Das nationale Recht und damit auch das nationale Steuerrecht ist von einem immer größer werdenden Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts gekennzeichnet. Insbesondere die im EG-Vertrag verankerten Grundfreiheiten schränken den Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers ein, da nationale Regelungen nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen dürfen. Die hier vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich mit einer dieser Grundfreiheiten, nämlich der Kapitalverkehrsfreiheit.
Nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung der Kapitalverkehrsfreiheit und einer Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten wird das (für alle Grundfreiheiten wichtige) Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot erläutert. Anschließend erfolgt eine Analyse der für das Steuerrecht wohl interessantesten und bedeutendsten Bestimmung im EG-Vertrag, der Steuerklausel. Diese erlaubt den Mitgliedstaaten der EU unter gewissen Voraussetzungen, die Kapitalverkehrsfreiheit zu beschränken. Am Ende des ersten Teils dieser Arbeit werden kurz die für Österreich wichtigsten Entscheidungen des EuGH zum Thema Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht dargestellt.
Der zweite Teil (Kapitel IV) beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Kapitalverkehrsfreiheit auf das österreichische Steuerrecht. Anhand einiger ausgewählter Bereiche des Steuerrechts wird überprüft, ob nationale Vorschriften gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen. Unter anderem werden hier die Besteuerung von Zinsen und Dividenden, die Wegzugsbesteuerung, das Erbschaftssteuergesetz und die Besteuerung von Investmentfonds behandelt. Des Weiteren wird dargelegt, welche Änderungen bereits vorgenommen wurden, um eine Gemeinschaftsrechtskonformität der nationalen Vorschriften zu erreichen.
INHALTSVERZEICHNIS
Abkürzungsverzeichnis
I. Einleitung
II. Allgemeine Bedeutung des EG-Rechts für das nationale Steuerrecht
1. Die Harmonisierung der Steuern in der EU
2. Rahmenbedingungen des Gemeinschaftsrechts
III. Kapitalverkehrsfreiheit
1. Rechtsentwicklung
1.1. Rechtslage gem Art 67ff EWGV
1.2. Kapitalverkehrs-Richtlinie 88/361/EWG
1.3. Änderungen durch den Vertrag von Maastricht
2. Der Umfang der Kapitalverkehrsfreiheit
2.1. Kapitalverkehr und Zahlungsverkehr
2.2. Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit
2.3. Abgrenzung zur Warenverkehrsfreiheit
2.4. Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit
3. Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot
3.1. Unterscheidung zwischen Diskriminierung und Beschränkung
3.2. Die Reichweite der Verbote
3.3. Rechtfertigung von Beschränkungen
3.3.1. Die „Cassis“-Doktrin
3.3.2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
4. Steuerrechtliche Aspekte in der Kapitalverkehrsfreiheit
4.1. Die Steuerklausel
4.1.1. Steuerklausel gem Art 58 Abs 1 lit a EG
4.1.2. Steuerklausel gem Art 58 Abs 1 lit b EG
4.1.3. Die Subsidiaritätsklausel
4.1.4. Einschränkung der Steuerklausel
4.2. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses als Rechtfertigung für steuerliche Diskriminierung
4.2.1. Steuerliche Kohärenz
4.2.2. Gefahr der Steuerflucht
4.2.3. Herstellung der Wettbewerbsneutralität
4.2.4. Wirksame Steueraufsicht
5. Die EUGH – Rechtsprechung zum Konfliktfeld zwischen der Kapitalverkehrs- bzw Niederlassungsfreiheit und dem nationalen Steuerrecht
5.1. „Kommission/Frankreich“ („avoir fiscal“)
5.2. „Royal Bank of Scotland“
5.3. „Verkooijen“
5.4. „Schmid“
5.5. „Weidert und Paulus“
5.6. „Lenz“
IV. Auswirkungen der Kapitalverkehrsfreiheit auf das österreichische Steuerrecht
1. Endbesteuerung von Zinsen
1.1. Ursprüngliche Rechtslage
1.2. Prüfung der Endbesteuerung von Zinsen am Maßstab der Kapitalverkehrsfreheit
1.3. Änderungen durch das BBG 2003
2. Besteuerung von Kapitalgesellschaftsbeteiligungen
2.1. Natürliche Personen als Gesellschafter
2.1.1. Rechtslage vor dem BBG 2003
2.1.2. Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit
2.1.3. Rechtfertigungsgründe
2.1.4. Änderungen durch das BBG 2003
2.2. Juristische Personen als Gesellschafter
2.2.1. Rechtslage vor dem BBG 2003
2.2.2. Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit
2.2.3. Rechtfertigungsgründe
2.2.4. Änderungen durch das BBG 2003
2.2.5. Prüfung der Gemeinschaftsrechtskonformität der geltenden Rechtslage
3. Investmentfonds
3.1. Die Besteuerung österreichischer Investmentfonds
3.2. Die Besteuerung „weißer“ ausländischer Investmentfonds
3.3. Die Besteuerung „schwarzer“ ausländischer Investmentfonds
3.3.1. Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit
3.3.2. Rechtfertigungsgründe
4. Gebühren für Rechtsgeschäfte
5. Das Erbschaftssteuergesetz
5.1. Rechtslage vor dem AbgÄG 2004
5.2. Änderungen durch das AbgÄG 2004
6. Genussscheine und junge Aktien
7. Die Wegzugsbesteuerung
7.1. Rechtslage vor dem AbgÄG 2004
7.2. Prüfung der Wegzugsbesteuerung am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit
7.3. Änderungen durch das AbgÄG
V. Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Judikaturverzeichnis
Gesetzesmaterialien
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
I. Einleitung
Das nationale Recht und damit auch das nationale Steuerrecht ist von einem immer größer werdenden Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts gekennzeichnet. Insbesondere die im EG-Vertrag verankerten Grundfreiheiten schränken den Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers ein, da nationale Regelungen nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen dürfen.
Die hier vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich mit einer dieser Grundfreiheiten, nämlich der Kapitalverkehrsfreiheit. Nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung der Kapitalverkehrsfreiheit und einer Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten wird das (für alle Grundfreiheiten wichtige) Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot erläutert.
Anschließend erfolgt eine Analyse der für das Steuerrecht wohl interessantesten und bedeutendsten Bestimmung im EG-Vertrag, der Steuerklausel. Diese erlaubt den Mitgliedstaaten der EU unter gewissen Voraussetzungen, die Kapitalverkehrsfreiheit zu beschränken. Am Ende des ersten Teils dieser Arbeit werden kurz die für Österreich wichtigsten Entscheidungen des EuGH zum Thema Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht dargestellt.
Der zweite Teil (Kapitel IV) beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Kapitalverkehrsfreiheit auf das österreichische Steuerrecht. Anhand einiger ausgewählter Bereiche des Steuerrechts wird überprüft, ob nationale Vorschriften gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen. Des Weiteren wird dargelegt, welche Änderungen bereits vorgenommen wurden, um eine Gemeinschaftsrechtskonformität der nationalen Vorschriften zu erreichen.
II. Allgemeine Bedeutung des EG-Rechts für das nationale Steuerrecht
1. Die Harmonisierung der Steuern in der EU
Ein wichtiges Ziel der Europäischen Union ist ohne Zweifel die Integration der Mitgliedstaaten zu einem „Staatenverbund“. Wie bereits erwähnt sind die einzelnen nationalen Rechtsordnungen stark vom Gemeinschaftsrecht beeinflusst. Die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften ist gem Art 3 lit h EG eine der Tätigkeiten der Gemeinschaft, allerdings hat diese Angleichung nur zu erfolgen, soweit sie für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist. Die maßgeblichen Bestimmungen für die Harmonisierung des Steuerrechts finden sich in den Art 90 bis 93 EG. Es ist zu beachten, dass hier eine Unterscheidung in zwei Gruppen von Abgaben vorgenommen wird. Art 93 EG enthält den Oberbegriff der „indirekten Steuern“, die sich aus Umsatzsteuern, Verbrauchsabgaben und sonstigen indirekten Steuern zusammensetzen, wohingegen in Art 92 EG von „Abgaben außer“ den eben erwähnten indirekten Steuern gesprochen wird. Diese Abgaben werden unter dem Begriff der „direkten Steuern“ zusammengefasst.
Die hier vorgenommene Unterscheidung ist von Bedeutung, da sich in Art 93 EG ein Harmonisierungsgebot für indirekte Steuern findet. Aufgrund dieses Gebotes wurden seit 1967 eine Reihe von Richtlinien geschaffen, die zu einer Angleichung der Umsatzsteuern und der besonderen Verbrauchssteuern in den Mitgliedstaaten geführt haben.[1]
Art 293 EG, der die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft statuiert, enthält die einzige Bestimmung des Vertrags über die direkten Steuern. Die Souveränität der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern besteht somit noch uneingeschränkt fort.[2] Als Beispiel für eine Harmonisierung, die bislang nur in geringem Maße erfolgt ist, können hier die Mutter/Tochter-Richtlinie[3] und die Fusions-Richtlinie[4] genannt werden.
Eine Harmonisierung der Steuern ist vor allem auf Grund des wettbewerbsverzerrenden Charakters von Steuern notwendig und wichtig. Um Unternehmen oder Privatpersonen innerhalb der EU Chancengleichheit in Bezug auf Anlagemöglichkeiten, Firmenstandorte oder Exporte zu ermöglichen, ist die Schaffung eines einheitlichen Steuersystems in den hierfür relevanten Bereichen nötig.
2. Rahmenbedingungen des Gemeinschaftsrechts
Unmittelbaren Einfluss auf das Steuerrecht der Mitgliedstaaten nehmen die Grundfreiheiten des EG-Vertrags: Der freie Warenverkehr (Art 28ff EG), die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art 39ff EG), die Niederlassungsfreiheit (Art 43ff EG), der freie Dienstleistungsverkehr (Art 49ff EG) und der freie Kapitalverkehr (Art 56ff EG).
Diese Grundfreiheiten haben unmittelbare Geltung, sind unmittelbar anwendbar und haben Anwendungsvorrang. Sie sind somit für alle Mitgliedstaaten und für alle Staatsangehörige der Mitgliedstaaten gültig und bedürfen, um Rechtswirkungen zu entfalten, keiner Transformation in innerstaatliches Recht. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts führt dazu, dass eine dem Gemeinschaftsrecht widersprechende nationale Regelung nicht angewendet werden darf, wenn der entsprechende Sachverhalt vom Gemeinschaftsrecht erfasst wird.[5]
Im Vergleich zu den anderen Grundfreiheiten gibt es im Bereich des freien Kapitalverkehrs verhältnismäßig wenig Judikatur, da dies eine relativ „junge“ Materie darstellt. Die Rechtsprechung gewinnt allerdings immer mehr an Bedeutung, da es den Anschein hat, als ob die Kommission darauf setzt, die Steuerharmonisierung gerade über die EuGH-Rechtsprechung voranzutreiben.[6] Eine steigende Anzahl an Vorlagen der nationalen Gerichte an den EuGH unterstützt diese Tendenz.
III. Kapitalverkehrsfreiheit
1. Rechtsentwicklung
In der Rechtsentwicklung im Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit lassen sich grundsätzlich drei Schritte unterscheiden, die im Folgenden näher erläutert werden:[7]
- Rechtslage gem Art 67ff EWGV
- Kapitalverkehrsrichtlinie 88/361/EWG
- Änderungen durch den Vertrag von Maastricht
1.1. Rechtslage gem Art 67ff EWGV
Die Bestimmungen der Art 67 bis 73 EWGV sahen eine Beseitigung aller Beschränkungen des Kapitalverkehrs durch die Mitgliedstaaten vor, wenn dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich sei. Es stellte sich jedoch die Frage, inwieweit die Mitgliedstaaten verpflichtet waren, Beschränkungen und Diskriminierungen des freien Kapitalverkehrs untereinander aufzuheben. In der Rs „Casati“[8] hielt der EuGH fest, dass sich der für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendige Umfang der Kapitalverkehrsliberalisierung, und damit auch die zulässigen Beschränkungen, im Zeitablauf ändern können.[9] Im Unterschied zu den anderen Grundfreiheiten war bei der Kapitalverkehrsfreiheit somit keine unmittelbare Wirkung gegeben. Es ergab sich eine nur bedingte Liberalisierungspflicht, die ihre Konkretisierung erst durch Richtlinien des Ministerrats erhalten sollte.
1.2. Kapitalverkehrs-Richtlinie 88/361/EWG
Bereits seit 1960 erließ der Ministerrat verschiedene Richtlinien auf der Grundlage von Art 67 EWGV. Mit Hilfe dieser Richtlinien konnte eine begrenzte Liberalisierung des Kapital-verkehrs stückweise durchgesetzt werden.[10] Der große Durchbruch gelang schließlich durch das Inkrafttreten der Kapitalverkehrs-Richtlinie der EG[11] am 1.7.1990. In Art 1 Abs 1 der RL 88/361/EWG werden die Mitgliedstaaten zur Beseitigung der Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen Gebietsansässigen in den Mitgliedstaaten verpflichtet.
In Art 4 der Richtlinie wurde jedoch für das Gebiet des Steuerrechts eine Ausnahmeregelung verankert. Diese ermächtigte die Mitgliedstaaten, insbesondere auf steuerrechtlichem Gebiet die unerlässlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu verhindern.
Nach Inkrafttreten der Richtlinie war zunächst unklar ob Art 1 Abs 1 unmittelbare Rechtswirkung entfaltet. In der Rs „Bordessa“[12] hat der EuGH allerdings der Bestimmung des Art 1 in Verbindung mit Art 4 der Richtlinie eine unmittelbare Wirkung zuerkannt. Gebietsansässige konnten nunmehr das Finanzsystem eines anderen Mitgliedstaats ohne Einschränkung in Anspruch nehmen, da die Vorschrift des Art 1 Abs 1 der Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau anzusehen ist.[13]
Für den einzelnen Marktbürger war somit die Kapitalverkehrsfreiheit als Individualrecht umfassend etabliert.[14]
1.3. Änderungen durch den Vertrag von Maastricht
Durch den Vertrag von Maastricht wurden die Bestimmungen der Art 67 bis 73 EWGV durch die Art 73a bis 73h EGV (nunmehr Art 56 bis 60 EG) ersetzt. Die zentrale Bestimmung zur Kapitalverkehrsfreiheit findet sich nun in Art 56 Abs 1 EG. Diese besagt, dass im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten sind. Es liegt somit erstmals ein uneingeschränktes Verbot von Beschränkungen vor und vor allem sind diesmal auch Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern verboten.
Durch die umfassende primärrechtliche Regelung der Kapitalverkehrsfreiheit im Vertrag von Maastricht stellt sich die Frage, welche Bedeutung nunmehr der Kapitalverkehrs-Richtlinie[15] zukommt. Zu klären ist, ob sie weiter uneingeschränkt fort gilt oder ob sie ihre Wirkung durch materielle Derogation verloren hat. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Kapitalverkehrs-Richtlinie nie formell außer Kraft gesetzt wurde.[16] Aber es ist auch klar, dass für den gleichen Regelungsgegenstand ein Primärrecht vorliegt, das gegenüber dem sekundären Gemeinschaftsrecht vorrangig ist. Dieser Vorrang zeigt sich auch dadurch, dass primäres Gemeinschaftsrecht sekundärrechtliche Bestimmungen, die ihm entgegenstehen, derogieren kann. Gegen den Wegfall der Kapitalverkehrs-Richtlinie kann mithilfe des „acquis communau-taire“, des gemeinschaftsrechtlichen Besitzstands, argumentiert werden. Die EU ist zur Wahrung und Weiterentwicklung dieses gemeinschaftsrechtlichen Besitzstandes verpflichtet und die Kapitalverkehrs-Richtlinie ist mit Sicherheit ein Bestandteil des Besitzstandes, was eine vollständige Derogation ausschließt.[17]
Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Bestimmungen der Richtlinie, die dem Primärrecht nicht entgegenstehen, weiterhin eine ergänzende Anwendung finden.
Der EuGH bestätigte in der Rs „Sanz de Lera“[18] die Möglichkeit, die Richtlinie im Zweifel zur Auslegung heranzuziehen.
Das Beschränkungsverbot des Kapitalverkehrs gilt gem Art 56 EG auch zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten. Nach Art 57 EG ist es jedoch für Drittstaaten nicht bedingungslos gewährleistet, da Beschränkungen, die sich auf bestimmte Regelungsbereiche beziehen, weiterhin angewendet werden können. Voraussetzung dafür ist, dass diese Beschränkungen bereits am 31. Dezember 1993 bestanden haben. Alle nach diesem Zeitpunkt neu entstandenen Regelungen müssen dem Kriterium der Kapitalverkehrsfreiheit entsprechen. Art 57 Abs 1 EG normiert somit eine Stillstandsklausel.[19]
Gem Art 57 Abs 2 EG wird dem Rat aufgetragen, Maßnahmen zu beschließen, um einen freien Kapitalverkehr zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern zu verwirklichen. Um eine bedingungslose Liberalisierung zu erleichtern, bedarf es für den Beschluss nur einer qualifizierten Mehrheit. Einstimmigkeit wird dort gefordert, wo Maßnahmen einen Rückschritt auf dem Gebiet der Liberalisierung darstellen.[20]
2. Der Umfang der Kapitalverkehrsfreiheit
Der Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit umfasst einerseits den Kapitalverkehr im engeren Sinn und andererseits den Zahlungsverkehr. Der Zahlungsverkehr fällt zwar unter die Kapitalverkehrsfreiheit, ist aber nicht von Normen berührt die lediglich den Kapitalverkehr im engeren Sinn ansprechen. Art 57 EG nennt im Zusammenhang mit zulässigen Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit Drittländern Folgendes als Bestandteil des Kapitalverkehrs im engeren Sinn:[21]
- Direktinvestitionen einschließlich der Anlagen in Immobilien
- Transaktionen im Zusammenhang mit Niederlassungen
- Erbringung von Finanzdienstleistungen
- Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten
Eine umfassendere Definition findet sich in beispielhafter Aufzählung in der Nomenklatur in Anhang I der Zahlungsverkehrs-Richtlinie[22]. Der Katalog umfasst im Wesentlichen folgende Transaktionen:
- Finanzierung von Direktinvestitionen in gewerbliche Niederlassungen oder Tochtergesellschaften
- Immobilieninvestitionen
- Geschäfte mit Wertpapieren, die normalerweise am Kapitalmarkt gehandelt werden
- Geschäfte mit Anteilscheinen
- Geschäfte mit Wertpapieren und anderen Instrumenten, die normalerweise am Geldmarkt gehandelt werden
- Kontokorrent- und Termingeschäfte
- kurz-, mittel- und langfristige Kredite
- Darlehen und Kredite jeglicher Art
- Bürgschaften und andere Garantien
- Transferzahlungen in Erfüllung von Versicherungspflichten
- Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter (zB Schenkungen oder Erbschaften)
- Ein- und Ausfuhr von Vermögenswerten
- der sonstige Kapitalverkehr, zu dem insbesondere Erbschaftssteuern und Schadenersatzleistungen mit Kapitalcharakter zu zählen sind
Dieser beispielhafte Katalog hat auch nach den primärrechtlichen Änderungen durch den Vertrag von Maastricht für die Auslegung von Begriffen im Zusammenhang mit dem Kapitalverkehr Gültigkeit.[23]
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Kapitalverkehr jedenfalls die in Art 57 EG und die im Katalog der Kapitalverkehrs-Richtlinie genannten Transaktionen einschließt, dies aber keinesfalls eine erschöpfende Darstellung ist. Vielmehr bleibt Platz, um durch Auslegung in Hinblick auf den Zweck der Kapitalverkehrsfreiheit zu einer umfassenderen Definition des Begriffes Kapitalverkehr zu gelangen.
Der Grundgedanke der Kapitalverkehrsfreiheit ist es, dass Kapital ungehindert dorthin fließen soll, wo es am effizientesten eingesetzt werden kann.[24] Diese Effizienz ist allerdings vollkommen unabhängig von der Art der Kapitalbewegung.
2.1. Kapitalverkehr und Zahlungsverkehr
Wie bereits erwähnt gilt der Zahlungsverkehr als ein Teilbereich des Kapitalverkehrs. Eine Unterscheidung ist insofern wichtig, weil etwa Art 57 EG nur Ausnahmen für den Kapitalverkehr mit Drittstaaten regelt, nicht aber für den Zahlungsverkehr.[25] Es soll aber auch erwähnt werden, dass die Abgrenzung zwischen Kapital- und Zahlungsverkehr seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht an Bedeutung verloren hat, da die Regelungen in vielen Bereichen für beide Gebiete nunmehr identisch sind.
Der EuGH definiert den Zahlungsverkehr als eine Übertragung von Zahlungsmitteln – bar oder bargeldlos – über die Grenze im Sinne einer Devisentransferierung, die eine Gegenleistung zu einer dieser Leistung zugrundeliegenden Transaktion darstellt.[26] Die Transaktion kann beispielsweise in Form einer Warenlieferung oder Dienstleistung ausgestaltet sein. Liegt eine grenzüberschreitende Transferierung von Geld ohne eine zugrundeliegende Transaktion vor, ist also der Geldtransfer das Grundgeschäft, dann kommen die Bestimmungen des Kapitalverkehrs zum Tragen.
Des Weiteren besteht auch die Möglichkeit, dass die Kapital- und die Zahlungsverkehrsfreiheit gleichzeitig betroffen sind. Dies ist dann der Fall, wenn ein Kapitalgeschäft als Grundgeschäft vorliegt und die Gegenleistung in Form einer Geldleistung erbracht wird. Hier unterliegt das Grundgeschäft den Bestimmungen zur Kapitalverkehrsfreiheit während das Gegengeschäft die Zahlungsverkehrsfreiheit betrifft.[27] Die Zahlungsverkehrsfreiheit wird somit als Instrument des Kapitalverkehrs eingesetzt.
Ebenso wichtig wie die Abgrenzung der Kapitalverkehrsfreiheit zur Zahlungsverkehrsfreiheit ist auch deren Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten, auf die in den folgenden Kapiteln näher eingegangen wird. Diese ist notwendig, da die erlaubten Beschränkungen der verschiedenen Grundfreiheiten im EG-Vertrag unterschiedlich ausgestaltet sind. Um beurteilen zu können, ob eine gesetzte Maßnahme eine Grundfreiheit beschränkt, muss daher zunächst geklärt werden, welche Grundfreiheit von der Beschränkung betroffen wäre. Eine Abgrenzung ist dort problematisch, wo es zu Überschneidungen zwischen der Kapitalverkehrsfreiheit und den anderen Grundfreiheiten kommt.[28]
2.2. Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit
Gem Art 43 Abs 2 EG umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Art 48 Abs 2 EG, allerdings nur vorbehaltlich des Kapitels über Kapitalverkehr. Die Bestimmungen zum Niederlassungsrecht kommen folglich nur zur Anwendung, wenn der Kapitalverkehr nicht berührt wird.
Die Abgrenzung ist hier vor allem im Bereich der Direktinvestitionen von Bedeutung. Eine unternehmerische Niederlassung in einem anderem Mitgliedstaat wird als Ausübung beider Grundfreiheiten verstanden, weil einerseits die Niederlassung selbst vorliegt (Anwendungsbereich ist hier die Niederlassungsfreiheit), andererseits sind auch Investitionen im anderen Mitgliedstaat erforderlich (Kapitalverkehrsfreiheit). Dies leitet sich aus Art 43 Abs 2 EG und Art 58 Abs 2 EG ab. Schön geht davon aus, dass im Fall einer kumulativen Verwirklichung beider Grundfreiheiten keine der beiden als lex specialis der anderen vorausgeht. Jede Grundfreiheit schützt eine andere inhaltliche Dimension des gleichen Vorgangs. Die Niederlassungsfreiheit schützt die Ausübung eines Berufs, die Kapitalverkehrsfreiheit schützt den Transfer geldwerter Güter. Demnach steht es dem Einzelnen frei, sich auf jede der beiden Grundfreiheiten zu berufen.[29]
Eine weitere wichtige Abgrenzungsfrage ist, in welchem Fall eine Gründung und Leitung eines Unternehmens gem Art 43 Abs 2 EG, und unter welchen Voraussetzungen lediglich eine passive Geldanlage vorliegt. Liegt nämlich nur eine passive Geldanlage vor, kann sich daraus keine kumulative Anwendbarkeit der beiden Grundfreiheiten ergeben.[30] Es ist allerdings fraglich, ob sich durch Festlegung eines bestimmten Beteiligungsprozentsatzes – beispielsweise 25% im Sinne der Mutter-Tochter-Richtlinie[31] - eine Grenze sinnvoll ziehen lässt.
Zu klären ist nun, welche Bestimmungen anzuwenden sind, wenn ein Sachverhalt mit einer Niederlassung vorliegt. Zunächst sind getätigte Transaktionen danach zu trennen, ob sie ausschließlich unter die Niederlassungsfreiheit fallen oder ob sie auch die Kapitalverkehrsfreiheit berühren. Transaktionen, die beide Grundfreiheiten tangieren, sind gem Art 43
Abs 2 EG nach den Bestimmungen der Art 56ff EG zu beurteilen, berühren sie nur die Niederlassungsfreiheit, kommen die Art 43ff EG zur Anwendung. Auch eventuell auftretende Einschränkungen sind dahingehend zu untersuchen, ob sie auf Transaktionen wirken die beide Grundfreiheiten betreffen, oder ob sie nur die Niederlassungsfreiheit berühren. Einschränkungen, welche die Kapitalverkehrs- und die Niederlassungsfreiheit betreffen, sind bereits dann als zulässig zu erklären, wenn sie nach den Bestimmungen von einer der beiden Grundfreiheiten gestattet sind. Bleibt die Kapitalverkehrsfreiheit unberührt, müssen die Einschränkungen durch die Bestimmungen des Niederlassungsrechts als zulässig erklärt werden.[32]
Eine Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit ist auch insofern von Bedeutung, als diese gem Art 43 EG ohne Drittwirkung ausgestaltet ist und daher ihre Rechtswirkung nur für innerhalb der Gemeinschaft verwirklichte Sachverhalte entfalten kann. Das Verbot der Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit hat dagegen auch gegenüber Drittstaaten Gültigkeit.
2.3. Abgrenzung zur Warenverkehrsfreiheit
Die Abgrenzung der Kapitalverkehrs- zur Warenverkehrsfreiheit ist nicht weiter problematisch. Sie wird über den Begriff Ware vorgenommen, wobei jede Art von gesetzlichem Zahlungsmittel nicht als Ware im Sinne der Art 28ff EG angesehen wird.[33]
2.4. Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit
Ein Sachverhalt betrifft sowohl die Kapitalverkehrs- als auch die Dienstleistungsfreiheit, wenn der Transfer von Kapital beispielsweise im Rahmen der unternehmerischen Dienstleistungen des Bankwesens, des Kapitalmarkts oder der Versicherungswirtschaft stattfindet. Es können dabei sowohl der Kapitalgeber als auch der Kapitalempfänger im Rahmen ihrer Dienstleistungsfreiheit handeln.[34]
Eine Definition des Begriffes Dienstleistung findet sich in Art 50 Abs 1 EG. Demnach unterliegen der Dienstleistungsfreiheit Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Eine zweite bedeutsame Regelung findet sich in Art 51 Abs 2 EG. Diese besagt, dass die Liberalisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt wird.
Fraglich ist, ob die Kapitalverkehrsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit nebeneinander anwendbar sind oder ob eine exklusive Zuordnung zu einer der beiden Grundfreiheiten notwendig ist. In der Rs „Svensson – Gustavsson“[35] hat der EuGH in einem Sachverhalt, der beide Grundfreiheiten betrifft, diesbezüglich entschieden, dass die Prüfung einer Vorschrift auf Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit vorgenommen werden soll. Dies weist darauf hin, dass der EuGH eine parallele Anwendung beider Vorschriften für möglich hält. Der EuGH bestätigte diese Auffassung in der Rs „Banque de Bary et Cie“[36]. In einer weiteren Entscheidung[37] wich der EuGH jedoch insofern davon ab, als er einen Verstoß gegen eine der beiden Grundfreiheiten für die EG-Rechtswidrigkeit einer Norm genügen lässt.
Eine Anwendung beider Regelungsbereiche nebeneinander kommt nur dann nicht zum Tragen, wenn ein Sachverhalt primär eine Grundfreiheit beschränkt, sich allerdings mittelbare Auswirkungen auf die andere Grundfreiheit ergeben. Hier wäre nur eine Untersuchung nach den primär betroffenen Bestimmungen vorzunehmen.[38]
3. Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot
3.1. Unterscheidung zwischen Diskriminierung und Beschränkung
Gem Art 56 Abs 1 EG sind im Rahmen der Bestimmungen des Kapitels über den Kapital- und Zahlungsverkehr alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern verboten. Diese Norm besagt folglich, dass jede Beschränkung des grenzüberschreitenden Transfers von Kapital, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Kapitalinhaber oder –geber, unabhängig von der Art, Form, Menge und dem Wert des Kapitals und auch unabhängig von einer etwaigen gleichartigen Behinderung inländischer Kapitalbewegungen, untersagt ist.[39] Somit liegt ein völliges Verbot einer wert- oder mengenmäßigen Beschränkung oder einer sonstigen Behinderung einer grenzüberschreitenden Transaktion vor.
Neben dem Beschränkungsverbot gibt es auch noch ein Diskriminierungsverbot. Eine Diskriminierung liegt im Falle einer Ungleichbehandlung von Ausländern und Inländern vor. Durch das Konzept der versteckten (indirekten, mittelbaren) Diskriminierung – dies sind Diskriminierungen anhand eines Merkmals, das geeignet ist, überwiegend Ausländer zu betreffen – hat sich der Tatbestand der Ausländerdiskriminierung mittlerweile zu einem Verbot der Nichtansässigendiskriminierung weiterentwickelt.[40] Alle vom Diskriminierungsverbot nicht erfassten Fälle werden vom EuGH als Beschränkungen gesehen, wenn sie die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen könnten.[41]
Das Beschränkungsverbot des Art 56 EG gilt unmittelbar. Dies bedeutet, dass sich Bürger auf die Freiheit des Kapitalverkehrs berufen können, ohne dass Vollzugsakte der Mitgliedstaaten erforderlich wären oder Harmonierungsmaßnahmen der Gemeinschaft vorauszugehen hätten. Die Gerichte und Behörden dürfen entgegenstehendes Recht nicht anwenden.[42] Begünstigte sind, wie bereits erwähnt, nicht nur die Staatsangehörigen aller Mitgliedstaaten sondern auch alle in der Gemeinschaft ansässigen Staatsangehörigen von Drittstaaten. Darüber hinaus fallen auch Drittstaaten selbst und dort Ansässige in den Bereich der Begünstigten, da Art 56 EG auch alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und eben diesen Drittstaaten verbietet. In solchen Fällen stellen diese Regelungen einseitig begünstigende Normen dar, da der EG-Vertrag keinen Einfluss auf etwaige Kapitalverkehrsbeschränkungen durch Drittstaaten hat.[43]
3.2. Die Reichweite der Verbote
Im Folgenden wird nun erläutert, auf welche Sachverhalte das Verbot von Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs anwendbar ist. Gem Art 5 EG kann die Gemeinschaft nur innerhalb der Grenzen der ihr im EG-Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig werden. Analog gilt für die Kapitalverkehrsfreiheit, dass das Verbot von Beschränkungen nur im Anwendungsbereich des EG-Vertrags zum Tragen kommt. Eine Ungleichbehandlung in Bereichen, in denen die Gemeinschaft nicht zuständig ist, ist gemeinschaftsrechtlich nicht relevant. Darüber hinaus kann eine Gemeinschaftszuständigkeit nur dann bestehen, wenn ein grenzüberschreitender wirtschaftlicher Vorgang gegeben ist.[44] Der EuGH hat dazu in der Rs „Knoors“[45] festgehalten, dass die Grundfreiheiten immer dann zur Anwendung kommen, wenn kein rein interner Sachverhalt vorliegt. Diese Rs beinhaltet zwar einen Sachverhalt, der die Niederlassungsfreiheit betraf, der EuGH sprach aber in seinem Urteil allgemein von „den Grundfreiheiten“. Aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzung des grenzüberschreitenden Sachverhalts nicht nur für die Niederlassungsfreiheit sondern auch für alle anderen Grundfreiheiten gilt.[46]
Nun erhebt sich die Frage, wann das Beschränkungsverbot im Rahmen des freien Kapitalverkehrs zur Anwendung kommt. Die Antwort darauf wird von der Dassonville -Formel gegeben, welche aus dem Urteil in der die Warenverkehrsfreiheit betreffenden Rs „Dassonville“[47] abgeleitet wurde. Diese Formel besagt, dass das Beschränkungsverbot verletzt ist, sobald eine Maßnahme den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr „unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell“[48] behindert.
Es gibt jedoch einige Rechtfertigungsgründe, mit denen etwaige Beschränkungen begründet werden können und die dann bewirken, dass keine Verletzung des Beschränkungsverbots vorliegt. Mit diesen (allgemeinen) Rechtfertigungsgründen beschäftigt sich das nun folgende Kapitel, während spezielle Rechtfertigungsgründe für steuerliche Diskriminierungen weiter unten erläutert werden.
3.3. Rechtfertigung von Beschränkungen
Grundsätzlich kann man die Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen in zwei verschiedene Gruppen einteilen:
- Einschränkungen, die der Vertrag als zulässig erklärt
- durch „zwingende Erfordernisse“ gerechtfertigte Einschränkungen
Darüber hinaus gibt es eine Voraussetzung, die sämtliche Einschränkungen erfüllen müssen, nämlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser gilt unabhängig davon, auf welche der Rechtfertigungsgründe sich die Einschränkungen stützen.[49]
3.3.1. Die „Cassis“-Doktrin
In der Rs „Cassis de Dijon“[50] stellte der EuGH Folgendes fest: „Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen (...) ergeben, müssen hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes“[51].
Seit diesem Urteil ist anerkannt, dass sich die Mitgliedstaaten zur Verteidigung ihrer nationalen Regelungen in bestimmten Fällen auch über die geschriebenen Schutzklauseln des EG-Vertrags hinaus auf einen ungeschriebenen Tatbestand berufen können.[52]
Die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses im Bereich der Besteuerung sind beispielsweise das bereits oben im Urteil „Cassis de Dijon“ erwähnte Erfordernis einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, weiters die steuerliche Kohärenz oder die Gefahr der Steuerflucht. Den Mitgliedstaaten sind hier nicht nur einige wenige Belange anerkannt, sondern ein weiter Spielraum zur Definition schützenswerter Interessen eröffnet.
Gem der Rechtsprechung des EuGH können die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses nur indirekte Diskriminierungen und Beschränkungen rechtfertigen. Unmittelbare Diskriminierungen können die Mitgliedstaaten lediglich mit den im Vertrag festgelegten Rechtfertigungsgründen rechtfertigen.[53]
3.3.2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist eine zentrale Bestimmung des europäischen Gemeinschaftsrechts. Er gehört gem der Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, weil er den Gemeinschaftsorganen bei der Rechtsetzung und Verwaltung sowie den Mitgliedstaaten beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts Schranken setzt. Eingriffe in individuelle Rechte sind demnach nur insoweit zulässig, als dies zur Erreichung rechtmäßiger Ziele erforderlich ist.[54]
Wie bereits erwähnt, müssen Rechtfertigungen von Grundfreiheitsbeschränkungen jedenfalls verhältnismäßig sein. In ständiger Rechtsprechung hält der EuGH fest, dass eine Beschränkung nur dann zulässig ist, wenn die Maßnahme zur Erreichung des fraglichen Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist.[55] Um festzustellen, ob eine Beschränkung zulässig ist, wendet der EuGH eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung an.
Diese Prüfung stellt sich folgendermaßen dar[56]: In einer ersten Stufe wird das Ziel der jeweiligen Maßnahme dem Interesse an der Durchsetzung der Freiheiten gegenübergestellt. Gründe, die generell nicht die Einschränkung der Freiheiten rechtfertigen können - wie beispielsweise rein wirtschaftliche Gründe –, können bereits auf dieser Ebene ausgeschieden werden. Danach wird zwischen den Zielen, die hinter der mitgliedstaatlichen Maßnahme stehen, und der Stärke des Eingriffs in die Grundfreiheiten abgewogen. Es wird untersucht, ob die beschränkende Regelung grundsätzlich zur Verwirklichung des verfolgten Zwecks geeignet ist, und ob die Regelung in ihrer Wirkung nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist.
Eine Maßnahme ist dann geeignet, wenn zwischen dem angestrebten Ziel und dem dazu eingesetzten Mittel eine kausale Beziehung besteht. Darüber hinaus muss die Zielerreichung mit diesem eingesetzten Mittel bei objektiver Betrachtung überhaupt möglich sein. Die Erfüllung des Kriteriums der Erforderlichkeit ist dann gegeben, wenn es zu dem gewählten Mittel keine geeignete Alternativmaßnahme gibt, die für das fremde Interesse weniger belastend gewesen wäre.[57]
4. Steuerrechtliche Aspekte in der Kapitalverkehrsfreiheit
4.1. Die Steuerklausel
In Art 56 EG findet sich die zentrale Norm der Kapitalverkehrsfreiheit. Diese besagt, dass alle Beschränkungen des Kapital- und des Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten verboten sind. Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten gem Art 58 EG („Steuerklausel“) unter gewissen Voraussetzungen Regelungen anwenden, die den freien Kapitalverkehr innerhalb der Gemeinschaft sowie im Verhältnis zu Drittstaaten behindern.[58] Es werden also im Vertrag explizit Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit genannt. Eine derartige Beschränkung darf allerdings nur zum Schutz der in Art 58 EG erschöpfend angeführten Rechtsgüter erfolgen und muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Es obliegt den Mitgliedstaaten, beschränkende Maßnahmen durch einen der genannten Rechtfertigungsgründe zu rechtfertigen.
Der Zweck des Art 58 EG besteht darin, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu eröffnen, zum Schutz der angeführten Rechtsgüter in dem dafür erforderlichen Umfang ausnahmsweise Regelungen zu treffen, die den freien Kapitalverkehr behindern. Es sollen allerdings keinesfalls bestimmte Sachgebiete der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten vorbehalten werden. Wenn nämlich eines der schutzwürdigen Rechtsgüter durch das Gemeinschaftsrecht abschließend geregelt ist, können sich die Mitgliedstaaten diesbezüglich nicht mehr auf Art 58 EG berufen und einseitige Maßnahmen treffen.[59]
In diesem Zusammenhang sind der Vorbehalt gem Art 58 Abs 1 lit a EG und der Vorbehalt gem Art 58 Abs 1 lit b EG zu unterscheiden, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.
[...]
[1] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 22
[2] Vgl. Laule in ZeUS 2002, 391
[3] Vgl. Richtlinie 90/435/EWG vom 23.7.1990 des Rates über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl 1990 L 225, 6
[4] Vgl. Richtlinie 90/434/EWG vom 23.7.1990 des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Staaten betreffen, Abl 1990 L 225, 1
[5] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 24f
[6] Vgl. Cordewener, Grundfreiheiten, 28
[7] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 29ff
[8] Vgl. EuGH 11.11.1981, Rs C-203/80, Casati, Slg 1981, 2595, Rn 10
[9] Vgl. Ruppe in Lechner - Staringer – Tumpel, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 12
[10] Vgl. Schön in Schön (Hrsg), GedS für Brigitte Knobbe-Keuk, 746
[11] Vgl. Richtlinie 88/361/EWG, Abl 1988 L 178, 5
[12] Vgl. EuGH 23.1.1995 verb Rs C-358/93 und C-416/93 Bordessa, Slg 1995, I-361, 387
[13] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 32
[14] Vgl Schön in Schön (Hrsg), GedS für Brigitte Knobbe-Keuk, 746
[15] Vgl. Richtlinie 88/361/EWG, Abl 1988 L 178, 5
[16] Vgl. Ruppe in Lechner - Staringer – Tumpel, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 13
[17] Vgl. dazu ausführlich Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 34f
[18] Vgl. EuGH 14.12.1995, Rs C-163/94, Sanz de Lera, Slg 1995, I-4821, 4841
[19] Vgl. Kimms, Die Kapitalverkehrsfreiheit im Recht der europäischen Union, 205
[20] Vgl. Kimms, Die Kapitalverkehrsfreiheit im Recht der europäischen Union, 206
[21] Vgl. Ruppe in Lechner - Staringer – Tumpel, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 14
[22] Vgl. Richtlinie 88/361/EWG, Abl 1988 L 178, 5
[23] Vgl. EuGH 14.12.1995, Rs C-163/94, Sanz de Lera, Slg 1995, I-4821, 4839
[24] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 41
[25] Vgl. Schuster, EG-Recht, 189
[26] Vgl. EuGH 31.1.1984, verb Rs 286/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Slg 1984, 404
[27] Vgl. Schön in Schön (Hrsg), GedS für Brigitte Knobbe-Keuk, 749
[28] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 43
[29] Vgl. dazu ausführlich Schön in Schön (Hrsg), GedS für Brigitte Knobbe-Keuk, 749f.
[30] Vgl. Sedlaczek in Lechner - Staringer – Tumpel, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 46f
[31] Vgl. Richtlinie 90/435/EWG vom 23.7.1990 des Rates über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl 1990 L 225, 6
[32] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 52
[33] Vgl. Sedlaczek in Lechner - Staringer – Tumpel, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 46
[34] Vgl. Schön in Schön (Hrsg), GedS für Brigitte Knobbe-Keuk, 752
[35] Vgl. EuGH 14.11.1995, Rs C-484/93 , Svensson – Gustavsson, Slg 1995, I-3975, Rn 11
[36] Vgl. EuGH 9.7.1997, Rs C-222/95, Banque de Bary et Cie, Slg 1997, I-3899
[37] Vgl. EuGH 28.4.1998, Rs C-118/96, Safir, Slg 1998, I-1897, Rn 35
[38] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 48
[39] Vgl Schön in Schön (Hrsg), GedS für Brigitte Knobbe-Keuk, 755
[40] Vgl. Heinrich, Die Steuerneutralität von Beteiligungen, 121
[41] Vgl. EuGH 30.11.1995, Rs C-55/94, Gebhard, Slg 1995, I-4165
[42] Vgl. Wilmovsky in Ehlers (Hrsg), EuGR, 296
[43] Vgl Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 56
[44] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 56
[45] Vgl. EuGH 7.2.1979, Rs 115/78, Knoors, Slg 1979, 399
[46] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 57
[47] Vgl. EuGH 11.7.1974, Rs 8/74, Dassonville, Slg 1974, 837
[48] Vgl. EuGH 11.7.1974, Rs 8/74, Dassonville, Slg 1974, 837
[49] In diesem Kapitel werden nur die durch „zwingende Erfordernisse“ gerechtfertigte Einschränkungen, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit behandelt. Die Rechtfertigungen von Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit, die der Vertrag selbst zulässt, werden im Kapitel III.4. erörtert.
[50] Vgl. EuGH 20.2.1979, Rs C-120/78, Rewe-Zentral-AG, Slg 1979, 649
[51] Vgl. EuGH 20.2.1979, Rs C-120/78, Rewe-Zentral-AG, Slg 1979, 649
[52] Vgl. Cordewener, Grundfreiheiten, 60f
[53] Vgl. Heinrich, Die Steuerneutralität von Beteiligungen, 134
[54] Vgl. Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 96
[55] Vgl. EuGH 21.11.2002, Rs C-436/00, X+Y, Slg 2002, I-10829
[56] Vgl. Heinrich, Die Steuerneutralität von Beteiligungen, 135
[57] Vgl. Cordewener, Grundfreiheiten, 87
[58] Vgl Matzka, Freiheit des Kapitalverkehrs, 71
[59] Vgl. Kimms, Die Kapitalverkehrsfreiheit im Recht der Europäischen Union, 187
- Arbeit zitieren
- Philipp Pölzl (Autor:in), 2005, Gemeinschaftsrechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und österreichisches Steuerrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38663
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