Diese Bachelorarbeit setzt sich kritisch mit dem Thema medialer Eskapismus und dessen Bedeutung für die Soziale Arbeit auseinander. Nach ausführlichen begrifflichen Definitionen werden zunächst die Fragen geklärt wer als Eskapistin/Eskapist gelten kann und warum sie/er vor der Realität flüchtet. Wie sich zeigt ist dies nicht an einzelnen Persönlichkeitsmerkmalen festzumachen, auch die Gründe für eskapistisches Verhalten können vielfältig sein.
Wer flüchtet braucht immer auch ein Ziel oder zumindest ein Fluchtmittel. Aus mehreren Gründen richtet diese Arbeit den kritischen Blick auf Fernsehen und Videospiele. Mit diesen Medien gehen eine ganze Reihe möglicher Vor- und Nachteile einher. Es ist vor allem der exzessive Gebrauch der negative Auswirkungen nach sich zieht. Um schädlichem Eskapismus, pathologischer Mediennutzung, Prokrastination und deren negative Folgen entgegenwirken muss die Soziale Arbeit auch über Medienkompetenz verfügen und diese vermitteln können. Durch einen kompetenten Umgang mit Medien und maßvollem Eskapismus können deren positive Aspekte zum tragen kommen und genutzt werden.
1. Eskapismus Was ist Eskapismus?
1.2 Realität(en) und Wirklichkeit(en)
3. Fluchtorte und Fluchtmittel
3.1.1 Positive Auswirkungen von TV
3.1.2 Negative Auswirkungen von TV
3.2 Flucht in (online) Spiel-Welten
3.2.1 Positive Auswirkungen von Gaming
3.2.2 Negative Auswirkungen von Gaming
4. Die Folgen eskapistischen Verhaltens
4.1 Prokrastination
4.1.1 Bedeutung von Prokrastination für die Soziale Arbeit
4.2 Pathologische Mediennutzung Videospiel-und Fernseh-Sucht
5. Die Bedeutung von pathologischem (medialem) Eskapismus für die Soziale Arbeit
Literaturverzeichnis
Abstract
Die vorliegende Bachelorarbeit setzt sich kritisch mit dem Thema medialer Eskapismus und dessen Bedeutung für die Soziale Arbeit auseinander. Nach ausführlichen begrifflichen Definitionen werden zunächst die Fragen geklärt wer als Eskapistin/Eskapist gelten kann und warum sie/er vor der Realität flüchtet. Wie sich zeigt ist dies nicht an einzelnen Persönlichkeitsmerkmalen festzumachen, auch die Gründe für eskapistisches Verhalten können vielfältig sein. Wer flüchtet braucht immer auch ein Ziel oder zumindest ein Fluchtmittel. Aus mehreren Gründen richtet diese Arbeit den kritischen Blick auf Fernsehen und Videospiele. Mit diesen Medien gehen eine ganze Reihe möglicher Vor- und Nachteile einher. Es ist vor allem der exzessive Gebrauch der negative Auswirkungen nach sich zieht. Um schädlichem Eskapismus, pathologischer Mediennutzung, Prokrastination und deren negative Folgen entgegenwirken muss die Soziale Arbeit auch über Medienkompetenz verfügen und diese vermitteln können. Durch einen kompetenten Umgang mit Medien und maßvollem Eskapismus können deren/dessen positive Aspekte zum tragen kommen und genutzt werden.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: „Medien als Gesprächsthema in der Familie“ ( entnommen aus Ebert et al., 2012, S. 39).
Abbildung 3: Referenzen von Kindern 2014
Abbildung 4: Haushalte* mit Videospiel-fähigen Geräten 2014
Abbildung 5: BewaffneteWOW-Hochzeitsgesellschaft (Photo by Stephanie Wales Photography)
Abbildung 7: Arten von Eskapismus
Einleitung
„Die Gedanken sind frei“ (Weber, 2012, S. 65) titelt ein deutsches Volkslied. Die Fragen die in dieser Bachelorarbeit zentral sind, zielen darauf ab zu erforschen, weshalb es so wichtig ist, dass unsere Gedanken frei sind, warum sie sich überhaupt befreien möchten, wohin sie flüchten, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln, was die Konsequenzen einer Gedankenflucht sind und vor allem, welche Gefahren und Chancen sich insbesondere für Kinder und Jugendliche daraus ergeben. Eskapismus, bzw. das Fantasieren ist sicherlich kein neuzeitliches Phänomen in der Pädagogik und der Psychologie. So hat dies bereits Sigmund Freud im Jahre 1907 beschäftigt. Heutzutage, im Jahr 2015, sind fiktionale Wirklichkeiten per Tastendruck jederzeit und überall verfügbar, wie z.B. die Kim und Jim-Studie aus dem Jahr 2014 beweist. Um diese Realitäten zu betreten, braucht man nicht die Fähigkeit zu lesen, teure Kino oder Theaterkarten zu kaufen und auch kaum noch eigene Vorstellungskraft. Mit dem Fortschreiten der technischen Entwicklungen wurden die Zerstreuungs-Methoden immer ausgefeilter und vielseitiger. Unsere Unterhaltungsangebote (Videospiele und Fernsehsendungen) sind in den letzten hundert Jahren immer komplexer, realistischer und damit auch fesselnder (Johnson, 2006a) geworden. Mit Versprechungen wie: „schärfer als die Realität“ (Pro Sieben-Media AG, 2015a, online) und „jetzt kostenlos spielen“ (SPIL GAMES, 2015, online) laden verheißungsvollere Wirklichkeiten flüchtende Gedanken zum Verweilen ein. Manch eine(r) bleibt aber nicht nur zu Besuch, sondern richtet sich in den fiktionalen Welten häuslich ein. Der Aufenthalt in diesen Wirklichkeiten kann z.B. durch pathologische Prokrastination und Suchtverhalten zu negativen Konsequenzen für die Betroffenen und deren soziales und berufliches Umfeld führen. Vertreter der Bewahrpädagogik, zu denen man auch den Psychiater Manfred Spitzer zählen kann, weisen vor allem auf die Gefahren hin, welche die sogenannten neuen Medien (Videospiele, Cyberspace, Fernsehen etc.) mit sich bringen. Andererseits ist die Mediennutzung Bestandteil des Fortschritts (te Wildt, 2012) und wer sich in unserer Gesellschaft den aktuellen und neuen Techniken sowie den virtuellen Welten verschließt, verweigert sich auch dem Fortschritt und bleibt sowohl beruflich als auch sozial auf der Strecke. Denn die neuen Medien bringen auch einige positive Wirkungen mit sich. Nach Johnson (2006a und b) führen Fernsehen, Videospiel und das Internet sogar zu einer allgemeinen Intelligenzsteigerung. In der Diskussion um das Mediale gibt es zwei extreme Lager, während die Einen ausschließlich die Vorteile zu sehen scheinen, weisen die Anderen ausschließlich auf die Gefahren hin. Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es, sich zwischen diesen Lagern vernünftig zu positionieren, da sie selbst Medienkompetenz entwickeln muss um diese auch vermitteln zu können. Diese Arbeit soll dazu einen Beitrag leisten, indem sie die Vor- und Nachteile, die mit den Medien Fernsehen und Videospielen einhergehen ebenso kritisch betrachtet, wie die Auswirkungen des eskapistischen Verhaltens. In dieser Arbeit meint der Begriff „Videospiele“ alle digitalen Spiele ungeachtet des Gerätes auf dem sie ausgeübt werden.
1. Eskapismus Was ist Eskapismus?
Dieses Kapitel beginnt mit dem bereits erwähnten Volkslied „Die Gedanken sind frei“, da es, wie bereits Rainer Henke (2008) erwähnte, die Essenz des Eskapismus gut zusammenfasst.
„Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten?
Sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei; die Gedanken sind frei.
Ich denke, was ich will
Und was mich beglücket,
doch alles in der Still
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
Kann niemand verwehren,
es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.
Und sperrt man mich ein
im finstren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei: die Gedanken sind frei
Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen
und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Man kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen
und denken dabei: Die Gedanken sind frei“
(Weber, 2012, S. 65).
Der Mensch hat die Fähigkeit zum Fantasieren und ist somit in der Lage, mentale Reisen anzutreten, wann immer er das für erforderlich hält. Unsere Gedanken können sich „aus der realen Welt, ja sogar“ von ihren „somatischen“ Verhaftungen „lösen und in eine ideale (...) selbst geschaffene Welt des Geistes hinübergehen, geradezu flüchten (...) Im Bereich der Soziologie, Psychologie und Literatur spricht man in diesem Zusammenhang oft von Eskapismus“ (Henke, 2008, S. 155). Genauer definiert der Duden Eskapismus, nämlich als:
„a.) (Hang zur) Flucht vor der Wirklichkeit u. den realen Anforderungen des Lebens in eine imaginäre Scheinwirklichkeit;
b.) Zerstreuungs- u. Vergnügungssucht, bes. in der Folge einer bewussten Abkehr von eingefahrenen Gewohnheiten u. Verhaltensmustern“ (Duden 05, 2010, S. 308). Teil b dieser Definition weist auf eine negative, pathologische Komponente hin, indem der Eskapismus mit Abhängigkeiten in Verbindung gebracht wird. Das deutsche Fremdwörterbuch geht dabei sogar noch weiter. Hier wird der Eskapismus als: „neurotische Abwehrhandlung gegenüber unerfreulichen Aspekten und Anforderungen der Realität; Zerstreuungs- und Vergnügungssucht (bes. in der Folge einer bewussten Abkehr von eingefahrenen Gewohnheiten und Verhaltensmustern)“ (Schulz & Basler, 2004, S. 242) gesehen. Im „Oxford Dictionary of difficult Words“ zeigt sich indes eine deutlich neutralere Haltung zum Thema: „the tendency to seek distraction and relief from unpleasant realities, esp. by seeking entertainment or engaging fantasy“ (Hobson, 2004, S. 160). Andrew Evans bietet mit seiner sogenannten Redefinition von Eskapismus eine breitere Erklärung des Begriffes: “Escapism is the switch from a more pressing need, or a less pleasurable or more stressful situation, self-perception or feeling, to a more pleasurable activity – real or imagined, purposeful or not- which is often recreational and increasingly offered by the mass media and the leisure Industry. 'Healthy' escapism may have no negative consequences, while 'unhealthy' escapism, such as procrastination, the addictions an neurotic or irresponsible behaviour may have negative consequences for both the individual and the wider social circle. Sometimes the distinction between one and the other can only be seen in retrospect” (Evans 2001, S. 72). Evans weist hier darauf hin, dass es schwer ist, die Grenze zwischen gesundem und krankhaftem Eskapismus zu ziehen, die Übergänge sind allem Anschein nach fließend. Auf die Gefahren und Chancen von Eskapismus soll zu einem späteren Zeitpunkt eingegangen werden. Ebenso fließend wie der Übergang von „normalem“ zum pathologischen Verhalten, ist der Übergang zwischen Scheinwirklichkeit und Realität, was im nächsten Kapitel Gegenstand der Betrachtung wird.
1.2 Realität(en) und Wirklichkeit(en)
Die aufgeführten Definitionen des Eskapismus brachten Begriffe wie Wirklichkeit und Realität (beide Begriffe finden hier als Synonym füreinander Verwendung) mit einem Selbstverständnis hervor, wie dies im gewöhnlichen Sprachgebrauch auch der Fall ist, wo die Begriffe nach Evans (2011, S. 31) ohne viel darüber nachzudenken Verwendung finden. Dabei ist die „Wirklichkeit“ nicht so leicht zu (er)fassen, wie es zunächst den Anschein hat. Denn Realität ist, wie bereits Jakob von Uexküll und Georg Kriszat (1956) postulierten, etwas sehr individuelles. Eines der Beispiele die von Uexküll und Krizat (1956) zum Beleg dessen nennen ist die Unterschiedliche Interpretation derselben Eiche durch einen Förster und ein kleines Mädchen. „In der durchaus rationalen Umwelt des alten Forstmannes, der zu bestimmen hat, welche Stämme seines Waldes schlagreif sind, ist die der Axt verfallene Eiche nichts anderes als einige Klafter Holz, was der Förster durch genaues Messen festzustellen sucht. Dabei wird die aufgewulstete Rinde, die zufällig einem menschlichen Gesicht gleicht, nicht weiter beachtet“ (von Uexküll & Kriszat, 1956, S. 94). Das kleine Mädchen hingegen erschrickt vor der Fratze die es in dem alten Baum erkannt hat: „Die ganze Eiche ist zu einem gefährlichen Dämon geworden“(von Uexküll & Kriszat 1956, S. 94). In der Realität verschiedener Tierarten wäre die Eiche eine Nahrungsquelle, Bau oder Aussichtspunkt (von Uexküll & Kriszat 1956). Das Beispiel verdeutlicht, dass die Realität der Eiche nicht nur individuell ist, sondern auch von einer Gruppe gleich gedeutet werden kann, z.B. eben jene Gruppe der Förster. Wie auch Paul Watzlawick (2003) vertreten sie die Ansicht, dass es nicht die eine Wirklichkeit zweiter Ordnung gibt, aber auch die Wirklichkeit erster Ordnung, nämlich das hier z.B. eine Eiche steht, ist dabei alles andere als absolut. Die Bezeichnung „Eiche“ ist eine die durch den menschlichen Sprachgebrauch entstanden ist. Der Baum selbst ist hier nichts anderes als ein fiktionales Beispiel, er ist der „Scheinwirklichkeit“ dieser Zeilen entsprungen. Laut Watzlawick (2003, S. 183) sind Wirklichkeiten erster Ordnung solche, die empirisch verifizierbar sind. Nach Meinung der Vertreter des Konstruktivismus (zu denen auch Paul Watzlawick zählt), liegt Realität im Auge des Betrachters, sie ist von der Wahrnehmung und anderen Faktoren abhängig, sie wird konstruiert (von Glaserfeld, 2015, S. 89-90). Vielém Flusser (2005, S. 202) stellt die Frage, was eine mit immer mehr Sinnen erfassbar werdende und immer bessere konstruierte mediale, insbesondere virtuelle Realität denn weniger real macht als die Wirklichkeit? Wenn beispielsweise ein Hologramm so gut erschaffen wurde, dass es mit allen Sinnen voll erfassbar ist und nicht von einem aus Rohstoffen geformten Gegenstand zu unterscheiden sei, wird es schwer, Scheinwirklichkeit und Realität auseinanderzuhalten (Flusser, 2005, S. 202). Flusser merkte ebenfalls an, dass beide Gegenstände aus Punkten bzw. Molekülen zusammengesetzt sind, also gar nicht so unterschiedlich sein können: „Entweder sind die alternativen Welten ebenso real wie die gegebene oder die gegebene ist ebenso gespenstisch wie die alternativen“ (Flusser, 2005, S. 202). Aus Sicht des Konstruktivismus trifft wohl eher letzteres zu. Wirft man einen Blick auf die virtuellen Entwicklungen, die in einem Freizeitpark 2016 in Utah (USA) mit dem Namen „The Void“ zur Geltung kommen sollen, wird es nicht leichter Wirklichkeit zu definierten. „At THE VOID you will walk into new dimensions and experience worlds without limits. From fighting intergalactic wars on alien planets, to casting spells in the darkest of dungeons, THE VOID presents the Future of Entertainment. Only limited by imagination, our advanced Virtual-Reality technologies allow you to see, move, and feel our digital worlds in a completely immersive and realistic way“ (The Void, 2015, online). In Online Spielen grenzen die Nutzer die Spielrealität von der „Wirklichkeit“ mit einem Begriff ab. „'In real life' ist ein Ausdruck, der von Computerspielern für das gebraucht wird, was außerhalb des Spiels stattfindet. Auf den ersten Blick könnte Real Life daher den Bereich bezeichnen, welchen Nichtspieler als ‚Alltag‘ betiteln würden: das Leben, das unvermeidbar ist, und dessen Widerständigkeit nicht hinterfragt werden kann“ (Günzel, 2011, S159). Laut Günzel ist es schwierig, diese Wirklichkeiten voneinander zu trennen, da Spiele den Alltag der Nutzer beeinflussen und teilweise sogar bestimmen. Auch Bert te Wildt (2012) ist der Ansicht, dass das Mediale unseren Alltag zunehmend beeinflusst. Für die Zwecke dieser Arbeit wird sich in Bezug auf Realität und Scheinwirklichkeit an der Definition des Duden orientiert: „Flucht vor der Wirklichkeit u. den realen Anforderungen des Lebens in eine imaginäre Scheinwirklichkeit“ (Duden 05, 2010, S. 308). Als Realität wird hier die von Günzel (2011, S. 159) beschriebene Wirklichkeit des Alltags mit ihren Anforderungen die das tägliche Leben mit sich bringt definiert. Hierunter fallen Dinge wie: essen, schlafen, arbeiten, der Schulpflicht nachkommen etc., eben alles, was zu den „Anforderungen des Lebens“ (Duden 05, 2010, S. 308) gezählt werden kann. Im Folgenden findet deshalb auch der Begriff der Alltagsrealität Anwendung. Die Scheinwirklichkeiten sind eben jene Räume der Fantasie (selbst und von anderen erschaffen), in die die Eskapistin, oder der Eskapist diesen Anforderungen zu entkommen sucht, durch welche Mittel auch immer. Hierunter fallen Träume ebenso wie virtuellen Realitäten, Fernsehrealitäten und anderen mediale oder nicht mediale Wirklichkeiten. Unter all den möglichen Ausweichrealitäten wird in dieser Arbeit der Fokus vor allem auf das Fernsehen und die Videospiele gerichtet sein. Die Gründe hierfür werden in Kapitel drei näher erläutert. Zunächst aber gilt es zu klären, wer diese Eskapisten eigentlich sind. Sind wir alle etwa Eskapisten, wie dies Yi-Fu Tuan (1998) behauptet? Laut ihm gibt es für uns kein Entkommen vom Eskapismus, da dieser (grundlegend) menschlich sei: „Escapism (...) is human – and inescapable“ (Tuan, 1998, S. XVI).
1. 3 EskapistIn
Die gesamte Menschheitsgeschichte gründet sich auf Flucht, nämlich auf der Flucht in andere Länder, der Migration und der Flucht aus der Natur in die Zivilisation (Tuan, 1998).
Der Mensch, so Tuan (1998, S. 6), ist ein Tier, das die Realität nicht akzeptiert wie sie ist. Im Gegensatz zu anderen Tieren passt sich der Mensch nicht der Realität an sondern versucht es andersherum. Der Mensch vermag dies zu tun weil er sehen kann, was nicht (oder noch nicht) da ist, er besitzt eben Vorstellungskraft und Fantasie, dies macht es ihm möglich, Kultur zu schaffen (Tuan, 1998, S. 6). Kultur ist dabei Eskapismus schlechthin, denn durch Kultur entfliehen wir der Realität unseres Tier-Seins. (Tuan 1998, S. XI)
In einer Online Befragung fand Evans (2001, S. 93) heraus, dass alle Befragten sich als Eskapisten bezeichneten. Mit der Idee, dass die Tendenz zum Eskapismus uns Menschen als Spezies innewohnt, liegt Tuan allem Anschein nach richtig, doch ist sie auch in jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. So wie es unterschiedlich starke Menschen und auch unterschiedlich ängstliche Menschen gibt, muss auch die Neigung zum Eskapismus verschieden ausgeprägt sein. Dies bestätigt sich durch eine Internetumfrage von Evans (2001). Demnach teilten sich die Befragten dieser Umfrage in drei Gruppen mit unterschiedlich eskapistischen Ausprägungen (gering: ca. 30%, mittel: ca. 50%, stark: ca. 20%). In den Kommentaren zur Studie gab ein Befragter mit geringen eskapistischen Tendenzen an, dass er nicht versuche vor echten Problemen zu fliehen, aber er aber Tätigkeiten wie: ein Buch zu lesen oder einen Film zu sehen, sich eben in seiner Freizeit mit anderen Dingen zu beschäftigen als zu arbeiten, als legitime Formen von Eskapismus sehe (Evans, 2001, S. 93). Unter den starken Eskapisten waren unter anderen auch solche, die Erlebnisse mit einschränkenden Realitäten hatten, wie z.B. ein Flüchtling des Eisernen Vorhangs (Evans, 2001, S. 93). Doch was zeichnet nun einen besonders eskapistischen Charakter aus, welche anderen Persönlichkeitsmerkmale begünstigen eskapistisches Verhalten, bzw. einen eskapistischen Charakter? Die im Folgenden genannten Persönlichkeitsfaktoren (nach Evans, 2001, S. 94- 107), können Bestandteil einer eskapistischen Persönlichkeit sein. bzw. eskapistisches Verhalten begünstigen, müssen dies aber nicht. Da eskapistisches Verhalten viele unterschiedliche Formen annehmen kann, sollten diese nicht generalisiert werden (Evans, 2001, S. 94).
Eskapismus begünstigende Persönlichkeitsfaktoren nach Evans (2001, S. 94- 107):
Introversion:
Viele sehen die/den Introversen (Volksmund: „Introvertierten“) als potentielle(n) Eskapistin/Eskapisten. Eher ein(e) BeobachterIn des Lebens, als jemand der Teil daran hat. Allerdings ist Introvertiertheit alles andere als pathologisch. Die Fähigkeit Einsamkeit zu genießen, kann für eine gute geistige Gesundheit sprechen. Allerdings ist es nicht auszuschließen, dass ein introvertierter Mensch auch stark eskapistische Tendenzen hat. Dies kann der Fall sein, wenn jemand z.B. unfreiwillig introvertiert, bzw. isoliert ist, weil sie/er sehr (oder gar krankhaft) schüchtern ist. Auch der kreative Künstler, der sich in die einsame Isolation zurückzieht, kann stark eskapistisch veranlagt sein (Evans, 2001, S. 94-96).
Extraversion:
Als Gegensatz zum introversen Persönlichkeitstypus, verbringt der extraverse Mensch (Volksmund: „Extrovertiert“) viel Zeit im Freien, redet viel und trifft sich mit Freunden. Nun könnte man meinen, Extraversion schütze vor Eskapismus, dem ist allerdings keineswegs so. Extraverse Persönlichkeiten bevorzugen nur andere Mittel zur Flucht, wie Freizeitparks, Gruppenaktivitäten und andere Spaß versprechende Unterhaltungsformen, die sie komplett vereinnahmen (Evans, 2001, S. 96).
Menschen mit psychischen Störungen:
Depressive Menschen zeichnen sich durch ein apathisches, hoffnungsloses Gemüt aus, sie tendieren zu einem generalisierten negativem Denken. Sie nehmen ihre Welt als schlecht und bedrückend war. Es erscheint nur logisch, wenn sie dieser Realität entfliehen versuchen. Bei manisch-depressiven Menschen kommen noch überschwänglich eskapistische Fantasien hinzu. Auch andere psychische Störungen können zu eskapistischem Verhalten, bzw. zu Realitätsflucht führen, wie z.B. eine soziale Phobie. Die Schizophrenie hingegen führt eher zu einer unbewussten Realitätsflucht, da sie zu einer Verzerrung der Realitätswahrnehmung führt und die Betroffenen in einer Halbrealität existieren lässt (Evans, 2001, S. 97).
Verklemmtheit:
Eine verklemmte oder unterdrückte Person, die ihr Leben nicht so führen kann wie sie will, kann große eskapistische Tendenzen ausprägen. Dies können Menschen sein, die in einer restriktiven Gesellschaft aufwachsen, sehr strenge Eltern haben/hatten oder in einer Beziehung mit einem sehr dominanten Partner leben, von einem tyrannischen Chef unterdrückt werden etc. Ein gutes Beispiel hierfür sei nach Evans, James Grover Thurbers Romanfigur Walter Mitty. Auch körperliche Behinderungen können dazu führen, dass jemand zum starken Eskapisten wird, wenn die- oder derjenige z.B. viel Zeit in Krankenhaus oder im Bett verbringen muss (Evans, 2001, S. 96).
Unzufriedenheit (die Rebellen):
Sowohl die/der EskapistIn als auch die/der RebellIn haben gemeinsam, dass sie mit der Realität unzufrieden sind. Eine(n) RebellIn zeichnet aber aus, dass sie oder er auch wirklich die Welt zu verändern versucht, und zuvor von dieser besseren Welt träumt. Wenn sich nun aber nie wirklich die Gelegenheit zur Veränderung ergibt oder die/der RebellIn versäumt, die Veränderung in die Tat umzusetzen, bleibt sie/er einfach eine unzufriedene Person mit starken eskapistischen Tendenzen (Evans, 2001, S. 96).
Andersdenker und Freigeister:
Andersdenker und Freigeister lassen sich selten von Konventionen oder festen Mustern binden. In ihrer Unangepasstheit nutzen sie Eskapismus z.B. um neue Ideen zu entwickeln. Ihre Konventionslosigkeit kann immer wieder zu Reibungen mit der Gesellschaft führen (Evans, 2001, S. 98-100).
Die Prokrastinierenden:
Ein zur Prokrastination tendierender Charakter verschiebt „notwendige Tätigkeiten bewusst auf einen späteren Zeitpunkt (…) Anstatt einfach die anstehenden Tätigkeiten zu erledigen, werden diese dann durch meist minder wichtige Ersatzhandlungen ersetzt“(Rauschler & Hasbani, 2013, S. 61). Diese Definition macht deutlich, dass dieses Charaktermerkmal eskapistisches Handeln stark begünstigen kann.
Ganz im Geist der Prokrastination, wird zu einem späteren Zeitpunkt dieses Thema in Zusammenhang mit den negativen Konsequenzen des Eskapismus beleuchtet.
Kreativität:
Von allen Persönlichkeitsmerkmalen ist die Kreativität dem Eskapismus am nächsten. Bei der Betrachtung folgender Persönlichkeitsmerkmale des kreativen Menschen (nach Evans, 2001, S. 100) wird dies klarer:
Betrachtet man die Persönlichkeitsmerkmale des kreativen und eskapistischen Menschen, so lassen sich einige Überschneidungen feststellen. Sowohl Eskapisten als auch Kreative verfügen über Fantasy, Experimentierfreudigkeit und haben ein Problem mit dem Status Quo (Evans, 2001, S. 100). Es liegt daher nahe, dass viele kreative Menschen ebenfalls einen ausgeprägten eskapistischen Charakter haben. Was einen kreativen Menschen aber von einem Eskapisten/einer Eskapistin unterscheidet, ist dass der Kreative/die Kreative durch das rastlose Verlangen angetrieben wird etwas zu erschaffen, etwas zu verändern, Innovation zu bewirken (Evans, 2001, S. 101). Überwiegt also die eskapistische Charaktereigenschaft die kreative, dann wird die/der Kreative gedankenverloren und beraubt sich so seiner Handlungsfähigkeit. Allerdings benötigt die/der Kreative für einen Schaffensprozess die Fähigkeit der Eskapistin/des Eskapisten zur Kontemplation. Denn wie Andrew Evans (2001, S. 102) treffend feststellte: „Excecution without contemplation is like going to sea without a map. Contemplation without excecution is like having the map but not going to the sea at all. Both are needed to be creative“. Evans (2001, S. 108) fasst die erwähnten Faktoren und Persönlichkeitsmerkmale, die den Eskapismus begünstigen in seinem Eskapisten-Profil zusammen, das im Folgenden (aus dem Englischen übersetzt) dargestellt wird:
Die Eskapistin/der Eskapist wäre fantasievoll und ideenreich, würde aber viel Zeit mit Tagträumen verbringen ohne dabei die Ideen in die Praxis umsetzen. Sie/er hätte eine Präferenz spontanen oder/und hedonistischen Aktivitäten nachzugehen, anstatt Aktivitäten zu planen und zu strukturieren. Außerdem hätte sie/er die Tendenz, sich angenehmen Aufgaben vor den dringenden zuzuwenden und neige zum exzessiven Arbeiten in letzter Minute. Die berufliche Karriere der Eskapisitn/des Eskapisten kann entweder fade und uninteressant sein, mit viel Freizeitaktivitäten verbunden oder interessant aber sprunghaft, mit einer Reihe von Richtungsänderungen und einigen Auslandsreisen. Die Eskapistin/der Eskapist könnte selbständig tätig sein und sie/er wählt wahrscheinlicher eine Rand- oder experimentelle Beschäftigungen als eine etablierte. Rock oder Jazz statt Sinfonien, Aktions- und Installationskunst anstelle von Porträtmalerei. Im besten Fall wäre die Eskapistin/der Eskapist brillant und originell. Erfolg kann in Bezug auf Talent und Potenzial begrenzt sein, Phasen von Arbeitslosigkeit können vorkommen. Sie/Er hat wahrscheinlich Geldprobleme. Mangel an Organisationsfähigkeit kann zudem eine verdreckte häusliche Umgebung bedeuten. Es können eine oder mehrere ständig zeitraubende Aktivität vorhanden sein: Sammeln und Katalogisieren, Spielen, Glücksspiel, Internet-Nutzung. Auch Abhängigkeiten könnten vorhanden sein wie beispielsweise Essstörungen, Alkohol oder Drogenkonsum. Es kann Zeiten der Depression, verknüpft mit geringer Produktivität und finanziellen Sorgen geben. Auf der anderen Seite, habe diese Person meist einen ausgeprägten Sinn für Humor. Insgesamt eine interessante, amüsante und manchmal streitlustige Person mit offensichtlichen Interessen und Talenten, die nicht in der Lage zu sein scheint, ihr Leben wirklich in den Griff zu kriegen, aber sich scheinbar zufrieden mit allen möglichen ausgefallenen Aktivitäten beschäftigt, Evans (2001, S. 108). So abdeckend dieses Profil auch ist, es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass neben Persönlichkeitsmerkmalen auch immer einer oder auch mehrere Gründe für ein spezifisches Verhalten, in diesem Falle für Eskapismus vorhanden sein müssen. Wie Evans (2001, S. 96) postuliert hat, kann eine Eskapistin/ein Eskapist Opfer seiner Umstände sein, wie dies auch bei Alkoholmissbrauch, anderen Suchtproblematiken und Verhaltensauffälligkeiten der Fall sein kann. Den Gründen für eskapistisches Verhalten widmet sich das nachfolgende Kapitel. Denn: „Man tritt ja keine Realitätsflucht an, wenn es nichts gibt, wovor man fliehen will“ (Kommentar eines Rollenspielers bei Silbermayr, 2013, S. 133).
2. Fluchtgründe
„If reality is crazy, then it would be mad not to escape from it“ (Evans, 2001, S. 97). Niemand käme auf die Idee, aus einer einhundert Prozent glücklich machenden Realität fliehen zu wollen. „Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte" (Freud, 1907, S. 719). Allerdings stellt sich an dieser Stelle die Frage, wer von sich behaupten kann immer und zu jeder Zeit glücklich und zufrieden zu sein? Sicherlich niemand. Selbst der manische Mensch fällt irgendwann auf den harten Boden der Depression zurück. Yi-Fu Tuan (1998, S. XVI) scheint also mit der These, dass wir alle Eskapisten sind, recht zu behalten. Sigmund Freud würde ihm da vermutlich zustimmen. Freud sieht eskapistisches Verhalten, bzw. die Tendenz zum Fantasieren, im erforderlichen Prozess des Erwachsenwerdens begründet: „Wenn das Kind herangewachsen ist und aufgehört hat zu spielen, wenn es sich durch Jahrzehnte seelisch bemüht hat, die Wirklichkeiten des Lebens mit dem erforderlichen Ernst zu erfassen, so kann es eines Tages in eine seelische Disposition geraten, welche den Gegensatz zwischen Spiel und Wirklichkeit wieder aufhebt. Der Erwachsene kann sich darauf besinnen, mit welchem hohen Ernst er einst seine Kinderspiele betrieb und indem er nun seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen jenen Kinderspielen gleichstellt, wirft er die allzu schwere Bedrückung durch das Leben ab und erringt sich den hohen Lustgewinn des Humors.“ (Freud, 1907, S. 717). Lustgewinn und die temporäre Befreiung von aversiven Reizen können demnach Gründe sein, sich der Wirklichkeit des Alltags zu entziehen. Für Sigmund Freud sind unbefriedigte Wünsche „die Triebkräfte der Phantasien und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit" (Freud, 1907, S. 719). Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Eskapismus immer dann geschehen kann, wenn sich eine Unzufriedenheit mit der aktuellen Realität einstellt. Die Eskapistin/der Eskapist ändert daraufhin nicht die aktuelle Realität, sondern verreist sozusagen kurzerhand in eine andere, angenehmere. Aber welche Faktoren der Realität können so sehr stören, dass sie die Eskapisten dazu veranlassen, ihre Reise(n) anzutreten? Evans (2001, S. 56) hat durch Befragungen folgende Faktoren zusammengetragen, die dazu führen können dass jemand mit seinem Realitätskonzept unzufrieden wird:
Leben in einem Land in dem ich nicht leben (will/)kann – z.B. Ost-Deutschland (vor der Wiedervereinigung)
Politik - Frustration mit Parteien, Behörden, lokalen Themen
Probleme auf der Arbeit, wie Druck, Mobbing, lange
Arbeitszeiten, Arbeitslosigkeit und (Angst) entlassen (zu) werden
Schulprobleme oder Probleme beim Studium, Schwierigkeiten bei Kursen oder dem Studieren, Prüfungsdruck
Finanzielle Schwierigkeiten, kein Geld, Unfähigkeit Rechnungen zu bezahlen
Probleme zu Hause, wie Familienmitglieder, Zänkereien, Streit (Gewalt)
Beziehungsprobleme - schmerzhafte Liebesaffären, Trennungsschmerz, mit einem Alkoholiker leben
Inkompatibilität mit einem Partner („Ich bin deine quietschende, kleine Stimme in meinem Kopf 24/7 leid“)
Kinder - entweder die ewige Verantwortung auf sie aufpassen zu müssen oder Schwierigkeiten mit ihnen
Zwischenmenschliche Probleme mit Freunden, Kollegen, Nachbarn
Das Leben und seine Probleme - Krankheit, der Tod anderer
Weltlichkeit und Langeweile, Mangel an Reiz, Vielfalt und Abwechslung
Einsamkeit und Alleinsein
Das Gefühl sein eigenes Leben nicht zu kontrollieren, den Halt zu verlieren. Beklemmende Gefühle der Unzulänglichkeit und nichts mit dem eigenen Leben und der kostbaren Zeit zu tun
Versagen - die eigenen Ziele nicht erreichen, Frustration wegen gescheiterten Plänen, vom Partner verlassen werden
Angst - vor Überfallen, Mobbing, Krankheiten, Naturkatastrophen
Sorgen - über Kinder, geliebte Menschen, finanzielle Probleme
Schmerz - die Leiden des Körpers und die Schmerzen, die sie verursachen
Gedanken - Drogen können analytisches Denken durch ausdrucksstarke Fantasien ersetzen
(Evans, 2001, S. 56).
Die genannten Faktoren zeigen auf, dass die Gründe, dass jemand mit seinem Realitätskonzept unzufrieden wird sehr unterschiedlich sein können. Partnerschaft, Familie, Gesundheit, Bildung, Beruf, Geld und die Gesellschaft (in Form von Politik) sind alles Bereiche des menschlichen Lebens, die sowohl große Zufriedenheit und Glück verheißen können als auch im Stande sind, große Unzufriedenheit und Unglück auszulösen. Diese Unzufriedenheit mit einem oder mehrerer dieser Bereiche des realen, wirklichen Lebens kann dazu führen, dass der Betroffene die Flucht in verheißungsvollere Realitäten antritt. Es müssen auch keine schweren Schicksalsschläge, wie der Verlust des Berufs oder Schmerzen sein die jemanden zum Eskapismus bewegen, oft genügt auch schon die Langeweile. Es gab Zeiten, da verließen die Menschen ihre Häuser wenn ihnen langweilig war, sie trafen sich mit Anderen um sich z.B. mit ihnen direkt zu unterhalten. Wenn es ihnen draußen zu langweilig wurde, kehrten sie wieder heim um z.B. ein Buch zu lesen. Heute sind Menschen, die sich nach Unterhaltung sehnen anderen Realitäten nur einen Tastendruck entfernt. Wir können gemütlich auf dem Sofa sitzen, während wir durch die Programme zappen bis uns eine der Wirklichkeiten gefällt. Wenn dann aber im Fernsehen nichts läuft, können wir den Computer einschalten, dort entweder in eine Spielrealität eintauchen, allein oder mit anderen Spielen oder weiter klicken, ein soziales Netzwerk betreten um uns als jemand auszugeben der wir nicht sind. Sollte auch dies nicht ausgereicht haben unsere Langweile zu bekämpfen, gibt es auch die Option, beispielsweise auf dem Handy in ein Puzzlespiel zu versinken (Evans. 2001, S. 106). Da wir immer und überall z.B. durch Spiel- und Internetfähige Handys und tragbaren Spielkonsolen der Realität entfliehen können befürchtet Evans, dass sich die gesamte Menschheit bald in Eskapisten verwandelt haben wird. Eskapisten, die lieber die Symptome ihrer realen Probleme durch Ablenkung und Erfolge in anderen Wirklichkeiten bekämpfen, als sich mit ihren Problemen in der „wirklichen“ Welt auseinanderzusetzen (Evans. 2001, S. 106). Niederschwellige, allgegenwärtige Verfügbarkeit kann folglich auch als ein Grund für Eskapismus gelten. Obwohl wir heutzutage in der Tat mit einem Klick Langeweile oder andere unerwünschte Emotionszustände bekämpfen können, gibt es immer noch Menschen, die ein Buch lesen (digital oder aus Papier) und auch heute unterhält man sich noch von Angesicht zu Angesicht, wenn auch manchmal gleichzeitig noch mit anderen Menschen über Textbotschaften. Dabei ist das Lesen von z.B. Fantasy-Romanen auch nicht weniger von eskapistischer Natur, als das Spielen von Rollenspielen am PC. Es ist leicht vorstellbar, dass die oben genannten möglichen Gründe für Eskapismus beim einzelnen Menschen mehrfach vorkommen, bzw. sich gegenseitig bedingen können. So kann Langeweile beispielsweise daraus resultieren, dass jemand aufgrund finanzieller Schwierigkeiten weniger Chancen auf eine kulturelle Teilhabe, also auch auf eine interessante Freizeitgestaltung hat. Bert te Wildt (2012, S. 101) äußert die Befürchtung, dass „die Abhängigkeit vom Medialen zunehmend“ im „Zusammenhang mit Armut stehen“ wird. Während reale Freizeitbeschäftigungen und Abenteuer, wie z.B. Reisen immer teurer würden und sich zum Luxusgut entwickelten, so sei die Technik in den letzten Jahren immer erschwinglicher geworden. Betrachtet man den Verbraucherpreisindex für Desktop-Computer in Deutschland von Januar 2011 (98,4) bis März 2015 (57,1) so hat er sich um über 40 Punkte reduziert (Statista, 2015, online). Hinzu kommt, die fortschreitende Entwicklung von Smartphones, die mit ihrer Internetfähigkeit und Spielmöglichkeiten das Tor zu zahlreichen eskapistischen Welten eröffnen. Die Jim-Studie 2014 zeigt, dass 94% der befragten Jugendlichen mittlerweile über ein Smartphone verfügen, was 13 Prozentpunkte mehr im Vergleich zum Vorjahr sind. 2014 besaßen 99% der befragten Jugendlichen ebenfalls einen eigenen PC oder Laptop. Reisen hingegen kann sich nicht jeder leisten, laut einer Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes betraf dies 2011 ein Viertel der deutschen Haushalte (Statistisches Bundesamt, 2013, online). Wenn Scheinwirklichkeiten immer erschwinglicher werden und echte Erlebnisse immer teurer, wird Armut zu einem sicheren Prädiktor für eskapistischen Verhalten werden. Nach Bert te Wildt (2012, S. 104), sei es längst zum „Merkmal des Wohlhabenden geworden, sich räumlich auszubreiten und (...) privat in der konkret-realen Welt zu agieren, sei es beim Sport, im Urlaub oder bei anderen Freizeitaktivitäten. Alle anderen, die sich das nicht mehr leisten können, mögen doch bitte Konsolen-Tennis spielen, vor den Bildschirmen tanzen und auf virtuelle Reisen gehen“. Als Hauptgrund für Eskapismus kann man also die Unzufriedenheit annehmen. Die Auslöser dieser Unzufriedenheit können, wie bereits erwähnt, ziemlich alle Bereiche des menschlichen Lebens betreffen. Eskapismus und Zufriedenheit hängen also untrennbar zusammen. Frei nach Sigmund Freud (1907, S. 719) kann man sagen: „Der Zufriedene eskapiert selten“, denn im Gegensatz zu der Annahme Freuds, kann sich auch der Glückliche dem Fantasieren hingeben. In der westlichen Welt, sind eskapistische Unterhaltungsangebote reichhaltig und sind längst nicht nur auf die eigene Fantasie beschränkt. Wie diese Fluchtmöglichkeiten denn nun genau aussehen, wird im folgenden Kapitel erläutert. Der besondere Fokus wird dabei auf den medialen Scheinwirklichkeiten liegen.
3. Fluchtorte und Fluchtmittel
Wie Andrew Evans (2001) und Yi-Fu Tuan (1998) feststellten, gibt es eine Vielzahl von Fluchtmöglichkeiten, die Eskapistinnen und Eskapisten nutzen (können). So gibt es z.B. mächtige Männer, die der Realität ihrer Dominanz dadurch entkommen, indem sie ihre masochistische Seite ausleben und sich in die Hände einer professionellen Domina begeben (Tuan,1998). Auch Substanzen ob legal oder illegal können für eskapistische Zwecke genutzt werden (Evans, 2001). Die gesellschaftlich anerkannte Droge Alkohol dient dabei eher dazu, die Realität zu verzerren als dieser zugunsten einer anderen zu entkommen. Das Zerrbild der Rauschrealität nimmt hier also den Platz der anderen, vermeintlich besseren Wirklichkeit ein. Wie die Untersuchungen von Frank, Puhm, Bauer und Mader (1999) zeigten, erhoffen sich die Nutzer von Alkohol vor allem Entspannung, erwarten aber unter anderem auch mehr Spaß in Gesellschaft, oder sogar ein verbessertes Sozialverhalten. Diese Effekte nehmen mit der Häufigkeit des Konsums zu (Frank, et al. 1999). Ähnliches kann wohl auch für andere, gleichartig wirkende Substanzen gelten, z.B. Cannabis. Halluzinogene Drogen, beispielsweise LSD, welche die Wahrnehmung verändern, sind wohl der schnellste und einfachste Weg hinaus aus der Realität in eine Scheinwirklichkeit. Das dieser durch Substanzmissbrauch indizierte Eskapismus weitreichende negative Konsequenzen nach sich zieht, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung. Ursprünglichere, natürlichere eskapistische Methoden sind dabei die Fantasie und Träume. Sigmund Freud (1907) sieht in unseren nächtlichen Träumen sozusagen eine Fortsetzung unserer Tagträume, Wünsche und Fantasien. Vor allem aber ist der Traum für ihn Spielplatz des Unbewussten. So gesehen behält Yi-Fu Tuan (1998, S. xvi) recht wenn er sagt, dass es vor dem Eskapismus kein Entkommen gibt, denn was ist ein Traum verglichen mit dem echten Leben, wenn nicht Scheinrealität? Wenig erfreuliche Träume und sogar Albträume beinhalten jedoch im Vergleich zur Realität keine realen Bedrohungen für den Schlafenden. Daher passt die Definition von Eskapismus vor allem auf Tagträume, also auf die bewussteren Fantasien als: „Flucht vor der Wirklichkeit (...) in eine imaginäre Scheinwirklichkeit“ (Duden 05, 2010, S. 308). Doch nicht immer entstehen die Ideen auf denen Träume aufgebaut sind im Individuum. So können Fantasien von unterschiedlichsten Dingen und Ereignissen angeregt und sogar von anderen für uns erschaffen werden. Musik, Geschichten und Bilder sind ein paar Beispiele dafür, die dies bewirken könnten. Diese Medien können ihre BetrachterInnen bzw. ZuhörerInnen mitnehmen auf eine Reise in andere, verheißungsvollere Wirklichkeit. Moderne Bildtechniken haben, laut Bergmann (2006, S. 25 ) dabei einen ganz besonderen Einfluss auf Fantasien und Träume, da sie in sie übergehen und sie verändern. Nicht umsonst spricht der Volksmund von der „Traumfabrik Hollywood“. Heutzutage muss aber niemand mehr ins Kino gehen um in einen Film zu eskapieren. Die Werbekampagne mit dem Slogan: „Kino. Dafür werden Filme gemacht“ (Handelsblatt, 2006, online) wäre sicher nicht notwendig, wenn die Filme nicht längst ihren Weg in die heimischen Wohn- und Kinderzimmer und mittlerweile sogar auf Smartphones gefunden hätten. Dabei bietet „Fernsehen“, wenn man davon im Zeitalter von Streaming noch reden kann, einiges mehr als einfache Filme, nämlich Serien, Reality-Shows, Talk-Shows, Musikvideos u.v.m. ein Umstand, der wohl auch der Verbreitung des Internets geschuldet ist. Für Bert te Wildt (2012, S. 13) ist der Einfluss der sogenannten modernen Medien so stark, dass er sogar von einem „Umzug des Menschen in seinen medialen (T)Raum“ spricht. Dieses bewusste Wortspiel zeigt nicht nur den Ort des Umzugs, sondern weist auch gleich auf das eskapistische Motiv hin, das sich dahinter verbirgt. Te Wildt nennt dies „Medialsation“ und meint damit: „die kollektive Umsiedlung des Menschen in denjenigen medialen Raum, in dem er sich seine individuellen und kollektiven Träume zu erfüllen hofft“ (te Wildt 2012, S. 13). Als einer dieser medialen (Groß-)Räume können hierbei die zahlreichen Video-Spielwelten, on- sowie offline genannt werden, die seit ihrer Entwicklung 1960 (Huhtamo, 2007, S. 18) ihren Weg in deutsche Haushalte, Kinderzimmer und nicht zuletzt in die Hosentasche fast aller Smartphone BesitzerInnen gemacht haben. Video Spiele bieten ihren NutzerInnen reichhaltige Fülle an (vorgegebenen) Fantasien und Möglichkeiten (Bergmann, 2006, S. 27). Ebenso wie das Fernsehen, haben auch Videospiele immer komplexere und damit interessantere Inhalte zu bieten (Johnson, 2006a), in die die Nutzer ganz ihrem eskapistischen Trieb nach, abtauchen können. Ebenso wie das Fernsehen mittlerweile fast für jeden Bundesbürger verfügbar geworden ist, sind auch digitale Inhalte wie Videospiele und das Internet schon lange massentauglich und für Jedermann leicht zugänglich. Selbst die ärmsten der Armen können an den virtuellen Welten partizipieren (te Wildt, 2012) und damit in reiche Realitäten eskapieren. Die KIM- und JIM-Studie aus dem Jahr 2014 bestätigte, dass mittlerweile beinahe jeder Mensch in Deutschland Zugang zu TV, Internet und Spielen in den eigenen vier Wänden oder sogar durch z.B. ein Smartphone, jederzeit und überall hat. So verfügen 100% der (befragten) deutschen Haushalte mit Kind(ern) über mindestens ein TV Gerät und 98% über einen Internetanschluss. (Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb, 2015, S. 8). In 99% der befragten Haushalte, in denen Jugendliche aufwachsen, gibt es wenigstens einen PC oder Laptop und bei 72% sogar eine Spielekonsole (Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb, 2014, S. 6). Über 90% der Jugendlichen verfügen dabei über ihren eigenen Internetzugang und weit über die Hälfte besitzt ein eigenes Fernsehgerät (58% der Jungen und 55% der Mädchen) (Feierabend, Plankenhorn und Rathgeb, 2014, S. 8). Wie leicht zugänglich die digitalen Zerstreuungen sind verdeutlicht auch die Tatsache, dass über ein Drittel aller deutschen Kinder eine Spielekonsole ihr Eigen nennen. Auch hat sich die Ausstattung der Deutschen mit Smartphones im Jahr 2014 enorm erhöht, nämlich um 13 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr laut JIM-Studie und um 31 Prozentpunkte seit 2012 laut KIM-Studie. Ebenso erobern auch die Tablet PCs immer mehr Haushalte (Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb, 2014, S. 6); (Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb, 2015, S. 8). Wenn Medien vorhanden sind, dann werden sie in den meisten Fällen wohl auch benutzt und wie die Jim Studie 2014 bewies, zu einem nicht unwesentlichen Teil für Unterhaltung und Spiele, also auch aus durchaus eskapistischen Motiven. So sind 43 % der Nutzungsgründe des Internets durch Jugendliche im Jahr 2014 der Suche nach Entertainment gewidmet, wobei der Nutzungsanteil des Internets für Unterhaltung seit 2008 sogar um 7 Prozentpunkte angestiegen ist (Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb, 2014, S. 26). Fernsehen nimmt 2014 unter den Freizeitaktivitäten von Kindern unter 12 Jahren den größten Raum ein, 79% sitzen dabei fast jeden Tag vor dem TV, hingegen lesen nur 16 % (fast) täglich in einem Buch (Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb, 2015, S. 10). Nach Wolfgang Bergmann sind es vor allem Kinder und Jugendliche, die sich in Videospielen und insbesondere in Online-Rollenspielen „zuhause“ fühlen, „die eine schier unbegrenzte Plastizität von Phantasie und Handeln, Kontakten und Tagträumen ermöglichen“ (Bergmann, 2006, S. 27). Wie die Zahlen zeigen, werden wir mit den sogenannten neuen Medien groß und wachsen bereits immer mehr hinein. Die niedrigen Zugangsschwellen zu den von Menschen generierten Fantasien ermöglichen es Jung und Alt, Arm und Reich gleichsam, per Tastendruck die Realität des Alltags hinter sich zu lassen, andere Wirklichkeiten zu betreten und sogar aktiv in ihnen zu agieren. Nimmt man Andrew Evans Definition von Eskapismus wörtlicher, passt sie vor allem gut auf diesen Umstand: „Escapism is the switch“ (Evans, 2001, S. 72). Hier wird Eskapismus als Schalter betrachtet, der uns hinüber führt in angenehmere Realitäten. Man könnte von Eskapismus 2.0 sprechen, dem Eskapismus via Knopfdruck. Diese Form manifestiert sich am ehesten in den modernen medialen Unterhaltungsformen unserer Zeit, zu der das Fernsehen noch gezählt werden kann, aber zu dem vor allem auch Videospiele und der Cyberspace gehören. Vor allem das Fernsehen und die Videospiele werden in unserer Zeit äußerst kontrovers, besonders hinsichtlich der Kinder- und Jugendentwicklung diskutiert. Wie schon te Wildt (2012) feststellte, gibt es die sogenannten neuen Medien betreffend nur zwei extreme Lager: die BefürworterInnen und die GegnerInnen. Aus diesen Gründen widmen sich auch die nun folgenden Kapitel den Vor- und Nachteilen, welche die Nutzung von Fernsehen und/oder Videospielen mit sich bringen können. Sicher wäre auch eine genauere Betrachtung des Eskapismus durch das Medium Musik oder Buch möglich gewesen. Beide sind jedoch als Unterhaltungsformen gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Diese Akzeptanz geht sogar so weit, dass das Lesen in Bewerbungsanschreiben als Freizeitbeschäftigung neben z.B. reiten und schwimmen durchaus Erwähnung finden kann, während vermutlich niemand unter Hobbies „Fernsehgucken und Videospiele“ eintragen würde. Das Medium Musik indes ist auch Bestandteil von Fernsehen und Videospielen und bedarf an dieser Stelle ebenfalls keiner genaueren Betrachtung, obwohl Musik mit z.B. gewaltverherrlichenden oder rassistischen Textinhalten sicherlich auch kritisch betrachtet werden muss.
3.1 Flucht in TV-Welten
Wie im vorangegangenen Kapitel bereits erwähnt, ist das Fernsehen ein weit verbreitetes Medium in Deutschland. Annähernd 100% aller deutschen Haushalte in denen Minderjährige aufwachsen gaben an, über mindestens ein Fernsehgerät zu verfügen (Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb, 2014 und 2015). Es ist davon auszugehen, dass ziemlich jede(r) Deutsche Zugang zu Film- und Fernsehinhalten hat, denn der Konsum ist längst nicht mehr auf ein TV Gerät beschränkt. Durch das Internet ist es möglich geworden, sich das eigene Fernsehprogramm nach eigenem Verlangen „on demand“ zusammenzustellen und anzusehen. TV Sendungen können sowohl live als auch als Aufzeichnung auf den jeweiligen Homepages der Sender gesehen werden. Dank modernen Smartphones, Tablet PCs und entsprechender Applikation (App) ist es mittlerweile überall und zu jeder Zeit möglich, das Programm der Wahl anzusehen und darin entsprechend zu eskapieren. Die Pro Sieben Media AG, bewirbt ihre Applikation auf ihrer Homepage mit den Worten: „FERNSEHEN - WANN ES DIR PASST! Dank Mediathek bist du vollkommen unabhängig von der TV-Ausstrahlung. Du verpasst mit der kostenlosen 7TV App nie mehr deine Lieblingssendungen 'How I Met Your Mother', 'New Girl' oder 'Galileo'“ (Pro Sieben Media AG, 2015b, online). Das Fernsehen ist dabei ein passiver Weg des Eskapismus, anders als z.B. Online Rollenspiele, die eine aktive Beteiligung der Benutzerin/des Benutzers fordern, kommt es bei passiven eskapistischen Methoden vor allem auf Inaktivität an, wobei hier der Zusammenhang zwischen Fernsehen und Musikhören (Warmelink, Harteveld und Mayer, 2009, online) deutlich wird. Wer in Fernsehwelten eskapiert sucht demnach wohl vor allem Entspannung, Unterhaltung und Zerstreuung. Nicht zuletzt seine Passivität hat es als Medium wohl in Verruf gebracht. Im Zusammenhang mit dem Fernsehen hat sich der Begriff des Couch-Potato geprägt, der auch seinen Weg in den Duden (5, 2010, S. 215) gefunden hat. Allein der Vergleich des Fernsehzuschauers mit einer Kartoffel macht deutlich, wie negativ das Medium TV von seinen Kritikern betrachtet wird. Viele Medienkritiker sehen es „als Zumutung gegenüber einer sich auf Sprache und Schrift, Kunst und Wissenschaft begründenden Kultur“ (te Wildt, 2012, S. 58). Aber ist diese negative Einstellung zu dem Massenmedium Fernsehen mit seinen ebenso zahlreichen wie unterschiedlichen Entertainmentangeboten überhaupt gerechtfertigt? Dies wird unter anderem im nächsten Kapitel erläutert.
3.1.1 Positive Auswirkungen von TV
Für Steven Johnson (2006a) hat das Fernsehen zu Unrecht den Ruf anspruchslose Unterhaltung abzuliefern. Laut seinen Beobachtungen ist das Fernsehprogramm seit seiner Entstehung immer komplexer geworden. Diese Entwicklung sei vor allem dem Umstand geschuldet, dass Wiederholungen von Serien für die TV-Sender auch noch Einschaltquoten garantieren sollen. Dies ist allerdings nur gewährleistet, wenn der Zuschauer/die Zuschauerin auch immer wieder etwas Neues entdeckt, dass ihm/ihr beim ersten Mal entgangen ist. Waren frühere TV Sendungen wie z.B. die Krimiserie „Starsky und Hutch“ noch mit einem einzelnen Handlungsstrang ausgestattet dem es zu Folgen galt, so muss der Zuschauer modernerer Sendungen heutzutage mehrere Handlungsstränge gleichzeitig verknüpfen und dies teils auch über mehrere Episoden, wie z.B. bei „die Sopranos“ (Johnson, 2006a). Aber das ist nicht der einzige Bereich, indem das moderne Fernsehen seine Zuschauer fordert und für Johnson (2006a) dadurch fördert. Sowohl in Fernsehsendungen als auch bei Kinofilmen gab es in früheren Jahren direkte Hinweise, damit der Zuschauer der Handlung folgen kann. „Flashing Arrows“, also blinkende Pfeile, wie Johnson diese Hinweise innerhalb des Geschichtsverlaufs nennt. Diese „Flashing Arrows“ versorgen den Zuschauer mit nötigen Information, damit er der Geschichte entspannter folgen kann: „Wenn beispielsweise in einem Film der Schurke aus dem tiefsten Schatten auftaucht, begleitet von bedrohlicher atonaler Musik, dann ist das ein blinkender Pfeil der uns sagt: 'Das ist der Böse'“ (Johnson, 2006b, S. 84). Heutzutage wird auf Hinweise dieser Art immer mehr verzichtet, was nach Johnson (2006a) den Reiz von Sendungen wie z.B. „Lost“ ausmacht; oder die Hinweise werden wie bei „Emergency Room“ in einer Flut von medizinischen Begriffen versteckt, wo sie der Zuschauer dann herausfiltern muss. Der Fachjargon soll gleichzeitig die Illusion von Realität verstärken (Johnson, 2006a ). Aber es sind nicht nur die fehlenden Hinweise und die komplexeren Handlungen, die den Zuschauer von Heute (immer mehr) Hirnleistung abverlangen. Auch das Verständnis für soziale Netzwerke werde nach Johnson (2006a) durch das Reality TV sowie durch moderne Serien gefordert und dadurch geschult. Die Zuschauer müssen einer Vielzahl von verschiedenen Charakteren folgen können und das Verhältnis der einzelnen Personen zueinander im Blick behalten. Johnson (2006a, S. 110-112) zeigt, wie sehr die Komplexität der sozialen Netzwerke in Serien zugenommen hat, indem er zwei Folgen der Serien „Dallas“ und „24“ vergleicht. „24“ wartet dabei mit doppelt so vielen Charakteren auf, wodurch das Geflecht der Beziehungen zueinander deutlich komplexer wird und dem Zuschauer dadurch deutlich mehr abverlangt. Auch der KinoFilm hat an Einfachheit verloren. Vergleicht man die handlungstragenden Charaktere der zwei großen Kino Epen Star Wars (Episode 4-6) und die Trilogie „Herr der Ringe“ zeigt sich, dass die Zuschauer nun deutlich mehr Charakteren folgen müssen als früher (Johnson, 2006b). An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Romane von J.R.R. Tolkin früher entstanden sind als das Star Wars Universum. Trotzdem zeigt die Tatsache, dass man dem Zuschauer heutzutage zutraut über 20 handlungstragenden Charakteren in einem bildgewaltigen Fantasie-Spektakel zu folgen, dass sich etwas in der Medienlandschaft und bei den Konsumenten getan haben muss. In der stetigen Steigerung der Anforderung, die Film und Fernsehen an seine Zuschauer stellt sieht Johnson (2006a) zum Teil den Umstand begründet, dass die Menschheit intelligenter werde. Johnson bezieht sich dabei auf die Erkenntnisse von James R. Flynn (1987), der herausfand, dass der Intelligenzquotient der Menschen über die Generationen hinweg ansteigt: „Data from 14 nations reveal IQ gains ranging from 5 to 25 points in a single generation“ (Flynn, 1987, S. 171). Also hat eine Steigerung von 5-25 IQ-Punkten in nur einer Generation durch den sogenannten „Flynn Effekt“ stattgefunden (Johnson, 2006, S. 149). Johnson stellt die Hypothese in den Raum, dass die steigende Komplexität der Medieninhalte für den „Flynn Effekt“ verantwortlich seien (Johnson 2006a) und beruft sich dabei auf die Arbeit von Carmi Schoolar (1998, S. 77), der den sogenannten „Flynn Effekt“, also die IQ-Steigerung über die Generation, mit der gestiegenen Komplexität der Umwelt in den Industrienationen in Verbindung bringt. Das Fernsehen einen Effekt auf die Bildung hat, zeigen unter anderem die Untersuchungen von Fali Huang. Huang (2007, online, S. 24) kommt zu dem Ergebnis, dass ein täglicher TV Konsum zwischen zwei und vier Stunden bei Kindern zwischen 6 und 9 Jahren einen förderlichen Effekt auf deren Lesefertigkeit hat. Aber nicht nur auf die Lesefertigkeiten scheint sich der TV Konsum positiv niederzuschlagen. Wie Linebarger, Schmitt, Huston und Anderson (2009, S. 49-51) postulieren, schneiden US-Amerikanische High-School Schüler die Informationssendungen wie z.B. die Sesamstraße in ihrer Kindheit gesehen hatten, in den Naturwissenschaften sowie Englisch (Muttersprache) und Mathematik besser ab als jene Jugendliche, die solche Sendungen nicht oder nur selten, bzw. unregelmäßig sahen. Bei männlichen Schülern ist der Effekt laut Linebarger et. al (2009, S. 49-51) sogar noch stärker. Auch wenn die Ergebnisse von Huang (2007, online) und Linebarger et al. (2009) nach eigenen Angaben keine statistische Signifikanz aufweisen, lassen sich die positiven Effekte die bei den untersuchten Schülern auftraten nicht ignorieren. Laut Linebarger et al. (2009, S. 52) haben Jugendliche, die in ihrer Kindheit regelmäßig die Sesamstraße gesehen haben, eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung im schulischen Kontext, wobei vor allem die Naturwissenschaften davon betroffen sind. Überdies ruft das Fernsehen wohl auch positive soziale Effekte hervor. Wie Lünenborg, Martens, Köhler und Töpper (2011, online) postulierten, liefern gerade Reality-TV-Formate reichlich Diskussionsstoff. Zum einen stellen sie, so Lünenborg et al. (2011, online, S. 9), eine gute Basis dar um als Jugendliche/r mit der Peergroup ins Gespräch zu kommen und zum anderen bieten sie viele Reibungspunkte für Eltern und Kinder, an denen beide Parteien wachsen können: „Eltern, die den Konsum von Reality TV als problematisch bewerten, entwickeln vielfältige kommunikative Strategien, um das Sehverhalten ihrer jugendlichen Kinder zu beeinflussen (Lünenborg et al., 2011, online, S. 9). Folglich sind es vor allem kommunikative Kompetenzen, die Eltern durch die Auseinandersetzung mit ihren Kindern über diese Formate gewinnen. Da das Reality TV Grenzüberschreitungen und Tabubrüche thematisiert, was dann ja in der Regel mit Peergroups oder Eltern diskutiert wird, kann es auch zu einer positiven moralischen und sozialen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen beitragen (Lünenborg et al., 2011, online, S. 9). Die gezeigten Grenzüberschreitungen sind z.B. sexueller, juristischer und ethisch-moralischer Natur (Lünenborg et al., 2011, online): „In kommunikativer Auseinandersetzung über die Skandale im Rahmen des Reality TVs werden eigene moralische Grenzen verhandelt und diese im Rahmen der Vergewisserung im sozialen Umfeld diskursiv miteinander abgeglichen“ (Lünenborg et al., 2011, online, S. 9). Reality-TV-Formate spielen „für die Jugendlichen eine zentrale Rolle“ (Lünenborg et al., 2011, online, S. 9). „Jugendliche artikulieren voyeuristische Sehlust, insbesondere an verbalen Entgleisungen im Rahmen von Castingshows, die es ihnen als Zuschauende ermöglichen, gefahrlos eine Sehnsucht nach jugendlicher Grenzüberschreitung gegenüber Konventionen der Erwachsenenwelt auszuleben“ (Lünenborg et al., 2011, online, S. 9). So können für einige Jugendliche durch das Fernsehen also auch Bedürfnisse befriedigt werden, die in der Realität begrenzt werden. Ein Umstand, der sicher nicht nur auf Jugendliche zutrifft und gewiss einen Reiz der Scheinwirklichkeiten ausmacht.
Wie folgende graphische Darstellung entnommen aus der FIM-Studie 2011 (Ebert, Karg, Klinger & Rathgeb, 2012, S. 39) zeigt, rangiert das Fernsehen deutlich auf dem ersten Platz, wenn in Familien über Medien gesprochen wird.
- Quote paper
- Dirk Hofbeck (Author), 2015, Eskapismus. Die Flucht in mediale Wirklichkeiten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/384669
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