Vesevolod Petrov veröffentlichte seine kurze Novelle "Die Manon Lescaut von Turdej" nie. Sie ist sein einziges literarisches Werk, denn eigentlich war er Kunsthistoriker. Er las sie nur ausgewählten Freunden an seinen Geburtstagen vor. Es hat seine Gründe, dass er gar nicht erst versuchte, den Text während der Sowjetzeit zu veröffentlichen: Obwohl man den Roman auf der Oberfläche als schöne, leicht lesbare Liebesgeschichte lesen kann, die zur Zeit des zweiten Weltkriegs in einem Lazarettzug spielt, ist er ein einziger Protest gegen die offizielle Kultur der Sowjetzeit. Zwischen den Zeilen kritisiert Petrov seine Zeit und nimmt stattdessen Bezug auf vergangene Autoren und Motive der russischen Literatur, so dass klar hervorgeht, was er für die eigentliche kulturelle Blüte Russlands hält.
Der Text erschien erst 2006 in einer russischen Literaturzeitung und löste sowohl in Russland als auch in deutscher Übersetzung eine Welle der Begeisterung aus. Damit gehört er einer Gruppe von Texten an, die zur Untergrundliteratur gehören, aber nicht im Ausland und nicht im Samisdat (also illegal kopiert und weitergegeben) veröffentlicht wurden und in den letzten Jahren bekannt wurden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte
1.2. Analyse der intertextuellen Bezüge als Interpretationsgrundlage
2. Formale Struktur
2.1. Titel
2.2. Widmung
2.3. Motto
2.4. Gattungszugehörigkeit
2.5. Erzählperspektive
2.6. Raum- und Zeit
2.7. Zielpublikum
2.8. Stilistik
3. Identitätskonstruktionen
3.1. Der Ich- Erzähler
3.2. Typus des überflüssigen Menschen
3.3. Ich fremd in der Welt
3.4. Vera − Allegorie der Liebe
3.5. Nina Alekseevna als Korrektiv
4. Gegenentwurf zum Sozialistischen Realismus
4.1. Replik auf Vera Panovas „Weggenossen“
4.2. Ideologisch: Abwesenheit von Autoritäten
4.3. Menschenbild: Individualität statt Kollektiv
4.4. Geschlechterrollen: Gegen die Utopie der Gleichheit
4.5. Poetologisch: Geniekult gegen Dichterschulen
5. Metadiskurse über Kunst
5.1. Verhältnis von Realität und Fiktion
5.2. Das 18. Jahrhundert als ideales Zeitalter
5.3. Goethes Werther
5.4. Die Welt als Bühne
5.5. Die Welt als Verweissystem
5.6. Genietheorien
6. Existentielle Thematiken
6.1. Tod und Transzendenz
6.2. Leichtlebige und zugleich schwere Liebe
6.3. Russlandbild
7. Schluss
8. Literatur
1. Einleitung
1.1. Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte
Das Erscheinen von Vsevolod Petrovs „Die Manon Lescaut von Turdej“ in deutscher Übersetzung löste eine Welle der Begeisterung in deutschen Feuilletons aus.[1] Was macht diesen Text, der mitten im Stalinismus, in einem Klima der Repression und der Angst, geschrieben wurde, für heutige Leser so faszinierend?
Vsevolod Petrov schrieb „Die Manon Lescaut von Turdej“ 1946 unmittelbar, nachdem er als junger Offizier von der Kriegsfront gegen Hitlerdeutschland zurückgekehrt war. Seine knappe Novelle scheint vordergründig eine schön erzählte, schlichte Liebesgeschichte zu sein. Petrov skizziert die Liebe eines jungen Offiziers, der der Sphäre Petersburger Intelligenz angehört, zu einer einfachen sowjetischen Fronthelferin, Vera Mušnikova. Er stilisiert diese „sowjetische Barbarentochter“, wie Oleg Jurjew sie im Nachwort, treffend nennt, zu seiner Manon Lescaut. Damit passt sie in seine persönliche Utopie des 18. Jahrhunderts, in die er sich vor der Grobheit der sowjetischen Wirklichkeit rettet. Die Novelle spielt in einem Lazarettzug, der im Winter in den Weiten der russischen Steppe ziellos umherfährt. Die Besatzung des Waggons, die Bahnhöfe, die Umgebung, alles bildet die Trostlosigkeit der sowjetischen Welt mitten im Kriegswinter wirklichkeitsnah ab. Dabei wirkt Petrovs Novelle trotz allem zeitlos, nahezu klassisch. Sie widerspricht dabei den Normen der literarischen Doktrin des sozialistischen Realismus auf vielschichtige und kunstvolle Art.
Petrov hat folgerichtig nie versucht, das Manuskript zu veröffentlichen. Wahrscheinlich wusste er genau, dass dies in der Zeit, in der er lebte, nicht möglich war. Stattdessen las er Auszüge aus seiner Manon jedes Jahr an seinen Geburtstagsfeiern vor, zu denen viele Gäste kamen, eigentlich die ganze kulturelle Elite Leningrads. Allein die Tatsache, dass er gar nicht erst versuchte, sein einziges literarisches Werk so zu modifizieren, dass er es veröffentlichen konnte, zeigt klar seine Haltung zur offiziellen Kultur der Sowjetunion. Man könnte seine „Manon Lescaut von Turdej“ als Werk der inneren Emigration bezeichnen. Allerdings war Petrov in dieser inneren Emigration nicht alleine, er hatte einen großen Freundes- und Bekanntenkreis in der Parallelkultur, mit denen er seine Werte und seinen Geschmack teilen konnte. Im Kommunismus, in dem doch alle Menschen laut der offiziellen Doktrin gleich sein sollten, inszeniert Petrov bewusst seine Kultiviertheit und seinen Geschmack in Abgrenzung zur Kultur der Massen.
Die Novelle erschien in Russland erst lange Zeit nach ihrer Entstehung: Im November 2006 in der Literaturzeitschrift Новый Мир (in der Ausgabe Nummer 11). In Russland wurde sie von den Lesern und der Kritik mit Begeisterung aufgenommen. Sie wird in Rezensionen ausführlich analysiert und als ein Text gelobt, der mit zu den qualitativ hochwertigsten Werken der russischen Literatur gehört. Dies ist umso erstaunlicher, als Petrov außer seiner Manon Lescaut keine weiteren belletristischen Texte veröffentlicht hat. Denn er war eigentlich Kunsthistoriker und arbeitete vor dem zweiten Weltkrieg im Russischen Museum. Petrov veröffentlichte einige Standardwerke zur russischen Kunst, vor allem zur Kunst der Moderne. Durch seine Herkunft − er entstammte einer Petersburger Adelsfamilie – und seine soziale Stellung kam er in den Genuss erstklassiger Bildung. Er verkehrte in Kreisen aus Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen. In dieser Petersburger Welt der Parallelkultur wurde die Literatur und Kunst der Moderne, weitertradiert und gepflegt. Vor der Revolution hatte die russische Literatur, vor allem mit den Stilrichtungen des Symbolismus und des Akmeismus, ihre zweite Blütezeit erlebt, das sogenannte Silberne Zeitalter. Die omnipräsente offizielle Literatur- und Kulturpolitik der Sowjetunion drängte diese Literatur in den Untergrund. Seit der Revolution wurde immer aufs Neue versucht, diese Kultur und auch ihre Vertreter auszumerzen, so wurde der Kunsthistoriker Nikolai Punin, unter dem Petrov zunächst im Russischen Museum arbeitete, ins Straflager gebracht. Petrov lebte danach mit der Veröffentlichung von kunsthistorischen Texten in einer Nische, in der er schreiben konnte, ohne sich an die offizielle sowjetische Kultur anpassen zu müssen. Darin ähnelt er seinem Protagonisten, der sich ins 18. Jahrhundert flüchtet.
Da der Text erst 2006 in Russland erschien und mit der Übersetzung von Oleg Jurjew erst 2014 dem deutschen Publikum zugänglich wurde, gibt es bisher keine Sekundärliteratur, die sich direkt mit der Novelle auseinandersetzt. Aus diesem Grund stützt die Verfasserin der vorliegenden Arbeit sich vor allem auf den Kommentarapparat und das Nachwort des Übersetzers Oleg Jurjew, der die wichtigsten Schlüssel zum Text liefert. Außerdem gibt es zahlreiche Rezensionen des Textes, die zusätzliche Informationen und wichtige Impulse zur Interpretation liefern. Im Kommentar und in allen Rezensionen ist der Fokus auf die intertextuellen Bezüge gerichtet, die Petrov in seinen Text einwebt. Durch ihre Entschlüsselung dringt der Leser zum tieferen Sinn der Novelle vor.
1.2. Analyse der intertextuellen Bezüge als Interpretationsgrundlage
Petrovs Manon Lescaut ist ein Text, der, ganz im ursprünglichen lateinischen Wortsinne (lat. textus = Gewebe), durchwebt ist von Fäden anderer literarischer Werke. Die intertextuellen Bezüge weben ein enges Geflecht, aus dem der neue Text entsteht. Dieses Verfahren des literarischen Schreibens ist bei Petrov so stark ausgeformt, dass der Text geradezu postmodern wirkt. Dabei ist Petrov seiner Sozialisation nach eigentlich vielmehr Vertreter des Symbolismus, also der Moderne.
Foucault postuliert, dass der Autor als individuelle Person nicht von zentraler Bedeutung ist, sondern den Knotenpunkt von Diskursen bildet. Der Autor bildet das ab, was in seiner Zeit virulent ist, er bringt den Zeitgeist zum Ausdruck.[2] Diese Sicht auf den Autor ist vor dem Hintergrund interessant, dass Vsevolod Petrov vor dem Erscheinen seiner „Manon Lescaut von Turdej“ nicht als Schriftsteller bekannt war, sondern ausschließlich als Kunsthistoriker. Petrov taucht also als Schriftsteller Persönlichkeit aus dem Nichts auf, aber sein Text bündelt die wesentlichen Diskurse der russischen Literatur und die Fragen seiner Zeit wie ein Brennglas. Petrovs Novelle ist ein wirklicher Knotenpunkt der Diskurse: Er verbindet in ihr literarische und kunstgeschichtliche Motive, Fragestellungen und Zitate so, dass sie sich in ein harmonisches Ganzes fügen. Die Novelle wirkt an der Oberfläche schlicht und schön lesbar, aber in ihr werden hintergründig fast alle zentralen Themen der russischen Geistes- und Literaturgeschichte verhandelt.[3] Dies ist sicher auch dadurch möglich, dass Petrov als Person an den zentralen kulturellen Knotenpunkten seiner Zeit verkehrte: Er gehörte zum Zentrum der Petersburger Gegenkultur und kannte die Schriftsteller und Künstler, die die vorrevolutionäre Kunst bewahren wollten, persönlich,
Damit wird der Text auch zu einem Gefäß der memoria[4], das die vorrevolutionäre Kultur des silbernen Zeitalters, mit der Vsevolod Petrov sich identifiziert, zu bewahren und zu tradieren sucht. Außerdem proklamiert der Text die enge Verbindung der westeuropäischen Kultur- und Literaturgeschichte mit der russischen, indem er Motive und Formen zitiert und mit neuem Sinn füllt. Dies steht natürlich im Gegensatz zum offiziellen Geist der Sowjetzeit, in der die Abgrenzung gegen den dekadenten Westen ideologisches Ziel war. Damit stellt sich Petrov in die Tradition der Westler, der nach den Werten und der Kultur Westeuropas ausgerichteten russischen Intellektuellen, die die Zukunft Russlands in einer Orientierung am Westen sahen.
Der Ich-Erzähler referiert durch die ganze Novelle hindurch immer wieder auf westeuropäische Werke des 18.Jahrhundert. Gemälde und Literatur dieser Zeit ziehen ihn an. Petrov webt ein engmaschiges Netz an Bezügen, mit denen er auch ironisch spielt: So verweist bereits der Titel auf eine Figur der ursprünglich westeuropäischen Kulturgeschichte, die Manon Lescaut, die in Literatur und Musik weitertradiert wurde. Sie ist den meisten Lesern sicher am bekanntesten in der Oper von Puccini, aber auch in der russischen Lyrik ist sie eine beliebte Figur. Die Widmung an den Dichterfreund Petrovs, Kuzmin, zeigt die enge Verbundenheit Petrovs mit den Kreisen der Parallelkultur. Das Motto zitiert die vorletzte Zeile eines bekannten Gedichtes von Šukowski und fügt bereits ganz am Anfang des Textes noch einen weiteren intertextuellen Bezug hinzu. Im Laufe der Novelle werden Goethes Werther, Tolstojs Anna Karenina, Gogol’s Tote Seelen, Shakespeares König Lear, russische Märchen und viele andere Werke direkt durch Zitate oder andere Formen intertextueller Bezugnahme aufgerufen. Die Maler Antoine Watteau und ein Gemälde von Arnold Böcklin bilden kunsthistorische Bezugspunkte des Textes. In der vorliegenden Arbeit sollen nun die intertextuellen und motivgeschichtlichen Bezüge offengelegt werden, die sich in Petrovs Novelle finden.
Über die Entschlüsselung der Subtexte und Metatexte findet der Leser zu einem tieferen Verständnis des Textes, der eben nicht nur ein formaler und ideologischer Gegenentwurf zur Literatur des sozialistischen Realismus ist, sondern vielmehr die existenziellen menschlichen Thematiken Identität, Liebe und Tod, verhandelt. Zugleich ist der Text eine selbstreferentielle Reflexion über Kunst: Er reflektiert die Bedeutung von Kunst für den Menschen, die Frage nach der künstlerischen Produktivität, den Bedingungen des künstlerischen Schaffensprozesses und dem Verhältnis von Realität und Fiktion.
In der vorliegenden Arbeit soll nun versucht werden, all diese Bezugsebenen näher zu beleuchten und aufzuzeigen, wie sie sich zu einem Ganzen fügen, so dass eine Sinnkonstitution entsteht.
Petrov lehnt das sowjetische Russland seiner Zeit in allen seinen Erscheinungsformen fundamental ab. Er versucht ein anderes Russlandbild zu entwerfen. Einerseits ist dieses Russlandbild durch eine Rückbesinnung auf die russische Kultur vor der Revolution bestimmt. Dabei ist sicher die Literatur und Kunst der Moderne der wichtigste Sinngebungshorizont. Aber auch klassische Werke anderer Epochen finden Eingang in Petrovs Weltbild. Andererseits entwirft er ein geradezu archetypisches Russlandbild, das im Stil der romantischen Märchen ein natur- und volksnahes Russland zeichnet. Dieses Russland lebt vor allem in der Natur und in der Ursprünglichkeit des dörflichen Lebens.
Inwieweit dieser Sinnentwurf ein Gegenentwurf zur offiziellen Kultur des sozialistischen Realismus ist, wird untersucht, indem Vera Panovas Roman „Die Weggenossen“ als Abgrenzungsfolie genutzt wird. Dies ergibt auf rein formaler Ebene Sinn, denn Vera Panovas Roman entspricht der Norm des Sozialistischen Realismus in so starkem Maße, dass er den Stalinpreis 1946 gewann. Außerdem wurde er ein Bestseller, was dafürspricht, dass er nicht nur der offiziellen Doktrin entsprach, sondern auch den Nerv breiter Massen der damaligen Leser traf. Petrov verzichtet mit der Form der Novelle auf epische Breite und den Versuch, eine sowjetische Wirklichkeit umfassend darzustellen. Stattdessen beschränkt er sich auf zentrale Themen von philosophischer Tiefe: Liebe und Tod. Die Novelle erhält dadurch eine Gemeingültigkeit, eine Zeitlosigkeit, wie sie Merkmal aller klassischen Kunstwerke ist, die oft noch für nachfolgende Generationen aktualisierbar und damit bereichernd bleiben.
2. Formale Struktur
2.1. Titel
Schon der Titel der Novelle referiert auf den klassischen westeuropäischen Bildungskanon, auf die Heldin „Manon Lescaut“ des französischen Romans „Die Manon Lescaut und der Chevalier des Grieux“ von Abbé Prevost, der die Vorlage für die spätere Oper von Puccini bildet. Petrov verbindet bereits im Titel eine bekannte Figur der westeuropäischen Literatur und der klassischen musikalischen Hochkultur mit dem kleinen Örtchen Turdej. Turdej ist wohl den meisten Lesern zunächst nicht geläufig. Aber wie Oleg Jurjew im Kommentar verdeutlicht, liegt es im Herzland der russischen Literatur, im Bezirk Tula, dort wo auch Tolstoj, Turgenev und Leskov lebten und wirkten. Petrov verknüpft damit zum einen die westeuropäische klassische Kulturtradition eng mit der von ihm erzählten Liebesgeschichte, die sich doch eigentlich in der prosaischen Realität der Sowjetzeit abspielt. Zum anderen erhebt er damit einen nicht unbescheidenen Anspruch an sein Werk: Er verortet es im Kernland der russischen Literatur, wie Oleg Jurjew in seinem Kommentar treffend herausstellt.[5] Bereits der Titel stellt somit klar, in welcher literarischen Tradition die Novelle steht und welchen literarischen Anspruch Petrov an sein Werk anlegt.
Vielleicht soll der Titel auch auf Šostakovičs Oper „Die Lady Macbeth von Mzensk“ anspielen, denn die Titel sind strukturell gleich aufgebaut: Bei Šostakovič wird eine in der Literaturgeschichte bekannte Frauenfigur, Shakespeares Lady Macbeth, in eine russische Provinzstadt (genauso wie Turdej eine Provinzstadt ist) versetzt. Die Oper wurde von der offiziellen Parteilinie verpönt.[6] Vielleicht solidarisiert sich Petrov durch seinen Titel mit der diffamierten Oper. Der Name von Shakespeares Figur „Lady Macbeth“ erinnert auch durch die chiastische Alliteration der Anfangsbuchstaben der Namen an die „Manon Lescaut“. Shakespeare ist zudem für die Erzählerfigur ein wichtiger literarischer Bezugspunkt, denn der Ich-Erzähler nennt Shakespeare in seiner Genietheorie als Vorbild für den von ihm entworfenen Typus der „flammenden Menschen“. Doch dazu mehr in Kapitel 5.6., das die Genietheorie des Ich-Erzählers untersucht.
Wie Oleg Jurjew in seinem Kommentar darlegt, ist die Manon Lescaut dem kulturell gebildeten russischen Leser nicht so sehr durch die französische Vorlage und die Oper Puccinis ein Begriff, sondern vielmehr durch Gedichte zu Manon Lescaut von russischen Dichtern des Silbernen Zeitalters. Michail Kuzmin, der ein enger Freund Petrovs war und dem die Novelle gewidmet ist, verfasste ein Gedicht über Manon Lescaut:
…Von den ersten Worten in einer Ganoventaverne an Blieb sie sich treu, mal bettelarm, mal reich, Bis sie kraftlos auf den Sand sank, Fern heimatlicher Gräser, und mit einem Degen,
Nicht mit einem Spaten begraben wurde – Manon Lescaut![7]
Petrov kannte sicher dieses Gedicht Kuzmins, in dem die Figur der Manon als leidenschaftliche Frau beschrieben wird, die den Wechselfällen des Lebens ausgeliefert ist. Dieser Typ Frau, der in allen Lebenslagen lebenshungrig, frei und temperamentvoll bleibt, ist das Idealbild der Ich-Erzählerfigur, die sich selbst als hilflos dem Leben und dem Tod ausgeliefert empfindet.
Außerdem klingt in dem Gedicht durch die Ganoventaverne die Atmosphäre des Zwielichtigen, Verruchten an, die auch Vera und ihre Vergnügungen und Abenteuer in Petrovs Novelle umgibt.
Marina Cvetaeva schreibt in einer Erinnerung, wie sie mit Kuzmin über dieses Gedicht gesprochen hatte und davon zu einem eigenen Gedicht inspiriert wurde. Am Gedicht von Kuzmin faszinierte sie die Evokation einer verwegenen, heroischen Vergangenheit durch die Schlusszeile „mit einem Degen, nicht mit einem Spaten begraben“. Für Cvetaeva brachte diese Schlusszeile das 18. Jahrhundert, in dem die Manon Lescaut geschrieben wurde, auf den Punkt. Diese Faszination für ein vergangenes Jahrhundert, das als eine Art goldenes Zeitalter erscheint, durchzieht Petrovs Novelle. Seine Faszination für das 18. Jahrhundert wird noch zum Thema werden. In dem Gedicht, das Marina Cvetaeva, sehr wahrscheinlich beeindruckt von Kuzmins Gedicht, verfasste, findet sich noch ein anderes Thema, das Petrovs Novelle durchzieht: die Eifersucht:
…Chevalier de Grieux, vergeblich Träumen sie von der schönen, Launischen, nicht sich selbst gehörenden, Liebeshungrigen Manon.[8]
Im Gedicht Cvetaevas finden sich die stereotypen Züge der Manon, die Petrovs Manon kennzeichnen: Auch Vera ist schön, launisch und liebeshungrig. Die Charakterisierung Manon Lescauts, als nicht sich selbst gehörend, spricht ein wichtiges psychologisches und erzähltechnisches Thema der Novelle an, das im Folgenden noch genauer erläutert werden wird.
2.2. Widmung
Petrov widmet die Novelle seinem engen Freund Michail Kuzmin. Dieser war einer der einer der wichtigsten Dichter der russischen klassischen Moderne. Seine Gedichte hatten Gedichte starke Wirkung auf viele russische Dichter des 20. Jahrhunderts hatten. Seine Wohnung, der sogenannte Turm war als Treffpunkt das Zentrum der Leningrader „Parallelkultur“ in 20 er und 30er Jahren. Petrov war dort ein häufiger Gast. Für die Gedichte Kuzmins sind eine Reihe immer wieder kehrender Bilder charakteristisch: das hellenistische Alexandrien, das französische 18. Jahrhundert und russische Spiritualität. Diese Themen finden sich in Petrovs Novelle wieder. Teilweise geschieht dies über Umwege, so wie Griechenland über die Nähe zum Theater und die Bezüge zu Nietzsches Theorie der Tragödie und das Motiv des Hains evoziert wird. Teilweise ist der Bezug sehr direkt, wie die Begeisterung des Erzählers für das 18. Jahrhundert. Spiritualität wird durch das Thema der Todesangst in die Novelle integriert. Kuzmin legte besonderen Wert auf die Klarheit der Sprache und die Aufmerksamkeit auf Details. Kuzmin war den Akmeisten stilistisch verbunden. Kuzmin schrieb 1910 seine programmatische Schrift „Über die wunderschöne Klarheit“ („О прекрасной ясности“).
2.3. Motto
Das Motto von Petrovs Manon Lescaut zitiert ein Gedicht von Vasilij Andreevič Žukovskij (1783 – 1852), der als Begründer der russischen Romantik angesehen wird. Petrov zitiert nur die vorletzte Zeile, nicht die letzte Zeile. Das ist sehr ungewöhnlich, da ja bekanntlich auf der letzten Zeile eines Gedichts der wichtigste Akzent liegt. Aber Petrov konnte davon ausgehen, dass der gebildete Leser das Gedicht im vorrevolutionären Russland auswendig gelernt hatte und die letzte Zeile ergänzen konnte, wie Oleg Jurjew im Kommentar versichert.[9] Zusammen lauten die beiden Zeilen: „Nicht verflogen ist der Zauber/ Wieder eintreten wird das Vergangene.“ („Не умерло очарованье! Былое сбудется опять“[10] )
Damit formulieren sie genau das Motto für die Novelle, in einer Art Beschwörungsformel: Noch gibt es den Zauber der vergangenen, vorsowjetischen Zeit. Dieser Zauber lebt weiter in der Tradierung von Kunstwerken der vorsowjetischen Zeit, in der Parallelkultur, die im Schatten der offiziellen Kultur am Leben erhalten wird. Petrovs Novelle ist selbst ein Gefäß der memoria,[11] das die Kunst und Literatur vergangener Epochen und vor allem die Kunst der Silbernen Zeitalters würdigt und bewahrt. Durch das Aufschreiben und das wiederholte Vorlesen des Textes im Freundeskreis, gibt er die bedrohte Kultur im Verborgenen weiter, vorbei an der offiziellen Kultur der Sowjetmacht.
Die Hoffnung, dass durch den Krieg eine Art Reinigung geschehen würde und danach Züge des vorrevolutionären Lebens wiederkommen würden, vereinte viele Intellektuelle. Diese Hoffnung auf die Wiederkehr der alten Zeiten formuliert das Gedicht und Petrov schreibt die Novelle im Geiste dieser Hoffnung, dass das Vergangene wieder eintreten werde, dass die Blüte der russischen Kultur nicht verloren sein möge.
Im Gedicht Žukovskijs beschwört das lyrische Ich den vergangenen Zustand als Ideal, in dem Leben und Poesie eins sind („И для меня в то время было Жизнь и Поэзия одно“). Dieses Ideal versucht die Ich-Erzählerfigur in Petrovs Novelle zu leben, sie versucht, die profane Alltagswirklichkeit des Krieges mit der Welt der Kunst zu überlagern. Auch weitere Motive, die zentral für Petrovs Novelle sind und im Folgenden näher erläutert werden, finden sich im Gedicht: So das Motiv der Muse, die das Dichtergenie inspiriert („Я музу юную, бывало, /Встречал в подлунной стороне/ И Вдохновение летало/ С небес, незваное, ко мне“), denn der Ich-Erzähler stilisiert Vera zu seiner Muse. Auch der Topos der Einsamkeit des Dichters, der sich nach der Schönheit und der Inspiration vergangener Tage sehnt (Все, что от милых темных, ясных/ Минувших дней я сохранил -/ Цветы мечты уединенной/ И жизни лучшие цветы,“), findet sich in der Novelle wieder.
Die formale Gestaltung des Mottos weist bereits auf das zentrale poetische Verfahren[12] Petrovs hin: das der Reduktion. Die Novelle zeichnet sich durch einen stark reduzierten Stil aus, der vieles an Kontext und Information ausspart. Petrov setzt somit einen eingeweihten Leser voraus. Bewusst setzt er Leerstellen, von denen er sicher sein kann, dass sein Adressat, sie füllen kann.
Diese extreme Reduktion ist eigentlich viel stärker ein Verfahren von Lyrik als von Epik, da Lyrik ja in aller Regel einen geringeren Umfang aufweist. Die extreme Reduziertheit macht die Schönheit und Modernität des Textes aus und verleiht der Sprache eine Suggestivität, die nach Meinung der Verfasserin tatsächlich nahe an die Ausdruckskraft lyrischer Sprache heranreicht. Insofern fügt es sich auch auf stilistischer Ebene passend ein, dass Petrov einen Vers (der beim intendierten Leser direkt den gemeinten Schlussvers evoziert) als Motto wählt.
2.4. Gattungszugehörigkeit
Petrovs Text ist eine Novelle, allein dies widerspricht der epischen Breite des Romans, der doch die vorherrschende Gattung des sozialistischen Realismus war. Petrov gibt keine detaillierten Beschreibungen, entwirft keine kontinuierlichen Entwicklungsprozesse von Figuren zum Guten hin, erschafft kein Portrait einer Gesellschaft, die sich auf dem Weg des Fortschritts befindet. Stattdessen skizziert er auf wenigen Seiten die Geschichte einer eigentlich leichtlebigen Liebesbeziehung, die scheinbar ohne Bezug zu realen Ereignissen und ohne Konsequenzen nur um sich selbst kreist. Skizzenhaft und leicht, ohne epische Schwere, erzählt Petrov von einer Liebe, die viel mehr in der Fantasie des Protagonisten lebt, als in einer sozialen oder historischen Realität.
Der Bombenangriff auf den Zug, bei dem der Ich-Erzähler als einziger der Besatzung die Stellung hält, kann als Wendepunkt der Novelle gelesen werden. Zum ersten Mal bricht der Krieg mit unmittelbarer Gewalt über die Figuren herein und die bis dahin nur innerlich erlebte Todesangst des jungen Offiziers wird real. Danach wechselt der Ort der Handlung zum titelgebenden Ort Turdej. Hier leben der Erzähler und Vera in einer schlichten Bauernhütte in einem idyllischen Glückszustand. Die Intensität der Liebe erreicht ihren Höhepunkt in einem symbiotischen Miteinander in der Natur. Diese Episode der Novelle kann man als Anlehnung an das Genre der Sowjetidylle lesen. Das ursprüngliche, volkstümliche Russland wird hier idealisiert, doch dazu mehr im Kapitel Russlandbild.
Durch das tragische Ende, den Tod Veras durch einen Bombenangriff, dringt die grausame Realität des Krieges dann doch mit aller Gewalt in den geschützten Raum der Liebe und der Phantasie ein. Was zunächst als Einbruch der zeitgeschichtlichen Realität erscheint, wird doch wieder zur Möglichkeit, der Realität zu entfliehen: Andere mögliche Enden der Beziehung, wie das Zerbrechen der Liebe an Veras Untreue, werden durch tragische äußere Umstände, den Bombenangriff, bei dem Vera stirbt, sozusagen „gelöst“. Denn durch Veras plötzlichen Tod wird die Liebe zu einer tragischen und nie endenden Liebe erhoben. Der frühe Tod Veras bewahrt die Liebesgeschichte davor, sich in einer banalen Alltagswirklichkeit zu entzaubern. Die Novelle endet unvermittelt und abrupt.
In Rezensionen russischer Zeitungen wird Petrovs Manon Lescaut sowohl als Liebesmelodram[13] gesehen, als auch als dem Genre der Kriegsliteratur[14] zugehörig. Dies liegt in der Zwiespältigkeit des Textes begründet, denn die Novelle entfaltet sich zwar im Krieg, was den Ort und die Zeit der Handlung betrifft. Aber bis auf wenige zentrale handlungsauslösende Momente spielt der Krieg keine Rolle. Der Krieg setzt den Rahmen für die Begegnung, indem er die Liebenden im Lazarettzug auf einander treffen lässt. Einzelne Ereignisse, wie der Bombenangriff auf den Zug bewirken, dass sich die Figuren in neue Räume hinein bewegen, die ihre Liebesbeziehung auf eine andere Ebene versetzen. So verbringen sie eine intensive Zeit der Nähe in der Bauernhütte in Turdej, in einer Art russischem Arkadien.
Petrov verfasste die Novelle direkt nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war. Der Text ist einer der ersten Texte über den Krieg überhaupt. Eigentlich könnte sie also durch die Frische der Eindrücke ein realistisches, unmittelbares Abbild des Erlebten sein. Aber der Krieg ist im Text nahezu unsichtbar. Selbst als Vera im Bombenangriff umkommt, wird dies nur aus der Distanz erzählt: Der Erzähler erfährt es durch die Vermittlung Nina Aleskeevnas, in einer Art Ekphrasis. Er ist nicht unmittelbar anwesend, sondern er hat eine räumliche, zeitliche und zudem bereits emotionale Distanz zu Vera. Der Krieg ist in Petrovs Text nicht so sehr Thema, sondern mehr ein unabänderliches Naturereignis. Deshalb erscheint es nicht passend, die Novelle dem Genre der Kriegsliteratur zuzuordnen.
2.5. Erzählperspektive
Petrovs Ich-Erzähler ist ein autodiegetischer Ich-Erzähler, der über sich und die anderen im Zug berichtet, aber zugleich die wichtigste handelnde Person ist. Alles wird aus seiner Innensicht und aus seiner Analyse der ihn umgebenden Welt her geschildert. Er berichtet im Tempus der Vergangenheit. Aber indem er als Figur anwesend ist und unmittelbar auf das Geschehen blickt, kommt es dem Leser so vor, als ob sich das Geschehen in der Gegenwart direkt vor seinen Augen abspielen würde. Daher könnte man die Erzählweise der erlebten Rede zuordnen. Dabei ist der Erzählstil stark deskriptiv und nur gelegentlich verdeckt wertend. Vor allem am Anfang der Novelle scheint es keinen zeitlichen Abstand zum Geschehen zu geben, obwohl der Erzähler im Tempus der Vergangenheit erzählt. Im Laufe der Novelle gibt es jedoch immer mehr Elemente, die auf eine nachträgliche Reflexion des Geschehens hindeuten. Diese Erzählhaltung entspricht dem Geschehen der Novelle: Der Erzähler bleibt zunächst ein völlig unbeteiligter Beobachter: Aus der Vogelperspektive, von der Höhe seiner Pritsche, beobachtet er das Geschehen im Waggon. Er ist zunächst mit sich selbst und seinen Erstickungsanfällen beschäftigt, so dass er nicht in Interaktion mit anderen Figuren tritt. Der Ich-Erzähler ist damit ein idealer Erzähler im Sinne Schopenhauers: „Die Fähigkeit, sich «rein anschauend zu verhalten», seiner «Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrigzubleiben»: das ist für Schopenhauer schlechthin Genialität.[15]
Das ändert sich im Laufe der Novelle: die Erzählerfigur verwickelt sich immer mehr in Interaktionen mit anderen Figuren. Der Leser erfährt durch die ständige Introspektion des Erzählers seine unmittelbaren Gedanken und Gefühle. Dadurch ergeben sich einige Momente der Komik, in denen der Erzähler sein Handeln und Sprechen deskriptiv widergibt und im selben Moment schon innerlich in Frage stellt: So wird zum Beispiel die Atmosphäre der zunächst romantischen Anbahnung des ersten Kusses zwischen dem Erzähler und Vera durch seine eigenen inneren Kommentare zu seinem Handeln gebrochen:
— Вы мне нравитесь, — сказал я и обнял Веру. «Зачем я это делаю?» — подумал я и повернул ее к себе, чтобы поцеловать. Вера повернулась. Я быстро отстранился, потом взял ее руку и осторожно поцеловал кончики пальцев. Она так изменилась в лице, что у меня сердце остановилось на секунду. (VI)
Diese übermäßige Reflektiertheit des Erzählers macht es ihm unmöglich, den Moment zu leben. Der Text selbst performiert diese Unfähigkeit seines Protagonisten. Veras Anziehung auf den Erzähler speist sich im Wesentlichen daraus, dass sie diese Brüche nicht kennt und nicht unter einem gebrochenen Verhältnis zum eigenen (Er-)leben leidet. Damit setzt Petrov einen Kontrapunkt zu seiner Erzählerfigur. Diese Gebrochenheit des Selbst unterscheidet den Erzähler von der Figur Werthers, mit der er sich zu Beginn der Novelle weitgehend identifiziert (dazu mehr in Kapitel 5.3.). Der Erzähler ist in seiner Gebrochenheit ein Mensch der Moderne und kann ihr nie ganz entrinnen. Der Ich-Erzähler ist ein unzuverlässiger Erzähler, wie der Leser schnell merkt: Im Text wird immer wieder das Auseinanderklaffen von erzählter Realität und der Wahrnehmung des Erzählers inszeniert: Teilweise reflektiert der Erzähler selbst die Gegensätze in seinem eigenen Handeln und Denken, teilweise ziehen andere Figuren, durch ihre Kommentare oder Reaktionen auf seine Handlungen, seine Wahrnehmung in Zweifel. Die Ärztin Nina Alekseevna steht als externe Instanz, die die Wahrnehmung des Erzählers korrigiert und ihm die Meinung des Kollektivs im Waggon referiert.
Die stärkste Spaltung der erzählten Realität findet jedoch im Erzähler selbst statt, der immer wieder seine eigene Wahrnehmung anzweifelt. In der Wahrnehmung des Erzählers sind die erzählte Realität und seine persönliche Utopie so eng miteinander verwebt, dass fragwürdig bleibt, was auf der Ebene der erzählten Realität wahr ist und was nicht. Dadurch entsteht ein Metadiskurs über die Fähigkeit der Kunst, Realitäten sowohl abzubilden, als auch zu schaffen, doch dazu mehr im Kapitel Fiktionalität.
Man sollte sicher nicht so weit gehen, die Novelle als autobiografisch zu lesen. Aber man könnte die Erzählerfigur als - sicherlich stark -stilisiertes Selbstbild Petrovs lesen, der sie unmittelbar nach der Rückkehr von der Front verfasste. Der zeitliche Abstand zum Erlebten ist gering, die Ereignisse müssen noch unmittelbar und frisch in ihm nachgewirkt haben. Außerdem entspricht die Ich-Erzählerfigur in ihrer Persönlichkeit, ihrem Status und ihrer Bildung nach dem Autor. Die meisten Rezensenten sind sich darin einig, dass es angemessen ist, die Erzählerfigur weitgehend mit dem Autor zu identifizieren. Dadurch, dass der Leser keinen Namen, keine Informationen über das Äußere und die Herkunft des jungen Offiziers erhält, könnte man die Erzählerfigur aber auch als Typus lesen. Vielleicht repräsentiert er den Typus des kultivierten Intellektuellen, der sich in der Kultur seiner Zeit fremd fühlte. Petrov rechnete sich sicher selbst zu diesem Typus, aber er fühlte sich darin auch vielen anderen verbunden, die genauso unter den Bedingungen seiner Zeit litten. Für diese Lesart spricht, dass Petrov die Erzählerfigur in die Reihe der überflüssigen Menschen einordnet, wie noch näher erläutert werden wird. Das Lesen der Novelle im Freundeskreis schuf sicherlich ein Gefühl der Verbundenheit, in dem die Zuhörer nicht nur Petrov in der Figur wiederfanden, sondern ebenso einen Teil ihrer eigenen Identität.
2.6. Raum- und Zeit
Der Text beginnt in medias res, aus der Sicht des Erzählers mit dem Wort „Ich“. Und so kreist der Erzähler im ganzen Text um sich selbst, seine Gedanken und seine Gefühle. Die Umgebung erschließt sich dem Leser nur nach und nach implizit. Es gibt keinerlei hinführende Einleitungen. Der erste Ort, der genannt wird, ist die Pritsche, auf der der Protagonist im Lazarettzug liegt. Er benennt nur die Menschen seiner Umgebung, mit denen er unmittelbar Kontakt hat. Die anderen, die weiter entfernt liegen, sind fremde Leben, mit denen ihn nichts verbindet: „Вокруг меня были люди, чужие жизни, нигде не соприкасавшиеся с моей.“ (II). Die völlige Bindungslosigkeit zu den ihn umgebenden Menschen – noch dazu in einer Situation der existenziellen Gefahr und unter so starker physischer Nähe − steht diametral der sowjetischen Ideologie des Kollektivs entgegen, in dem jeder seinen Platz und seine Würde innehaben sollte. Im Gegensatz zu Panovas Roman, in dem jede Person eine Identität und eigene Besonderheiten in den Augen des allwissenden Erzählers erhält, schränkt Petrov den Blick durch seinen Ich-Erzähler drastisch ein. Er nimmt andere nur bedingt war, für ihn sind zum Beispiel die Fronthelferinnen zunächst eine homogene Gruppe, die er nicht als einzelne Personen beachtet. Der Erzähler ist völlig auf seine Innenwelt fokussiert. Er versucht die ihn umgebende Welt der Sowjetunion komplett zu ignorieren.
Die Zeit wird vom Erzähler nicht als zielgerichtete Linie mit Ausrichtung auf die Zukunft gesehen. In der sowjetischen Ideologie ging es immer weiter in Richtung einer ruhmreichen Zukunft. In der Zeit des Krieges herrschte natürlich die Vision eines ruhmreichen Sieges über die Deutschen vor. Dieser Sieg, der das größte kollektive Ziel aller Sowjetbürger während der großen Kraftanstrengung des Krieges sein sollte, wird vom Protagonisten nie thematisiert, noch nicht einmal gedacht. Stattdessen fühlt er sich einer nicht linearen Zeit ausgeliefert, in der er passiv dahintreibt, genauso wie der Zug im desorganisierten Raum. Die Zeit, in der der Waggon sich befindet, wird zu einer eigenständigen, irrationalen Größe, sie ist genauso kontextlos wie der Erzähler in der Gemeinschaft: „Время пошло как-то вкось: не связывало прошлого с будущим, а куда-то меня уводило.“ (II)
[...]
[1] So erschienen überaus positive Rezensionen in der Zeit, der Süddeutsche, auf Deutschlandfunk, und noch vielen anderen Zeitungen. In der vorliegenden Arbeit wird auf sie verwiesen und sie sind als Anhang beigefügt.
[2] Vergleiche Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Dorothee Kimmich/ Rolf Günter Renner/ Bernd Stiegler: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 2004. S. 233-247.
[3] Vergleiche hierzu das Nachwort von Oleg Jurjew zur Deutschen Ausgabe. Wsewolod Petrov: Die Manon Lescaut von Turdej. München 2012. S.105.
[4] Im Folgenden wird noch näher auf die Literatur als Speichermedium der Kultur im Sinne Assmanns eingegangen werden.
[5] Nachwort von Oleg Jurjew zur Deutschen Ausgabe. Wsewolod Petrov: Die Manon Lescaut von Turdej. München 2012
[6] Zur Diskreditierung von Šostakovičs Oper vergleiche Städtke: Russische Literaturgeschichte S. 323
[7] Zitiert nach dem Kommentar von Oleg Jurjew in: Wsewolod Petrow: Die Manon Lescaut von Turdej. München 2012. S. 98-99.
[8] Zitiert nach dem Kommentar von Oleg Jurjew in: Wsewolod Petrow: Die Manon Lescaut von Turdej. München 2012. S. 98-99.
[9] Oleg Jurjew in: Wsewolod Petrov: Die Manon Lescaut von Turdej. München 2012.S. 100.
[10] Zitiert nach Kay Borowsky und Lodolf Müller (Hg.): Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1983. S. 96
[11] Im Konzept des Kulturellen Gedächtnisses, das in der Literatur weiter tradiert wird, beziehe ich mich auf Jan Assmanns grundlegende Schrift: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992.
[12] Die formalistische Schule lässt mit ihrer Definition von Kunst als Verfahren der Verfremdung von Alltagssprache lässt sich sehr gut auf Petrovs Stil beziehen. Sie Šklovskij, Viktor: Isskustvo kak priem/ Die Kunst als Verfahren. Russisch-Deutsch. In: Striedter, Jurij (Hg.): Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969. München 1969, S. 2-35.
[13] http://www.svoboda.org/a/27774412.html
[14] http://magazines.russ.ru/novyi_mi/2006/11/pe2-pr.html
[15] Konrad Paul Lissemann: Philosophie der modernen Kunst. Wien 1999.
- Citar trabajo
- Friederike Appel (Autor), 2016, Vsevolod Petrovs "Die Manon Lescaut von Turdej" als Gegenentwurf zur sowjetischen Kultur, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/386098
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