[...] Mit der Beantwortung derartiger Fragen beschäftigen sich diverse wissenschaftliche Teilgebiete. Von der Kodikologie (Untersuchung der physischen Beschaffenheit) bis zur Dialektologie, Schriftund Repertoire-Untersuchungen: jedes scheinbar unwichtige Detail könnte eine Antwort auf eine Vielzahl von Fragen sein. Wer war der Komponist, wer der Schreiber? Wo wurde die Handschrift verfasst und wann? Für wen war sie bestimmt und was genau ist da eigentlich notiert? Dabei gliedert sich die Musikalien betreffende Quellenkunde in drei Bereiche: die Bibliografie (Erfassung von Fundort, physischer Gestalt und Inhalten, sowie Datierung, Provenienz und Überlieferungsgeschichte), die Textphilologie (Beschäftigung mit der Überlieferung des musikalischen Textes) und die Bibliologie („...Frage nach der Beziehung zwischen Struktur und Funktion von buchartigen Quellen, sowie nach ihren soziokulturellen Implikationen.“). Die Besonderheit bei der Arbeit an einer musikalischen Quelle liegt in der Zweischichtigkeit derselben. Über die physische, also mit den menschlichen Sinnen unmittelbar erfassbare, Existenz hinaus verbirgt sich hinter dem Notentext klingende Musik. Darüber, w i e diese Musik einmal geklungen haben mag kann im Falle von Quellen aus der Zeit vor Schallplatte, Kassette und CD nur spekuliert werden. Ist der einzige Zugang zur Musik – die Notation – außerdem in einer uns unbekannten Form, erschwert dies das Vorhaben um so mehr. Wenn sich in einem solchen Fall keine Erklärung zur Notationsweise findet, bleibt die Musik nur ein paar Zeichen und klanglos. Umso interessanter, dass sich im Falle des B.O. eine derartige Erklärung findet. Und nicht nur das: Darüber hinaus wird sogar etwas über die Regeln der Komposition verraten. Die Besonderheit des B.O. als musikwissenschaftliche Quelle liegt darin begründet, dass diese Handschrift am Beginn einer neuen Art von Musik steht, die sich aus der vokalen Tradition löst und ohne Sprache, rein instrumental, existiert. Aus der Art der Notation und der dahinter stehenden Theorie können Rückschlüsse auf jene anfängliche Entwicklung der Instrumentalmusik gezogen werden. Das Hauptaugenmerk wird dabei im Folgenden dem theoretischen Anhang des B.O. – dem modus organizandi – und den in engem Zusammenhang dazu stehenden Fundamenta der Handschrift gelten. Zunächst soll jedoch das nötige Hintergrundwissen zur Quelle durch die Behandlung der Themen Provenienz, Repertoire und Komponisten gegeben werden.
Gliederung
Einleitung
2. Physis der Quelle
3. Repertoire und inhaltlicher Aufbau
4. Aspekte zur möglichen Provenienz
5. Notation zwischen Theorie und Praxis
5.1. Der modus organizandi
5.2. Die Notation als Abbildung des Spielvorgangs
6. Die Fundamenta des Buxheimer Orgelbuchs
6.1. Aufbau
6.2. Von melodischer Umspielung zum musikalischen Satz
7. Zusammenfassung
Anhang
Verzeichnis der Abbildungen
Bibliografie
Einleitung
Cim.352b. So lautet jene Signatur der Bayerischen Staatsbibliothek in München, hinter der sich eine in Fachkreisen als Buxheimer Orgelbuch (im Folgenden B.O.) bekannte musikalische Handschriftensammlung verbirgt. Buxheimer Orgelbuch deshalb, weil besagtes Schriftstück mit den Bibliotheksbeständen des Kartäuserklosters Buxheim an der Iller 1803 von der Staatsbibliothek ersteigert wurde. Darüber, dass das B. O. sicher nicht in Buxheim entstanden ist, ist sich die Fachwelt heute einig. Wie die Provenienzgeschichte der Handschrift allerdings genau aussieht konnte bis jetzt nicht geklärt werden. Mit der Beantwortung derartiger Fragen beschäftigen sich diverse wissenschaftliche Teilgebiete. Von der Kodikologie (Untersuchung der physischen Beschaffenheit) bis zur Dialektologie, Schrift- und Repertoire-Untersuchungen: jedes scheinbar unwichtige Detail könnte eine Antwort auf eine Vielzahl von Fragen sein. Wer war der Komponist, wer der Schreiber? Wo wurde die Handschrift verfasst und wann? Für wen war sie bestimmt und was genau ist da eigentlich notiert? Dabei gliedert sich die Musikalien betreffende Quellenkunde in drei Bereiche[1]: die Bibliografie (Erfassung von Fundort, physischer Gestalt und Inhalten, sowie Datierung, Provenienz und Überlieferungsgeschichte), die Textphilologie (Beschäftigung mit der Überlieferung des musikalischen Textes) und die Bibliologie („...Frage nach der Beziehung zwischen Struktur und Funktion von buchartigen Quellen, sowie nach ihren soziokulturellen Implikationen.“[2]). Die Besonderheit bei der Arbeit an einer musikalischen Quelle liegt in der Zweischichtigkeit derselben. Über die physische, also mit den menschlichen Sinnen unmittelbar erfassbare, Existenz hinaus verbirgt sich hinter dem Notentext klingende Musik. Darüber, w i e diese Musik einmal geklungen haben mag kann im Falle von Quellen aus der Zeit vor Schallplatte, Kassette und CD nur spekuliert werden. Ist der einzige Zugang zur Musik – die Notation – außerdem in einer uns unbekannten Form, erschwert dies das Vorhaben um so mehr. Wenn sich in einem solchen Fall keine Erklärung zur Notationsweise findet, bleibt die Musik nur ein paar Zeichen und klanglos. Umso interessanter, dass sich im Falle des B.O. eine derartige Erklärung findet. Und nicht nur das: Darüber hinaus wird sogar etwas über die Regeln der Komposition verraten. Die Besonderheit des B.O. als musikwissenschaftliche Quelle liegt darin begründet, dass diese Handschrift am Beginn einer neuen Art von Musik steht, die sich aus der vokalen Tradition löst und ohne Sprache, rein instrumental, existiert. Aus der Art der Notation und der dahinter stehenden Theorie können Rückschlüsse auf jene anfängliche Entwicklung der Instrumentalmusik gezogen werden. Das Hauptaugenmerk wird dabei im Folgenden dem theoretischen Anhang des B.O. – dem modus organizandi – und den in engem Zusammenhang dazu stehenden Fundamenta der Handschrift gelten.
Zunächst soll jedoch das nötige Hintergrundwissen zur Quelle durch die Behandlung der Themen Provenienz, Repertoire und Komponisten gegeben werden.
2. Physis der Quelle
Die folgenden Ausführungen müssen sich leider lediglich auf die aus der Faksimile- Ausgabe ersichtlichen Informationen beschränken, da eine Arbeit am Originaltext nicht möglich war. Bei aus diesem Grund nicht klar zu treffenden Aussagen wird daher auf die entsprechenden Informationen der Sekundärliteratur zurückgegriffen[3].
Die Handschrift besteht aus 169 Papierblättern im Hochformat von 30 x 21 cm, die in einen lederbezogenen Holzdeckel gebunden sind. Auf den ersten mit den römischen Ziffern I bis V nummerierten Seiten findet sich ein Index: nach der Überschrift Sequnt tabula huius libri secundum ordinem alphabeticum folgen Titel- und Seitenangaben der verzeichneten Stücke in brauner Farbe; wobei jedem Buchstaben des Alphabets eine Spalte zugeteilt wurde und pro Seite zwei Spalten Platz finden. Große Zierinitialen in teils auch roter Farbe am Anfang jeder Spalte erleichtern die schnelle Orientierung. Auf der ersten Seite des Index findet sich zusätzlich ein Stempel der K.B. Hof- und Staatsbibliothek München, der auf die bereits erwähnte Übernahme 1803 verweist. Äquivalent hierzu der Vermerk auf der zweiten Seite des Index: Cartusianonem (...) in Buxheim – ein Hinweis auf den vorherigen Aufenthaltsort des Manuskripts, der allerdings nachträglich zur Entstehung des Index hinzugefügt wurde, wie die Unterscheidung der Handschrift und das Überschreiben vorgezeichneter Linien (die ein sonst sehr ordentliches Layout garantieren) belegen. Weiterhin ist den Index betreffend anzumerken, dass die Buchstaben I und J zusammengefasst sind.
Auf den Index folgen dann die Musikstücke bis fol. 121, die jenem ersten Schreiber zuzuorden sind, der auch den Index geschrieben hat (keines der weiteren Stücke der Handschrift ist im Index verzeichnet). Dieser erste Teil des Buxheimer Orgelbuchs zeichnet sich durch eine geplante und ordentliche Arbeit seines Schreibers aus, die sich in einem allgemein gut lesbaren, geradlinigen Schriftbild, den auf jeder Seite vorgezeichneten sechs Akkuladen, und einer genauen räumlichen Zuteilung der simultan erklingenden Stimmen zueinander zeigt.
An dieser Stelle erscheint es angemessen, bereits kurz auf die Notation des Buxheimer Orgelbuchs einzugehen. Es handelt sich um eine allgemein als ältere deutsche Orgeltabulatur bezeichnete Mensuralnotation. Bei dieser Art der Notation ist eine Oberstimme in Noten auf einem siebenzeiligen Liniensystem widergegeben und zwei bis drei weitere Stimmen finden sich in Form von Buchstabenreihen unterhalb. Die Notenwerte reichen von Semifusa über Fusa, Semiminima, Minima, Semibrevis und Brevis, bis hin zur Longa. Im Buxheimer Orgelbuch überwiegen die Werte zwischen Semiminima und Brevis, Longen werden ausschließlich als Schlussnoten verwendet. Man unterscheidet - je nach Farbe der Notenköpfe - zwischen schwarzer und der späteren weißen Mensuralnotation.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.2
Im Falle des B. O. haben wir es bis auf eine Ausnahme mit der schwarzen Mensuralnotation (Abbildung oben links) zu tun. Die ältere deutsche Orgeltabulatur war im großdeutschen Kulturraum des 15.Jh. verbreitet, eine Tatsache, die auch einen ersten Anhaltspunkt zum Alter der Quelle gibt. Aus jener älteren deutschen Orgeltabulatur entwickelte sich später die neuere deutsche Orgeltabulatur, die ganz auf die Verwendung eines Liniensystems verzichtet und alle Stimmen in Form von Buchstabenreihen wiedergibt. Auf Besonderheiten der Notationspraxis im B. O. soll später noch genauer eingegangen werden.
Alle Stücke des ersten Teils sind mit einer durchlaufenden Nummer und ihrem Titel überschrieben, in einigen Fällen tritt noch der Name des Komponisten oder ein Titelzusatz hinzu. Wohl um Platz zu sparen folgen alle Stücke unmittelbar aufeinander, jedes Lied wird mit finis beendet. Die Initialen der Liedtitel sind unterschiedlich groß und einige Titel sind in roter Farbe statt der sonst üblichen Braunen geschrieben; ich selbst konnte jedoch keinen Zusammenhang zu einer etwaigen Bedeutungsordnung erschließen, und auch vorherige Untersuchungen äußern sich hierzu nicht.
Der zweite Schreiber des B. O. führt die Nummerierung seines Vorgängers weiter und trägt die Stücke bis zu Nummer 229 ein. Jenes letzte Stück bleibt unvollendet und auch ansonsten erscheint Schreiber zwei nicht ganz so gewissenhaft. Auffällig ist jedoch die erstmalige Eintragung des Pedalzeichens Pe in der Contertenorstimme von Nummer 225. Die Nutzung des Pedals ergibt sich eigentlich aus der Lage der Unterstimmen zueinander[4]. Da es sich in den seltensten Fällen um eine Abweichung von dieser Regel handelt, stellt der Vermerk Pe meist nur eine Gedächtnisstütze dar.[5]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.3
Nach No. 225 folgen in relativ rascher Folge verschiedene Schreiber, die sich einerseits in ihrer Gewissenhaftigkeit und andererseits in gewissen Eigenarten bezüglich Schreibstil oder auch Notation unterscheiden. Schreiber drei fällt beispielsweise durch seine ungewöhnlichen, häufigen custos - Zeichen auf, außerdem hat er sich bei Nr. 230 verschrieben. Der Vierte Schreiber ist für fol. 124 bis 158 verantwortlich. Kennzeichnend für ihn sind Fähnchen zwischen den Noten, die eine längere, zusammengehörige Sequenz anzeigen. In großer Hast war wohl Schreiber Nummer fünf am Werk: fol. 158 trägt keinen Titel, ist unvollständig und fällt durch Streichungen auf.
[...]
[1] vgl. Schwindt, Nicole. Quellen. In: Finscher, Ludwig. (Hrsg.). MGG2. Teil 1. Bd. 7 Kassel und Stuttgart. 1994 ff.
[2] ebd, Sp. 1948
[3] Staehelin, Martin. Buxheimer Orgelbuch. In: Finscher, Ludwig. (Hrsg.). MGG2. Teil 1.Bd. 2. Kassel und Stuttgart. 1994 ff. Sp. 286-288
[4] siehe 5.1. „Der modus organizandi“
[5] weiterführende Gedanken zur Pedalnutzung finden sich bei Zöbeley, Hans Rudolf. Die Musik des Buxheimer Orgelbuchs. In: Thrasybulos G. Georgiades (Hrsg.). “Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte“. Bd. 10. Tutzing. 1964. S.85 ff
- Quote paper
- Jennifer Ruwe (Author), 2005, Notation und Spielvorschrift im Buxheimer Orgelbuch, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38006
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