Seit mehr als 40 Jahren stellt der Begriff des "unreliable narrator" eine wichtige Kategorie in der Erzählanalyse dar. In einschlägigen Lexika der narratologischen Terminologie, in propädeutischen Handbüchern und in zahlreichen erzähltheoretischen Studien finden sich Definitionen des Begriffs ‚unreliable narration‘, doch mangelt es abgesehen von vielen Aufsätzen zu einzelnen Autoren und Romanen an fundierten Studien zur Theorie, Praxis und Geschichte des ‚unglaubwürdigen Erzählens‘.
Die unzuverlässige Erzählinstanz führt in die Irre und fordert den Rezipienten zu einem Spiel auf: Zum Spiel mit der Täuschung und mit der Hinterfragung der eigenen Wahrnehmung. Dieser nimmt die Herausforderung bereitwillig an. Für die Literatur funktioniert dies ebenso wie für die Leinwand. Daher erfreuen sich die Kinofilme und nicht zuletzt auch die TV-Produktionen großer Beliebtheit, die unzuverlässiges Bildmaterial einsetzen.
Die Fragen, die das Gebiet des unzuverlässigen Erzählens aufwirft, sind sowohl in der Film- als auch in der Literaturwissenschaft trotz mannigfaltiger Essays und Publikationen zum Thema noch nicht klar beantwortet worden. So gibt nach wie vor noch keine detaillierten und systematischen Aussagen darüber, warum ein Rezipient die Erzählinstanzen gewisser Texte als unzuverlässig einstuft.
Daher befasst sich diese Magisterarbeit mit der systematischen Zusammenstellung des aktuellen theoretischen Diskussionsstandes und seiner Anwendbarkeit auf den Film:
• Was bedeutet ‚unzuverlässiges Erzählen‘?
• Welche Kriterien liegen dem zugrunde?
• Auf welcher Grundlage wird ein Unverlässlichkeits¬urteil gefällt?
• Welche medienspezifischen Charakteristika lassen sich kategorisieren?
• Inwiefern unterscheiden sich die einzelnen theoretischen Ansätze?
Die Arbeit ist in einen theoretischen Vorbau und eine detaillierte Filmanalyse gegliedert. Ausgehend vom methodologischen Ansatz Gérard Genettes, stelle ich den Stand der Literaturtheorie zum unzuverlässigen Erzählen unter Rückbezug auf Wayne Booth sowie Seymour Chatman und deren Kritiker wie Nünning et al. dar. Anschließend folgt ein Vergleich zur Anwendbarkeit auf den Film (unter besonderer Berücksichtigung des "Voice-Over"), der durch einen Exkurs zur neoformalistischen Filmanalyse ergänzt wird.
Schließlich exemplifiziere ich die herausgearbeiteten Resultate anhand einer Detailanalyse des Spielfilms THE END OF THE AFFAIR (GB 1999, Neil Jordan).
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zum Terminus des „unzuverlässigen Erzählers“
2.1. Grundbegriffe der Narrationstheorie
2.2. Der „unreliable narrator“ in der Literaturwissenschaft
2.3. Die Verbindung zum Film
3. Filmisches Erzählen: Der unzuverlässige Erzähler im Film
3.1. Exkurs: Neoformalistische Filmanalyse
3.2. Pro und kontra filmischer Erzähler: Voice-Over als Fingierung personalen Erzählens
3.3. Unzuverlässigkeit im Film
3.4. Vorläufiges Fazit
4. Analyse: The End of the Affair
4.1. Einleitung
4.2. Inhaltliche Täuschungen
4.2.1. Das Voice-Over
4.2.2. Doppelstrukturen
4.2.3. Multiperspektivität
4.2.4. Spiegelsymbolik
4.2.5. Täuschende Protagonisten
4.3. Formale Täuschungen
4.3.1. Zeitkonstruktionen
4.3.2. Die Filmmusik
4.4. Zusammenfassende Analyse: „To be is to be perceived“
5. Ausblick
6. Literaturverzeichnis
7. Filmografie
8. Erklärung
1. Einleitung
Seit mehr als 40 Jahren stellt der Begriff des unreliable narrator eine wichtige Kategorie in der Erzählanalyse dar. In einschlägigen Lexika der narratologischen Terminologie, in propädeutischen Handbüchern und in zahlreichen erzähltheoretischen Studien finden sich Definitionen des Begriffs ‚unreliable narration‘, doch mangelt es abgesehen von vielen Aufsätzen zu einzelnen Autoren und Romanen an fundierten Studien zur Theorie, Praxis und Geschichte des ‚unglaubwürdigen Erzählens‘, wie der Terminus in der deutschen Literatur genannt wird (vgl. Nünning 1998).
Die unzuverlässige Erzählinstanz führt in die Irre und fordert den Rezipienten zu einem Spiel auf: Zum Spiel mit der Täuschung und mit der Hinterfragung der eigenen Wahrnehmung. Dieser nimmt die Herausforderung bereitwillig an. Für die Literatur funktioniert dies ebenso wie für die Leinwand. Daher erfreuen sich die Kinofilme und nicht zuletzt auch die TV-Produktionen großer Beliebtheit, die unzuverlässiges Bildmaterial einsetzen. Beispielswiese bieten die absurden Visionen der Protagonisten in Ally McBeal (USA 1997-2001) oder Six Feet Under (USA 2001-2004) für den Rezipienten einen gewissen Reiz, der sie dazu animiert, die Grenzen zwischen der fiktiven Wirklichkeit und Wahrheit fließend zu perzipieren und neu zu formen.
Zunächst ist das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens in der Literaturwissenschaft aufgetaucht und mit einigen Modifikationen von neoformalistischen Filmtheoretikern wie David Bordwell, Kristin Thompson oder Sarah Kozloff auf die filmische Narrativik übertragen worden.
Die Fragen, die das Gebiet des unzuverlässigen Erzählens aufwirft, sind sowohl in der Film- als auch in der Literaturwissenschaft trotz mannigfaltiger Essays und Publikationen zum Thema noch nicht klar beantwortet worden. So gibt nach wie vor noch keine detaillierten und systematischen Aussagen darüber, warum ein Rezipient die Erzählinstanzen gewisser Texte als unzuverlässig einstuft – „sei es in Bezug auf deren Darstellung der Ereignisse in der erzählten Welt oder in Bezug auf ihre Einschätzung oder Bewertung dieser Ereignisse“ (Allrath 1998, 59).
Daher befasst sich diese Magisterarbeit mit der systematischen Zusammenstellung des aktuellen theoretischen Diskussionsstandes und seiner Anwendbarkeit auf den Film:
- Was bedeutet ‚unzuverlässiges Erzählen‘?
- Welche Kriterien liegen dem zugrunde?
- Auf welcher Grundlage wird ein Unverlässlichkeitsurteil gefällt?
- Welche medienspezifischen Charakteristika lassen sich kategorisieren?
- Inwiefern unterscheiden sich die einzelnen theoretischen Ansätze?
- Welche Synthesen kann man daraus ziehen?
Um diese Fragen zu beantworten sowie um einen größeren Überblick zu gewährleisten, ist die Arbeit in einen theoretischen Vorbau und eine detaillierte Filmanalyse gegliedert. Ausgehend vom methodologischen Ansatz Gérard Genettes, stelle ich den Stand der Literaturtheorie zum unzuverlässigen Erzählen unter Rückbezug auf Wayne Booth sowie Seymour Chatman und deren Kritiker wie Nünning et al. dar. Anschließend folgt ein Vergleich zur Anwendbarkeit auf den Film, der durch einen Exkurs zur neoformalistischen Filmanalyse ergänzt wird, welcher aufgrund seiner Thematisierung der Rezipientenaktivität und seines Fachvokabulars zur Analyse des Phänomens der unzuverlässigen Erzählung beiträgt. An diesem Punkt werde ich besonders auf die Stellung des Voice-Over[1] in unzuverlässigen Filmen eingehen, da ein Großteil dieser Filme als Verfahren einen homodiegetischen Voice-Over-Erzähler[2] einsetzt, der in der Regel den Ich-Erzähler aus der Literatur – vermeintlich – in das andere Medium übertragen soll. Da jedoch auch heterodiegetische Erzähler Unzuverlässigkeiten konstruieren können, werde ich zusätzlich den besonderen Fall der multiperspektivischen Anordnung von Erzählerpositionen untersuchen.
Schließlich exemplifiziere ich die herausgearbeiteten Resultate anhand einer Detailanalyse des Spielfilms The End of the Affair (GB 1999, Neil Jordan), der insofern ein repräsentatives Beispiel für die genannten Theorien bietet, als dass er homodiegetische Erzählpositionen mit heterogenen, multiperspektivischen Darstellungen mischt. Ein Ausblick mit weiterführenden Fragen schließt die Arbeit.
2. Zum Terminus des ‚unzuverlässigen Erzählers‘
2.1. Grundbegriffe der Narrationstheorie
Wenn man sich einen Film anschaut, ist man sich im Allgemeinen äußerst selten darüber im Klaren, in welcher Art und Weise eine Story übermittelt wird. Neben Dialog und Bild spielen bei der Konstruktion der Geschichte beispielsweise sowohl die Musik, der Schnitt und die Beleuchtung als auch die Ausstattung und die Geräusche eine wesentliche Rolle, was alles von einem Erzähler der ersten Instanz, dem Cinematic Narrator, in einer spezifischen Art und Weise arrangiert wird, um so seine Intentionen zu übertragen. Der Effekt einer unzuverlässigen Erzählung ist nur ein Sonderfall, ein device[3], dieses breit gefächerten Erzählspektrums. Bevor ich diese Kategorie näher untersuche, lohnt es sich, einen Blick auf die Narrativik der Literatur zu werfen, die sich mit den Grundfragen der Erzähltheorie beschäftigt.
Die Abhandlung Die Erzählung des Literaturwissenschaftlers Gérard Genette analysiert die wesentlichen Elemente, die für eine Konstruktion einer Geschichte vonnöten sind. Dabei definiert er zunächst, dass die Narration den Akt des Erzählens im Diskursraum bezeichnet; die Erzählung ist das, was de facto als Text erscheint und auch als Plot benannt werden kann. Die Geschichte stellt schließlich die gesamte, im Bewusstsein des Rezipienten konstruierte Story dar. Durch die Plotzeit wird die Storyzeit verändert wiedergegeben – eine Zeit wird in eine andere geprägt. Neben Fragen der zeitlichen Ordnung, der Dauer der Ereignisse und deren Frequenz bezieht sich Genette auf zwei Hauptkategorien, wobei die Stimme und Person einer Narration die erste darstellt. Hier wird untersucht, wer den Diskurs führt, wo die Quelle der Informationen sitzt und von wem diese Informationen an den Leser weitergegeben werden – wer spricht, wer teilt mit? Im Gegensatz zum fiktiven Geschehen in der diegetischen Welt steht diese zentrale narrative Instanz im zeitlosen extradiegetischen Diskursraum und stellt unter anderem den Erzähler als Informationsübermittler zur Verfügung, der sich generell in zwei Typen einteilen lässt: Der Erzähler, der eine Geschichte vermittelt, in der er nicht vorkommt und für welche er demnach ebenfalls nur im Diskursraum existiert, ist der heterodiegetische Erzähler. Agiert er selbst in der von ihm erzählten Welt, so ist er homodiegetisch – ist er gar die Hauptfigur, wird er als autodiegetisch bezeichnet. Das erlebende Ich der Diegese darf jedoch nicht mit dem schildernden Ich der Diskurs-Welt gleichgesetzt werden. In der Regel hat Letzteres eine Distanz zum erzählten Geschehen aufgebaut und weiß im Gegensatz zu Ersterem schon um den Ausgang der Storygeschehnisse. Hinzu kommt die Aufspaltung in verschiedene narrative Ebenen: Sind die beiden Erzähltypen gänzlich aus der fiktiven Welt ausgeschlossen und nur im Diskursraum existent, so sind sie extradiegetisch und damit Erzähler erster Ordnung. Als eingebettete Erzähler zweiter Ordnung sprechen sie meist zu anderen diegetischen Personen und werden als intradiegetisch bezeichnet.
Die zweite Kategorie, der Modus einer Erzählung, geht der Frage nach, über welchen Kanal eine Geschichte innerhalb der Diegese repräsentiert wird und wer sie wahrnimmt – wer sieht, wer erlebt? An welchen Wissensstand ist der Rezipient gekoppelt? Generell kann man fragen: Aus wessen Perspektive wird geschildert? Genette erweitert das von Franz Stanzel entworfene Modell, das sich in eine auktoriale, personale und ich-gebundene Erzählperspektive teilt (vgl. Stanzel 1979), und verwendet statt des gebräuchlichen Terminus der Perspektive den Begriff Fokalisierung, den er in drei Sparten unterteilt: Bei einer unfokalisierten resp. nullfokalisierten Erzählweise hat der Erzähler einen Wissensvorsprung vor der handelnden Figur; bei der internen Fokalisierung weiß der Erzähler ungefähr gleich viel wie die Figur. Dies ist bei vielen homodiegetischen Geschichten der Fall. Liegt der Wissensstand der Figur über dem des Erzählers, so handelt es sich um eine externe Fokalisierung, eine objektive Erzählung mit Außensicht. Meist sind diese Fokalisierungstypen auf narrative Segmente beschränkt und changieren innerhalb eines Werkes. Bei einer Alteration wird entweder eine Information hinzugegeben (Paralepse) oder vorenthalten (Paralipse), die vom aktuellen Wissensstand abweicht. In einer solchen Situation liegt nicht zwingend ein Moduswechsel vor, er wird lediglich kurzzeitig verlassen.[4] Werden mehrere Modi kontinuierlich eingesetzt – beispielsweise beim Wechsel zwischen einem allwissenden Erzähler und dem Bewusstsein einer Person –, spricht man von Polymodalität. Mit den Kategorien von Stimme und Modus hat Genette die älteren Point-of-view- Theorien durch die wichtige Unterscheidung von Sprechen und Wahrnehmen erweitert.
Wie ist es um die Anwendbarkeit der Genette´schen Termini in Bezug auf das filmische Erzählen bestellt? Trotz Genettes Ansicht, dass ein Film nicht erzähle, sondern Erzählung ein Sprachakt sei, lassen sich seine Theorien durchaus auf den Film adäquat transponieren: Die Eigenschaften von Ordnung, Dauer und Frequenz bleiben weitestgehend erhalten. Was die Stimme angeht, so lässt sich die zentralnarrative Instanz im Gegensatz zur Literatur etwas schwieriger fassen: Wer den Diskurs führt, ist nicht eindeutig festlegbar. Zahlreiche Informationsübermittler inner- und außerhalb der Diegese tragen zum narrativen Gerüst bei, wie zum Beispiel Kameraeinstellungen und ‑bewegungen, Schnitt, Mise en Scène, Dialoge, Voice-Over oder nichtdiegetische Musik. Somit läuft diese Kopräsenz mehrerer Erzähler (und nicht nur eines Erzählers wie in der Literatur) in einer eher abstrakten Entität zusammen, im nach Seymour Chatman benannten Cinematic Narrator[5]. Dieses organisierende Prinzip leitet die Handlungsfäden und stellt den Brennpunkt der Intentionen dar – und sollte nicht mit dem Regisseur gleichgesetzt werden. Auch ein Voice-Over stellt nur eine Komponente dar und ist trotz einer fingierten personalen Präsenz nicht mit dem Erzähler identisch, sowohl im hetero- als auch im homodiegetischen Erzählerbereich.[6]
Anders als in der Literatur vollzieht sich der Film auf der visuellen und auditiven Spur, sodass die Frage nach dem Modus (‚Welche Figur erlebt?‘) weiter gefasst werden muss, denn neben der handelnden Figur existieren sowohl sie umgebende Bilder als auch akustische Signale. Daher bietet es sich an, eine weitere Unterscheidung zu treffen: In eine handlungslogische bzw. sujetlogische (‚Wer erlebt?‘, ähnlich wie in der Literatur) und eine bildlogische bzw. perzeptionslogische Fokalisierung (‚Wer sieht?‘). Handlungslogisch können die Fokalisierungscharakteristika nach Genette übernommen werden, wohingegen der Betrachter zusätzlich auf der Perzeptions- bzw. Bildebene zwischen einer fokalisierten und einer unfokalisierten Einstellung (Point-of-View-Shot vs. Nobody’s Shot) differenzieren muss. Andernfalls dürfte man beispielweise in einer glaubwürdigen homodiegetischen Erzählung streng genommen ausschließlich fokalisierte Point-of-View -Shots einsetzen.[7] In jeder unfokalisierten Einstellung werden hingegen mehr Informationen gezeigt, als der homodiegetische Erzähler wissen kann – selbst wenn es nur winzige Details sind, die sich im Hintergrund abspielen, während der Protagonist nach vorne zur Kamera schaut. Im Film sind daher Point-of-View -Shots zur Identifikation mit der Fokalisierung eines Protagonisten nicht zwingend Voraussetzung. Zur besseren Deskription eignet sich daher diese zusätzliche Spaltung in der Kategorie des Modus, sodass man von einer ‚doppelten Fokalisierung‘ sprechen kann. In der folgenden Skizze fasse ich alle Aspekte zusammen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zentrale narrative Instanz Modus der Erzählung/Erzählperspektive
(Abb. 1: Stimme und Modus einer Erzählung in ihrer Übertragung auf den Film, nach Genette 1998; meine Darstellung, M.H.).
Das Modell könnte auf der auditiven Ebene erweitert werden, wenn sich die Frage stellt, wer welche Information hört. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn in einem Film zu einer fokalisierten Einstellung eine diegetische akustische Begleitung zu hören wäre, die der Protagonist, dessen Subjektive gerade gezeigt wird, ganz eindeutig nicht wahrnehmen kann. Solche Sonderfälle, die sich eher im experimentellen Kino finden, werde ich nicht berücksichtigen.
Inwiefern lassen sich diese Grundbegriffe nun auf das Phänomen des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ anwenden?
2.2. Der ‚unreliable narrator‘ in der Literaturwissenschaft
Im Alltagsleben gilt jemand als unzuverlässig, der in seinem Handeln und seinen Aussagen Widersprüche geltend macht. So ist man unzuverlässig im sprachlichen Verhalten, wenn der Diskurs einer Person „entgegen seinem Anspruch in Darstellung und Urteilsfähigkeit Defizite aufweist und daher nicht als glaubwürdig oder maßgeblich anerkannt werden kann“ (Jahn 1998, 82). In der Literatur sind ausschließlich sprachliche Äußerungen des Erzählers oder der Charaktere für die Fragestellung nach einer unzuverlässigen Instanz von Interesse.
Überträgt man auf fiktionale Figuren ein Handlungsmodell, das auf Kriterien des gesunden Menschenverstandes und „lebensweltlicher Verläßlichkeitsurteile“ (Jahn 1998, 82) der realen Welt basiert, so kann man auch diegetischen Existenzen fehlende Glaubwürdigkeit zuschreiben, wenn der Rezipient am Wahrheitsgehalt der ihm übermittelten Geschichte zweifelt. Im Gegensatz dazu wirkt derjenige Erzähler zuverlässig, dessen Story und begleitende Kommentare vom Leser als authentische Darstellung einer fiktionalen Wirklichkeit aufgefasst werden.
Der Erzähltheoretiker Wayne C. Booth hat 1961 in seiner Studie The Rhetoric of Fiction den Begriff des unreliable narrator in die Literaturwissenschaft eingeführt. Seither gehört er zum anerkannten Analysefaktor, obgleich vergleichsweise wenige Studien zur Theorie, Praxis und Geschichte des ‚unglaubwürdigen‘ resp. des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ existieren. Literaturwissenschaftler wie Seymour Chatman, Gérard Genette, Franz Stanzel oder Monika Fludernik haben über die Thematik geschrieben, ohne den Begriff einer eindeutigen Definition zu unterziehen.
Zwar erkennen die meisten Rezipienten intuitiv die Unglaubwürdigkeit eines (homodiegetischen)[8] Erzählers, doch fehlen die theoretischen und analytischen Hintergründe, die diese Intuition in Fachtermini fassen. Neben einer unzufriedenstellenden Begriffsklärung gibt es keine typologische Differenzierung der Erscheinungsformen, die sich darunter zusammenfassen. Die meisten Theoretiker haben das lose Konzept von Booth übernommen, das besagt, dass ein Erzähler generell umso unzuverlässiger wirke, je mehr er mit den gültigen Normen und Moralvorstellungen des Gesamtwerkes auseinanderdriftet. Dabei sei es irrelevant, ob es sich um einen Ich-Erzähler oder einen Dritte-Person-Erzähler im extra- oder intradiegetischen Rahmen handelt.
Diese recht vage Formulierung erweitert unter anderem Seymour Chatman, indem er die Kategorie dieser werkimmanenten Normen als den ‚implizierten Autoren‘ (implied author) bezeichnet. Dieser steht in Relation zum Erzähler, da er das Prinzip darstellt, das den Erzähler und alle weiteren Elemente der Erzählung kreiert.[9] Impliziert ist er deshalb, weil er nicht mit dem realen Autor übereinstimmt, sondern unterschwellig dem Leser ein Bild von sich vermittelt, welches sich nicht mit dem tatsächlichen Schriftsteller deckt. Chatman nennt sechs Positionen, die in einem narrativen Text für eine Kommunikationssituation verantwortlich sind: Der reale Autor, der implizierte Autor, der Erzähler, der (intradiegetische) Adressat (narratee), der implizierte Leser sowie der tatsächliche Leser. Ausschließlich der implizierte Autor hat die Fähigkeit, eine etwaige Unzuverlässigkeit eines Erzählers zu enthüllen:
„What makes a narrator unreliable is that his values diverge strikingly from that of the implied author’s; that is, the rest of the narrative – ‚the norm of the work‘ – conflicts with the narrator’s presentation, and we become suspicious of his sincerity or competence to tell the ‚true version‘. The unreliable narrator is at virtual odds with the implied author, otherwise his unreliability could not emerge“ (Chatman 1978, 149, meine Hervorhebung [M.H.]).
Wenn demnach die Aussage des Erzählers zu sehr von der Haltung des implizierten Autors divergiert, ergibt sich zwangsläufig eine Kommunikation ‚hinter dem Rücken‘ des Erzählers zum Leser in Form einer „secret ironic message about the narrator’s unreliability“ (Chatman 1990, 151). Sie entlarvt als Konsequenz die Unzuverlässigkeit des Erzählers. Das Problem bei dieser Herangehensweise ist die fehlende Konkretisierung dieser Kommunikation sowie eine nicht ausreichende Definition des implied author, deren vage Beschreibung den ähnlich unklaren Begriff des unzuverlässigen Erzählers nicht präzisiert: „Chatmans Modell versagt mithin gerade an den entscheidenden definitorischen Stellen“ (Jahn 1998, 91). Kritiker dieses Ansatzes sehen dessen Schwachstelle in seinem mangelnden Senderpotential innerhalb einer Kommunikationssituation: „[T]he implied author is the result of the investigation of the meaning of a text, and not the source of that meaning“ (Bal 1985, 120). Gérard Genette sieht keine Notwendigkeit, zwischen Autor und Erzähler eine weitere Instanz zu verankern. Gleichwohl ist auch er der Ansicht, dass der implizierte Autor eher eine Vorstellung des tatsächlichen Autors sei, welche der Text inhaltlich evoziert, vom Leser projiziert wird und eher ideologischer Natur zu sein scheint. Einer tatsächlichen zusätzlichen Positionierung zwischen der fiktiven diegetischen Erzählung des Erzählers und dem Autor negiert er jedoch jegliche textuelle Performanz (vgl. Genette 1998, 285ff.).
Auch der Anglist Ansgar Nünning (1998, 3ff.) verwirft das Konzept des implizierten Autors nicht nur aufgrund seiner unklaren Definition, sondern zudem deshalb, weil es seiner Meinung nach nicht ausreicht, lediglich einen textimmanenten Maßstab zur Klärung der Unzuverlässigkeit heranzuziehen. Dieser Ansatz verschließe sich vor der Außenwelt, die ein Rezipient in ein Werk hineinträgt und geht davon aus, dass ein Text auf jeden Leser dieselbe Wirkung habe und dass zusätzlich die konkrete Lesesituation oder historische Zusammenhänge sowie soziokulturelle Herkünfte irrelevant seien. Die Erfahrungswelt zeigt hingegen, dass dies keineswegs der Fall ist: Die Urteile darüber, ob ein Text unzuverlässig ist oder nicht, differieren sowohl bei Kritikern als auch beim Laien. So fällt Nünning ein Unzuverlässigkeitsurteil mit Hilfe einer Synthese dreier Kriterien: Zunächst betrachtet er intratextuelle Bezugsrahmen wie beispielsweise Subjektivismen, auffällige Realitätsverluste oder versehentliche Widersprüche. Erweitert werden sie durch peritextliche Bereiche wie Einleitungen, Vorworte oder Untertitel. Er ergänzt das Modell um einen interaktiven Rezeptionshintergrund im außertextlichen Bereich, der auf die kognitiven Fähigkeiten des individuellen Rezipienten aufbaut und der sich von der rein textuellen Herangehensweise der Chatman-Theorie abhebt: Der Leser bringt in interpretativer Art und Weise sein Weltwissen, den gesunden Menschenverstand, Gattungskonventionen, kulturelle Normen, intertextuelle Bezüge und sein eigenes Werte- und Moralsystem in den Text mit ein. So fällt er durch unmissverständliche Indizien wie den erwähnten textuellen Signalen sein eigenes Urteil darüber, wie es um die Zuverlässigkeit des Erzählers bestellt ist, was aufgrund diverser Wirklichkeitsmodelle individuell variiert. Dieses Modell basiert auf den Bewertungssystemen – das heißt die verinnerlichten Sichtweisen oder Eigenschaften, die Deutungen, Schlussfolgerungen sowie die Qualitäts- oder Werturteile –, die jeder bewusst oder unbewusst mit einer Person, Situation oder Sache verbindet (vgl. Stavemann 1999, S. 39ff.).
Psychologisch gesehen spielen hierbei individuelle Projektionen jedes Rezipienten eine große Rolle, denn sie legen fest, inwiefern dem Erzähler Sympathie und Glaubwürdigkeit zugeschrieben werden. Kann sich der Leser aufgrund von Parallelprojektionen mit dem Erzähler identifizieren, da er seine Eigenschaften auf den Erzähler überträgt, wird er nachsichtig und setzt mehr Vertrauen in ihn. Im extremsten Fall ist beispielweise einem psychisch gestörten Rezipienten die Unzuverlässigkeit eines geistig verwirrten Erzählers, der sich gesünder darstellen möchte, als er tatsächlich ist, weniger evident als einem psychisch gesunden Menschen:
„[D]ie Parallelkonstruktion [...] ist die Tendenz, andere so zu sehen, wie wir selbst uns sehen. Wir schreiben ganz einfach Aspekte unserer eigenen Persönlichkeit, die uns bewußt sind, anderen zu“ (Halpern 1984, 25).
Zudem können unbewusste Projektionen das Werturteil beinträchtigen, wenn man im Erzähler bestimmte positive oder negative Eigenschaften sieht, die man bei sich selbst verdrängt hat, die allerdings real nicht unbedingt zutreffen (vgl. Halpern 1984).[10]
Abgesehen von diesen individuellen Zuschreibungen ist der Erzähler innerhalb einer bestimmten konventionell festgelegten Grenze glaubwürdig, die zudem vom Genre abhängig ist. Ein Märchenerzähler hat sicherlich mehr Freiheiten in der fiktionalen Realitätsbeschreibung als ein Erzähler in einem Kriminalroman. So schafft der Rezipient einen Bezugsrahmen, in welchem er individuell die Grenzen zur Unglaubwürdigkeit (in der Diegese) absteckt, indem er Inkonsistenzen, die diesen Rahmen sprengen, dadurch auflöst, dass er durch eigene Interpretation („to incorporate it into one’s interpretive net“ [Chatman 1978, 49]) der Erzählinstanz mangelnde Glaubwürdigkeit zuschreibt. Dieser Prozess wird als naturalization bezeichnet (vgl. Nünning 1998, 26).
Mit diesem Modell lässt sich zudem erklären, warum ein Unzuverlässigkeitsurteil teilweise bei verschiedenen Rezipienten variiert. Da jeder seinen von der Einzelpersönlichkeit geprägten Hintergrund in den Leseprozess einbindet, werden divergierende Urteile gefällt:
„What constitutes ‚reality‘ or ‚likelihood‘ is a strictly cultural phenomenon, though authors of narrative fiction make it ‚natural‘. But of course the ‚natural‘ changes from one society to another, and from one era to another in the same society“ (Chatman 1978, 49).
Die Auffassung darüber, was als wahrscheinlich gilt, wechselt von einer Epoche zur anderen. Dies kann man speziell in der sich rasch ändernden Filmwelt feststellen. Ein Rezipient der 1940er Jahre hätte vermutlich Probleme, die Erzählkonventionen eines postmodernen Films nachzuvollziehen, da sich die narrativen Muster und Schemata deutlich geändert haben.[11]
Zusammengefasst tragen nach Nünning drei Kriterien zum Effekt der Unzuverlässigkeit bei: Die textuelle, peritextuelle und außertextuelle Ebene. Dieses Modell modifiziert sinnvoll die rein intratextuelle Herangehensweise des Chatman-Ansatzes.
Textuelle Signale, die Hinweise zur Bewertung des homodiegetischen Erzählers geben, finden sich in Form von formalen und thematischen Merkmalen eines Werkes. Dazu gehören explizite Widersprüche, Inkonsistenzen innerhalb des Diskurses, Diskrepanzen zwischen Aussagen und Handlungen, Abweichungen von herkömmlichen Vorstellungen von normalem Verhalten, gestörte Beziehungen zur Außenwelt oder mangelnde Selbstreflexion. Auch Fremdcharakterisierungen durch andere Figuren der diegetischen Welt können durch sich unterscheidende Aussagen implizit einen (homodiegetischen) Erzähler entlarven. Neben diesen inhaltlichen Aspekten spielen linguistische Faktoren wie die Sprache des Erzählers (Stil, Leitmotive, Anrede an den Leser, Satzfetzen, Wortwahl oder wertende Ausdrücke) oder sein Normensystem eine große Rolle.
Peritextuelle Hinweise befinden sich in Titeln, Vor- und Nachworten oder Kapitelüberschriften und können erste Andeutungen auf fehlende Glaubwürdigkeit enthalten (vgl Allrath 1998, 75).
Außertextuelle Hinweise manifestieren sich, wie schon erwähnt, in Form eines Wirklichkeitsabgleichs des Rezipienten zwischen seiner realen Welt und der fiktiven Realität des Erzählers. Sein Weltwissen und seine kulturelle Schemata sowie intertextuelle Konventionen, die ein ‚erfahrener‘ Leser mitunter in das Werk einbezieht, können eine Diskrepanz zwischen den textuellen Informationen und dem außertextuellen Wirklichkeitsmodell aufwerfen, die in Form einer naturalization durch die Bewertung der Erzählinstanz als unzuverlässige Quelle aufgelöst wird.
Die sonst eher im Hintergrund wirkende Präsenz der zentralnarrativen Instanz, die Stimme, fällt dem aufmerksamen Rezipienten gerade beim Phänomen des unzuverlässigen Erzählens besonders auf:
„Dem Leser werden Informationen gegeben, die über die durch den Erzähler gebotenen Informationen hinausweisen, die diese Informationen kommentieren und den Erzähler somit zugleich als ‚Erzählten‘ zu erkennen geben, die deutlich machen, daß der Erzähler nur eines – wenn auch ein sehr wichtiges – Kommunikationsmittel eines Erzähltextes ist“ (Hof 1984, 36).
Gerade hier scheint es wenig sinnvoll, wie Nünning et al. die Existenz einer ‚allmächtigen‘ Textinstanz, wie es der implizierte Autor ist, zu übergehen, denn letztendlich hat er in Bezug auf das unzuverlässige Erzählen die gleiche Funktion wie die Stimme bei Genette, die in ihrem filmischen Pendant – dem Cinematic Narrator – ihre adäquate Entsprechung findet.
Auffällig ist die Fokussierung des Großteils der Sekundärliteratur auf den homodiegetischen Erzähler als Quelle der Unzuverlässigkeit. Dies scheint zunächst plausibel, denn er ist beschränkter in seinem Wissen, seinen Aufenthaltsorten und bringt notwendig eine subjektive Ansicht ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit mit sich. Zudem hat er seinen eigenen Stil, sodass ein Ausbruch aus diesem „homodiegetischen Kontrakt“ (Jahn 1998, 100) rasch wahrgenommen wird. Durch die zwingende handlungslogische interne Fokalisierung kann das Diskurs-Ich seinem eigenen Wissen nicht voraus sein, und wendete es zum Beispiel eine Paralepse an, würde es sich hochgradig verdächtig machen. Eine Ausnahme liegt lediglich dann vor, wenn das erzählende Ich in einer autodiegetischen Erzählung retrospektiv mit einem solchen Weitblick zum erlebenden Ich die Geschichte erzählt, dass ein Wissensvorsprung zuzulassen ist:
„Die einzige Fokalisierung, die er [in einem solchen Fall, M.H.] zu respektieren hat, wird definiert durch seinen gegenwärtigen Informationsstand als Erzähler und nicht seinen vergangenen Informationsstand als Held“ (Genette 1998, 141, [meine Hervorhebung, M.H.]).
Des Weiteren ist sich diese Form der Erzählerfigur häufig darüber im Klaren, dass ihre Erzählung Teil eines Kommunikationsvorganges ist. Das kann dazu führen, dass er mehr um seine Wirkung auf den fiktiven Adressaten, dem narratee, als um die authentische Darstellung der fiktionalen Wahrheit bemüht ist. Ein Ich-Erzähler muss sich seine Glaubwürdigkeit erst sichern und seine Zuhörer von seiner Vertrauenswürdigkeit überzeugen. Sein Wissen kann eingeschränkt oder fehlerhaft sein, wenn er beispielsweise krank, verliebt oder naiv ist, wenn er getäuscht wird oder die Ereignisse zu subjektiv bewertet. Demnach muss ein solcher Erzähler nicht unbedingt unlautere Intentionen hegen – manches weiß er einfach nicht besser. Daher wäre es unsinnig, jeden unzuverlässigen Erzähler gleichzeitig als unglaubwürdig zu bezeichnen – möglicherweise ist er sich sicher, die Wahrheit zu sagen und ist sich seiner Lüge nicht bewusst.
Eine Sonderstellung zwischen dem rein homodiegetischen und heterodiegetischen Erzähler nehmen Reflektorfiguren ein: In einer personalen Erzählsituation haben sie eine ähnliche Funktion wie ein Ich-Erzähler, da das Geschehen von ihrem Standpunkt aus, jedoch aus der dritten Person, vermittelt wird. Allerdings wissen diese Figuren im Gegensatz zum Ich-Erzähler nicht, dass sie etwas erzählen, und können daher nicht bewusst unreliable sein, sondern das Geschehen nur fehlbar deuten und filtern. Chatman hat dafür den Begriff fallible filters eingeführt:
„After all, the character has not asked that her mind be entered or her conversation overheard by a narrator or reported by a narratee. [...] She cannot represent [a story] because she is not attempting to represent it. [...] So she can hardly be responsible to the narrative in the way a [homodiegetic] narrator is“ (Chatman 1990, 150).
Die meisten Theoretiker trennen Reflektorfiguren klar von Erzählern und setzen sie eher in ein Abhängigkeitsverhältnis. Laut Genette gibt die erste Instanz, die Stimme, die Fokalisierung des Geschehens an den Reflektor weiter, und beide sind deutlich durch die Story-Diskurs-Grenze getrennt.
Im Gegensatz dazu hat der heterodiegetische Erzähler ungleich mehr Freiheiten, sodass man ihn zunächst nur schwer als unzuverlässig einschätzen kann; er ist an keinen Ort gebunden, kann Fakten zurückhalten oder Wissensvorsprünge preisgeben. Man kann seinen Kenntnisstand nicht in Frage stellen, denn schließlich hat er per Definition die Macht über die Informationsverteilung. Polymodale Sprünge von der nullfokalisierten bis hin zur externen Fokalisierung sind denkbar, inklusive aller Alterationen. Trotzdem finden sich auch hier Indikatoren für Unzuverlässigkeit, insbesondere bei Erzählungen mit multiperspektivischer Anordnung: Hier wechselt die interne Fokalisierung von einem Modus zum anderen – beispielsweise von einem Protagonisten hin zu anderen Figuren, Zeitungsberichten oder Gerichtsprotokollen, die dasselbe Geschehen mehrfach rekapitulieren. Bei dieser Art der multiplen internen Fokalisierungen, die Genette als Polymodalität bezeichnet, handelt es sich nicht selten um Binnenerzähler innerhalb der diegetischen Welt. Sie können umso unzuverlässiger erscheinen, je mehr individuelle und widersprüchliche Wirklichkeitsmodelle der einzelnen Erzähler gegenübergestellt werden – vor allem dann, wenn der gleiche Vorfall mehr als einmal geschildert wird. Durch die Aufspaltung in Einzelsichtweisen kommt es zu einer Verlagerung von den vermeintlichen Tatsachen der Diegese hin zu den verschiedenen Ereignis interpretationen durch die Figuren.
Der Grad an Glaubwürdigkeit, der den Urteilen der Personen zugeordnet wird, kann variieren. In letzter Konsequenz kann diese multiple Anordnung dazu führen, dass der Rezipient keine der Perspektiven als verbindlich anerkennt. Hier wird die Form zum Bedeutungsträger. Sie dient nicht nur der Authentisierung des Geschehens, sondern sie stellt einen Diskurs über vermeintlich objektive Wahrheitsfindung auf. Die Poetik des Gesamtwerks besteht dann in der Negierung der Möglichkeit einer objektiven Wirklichkeitserfahrung durch Kontrastierung kollektiver und individueller Stimmen. In ihrer Studie zu Paul Scotts multiperspektivischer Romantetralogie Raj Quartet konstatiert Carola Surkamp:
„Die Relationen der Figuren offenbaren [...], daß der Grad an perspektivistischer Auffächerung der erzählten Welt sehr groß ist. Die Heterogenität der individuellen Sichtweisen und der äußerst geringe Grad an Kollektivität der einzelnen Perspektiventräger weisen darauf hin, daß die Einzelperspektiven auf Figurenebene nicht in einem gemeinsamen Fluchtpunkt zusammenlaufen. Damit ist auch der Grad an mangelnder Zuverlässigkeit der Figuren sehr hoch. [...] Unterschiedliche Perspektiven geben [...] einen Hinweis darauf, daß es noch andere Möglichkeiten gibt, die Welt zu sehen als nur das eigene Wirklichkeitsmodell“ (Surkamp 1998, 176ff.).
Herrscht eine Dominanz integrativer Perspektiven vor, die implizit ein einheitliches Geschehen evozieren, projiziert der Rezipient keine Unzuverlässigkeit auf die Gesamtstruktur des Textes, was man als Monologizität der Perspektivenstruktur bezeichnet. Stehen die unterschiedlichen Instanzen widersprüchlich zueinander, indem sie unvereinbare Wirklichkeitsmodelle repräsentieren, spricht man von Dialogizität.
Dies zeigt: Keineswegs können ausschließlich homodiegetische Erzählungen unter dem Aspekt der unreliable narration betrachtet werden, sondern ebenso heterodiegetische, wenn es sich z.B. um eine multiperspektivische Sonderform handelt.[12]
Fazit: Durch die verschiedenen Erzählmodi existieren auch unterschiedliche Formen der Signalisierung von unreliability. Bei homodiegetischen Formen zeigen vor allem textuelle Signale und bei heterodiegetischen Varianten eher die multiperspektivische Aufspaltung einen Hinweis auf die Erzählerverlässlichkeit.
2.3. Die Verbindung zum Film
Zweifellos muss ein Leser oder Zuschauer für die Interpretation solcher narrativer Konstruktionen einen großen Konzentrations- und Mitarbeitswillen ans Werk herantragen. Er konstruiert bzw. verwirft ständig neue Hypothesen, je nachdem, ob der Text sie bestätigt oder widerlegt. Wie lassen sich diese literaturspezifischen Kategorien auf das Regelwerk der Film‚sprache‘ übertragen? Die oben genannten Kriterien und Definitionspunkte gehen von einer hohen Rezipientenaktivität zur Bestimmung einer Unzuverlässigkeit aus. Die neoformalistische Filmanalyse[13] beschäftigt sich in Ansatz und Methode ebenfalls mit der Zuschaueraktivität und Wahrnehmungsprozessen. Zusammen mit den Fachtermini der Literaturwissenschaftler ermöglicht dies eine systematischere Herangehensweise an die Fragestellung nach der Übertragbarkeit der literaturwissenschaftlichen Kategorien in Bezug auf unrealiable narration an den Film. Die Kombination dieser Theorien ermöglicht eine effizientere Ausarbeitung der Eigenschaften, die speziell im Medium Film für die Konstruktion einer unzuverlässigen Erzählweise verantwortlich sind. Daher werde ich zunächst in einem Exkurs den neoformalistischen Ansatz kurz skizzieren.
[...]
[1] Bei der Genitiv-Verwendung des Begriffes ‚Voice-Over‘ sehe ich vom Einsatz des ‚Genitiv‑s‘ ab.
[2] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich Begriffe wie ‚Erzähler‘, ‚Leser‘, ‚Zuschauer‘ usw. in ihrer generischen Bedeutung ohne geschlechtsspezifischen Zusatz.
[3] Auf die Bedeutung des Begriffes Verfahren bzw. device werde ich im Kapitel 3.1. ‚Exkurs: Neoformalistische Filmanalyse‘ näher eingehen.
[4] Ähnlich ist es in der Musik, wenn die Verwendung eines tonartfremden Akkords nicht gleich einen Wechsel der gesamten Tonart nach sich zieht, sondern diese nur temporär verlässt.
[5] Für diese Instanz existiert noch kein einheitlicher Begriff innerhalb der Theorien. Andere Autoren nennen sie Narrating Agent, Stimme, Kamera, Zeremonienmeister oder implizierte Regie. Ich werde im folgenden bei Chatmans Begriff bleiben.
[6] Das Kapitel 3.2. ‚Pro und contra filmischer Erzähler‘ zum filmischen Voice-Over geht näher auf diese Fingierung ein.
[7] Die wurde meines Wissens nach nur in The Lady in the Lake (Robert Montgomery, USA 1947) konsequent umgesetzt.
[8] Die Mehrzahl der theoretischen Untersuchungen bezieht sich auf homodiegetische Erzähler und klammert die Möglichkeit eines heterodiegetischen Erzählers mit multiperspektivischer Fokalisierung aus.
[9] Hier nähert sich Chatman demselben Phänomen wie Genette, der den implizierten Autoren in dem Sinne, wie er hier gebraucht wird, eher in seiner Kategorie der Stimme einordnen würde.
[10] Eine detaillierte Darstellung der Wirkungsmechanismen aus der kognitiven Verhaltenspsychologie würde den Rahmen dieser Magisterarbeit überschreiten, daher beschränke ich mich auf den knappen Verweis auf das Wirklichkeitsmodell.
[11] Vgl. hierzu das Kapitel 3.1. ‚Neoformalistische Filmanalyse‘.
[12] Auf diese interessante Sonderform gehe ich im zweiten Teil dieser Arbeit ein, der sich mit der Analyse des Spielfilms The End of the Affair befasst. Auch hierbei handelt es sich um einen Film sowohl mit homodiegetischen Voice-Over-Erzählern als auch multiperspektivischen Gesichtspunkten.
[13] Vgl. hierzu das Kapitel 3.1. ‚Exkurs: Neoformalistische Filmanalyse‘.
- Arbeit zitieren
- Michael Himpler (Autor:in), 2004, Der unzuverlässige Erzähler in Neil Jordans "The end of the affair" (GB 1999), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38254
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