griechenland in der Eurozone zu halten. Daher war es sinnvoll, anzunehmen, dass die EU noch weiter gehen würde, um die damals drittgrößte Volkswirtschaft als Mitglied der EU zu behalten. [10]
So kündigte David Cameron schließlich im November 2015 die Forderungen des UK nach Reform zur Umsetzung folgender Ziele an:
1. Schutz der Binnenmarktrechte für das UK und andere Mitglieder außerhalb der Eurozone (Gewährleistung der Nichtdiskriminierung von Nicht-Euro-Ländern)
2. Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch Reduzierung der Regulierungen und Bürokratie, die das Geschäft belasten
3. Abkehr von der Verpflichtung einer „engeren Union" (stärkere Integration zwischen den EU-Ländern), stattdessen Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente in Entscheidungsfindungen der EU
4. Einschränkung der Immigration von EU-Ausländern ins UK
Neue Mitgliedschaftsbedingungen dieser Art lassen sich grundsätzlich auf zwei Arten realisieren, entweder durch einseitige Veränderungen seitens UK oder durch eine übergreifende Reform der EU in Einklang mit den britischen Präferenzen. Die ersten beiden Ziele erfordern eine Reform der EU, während die letzten beiden durch einseitige Veränderungen erwirkt werden können. Zunächst drängte die britische Regierung darauf, das Versprechen der Arbeit auf eine „immer engere Union" aus den Verträgen zu entfernen, um den Zugang der europäischen Migranten zum UK ganz zu beschränken. Teilweise Abmilderungen der offiziellen Forderungen sollten diese schmackhafter und umsetzbarer machen. Allerdings standen diese immer noch im Widerspruch zur Agenda, die für das EU-Projekt zentral geworden sind. Demnach stellen die EU-Staatsbürgerschaft und die damit verbundenen Rechte grundlegendste symbolische Regeln dar. Somit würde die Verweigerung der Vorteile der EU-Migranten eine Diskriminierung nach EU-Recht darstellen. Da die Verträge nur mit Zustimmung aller von ihnen unterzeichneten Staaten geändert werden können, bedürfen auch die beiden Forderungen nach einseitigen Änderungen der Zustimmung aller Mitglieder. [11]
Der Ausgang der Verhandlungen um die neuen Bedingungen wurde mit Spannung erwartet, da davon die weitere Europa-Politik des UK abhing, denn die Ergebnisse der EU-Reformverhandlungen würden sich vermutlich auch auf das Abstimmungsverhalten beim Referendum auswirken. So kam es dann am 19.02.2016 beim Gipfeltreffen in Brüssel dann doch zu einer Einigung mit einer kreativen Lösung des zentralen Brandherds „Einwanderung“. Die Forderung zur Begrenzung der Immigration wurde dabei so umgesetzt, dass jedes EU-Mitglied einen „Einwanderungsnotstand“ bei der EU-Kommission beantragen dürfe. Bei einem positiven Entscheid seitens der Kommission dürfe dann das betroffene EU-Land vier Jahre lang lediglich reduzierte Sozialleistungen an neu ankommende EU-Ausländer zahlen. Dieser Ausgang war ganz im Sinne der britischen Interessen und insbesondere ein persönlicher politischer Erfolg für den als gemäßigt pro-europäisch geltenden Premierminister Cameron. Dies sorgte für frischen politischen Wind in seinen Segeln zu einer Zeit, in der die europafeindliche UK Independence Party (UKIP) der konservativen Regierungspartei immer mehr und mehr Wähler abspenstig gemacht hat und zunehmend an Stimmanteilen gewann.[12]
Mit diesem positiven Ergebnis wurde dann auch tags darauf, am 20.02.2016 der Zeitpunkt für das Referendum auf den 23.06.2016 terminiert. Dieser zeitnahe Termin wurde gewählt, um die positive Stimmung der Reformumsetzung mitzunehmen und diese in einen Sieg der EU-Befürworter umzusetzen. Cameron war dabei so sehr von einem negativen Brexit-Votum überzeugt, dass er seine persönliche politische Zukunft an den Ausgang des Referendums knüpfte. [13]
Brexit-Befürwortern gingen die Reformen allerdings nicht weit genug. Sie wollte eine Umsetzung einer radikaleren Einwanderungspolitik nach australischem Vorbild (unter anderem Null-Toleranz-Politik gegen Bootsflüchtlinge – Operation Sovereign Borders genannt und Internierung von Asylsuchenden in „Einwanderungshaft“). [14] Zusätzlich bekam die Brexit-Bewegung auch prominente Unterstützung, als sich Camerons Parteikollege und Londons früherer Bürgermeister Boris Johnson trotz vorheriger pro-EU-Plädoyers der Kampagne für den EU-Austritt anschloss. Ein weiteres wesentliches Argument für den Austritt waren die Kosten der EU-Mitgliedschaft, welche in nationalen Investitionen wie Bildung und vor allem Gesundheit viel besser angelegt wären. Diese seien nicht unerheblich, wurden sie doch auf etwa 250 Millionen Pfund pro Woche beziffert, was vor allem bei älteren Gesellschaftsteilen auf offene Ohren stieß und diese polarisierte und mobilisierte. [15]
Neben den inhaltlichen Themenfeldern gesellten sich auch grundlegende politische Tendenzen zur Brexit-Diskussion. Insbesondere fand der europaweite Aufschwung rechtspopulistischer Gesinnungen über die letzten Jahre Eingang in die Meinungsbildung der Wähler. Die resultierenden Establishment-feindlichen und nationalistischen Gedankenströmungen nahmen mehr und mehr Einfluss und stachen in vielen Diskussionen gar sachliche Argumente gänzlich aus. [16]
Ein singuläres und unerwartetes Ereignis nahm dann kurz vor dem Referendum nochmal Einfluss auf die Debatte. Am 16.06.2016 beging ein psychisch kranker Attentäter einen tödlichen Anschlug auf die Labour-Abgeordnete Jo Cox. Die EU-Befürworterin Cox nahm in Fragen zur Einwanderungspolitik eine liberale Haltung zugunsten der Aufnahme von Flüchtlingen und der ethnischen Vielfalt ein. Der Ruf „Britain first!“ bei der Ausführung der Tat ließ auf eine sehr konservative und nationalistische Grundhaltung des Attentäters schließen. [17]
Dieses Ereignis mobilisierte und motivierte zahlreiche Brexit-Gegner, so dass sich eine Stimmungsentwicklung zugunsten der EU-Befürworter in den Umfragen Tage vor dem Referendum abzeichnete. In den Tagen vor dem Anschlag hatten noch die Brexit-Befürworter die Nase ganz knapp vorne. [18]
Noch am Vortag der Abstimmung lagen die Brexit-Befürworter mit 48 % zu 52 % hinten und die Wettbüros der traditionell wettfreudigen Briten bezifferten die Wahrscheinlichkeit auf ein erfolgreiches Brexit-Referendum auf 24 %. Doch alle Statistik ist lediglich Makulatur, sobald es „um die Wurst“ geht. Der Ausgang ist bekannt und hat viele Beobachter überrascht. [19]
Schließlich reichte am 29.03.2017 Theresa May das EU-Austrittsgesuch gemäß dem 2015 beim EU-Vertrag von Lissabon ausgehandelten und festgelegten Prozedere bei EU-Ratspräsident Donald Tusk ein, was gleichbedeutend mit dem Start eines maximal zwei Jahre dauernden Verhandlungsprozesses zu den Bedingungen ist, an dessen Ende der Austritt des UK stehen wird. [20]
2.2.3 Fakten zum Referendum
Beim EU-Referendum am 23.06.2016 stimmte das britische Volk für einen Austritt des UK aus der EU. Im Folgenden werden die wesentlichen Zahlen dazu vorgestellt:
Tabelle 3: Quantitative Wählerdaten zum EU-Referendum des UK. [21]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Beim Ausgang der Abstimmung spielte auch die Wahlbeteiligung eine entscheidende Rolle. Gerade die einzigen beiden Austritts-Befürworter England und Wales stachen mit einer größeren Wahlbeteiligung hervor. Gibraltar hat bei großer Beteiligung und einer Überwältigenden Mehrheit für den EU-Verbleib ob der geringen Bevölkerung keinen Einfluss auf den Ausgang nehmen können.
Tabelle 4: Stimmenverteilung nach Landesteilen. [22]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Auch äußerst interessant ist die Stimmenverteilung über die einzelnen Altersklassen. Auffällig ist, dass mit zunehmendem Alter sowohl die Walbeteiligung als auch die Zustimmung zum Brexit zunimmt. Ausschlaggebend dürften hierbei die Argumente zugunsten der besseren Gesundheitsversorgung bei einem erfolgreichen EU-Austritt gewesen sein.
Tabelle 5: Stimmenverteilung nach Alter. [23]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die 2013 in einem emotional und populistisch geführten Wahlkampf geborene Idee eines Brexit-Votums stieß zunächst auf viel Billigung in weiten Teilen der Bevölkerung. Dies schlug sich auch in den Umfragen nieder, in denen die Brexit-Befürworter zunächst mit einem Vorsprung ins Rennen gingen. Doch in den folgenden Monaten rückten beide Lager immer mehr zusammen und lagen im ersten Quartal des Jahres 2014 vergleichbar in der Gunst der Wähler.
Die meisten Umfragen seit Mitte 2014 zeigten eine Wählermehrheit zugunsten des Verbleibs in der EU, welche auch in wechselnder Deutlichkeit bis zu wenigen Monaten vor dem Votum anhielt. In den Monaten vor dem Referendum zeigten sich die Lager von Brexit-Befürwortern und Brexit-Gegnern in Umfragen annähernd gleich stark. Die turbulenten Ereignisse in den Wochen vor der Abstimmung ließen keinen klaren Favoriten erkennen, doch tendenziell lagen die EU-Befürworter vorne. Für den letztendlichen Erfolg der Brexit-Befürworter war auch vor allem die Mobilisierung und Polarisierung der unentschiedenen Wähler in den Wochen vor dem Referendum maßgebend.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Entwicklung der Meinungsumfragen zum Brexit. [24]
3 Konsequenzen des Brexit für das UK
Die Bedingungen und das konkrete Prozedere des Austritts des UK aus der EU ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt Gegenstand der bis zu zwei Jahre lang dauernden Austrittsverhandlungen beider Parteien und dementsprechend sind die exakten Konsequenzen des Brexits rein spekulativ. In diesem Kapitel werden die wesentlichen Folgen für das UK gemäß dem jetzigen Stand der Kenntnisse vorgestellt und diskutiert. Dabei wird auf die politischen, migrativen sowie ökonomischen Gesichtspunkte eingegangen.
3.1 Politik
In diesem Kapitel werden die politischen Konsequenzen des Brexit-Referendums vorgestellt. Hierbei werden zunächst die personellen Auswirkungen auf nationaler Ebene vorgestellt, bevor auf Konsequenzen auf internationaler Ebene eingegangen wird. Auch der signalgebende Charakter des Brexits für weitere austrittswillige EU-Mitglieder wird in diesem Kapitel thematisiert, welches durch einen Auszug der internationalen Reaktionen und Bewertungen abgerundet wird.
3.1.1 Innenpolitische Folgen
Nachdem sich die Bürger des UK am 23.06.2016 für einen Austritt ihres Landes aus der EU entschlossen haben, zog dies unmittelbare Konsequenzen auf höchster nationaler Ebene nach sich. Premierminister David Cameron, der sich immer für einen Verbleib seines Landes in der europäischen Staatengemeinschaft stark gemacht hatte und sogar sein politisches Schicksal mit dem Ausgang des Referendums verbunden hatte, zog am Tag nach dem Votum die Konsequenzen und kündigte direkt am 24.06.2016 seinen Rücktritt bis zum Oktober 2016 an. Camerons Kopf sollte nicht der einzige bleiben, der als Resultat des Referendums rollen sollte. So trat am folgenden Tag Lord Jonathan Hill, EU-Kommissar für Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion zurück, welcher sein politisches Wirken ebenfalls in den Dienst des EU-Verbleibs gestellt hatte. [25]
Doch unter den zurückgetretenen Volksvertretern befanden sich nicht nur politische Verlierer, sondern auch solche, die das positive Brexit-Referendum als Erfolg verbuchen konnten. Eine treibende Kraft und häufiges politisches Sprachrohr der Brexit-Befürworter war Nigel Farage. Der Parteichef der UKIP-Partei galt als eine Schlüsselfigur für den Abstimmungserfolg des EU-Referendums. Am 04.07.2016 gab Farage überraschend bekannt, dass er sein Amt abgeben werde, weil er sein Ziel, das UK aus der EU zu führen, erreicht habe. Ferner machte er sich nach Vorschlag des neugewählten US-Präsidenten Donald Trump Hoffnungen auf das Amt des britischen Botschafters in den USA, was jedoch seitens britischer Regierung keine Zustimmung fand. [26]
David Camerons Rücktritt war gleichbedeutend mit dem Start der Bewerbungen um seine Nachfolge, sowohl parteiintern als Vorsitzender als auch als Premierminister. Zwar galt der ehemalige Bürgermeister von London und Anführer der Brexit-Kampagne – Boris Johnson – als aussichtsreicher Anwärter für beide Ämter, doch dieser verzichtete nur eine Woche nach dem Referendum auf eine Kandidatur. Maßgeblich hierfür war die intensive Kritik des Justizministers Michael Gove, der bis dahin als Johnsons engster Verbündeter gegolten hatte. Dieser gab seine eigene Kandidatur für die Nachfolge Camerons bekannt und sprach dabei Johnson sowohl die nötige politische Führung als auch die Fähigkeit, das Team für die anstehenden Aufgaben aufzubauen, ab. [27]
Doch der Rückzug von der erwarteten Kandidatur bedeutete für ihn kein politisch bedeutungsloses Schattendasein. Als einer der Gewinner des Referendums nahm er eine wesentliche Rolle in der weiteren Führungsdebatte ein und setzte sich dabei für Andrea Leadsom ein, die neben vier weiteren Bewerbern als aussichtsreichste Kandidatin galt. Außer ihr zählten hierzu Innenministerin Theresa May, Justizminister Michael Gove, Arbeits- und Rentenminister Stephen Crabb und der ehemalige Verteidigungsminister Liam Fox. [28]
Bei den ersten Vorwahlen bis zum 07.07.2016 schieden zunächst Fox, Crabb und Gove aus, so dass es auf eine Stichwahl zwischen Theresa May und Andrea Leadsom hinaus lief, welche für September geplant war. Doch davor geriet Leadsom wegen eines Interviews unter Druck, in dem sie die Führungseignung und Motivation von Theresa May aufgrund derer Kinderlosigkeit absprach. Der darauf folgenden Kritik entgegnete Leadsom, falsch wiedergegeben worden zu sein, was jedoch anhand eines Audiomitschnitts widerlegt werden konnte. Als Folge dieses politischen Skandals erklärte Leadsom am 11.07.2016 ihren Rückzug von der Kandidatur, so dass Theresa May noch am selben Tag zur Parteivorsitzenden ernannt wurde. [29]
Zwei Tage darauf trat Theresa May auch ihr Amt als Premierministerin an. Ihr überwiegend neu gebildetes Kabinett bot auch Platz für einstige politische Rivalen und schloss sowohl Brexit-Befürworter als auch Brexit-Gegner mit ein. So wurde ihre Rivalen Andrea Leadsom und Liam Fox Ministerin für Umwelt, Ernährung und ländlichen Raum bzw. Minister für internationalen Handel. Auch der ursprüngliche Favorit und spätere Leadsom-Unterstützer Boris Johnson erhielt als Außenminister einen wichtigen Kabinettsposten. [30]
3.1.2 Außenpolitische Folgen
3.1.2.1 Internationale Wahrnehmung
Am Tag vom Camerons Rücktritt folgten Reaktionen vieler europäischer Spitzenpolitiker. So forderten in einer gemeinsamen Erklärung Jean-Claude Juncker (EU-Kommissionspräsident), Donald Tusk (Präsident Europäischer Rat), Martin Schulz (Präsident Europäisches Parlament) und Mark Rutte (Ratspräsident) die britische Regierung auf, gemäß dem Wunsch des britischen Volkes zur Tat zu schreiten und den Austrittsantrag des UK nach Artikel 50 des EU-Vertrags zu stellen, um keine große Unsicherheit aufkommen zu lassen. Doch Cameron überließ es seinem Nachfolger, den Antrag zu stellen und über die Austrittsbedingungen sowie den Rahmen der weiteren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu verhandeln. [31]
In einer Ansprache vor dem Europäischen Parlament am 28.06.2016 hatte Jean-Claude Juncker viel Lob für David Cameron um dessen Einsatz und Verdienste für die EU übrig. Abwertenden Spott verteilte er hingegen an den EU-Parlamentarier und gleichzeitig prominenten Brexit-Anführer Nigel Farage, indem er ihn fragte: „Warum sind Sie hier?“ [32]
Juncker stellte das Brexit-Votum als Wunsch des britischen Volkes dar, das man respektieren werde, kündigte jedoch harte Verhandlungen an. Damit wolle er gegenüber den nationalistischen Bewegungen in Europa entgegentreten, Nachahmer des UK in der übrigen EU abschrecken und somit gar einen Zusammenbruch der EU verhindern. [33]
Dennoch hat sich Juncker zusammen mit Martin Schulz und Wolfgang Schäuble für eine künftig enge Zusammenarbeit des UK und der EU ausgesprochen. Dementgegen äußerte sich der Präsident der Euro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, sehr kritisch, was die weitere Integration des UK in die EU angeht und verwies dabei auf die Willensbekundung des britischen Volkes, welches in Folge des Referendums in der Tat wenig Interesse zeigte, weiter in die EU integriert zu werden. [34]
Aus Deutschland kamen unterschiedliche Reaktionen. Während sich Vertreter der Deutschen Industrie wenig ambitioniert gegenüber Strafaktionen gegen das UK zugunsten der heimischen Wirtschaft zeigte, verwies Angela Merkel auf die Verteidigung europäischer Grundwerte wie der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU und deren Vorrang vor deutschen Industrieinteressen. Man wolle den Schulterschluss mit den anderen EU-Mitgliedern üben und bei den Austrittsverhandlungen möglichst mit einer Stimme sprechen, was ganz im Einklang mit Frankreichs Präsident François Hollande und vielen weiteren Regierungsvertretern der EU-Mitglieder steht, wenn auch weniger radikal, um das UK im Sinne eines wichtigen Absatzmarkts nicht zu verlieren. [35]
3.1.2.2 Schottlands Haltung
Der Ausgang des Referendums widersprach dem Willen des Großteils der schottischen Bevölkerung und somit dessen Regierung, da sich die schottische Bevölkerung zu 62 % für einen Verbleib in der EU ausgesprochen habe und sich somit fortan mehr als Teil der EU sieht denn als Mitglied des ausscherenden UK. Als direkte Reaktion auf den Ausgang des Referendums gab Nicola Sturgeon, Schottlands Erste Ministerin, bekannt, dass nach dem gescheiterten Versuch 2014 ein erneutes schottisches Referendum über den Verbleib im UK „sehr wahrscheinlich“ sei. [36]
So wurde bereits am 25.06.2016 mit den ersten Vorbereitungen eines möglichen zweiten Unabhängigkeitsreferendums begonnen, was sogar am 20.10.2016 in einem Gesetzentwurf der schottischen Regierung mündete. Allerdings obliegt die Rechtmäßigkeit einer Abstimmung zur schottischen Unabhängigkeit der Legislative des UK, was den Gesetzentwurf der schottischen Regierung aus rechtlicher Sicht nichtig machte und einem Referendum die Rechtmäßigkeit entzog. Schon beim ersten UK-Unabhängigkeitsreferendum 2014 war die Gesetzmäßigkeit nicht gegeben. Allerdings erteilte das britische Parlament der schottischen Regierung die Sondererlaubnis zur Durchführung einer solchen Abstimmung. [37]
So sieht der weitere rechtskonforme Verlauf eine Abstimmung des Gesetzentwurfs mit der britischen Regierung vor, was bei positivem Ausgang die Durchführung des Referendums zum Ende 2018 oder 2019 nach sich zieht. Für die Anfrage hierzu erhielt Nicola Sturgeon am 28.03.2017 die Ermächtigung seitens des schottischen Parlaments. [38]
3.1.2.3 EU-Ratspräsidentschaft
Der Rat der EU (auch als EU-Ministerrat oder Staatenkammer bekannt) bildet zusammen mit dem Europäischen Parlament (auch Bürgerkammer genannt) die Legislative der EU. Beide üben gemäß dem Zweikammersystem die Rechtsetzung der Europäischen Union aus. Ferner dient der Rat der EU zur Abstimmung und Koordinierung der Regierungen und deren Fachminister der EU-Mitglieder in regierungsübergreifenden Politikbereichen. Dessen Sitz befindet sich in Brüssel, allerdings wird dreimal jährlich (April, Juni und Oktober) in Luxemburg getagt. Dabei entsendet jeder Mitgliedsstaat jeweils einen Vertreter mit der Ermächtigung, für seine Regierung verbindliche Entscheidungen treffen zu dürfen. Diese können von der jeweiligen Regierung frei bestimmt werden, allerdings werden wichtige Entscheidungen üblicherweise auf Ministerebene getroffen. Trotz dieser einheitlichen Struktur ist die personelle Zusammensetzung einzelner Tagungen davon abhängig, welches Ressort bzw. welcher Politikbereich thematisiert wird. Dabei treffen sich die Vertreter jeweils in einer der 10 so genannten Ratsformationen:
- Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen (RAA)
- Rat für Auswärtige Angelegenheiten (RAB)
- Rat für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN)
- Rat für Justiz und Inneres (JI)
- Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz (BeSoGeKo)
- Rat für Wettbewerbsfähigkeit (WBF)
- Rat für Umwelt (ENVI)
- Rat für Bildung, Jugend, Kultur und Sport (BJKS)
- Rat für Verkehr, Telekommunikation und Energie (TTE)
- Rat für Landwirtschaft und Fischerei (Agri&Fish)
Von einem ebenfalls heterogenen Charakter ist die Regelung zum Vorsitz dieser Institution. Dabei rotiert der Vorsitz im Rat der EU (auch als EU-Ratspräsidentschaft bezeichnet) nach einem sechsmonatigen Turnus zwischen allen EU-Mitgliedstaaten nach einer zuvor festgelegten Reihenfolge. Da jedoch der Rat der EU in verschiedenen Ratsformationen zusammenkommt, bekleidet in jeder Tagung ein anderer Minister gemäß dem jeweiligen Resort den Vorsitz. Daher gibt es streng genommen keinen einzelnen Ratspräsidenten, allerdings tritt die Zusammenkunft der Außenminister, also der Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen (RAA), koordinierend zwischen den verschiedenen Ratsformationen auf, weshalb der Außenminister des jeweiligen Vorsitzlandes salopp als Ratspräsident bezeichnet wird. Eine Ausnahme innerhalb der Ratspräsidentschafts-Rotation bildet der Rat für Auswärtige Angelegenheiten (RAB), dem der EU-gewählte Vorsitz für Außen- und Sicherheitspolitik fünf Jahre vorsitzt. [39]
In ihrer ersten außenpolitischen Amtshandlung als Premierministerin teilte Theresa May am 20.07.2017 mit, dass das UK aufgrund des Ausgangs des Brexit-Referendums auf die Ratspräsidentschaft verzichten werde, welche ursprünglich für das zweite Halbjahr 2017 vorgesehen war. Am 27.07.2016 fassten die EU-Mitgliedsländer den Beschluss, die Perioden der nachfolgend eingeteilten Länder um jeweils ein halbes Jahr vorzuverlegen, weshalb nun Estland an die Stelle des UK trat und den Vorsitz für die zweite Jahreshälfte 2017 übernehmen wird. [40]
3.1.3 Vorbildcharakter für weitere Länder
In Brüssel kursiert nach dem Brexit die Befürchtung eines Dominoeffekts, wonach weitere EU-Mitglieder dem Beispiel des UK folgen und ein eigenes Referendum über die EU-Mitgliedschaft abhalten könnten. In der folgenden Grafik sind die EU-Mitglieder mitsamt ihrer Wahrscheinlichkeit auf ein EU-Exit-Referendum dargestellt.
Nach der Darstellung liegt in 11 Mitgliedsländern die Wahrscheinlichkeit auf jeweils ein EU-Exit-Referendum im mittleren bis sehr hohen Bereich. Unter den stärksten EU-Skeptikern sind insbesondere solche Länder vertreten, in denen nationalistische, rechtsgerichtete und populistische Politikbewegungen stark auf dem Vormarsch sind. In der Folge wird auf die wahrscheinlichsten Austrittsreferendum-Kandidaten eingegangen und die Wirkung der Brexit-Abstimmung dargelegt. [41]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Referendums-Wahrscheinlichkeit der EU-Mitglieder. [42]
3.1.3.1 Niederlande – „Nexit“
Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders und die von ihm gegründete und geführte „Partei für die Freiheit" (PVV) sahen für die niederländischen Parlamentsneuwahlen im März 2017 gute Chancen die stärkste Partei des Landes zu werden. Im Falle eines Wahlsiegs kann er den Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten erheben. Er vertrat seit langer Zeit die Meinung, die Niederlande seien außerhalb der EU besser dran. Das Brexit-Votum war dann politisches Wasser auf seine Mühlen und so versprach er im Falle eines Wahlsiegs ebenfalls ein Referendum über den Verbleib der Niederlande in der EU, den so genannten „Nexit“. Auch vom Brexit-Votum beflügelt, lag seine Partei lange Zeit ganz vorne in der Wählergunst, allerdings rutschte seine Partei nach und nach immer weiter ab. Maßgeblich für die schlussendliche Wahlniederlage war dann eine Erklärung der stärksten politischen Gegenpartei, jede Koalition mit Wilders kategorisch auszuschließen, was dazu führte, dass sich viele Wähler von der Partei abwendeten, da diese ohnehin nur in die Opposition verbleiben würde. Ferner geriet Wilders negativ in die Schlagzeilen, als er sich abfällig über marokkanische Zuwanderer äußerte, woraufhin er sich einer Anklage wegen Volksverhetzung stellen musste und dafür im Dezember 2016 schuldig gesprochen wurde. Zuletzt reagierten viele Niederländer negativ auf das Lob, das Wilders für den Wahlsieg des in den Niederlanden äußerst unpopulären US-Präsidenten Donald Trump übrig hatte. [43] All diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass seine Partei PVV in den Umfragen immer weiter abrutschte und sich in den Wochen vor der Wahl hinter der Regierungspartei VVD einreihte. In der Wahl ging PVV als zweitstärkste Kraft hervor, nahezu gleichauf mit 2 weiteren Parteien und verschwand in der oppositionellen Bedeutungslosigkeit. [44]
3.1.3.2 Frankreich – „Frexit“
In Frankreich stieß der Brexit auf eine Anhängerschaft und zeigte Signalwirkung. Die Chefin der rechtsextremen Front National und Mitglied des Europäischen Parlaments, gleichzeitig aber erbitterte Europa-Gegnerin Marine le Pen begrüßte den Brexit und forderte, ein solches Referendum jetzt auch in Frankreich und den anderen EU Ländern abzuhalten. Da eine Volksabstimmung nur mit Zustimmung des Staatspräsidenten möglich ist, war zu dessen Realisierung die Wahl Le Pens zur Präsidentin bindende Voraussetzung, da der amtierende Präsident François Hollande ein ausgewiesener Befürworter der EU war und einem solchen Referendum niemals seine Zustimmung erteilen würde. Der politische Rückenwind von der anderen Seite des Ärmelkanals ließ die Umfragewerte des Front National auch steigen. So lag Le Pen lange Zeit in den Umfragen vorne, bevor in einem sehr intensiv geführten Wahlkampf drei weitere Kandidaten aufschlossen, von denen Emmanuel Macron die besten Umfragewerte zeigte und Le Pen nach den TV-Debatten überholen konnte. Das französische Wahlsystem sieht einen ersten Wahlgang vor, bei dem die daraus hervorgehenden stärksten zwei Kandidaten das Präsidentenamt in einer Stichwahl unter sich ausmachen. Beim ersten Wahlgang am 23.04.2017 ging Macron als strahlender Sieger vor Le Pen hervor, der für die Stichwahl am 07.05.2017 als klarer Favorit galt, da ein Großteil der entfallenden Stimmen der übrigen Kandidaten ihm zugeschrieben wurden. Der Ausgang dieser Wahl wäre in jedem Fall von historischem Ausmaß, da Marine Le Pen die erste Präsidentin, Emmanuel Macron hingegen den jüngsten Präsidenten dargestellt hätte.
Unterstützt durch die erwarteten Wahlempfehlungen zweier der unterlegenen Gegenkandidaten (Fillon, Hamon) fuhr Emmanuel Macron am 07.05.2017 einen überragenden Sieg in der Stichwahl des zweiten Wahlgangs ein. Mit 66,1 % der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 74,6 % deklassierte er seine Kontrahentin und das ungeachtet eines Störversuchs aus der Hackerszene, bei dem kompromittierende Informationen Macrons beschafft und in sozialen Netzen verbreitet wurden. Die Reaktionen auf den Wahlausgang seitens der meisten europäischen Staats- und Regierungschefs waren durchweg positiv, da mit dem proeuropäischen Macron ein Frexit vom Tisch war, was nach vielerlei Meinung nichts Geringeres als die Rettung Europas zur Folge hatte. [45]
3.1.3.3 Ungarn – „Hunxit“
Auch im rechts-konservativ regierten Ungarn hat der Brexit Wirkung gezeigt. Allerdings ging es dabei weniger um einen Austritt aus der EU per se, sondern mehr im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik. Der nationalkonservative und rechtspopulistische Regierungspartei Fidesz war besonders die EU-Flüchtlingspolitik ein Dorn im Auge. Hierzu stellte Orbáns Regierung einen Antrag für ein Referendum zu den EU-Flüchtlingsquoten, wofür er vom heimischen Verfassungsgericht am 21.06.2016 grünes Licht erhielt. Hierbei sollte über künftige, nicht um die schon beschlossenen Quoten abgestimmt werden, denn gegen die bestehenden Quoten wurde bereits im Dezember 2015 vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt. Das Referendum über künftige EU-Flüchtlingsquoten wurde am 02.10.2016 durchgeführt und erzielte eine überragende Zustimmung von 98,3 % zugunsten der künftigen ungarischen Mitsprache bei Flüchtlingsquoten. Allerdings hätte es dabei einer Wahlbeteiligung von mindestens 50 % bedurft, um dieser auch eine rechtliche Verbindlichkeit zu verleihen, was jedoch mit 39.9 % verfehlt wurde und das Referendum scheitern ließ. Maßgeblich hierfür war der Boykott der Oppositionsparteien bei der Abstimmung. Nichtdestotrotz ließ Orbán erklären, man könne das Ergebnis nicht ignorieren und kündigte an, die ungarische Verfassung ändern zu wollen, um das Wählervotum umzusetzen. [46]
3.1.3.4 Tschechien - "Czexit" oder „Czeck-Out“
Der Ausgang des Brexit-Referendums hat auch in Tschechien die Debatte über einen möglichen "Czexit" entfacht. Auch hier treiben insbesondere die rechten und nationalistischen Parteien die Diskussion um diese Thematik voran, unter Ihnen auch Ex-Präsident Vaclav Klaus, der dabei als schärfster EU-Kritiker gilt. Es ist zu erwarten, dass das Thema den tschechischen Parlamentswahlkampf 2017 dominieren könnte, in dem insbesondere die rechtspopulistische Partei „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) sowie die konservative, EU-skeptische „Demokratische Bürgerpartei“ (ODS) besonders auf die politischen Fahnen
[...]
[1] URL: http://www.333websites.co.uk/uk-websites/uk-web-design/
[2] Vereinigtes Königreich, Wikipedia, 2017, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Vereinigtes_K%C3%B6nigreich
[3] Vereinigtes Königreich, Wikipedia, 2017. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Vereinigtes_K%C3%B6nigreich
[4] Großbritannien, Wikipedia, 2017. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fbritannien_(Insel)
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Kingdom_of_Great_Britain
[6] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2a/Great_Britain.svg
[7] Nach 24 Jahren: Schweiz zieht EU-Beitrittsgesuch zurück, Spiegel, 2016.
[8] Norwegen und Schweiz als Modellfälle für differenzierte Integration?,
Bundeszentrale für politische Bildung, 2007.
[9] Island zieht EU-Beitrittsantrag zurück, Süddeutsche Zeitung, 2015.
[10] G.I.P. Ottaviano, J. P. Pessoa, T. Sampson, J. Van Reenen, Brexit or Fixit? The Trade and Welfare Costs of Leaving the European Union, The London School of Economics and Political Science: Centre for Economic Performance, London, 2014.
[11] A. Glencross, Why a British referendum on EU membership will not solve the Europe question, International Affairs, 2015.
[12] Deal mit London: Die EU hat ihre Schuldigkeit getan, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2016.
[13] Briten stimmen am 23. Juni über Verbleib in der EU ab, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2016.
[14] Keine Chance - Australien wird nicht eure Heimat, Spiegel, 2014.
[15] Why Vote Leave’s £350m weekly EU cost claim is wrong, The Guardian, 2016.
[16] Europas Rechtspopulisten auf dem Vormarsch, Bundeszentrale für politische Bildung, 2009.
[17] J. Sadri, 8 reasons why Syrians will never forget Jo Cox, New Statesman, 2016.
[18] EU Referendum Poll of Polls, What UK Thinks, 2016. URL: http://whatukthinks.org/eu/opinion-polls/poll-of-polls/
[19] The betting markets show just a 24 % chance of a Brexit, businessinsider.my, 2016. URL: http://www.businessinsider.my/brexit-betting-the-odds-have-moved-even-more-in-remains-favour-2016-6/#hCtV7opFTrCAE6d7.97
[20] Mays Brexit-Brief an die EU, Süddeutsche Zeitung, 2017.
[21] Brexit-Votum: So gespalten ist Großbritannien, Spiegel 2016.
[22] Results of the United Kingdom European Union membership referendum.2016, Wikipedia, 2017. URL: https://en.wikipedia.org/wiki/
Results_of_the_United_Kingdom_Euro-pean_Union_membership_referendum,_2016
[23] Brexit: How much of a generation gap is there?, BBC News, 2016.
[24] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/63/UK_
EU_referendum_ polling.svg
[25] Britischer Premier: David Cameron kündigt wegen Brexit-Votum Rücktritt an, Spiegel, 2016.
[26] UKIP-Chef und Brexit-Befürworter Nigel Farage tritt zurück, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2016.
[27] Erledigt vom höflichen Radikalen, Zeit Online, 2016.
[28] Boris Johnson hat seine Favoritin gefunden, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2016.
[29] Großbritannien: Leadsom gibt auf – May einzige Kandidatin für Cameron-Nachfolge, Spiegel, 2016.
[30] Theresa May’s cabinet: Who’s in and who’s out?, BBC News, 2016.
[31] EU fordert Briten zu „unverzüglichem Handeln“ auf, Welt, 2016.
[32] Juncker zu Farage: "Warum sind Sie hier?", Spiegel Online, 2016.
[33] Juncker: Brexit ist nicht Anfang vom Ende der EU, Die Presse, 2016.
[34] Dijsselbloem gegen weitere Vertiefung oder Erweiterung der EU, Reuters, 2016.
[35] Überzeugung statt Abschreckung, Süddeutsche Zeitung, 2016.
[36] Macht der Brexit Schottland unabhängig?, Freie Presse, 2016.
[37] New Scottish independence bill published, BBC News, 2016.
[38] Schottisches Parlament will neues Unabhängigkeitsreferendum, Tagesschau.de, 2017.
[39] Titel III - Bestimmungen über die Organe, EU-Vertrag, Art. 16. URL: https://dejure.org/gesetze/EU/16.html, abgerufen: 25.04.2017.
[40] Brüssel: Großbritannien verzichtet auf EU-Ratspräsidentschaft 2017, Spiegel Online 2016.
[41] Wilders und Le Pen fordern eigene Abstimmungen, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 2016.
[42] Welche EU-Staaten dem Austritt Grossbritanniens folgen könnten, SRF, 2016. URL: https://www.srf.ch/news/infografik/welche-eu-staaten-dem-austritt-grossbritanniens-folgen-koennten
[43] In der Trump-Falle, Spiegel, 2017.
[44] Wahl in den Niederlanden: Rutte feiert, Wilders auf Rang zwei, Zeit Online, 2017.
[45] Macron schlägt die Welle des Populismus zurück, Spiegel Online, 2017.
[46] Orbán scheitert mit Referendum über Flüchtlingsquote, Spiegel Online, 2016.
- Quote paper
- Dr. Alexander Penner (Author), 2018, Das Vereinigte Königreich nach dem Brexit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/388587
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.