Wer die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert erzählen will, tut sich aus zweierlei Gründen schwer. Denn vergeblich sucht man nach einem Datum, an dem man den Beginn der Bewegung festmachen kann. Genauso vergeblich gestaltet sich die Suche nach Personen, die den Anstoß für sie gegeben haben. Der Historiker Shlomo Na’aman hat das Problem auf den Punkt gebracht mit seinem Satz: „Die deutsche Arbeiterbewegung hat keinen Gründer und kennt keinen Gründungstag.“ Handelt es sich bei der „Arbeiterbewegung“ daher gar nicht um eine Bewegung? Wie könnte man das Bestreben der Arbeiter um politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Besserstellung, das ja zweifelsohne eine der dominanten Leitlinien der Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts war, sonst bezeichnen? Und: Warum entstand die Bewegung gerade zu dieser Zeit als Form des gesellschaftlichen Protests? Und wie entwickelten sich die Protestformen? Diese Fragen sollen in dieser Hausarbeit genauso behandelt werden wie die, ob nun die eine Bewegung existierte, oder aber, ob die verschiedenen Ströme getrennt zu betrachten sind. Schließlich unterschieden sich die Arbeiter in Deutschland im 19. Jahrhundert in ihren Lebensbedingungen, Idealen und Zielen zumindest die meiste Zeit sehr stark. Wird dennoch in dieser Arbeit von einer Bewegung gesprochen, so ist das vor dem Hintergrund der angesprochenen Widersprüche zu sehen. Bevor jedoch diese Fragen zu klären sind, soll in dieser Arbeit das politische Erwachen der Arbeiter von Beginn des 19. Jahrhunderts an aufgezeigt werden. Den Anfang machen unkoordinierte Bemühungen einzelner, die vor allem im Ausland wie zum Beispiel in England stattfinden. Erst in der Revolution 1848 bekommen die Arbeiterproteste auch in Deutschland Bedeutung. Die Analyse geht weiter über die Restaurations-Zeit nach der gescheiterten 48er- Revolution. Anschließend wird die Bildung von Gewerkschaften beleuchtet, die Entstehung rivalisierender Arbeiterparteien und deren späterer Zusammenschluss in der Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (SAP). Den Abschluss im zeitlichen Kontext bildet die Betrachtung der Sozialdemokratie unter dem Bismarckschen Sozialistengesetz bis 1890. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1. Die Anfänge
2.1.1. Die deutsche Arbeiterbewegung im Ausland
2.1.2. Erste politische Ansätze in Deutschland
2.2. Die erste Arbeiterpartei entsteht
2.3. Zersplitterung statt Einigkeit: Die zweite Arbeiterpartei
2.4. Die Entwicklung der Gewerkschaften
2.5. Die Vereinigung der Arbeiterparteien
2.6. Das Sozialistengesetz
2.7. Warum Bismarck scheiterte
3. Schluss
4. Literatur
1. Einleitung
Wer die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert erzählen will, tut sich aus zweierlei Gründen schwer. Denn vergeblich sucht man nach einem Datum, an dem man den Beginn der Bewegung festmachen kann. Genauso vergeblich gestaltet sich die Suche nach Personen, die den Anstoß für sie gegeben haben. Der Historiker Shlomo Na’aman hat das Problem auf den Punkt gebracht mit seinem Satz: „Die deutsche Arbeiterbewegung hat keinen Gründer und kennt keinen Gründungstag.“[1] Handelt es sich bei der „Arbeiterbewegung“ daher gar nicht um eine Bewegung? Wie könnte man das Bestreben der Arbeiter um politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Besserstellung, das ja zweifelsohne eine der dominanten Leitlinien der Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts war, sonst bezeichnen? Und: Warum entstand die Bewegung gerade zu dieser Zeit als Form des gesellschaftlichen Protests? Und wie entwickelten sich die Protestformen?
Diese Fragen sollen in dieser Hausarbeit genauso behandelt werden wie die, ob nun die eine Bewegung existierte, oder aber, ob die verschiedenen Ströme getrennt zu betrachten sind. Schließlich unterschieden sich die Arbeiter in Deutschland im 19. Jahrhundert in ihren Lebensbedingungen, Idealen und Zielen zumindest die meiste Zeit sehr stark. Wird dennoch in dieser Arbeit von einer Bewegung gesprochen, so ist das vor dem Hintergrund der angesprochenen Widersprüche zu sehen.
Bevor jedoch diese Fragen zu klären sind, soll in dieser Arbeit das politische Erwachen der Arbeiter von Beginn des 19. Jahrhunderts an aufgezeigt werden. Den Anfang machen unkoordinierte Bemühungen einzelner, die vor allem im Ausland wie zum Beispiel in England stattfinden. Erst in der Revolution 1848 bekommen die Arbeiterproteste auch in Deutschland Bedeutung. Die Analyse geht weiter über die Restaurations-Zeit nach der gescheiterten 48er-Revolution[2]. Anschließend wird die Bildung von Gewerkschaften beleuchtet, die Entstehung rivalisierender Arbeiterparteien und deren späterer Zusammenschluss in der Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (SAP). Den Abschluss im zeitlichen Kontext bildet die Betrachtung der Sozialdemokratie unter dem Bismarckschen Sozialistengesetz bis 1890. In jenem Jahr bildet der Aufstieg der SAP zur stärksten Partei im Kaiserreich einen Meilenstein, der nach der schwierigen, anfänglichen Entwicklung kaum zu erwarten gewesen war. Dieses Ereignis markiert auch den Abschluss der vorliegenden Arbeit.
Bleibt die Frage: Wie ist das Thema in das Proseminar – das schließlich „Sozialer Protest und Arbeitskämpfe im 19. Jahrhundert in Deutschland“ hieß – einzuordnen? Das geschieht über die Arbeiterbewegung an sich, die als Soziale Bewegung zu verstehen ist, und deren Agitation wiederum eindeutig Sozialer Protest ist. Ruch[3] versteht Soziale Bewegung als ein „auf gewissen Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis zur Gewaltanwendung – herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.“[4] Dieses Herbeiführen des Sozialen Wandels, also die Einflussnahme auf ökonomische, politische und soziokulturelle Normen einer Gesellschaft, versteht man als Sozialen Protest. Sicherlich wirkt Ruchts Definition, wenn man sie auf die Arbeiterbewegung überträgt, nicht immer vollkommen zutreffend – etwa wegen seines Postulats der kollektiven Identität (dazu mehr). Doch insgesamt passt sie – durch die Attribute des gemeinsamen Ziels und der Strategie sowie der nur begrenzten Dauerhaftigkeit – auf die Arbeiterbewegung und deren Wirken im 19. Jahrhundert. Sie hatte zum Ziel, die (Über-)Lebenssituation der Arbeiter, ihre politische Partizipation und die gesellschaftliche Stellung zu verbessern.
Möchte man sich weiter mit dem Thema Arbeiterbewegung beschäftigen, sind vor allem die Werke von Hans-Ulrich Wehler, Thomas Nipperdey und im Besonderen von Helga Grebing zu beachten. Informativ sind auch die zitierten Schriften von Susanne Miller/Heinrich Potthoff.
2. Hauptteil
2.1. Die Anfänge
Genauso wie man das 20. Jahrhundert nicht erklären kann, ohne zurück zu schauen ins 19., muss man auch bei dessen Betrachtung den Blick zunächst in die Vergangenheit wenden. Ende des 18. Jahrhunderts begann in Mitteleuropa ein stetiges und über 100 Jahre anhaltendes Bevölkerungswachstum, die „dritte Welle der europäischen, demographischen Revolution’“.[5] Nachdem seit dem Dreißigjährigen Krieg die Bevölkerung weitgehend konstant geblieben war, wirkten sich ab 1750 vor allem landwirtschaftliche Fortschritte aus: Die Umwandlung bäuerlicher Allmenden in privates Ackerland, die produktivere Dreifelderwirtschaft[6] und eine höhere Fleischproduktion führten dazu, dass mehr Menschen ernährt werden konnten. Gleichzeitig ermöglichte das protoindustrielle Verlagswesen, bei dem Großverleger die Rohstoffe an einzelne Gewerbetreibende verteilten und das Kleinhandwerk so überhaupt erst boomen konnte, viel mehr Menschen ein Auskommen.[7]
Anfang des 19. Jahrhunderts allerdings machten sich die negativen Konsequenzen des demographischen Wachstums bemerkbar. Wehler spricht von einer „Art Sättigungsgrenze der Wirtschaft“, weil die verschiedenen Branchen das Überangebot an Arbeitskräften nicht mehr aufnehmen konnten.[8] Zudem ging das Verlagswesen langsam ein, weil es mit den aufstrebenden Industrien in England nicht mehr mithalten konnte. Und durch die Aufhebung des Zunftzwangs – in Preußen etwa im Jahr 1810 – verschlechterte sich die Lage vieler Gesellen dramatisch. Selbst Kinder- und Frauenarbeit gewährleistete für zahlreiche Familien kein Leben über dem Existenzminimum mehr.
Genauso wie die Handwerker verarmten auch die Landarbeiter, was vor allem an der Agrarreform von 1807 lag, die viele Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft beschäftigungslos machte. In den 30er-Jahren kam der Begriff des „Pauperismus“ nach Deutschland – und Historiker schätzen, dass um 1830 bis zu 50 Prozent der Bevölkerung Teil des pauperisierten Proletariats waren. Diese ganzen Faktoren, die das Leben der arbeitenden Bevölkerung verschlechterten, erklären in ihrer Gesamtheit, warum sich die Arbeiterbewegung entwickelte: Die Leidensgrenze für die Handwerker, Bauern und Arbeiter war erreicht.
2.1.1. Die deutsche Arbeiterbewegung im Ausland
Verständlich wäre ein allgemeines Aufbegehren der Arbeiter, Handwerker und Landarbeiter gewesen, doch bis 1848 sollten sich im Gegensatz zu England[9] nur wenige Ansätze einer politischen Arbeiterbewegung entwickeln. Die Ursachen dafür sind vor allem in der Unterdrückung aller freiheitlichen Regungen durch die deutschen Bundesstaaten zu sehen.[10] So galten bis 1848 ein Koalitionsverbot, das Verbot, politische Vereine zu bilden, und eine strenge Pressezensur. Alle Widerstände wurden militärisch niedergeschlagen. Zweitrangig, aber dennoch zu erwähnen, ist die industrielle Rückständigkeit gegenüber England. So gab es vor der Revolution in Deutschland nur 170 000 Fabrikarbeiter, in Britannien mehr als eine Million. Selbst die Firma Krupp, die später zum Symbol für die Industrialisierung wurde, hatte 1849 erst 80 Arbeiter.[11]
Erste Ansätze sind dennoch zu nennen. So findet man gewerkschaftliche Urformen wie Kranken- und Hilfskassen, die Handwerker in Eigeninitiative für ihre Berufsstände gründeten.[12] Seit den 1830er-Jahren entstanden zudem Arbeiter-Bildungsvereine[13], in denen Wissensvermittlung sicher an erster Stelle stand, aber auch politische Fragen erörtert wurden. Selbst Streiks und Generalstreiks findet man seit dem späten 18. Jahrhundert[14], auch wenn sie natürlich nicht mit heutigen Arbeitskämpfen zu vergleichen sind.
Wirkliche politische Aktivität entwickelte sich jedoch nur im Ausland durch Wandergesellen, die sich in Geheimbünden wie dem „Neuen Deutschland“ in Bern oder dem „Bund der Geächteten“ in Paris zusammenschlossen. Letzterer wurde zur bekanntesten Plattform, aus dem sich 1837 der „Bund der Gerechten“ unter Wilhelm Weitling abspaltete. Aus ihm ging zehn Jahre später der „Bund der Kommunisten“ hervor, geprägt von Friedrich Engels und Karl Marx. Die beiden Arbeiterführer gaben in diesem Rahmen 1848 auch das „Kommunistische Manifest“ heraus. Mit ihrer revolutionären Forderung nach einer „Herrschaft des Proletariats“ grenzten sie sich von der deutschen Arbeiterbewegung ab – doch dazu später mehr. Jedenfalls wurde der Bund im April 1848 aufgelöst, nachdem Engels und Marx die Führungsarbeit beendet hatten. Ein Jahr später lebte er unter Marx noch mal kurz auf, wurde dann jedoch verboten.
Hervorhebenswert ist, dass die Protestformen zu dieser Zeit noch sehr moderat waren - intellektuelle Leserkreis, politische Diskussionsrunden, einzelne Kampfschriften – das tat der Obrigkeit noch nicht wirklich weh.
[...]
[1] Na’aman, Shlomo: Die Konstituierung der deutschen Arbeiterbewegung 1862/63. Darstellung und Dokumentation, Amsterdam, 1975. S. 3.
[2] Wenn man schon über Begriffe diskutiert, stellt sich hier – losgelöst vom Thema dieser Arbeit – natürlich auch die Frage, ob man in Folge des Scheiterns der Umsturzpläne überhaupt von einer Revolution sprechen kann.
[3] Rucht, Dieter: Modernisierung und neue Soziale Bewegung. Frankfurt/Main, 1999.
[4] Rucht (1999), S. 76f.
[5] Wehler, Hans-Ulrich: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815 – 1848/49. In: ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 2. München, 1987. S. 284.
[6] Bestehend aus Blattfruchtanbau wie Kartoffeln, Kohl, Klee oder Zuckerrüben im ersten, Getreideanbau im zweiten und Brache im dritten Jahr.
[7] Vgl.: Wehler (1987), S. 284.
[8] Wehler (1987), S. 284.
[9] Dort forderten ab 1838 die „Chartisten“ in organisierter Form das Ende der Ausbeutung.
[10] Grebing, Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick. München. 1981, S. 40.
[11] Miller, Susanne/Potthoff, Heinrich: Kleine Geschichte der SPD. Bonn, 1983. S. 19.
[12] Detailliert beschäftigt sich mit diesen frühen organisatorischen Zusammenschlüssen vor allem Ernst Schraepler: Handwerkerbünde und Arbeitervereine 1830 – 1853. Berlin/New York, 1972.
[13] Zu den Vorreitern zählten 1833 die Brauereiarbeiter in Erlangen.
[14] Vgl.: Grebing (1981), S. 40f.
- Citation du texte
- Timm Rotter (Auteur), 2005, Entstehung und Entwicklung der Arbeiterbewegung bis 1890, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38008
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