Wie sieht die familiäre Lebenssituation von Kindern aus, die in einer alkoholbelasteten Familie aufwachsen? Welchen Einfluss kann eine elterliche Alkoholabhängigkeit auf das Familiensystem nehmen und welche Konsequenzen ergeben sich für die Kinder daraus? Welche physischen sowie psychischen Auswirkungen können aus einer alkoholgeprägten Umgebung heraus resultieren und mit welchem Verhalten reagieren die Kinder auf dieses alkoholbelastete Umfeld?
Es geht in dieser Arbeit darum, eine differenzierte Sicht auf die Lebenssituation der betroffenen Kinder zu erlangen, damit diese Erkenntnisse sowohl praktisch als auch theoretisch in die Soziale Arbeit einfließen können. Eine weitere zentrale Frage ist, welche Unterstützungsmöglichkeiten es für die betroffenen Kinder gibt und welche Schwierigkeiten sich in der Arbeit mit Kindern aus alkoholbelasteten Familien ergeben.
Außerdem soll das Präventionsprogramm „Trampolin“ dargestellt und anhand der Wirksamkeitsstudie geklärt werden, welche Ziele dieser Intervention erreicht werden konnten. Dieses Programm zu berücksichtigen erscheint sinnvoll, da es als die erste standardisierte und innovative Präventionsmaßnahme für Kinder aus suchtbelasteten Familien in Deutschland gilt.
Inhaltsverzeichnis
2. Grundlegende Begriffsbestimmungen
3. Alkoholabhängigkeit im familiären Kontext
3.1 Familie aus systemischer Sicht
3.2 Elterliche Alkoholabhängigkeit und die Auswirkungen auf das Familiensystem
3.3 Merkmale und Bedingungen einer alkoholbelasteten Familie
3.5 Alkoholabhängigkeit der Mutter
3.6 Alkoholabhängigkeit des Vaters
4. Kinder alkoholabhängiger Eltern
4.1 Elterliche Alkoholabhängigkeit und die Auswirkungen auf die Kinder
4.2 Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern aus alkoholbelasteten Familien
4.2.1 Aufmerksamkeitsstörungen mit Hyperaktivität
4.2.2 Störungen des Sozialverhaltens
4.2.3 Intelligenz und sprachliche Fähigkeiten
4.2.4 Schulleistungen und -verhalten
4.3 Depressionen und Angststörungen
4.4 Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD) / Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS)
4.5 Misshandlung, Vernachlässigung, Missbrauch
4.6 Psychische Rollenmodelle – die kreative Anpassung der Kinder
4.6.1 „Der Held“
4.6.2 „Das schwarze Schaf“/ „Der Sündenbock“
4.6.3 „Das stille Kind“
4.6.4 „Der Clown“
5. Sozialarbeiterische Unterstützung für Kinder aus alkoholbelasteten Familien
5.1 Situation in Deutschland
5.2 Systematik der Unterstützungsleistungen
5.3 Verortung der Unterstützungsleistungen
5.3.1 Stationäre Angebote
5.3.2 Ambulante Angebote
5.3.3 Angebote der Suchtselbsthilfe
5.3.4 Internetangebote
5.4 Probleme der Unterstützungsleistungen auf persönlicher und familiärer Ebene
5.5 Probleme auf der strukturellen Ebene
6. Das Trampolin-Programm
6.1 ‚Resilienz‘ als Grundlage für das Trampolin-Programm
6.2 Das Trampolin-Programm
6.2.1 Ziele und Inhalte
6.2.2 Rahmenbedingungen
6.2.3 Wirksamkeit
7. Zusammenfassung und Schlussfolgerung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In Deutschland ist Alkoholkonsum als Genussmittel fest in unserer Kultur verankert und im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen der Alkoholkonsum religiös sanktioniert wird, ist die Zahl des Alkoholmissbrauchs wesentlich höher (Seitz et al. 2013, 44). So betreiben etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland Alkoholmissbrauch und etwa 1,3 Millionen Menschen gelten als alkoholabhängig (Seitz et al. 2013, 20). Dass diese Personengruppen auch Kinder haben, wurde lange übersehen. So galten ‚Kinder aus alkoholbelasteten Familien‘ lange als die ‚vergessenen Kinder‘ und erst seit den 1980er Jahre stehen die Kinder suchtkranker Eltern mehr und mehr im Fokus der (Fach-) Öffentlichkeit (Arenz-Greiving 2007, 43). Mit dazu beigetragen haben auch die Pionierarbeiten von Wegscheider (1988), Woititz (2011) und Lambrou (2013), die zwar eher im populärwissenschaftlichen Bereich anzusiedeln sind, aber dadurch das ‚vergessene Thema‘ seit Beginn der 1980er Jahre sowohl in die Fachöffentlichkeit als auch in der allgemeinen Bevölkerung verbreitet haben (Zobel 2006, 13 ff.).
Bei den ‚vergessenen Kindern‘ handelt es sich in Deutschland um etwa 2,65 Millionen Kinder (unter 18 Jahren), die von elterlichem Alkoholmissbrauch oder einer elterlichen Alkoholabhängigkeit betroffen sind (Moesgen 2013, 19), nach Angaben des EMCDDA-Monitoring-Centre for Drugs and Drug Addiction (2008, 20) sogar 5-6 Millionen (Kinder unter 20), die ein oder auch zwei alkoholabhängige Elternteile haben. Es sollte ins Bewusstsein der (Fach-) Öffentlichkeit gerückt werden, dass eine elterliche Alkoholabhängigkeit zu den gefährlichsten Risikofaktoren für eine gesunde psychische und physische kindliche Entwicklung zählt (Klein, 2008a, 114).
Besonders Kinder aus alkoholbelasteten Familien können nicht eigenständig entscheiden, welche Lebensformen ihren Wünschen entsprechen, dabei prägen die Familienerlebnisse die Kinder für das gesamte Leben. Sie sind allgemein auf ihre Eltern angewiesen und dadurch entstehen häufig ‚Loyalitätskonflikte‘, die wiederum zur Geheimhaltung ihrer familiären Erlebnisse führt. Daher scheint aus Sicht der Sozialen Arbeit eine Sensibilisierung für die Lebenslage von Kindern aus alkoholbelasteten Familien umso wichtiger, damit zum einen die betroffenen Kinder von Fachkräften rechtzeitig wahrgenommen und zum anderen daran anschließend wirksame Hilfen installiert werden können.
Resultierend aus dem dargelegten Hintergrund stellt sich die Frage, wie die familiäre Lebenssituation von Kindern, die in einer alkoholbelasteten Familie aufwachsen, aussieht. Welchen Einfluss kann eine elterliche Alkoholabhängigkeit auf das Familiensystem nehmen und welche Konsequenzen ergeben sich für die Kinder daraus. Es wird der Frage nachgegangen, welche physischen sowie psychischen Auswirkungen aus einer alkoholgeprägten Umgebung heraus resultieren können und mit welchem Verhalten die Kinder auf dieses alkoholbelastete Umfeld reagieren. Es geht in der vorliegenden Arbeit darum, eine differenzierte Sicht auf die Lebenssituation der betroffenen Kinder zu erlangen, damit diese Erkenntnisse sowohl praktisch als auch theoretisch in die Soziale Arbeit einfließen können. Eine weitere zentrale Frage ist, welche Unterstützungsmöglichkeiten es für die betroffenen Kinder gibt und welche Schwierigkeiten sich in der Arbeit mit Kindern aus alkoholbelasteten Familien ergeben. Außerdem soll das Präventionsprogramm „Trampolin“ dargestellt und anhand der Wirksamkeitsstudie geklärt werden, welche Ziele dieser Intervention erreicht werden konnten. Dieses Programm zu berücksichtigen erscheint sinnvoll, da es als die erste standardisierte und innovative Präventionsmaßnahme für Kinder aus suchtbelasteten Familien in Deutschland gilt.
Um diesen Fragen nachzugehen, werden vorab in Kapitel 2 grundlegende Begriffsbestimmungen zu den verschiedenen Konsumformen von Alkohol geklärt.
In Kapitel 3 wird die Alkoholabhängigkeit im familiären Kontext dargestellt. Die systemische Betrachtungsweise einer Familie wird dabei als Grundlage vorgestellt, um besser beleuchten und nachzuvollziehen zu können, welche Auswirkungen die Alkoholabhängigkeit auf das System Familie hat. Weiterhin wird untersucht, ob es bestimmte Merkmale für alkoholbelastete Familien gibt und welche Familienregeln dort herrschen. Außerdem wird betrachtet, welche spezifischen Auswirkungen eine Alkoholabhängigkeit der Mutter oder des Vaters hat und welche Rolle der nicht abhängige im Familiensystem vor dem Hintergrund eines co-abhängigen Verhaltens spielt.
In Kapitel 4 stehen die Kinder alkoholabhängiger Familien im Vordergrund. Es wird untersucht, welche Auswirkungen die Alkoholabhängigkeit der Eltern- (teile) in Hinblick auf Verhaltensauffälligkeiten, medizinische Auswirkungen, erzieherische Auswirkungen und mögliche Reaktionen der Kinder durch verschiedene psychische Rollenmodelle haben kann.
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen werden in Kapitel 5 die möglichen Unterstützungsleistungen in Deutschland aufgezeigt. Mit dem Ziel, einen ersten Überblick zu erhalten, soll zu Beginn des Kapitels untersucht werden, welche Unterstützungsleistungen zu den ersten Angeboten in Deutschland zählen. Um den theoretischen Kontext dieser Unterstützungsleistungen zu erläutern, wird dazu die Systematik der Hilfen dargestellt. Daran anschließend erfolgt eine Verortung der verschiedenen Unterstützungsleistungen, um schließlich der Frage nachzugehen, welche Probleme auf persönlicher, familiärer und auch struktureller Ebene auftreten können.
In Kapitel 6 wird als eine mögliche ambulante Unterstützungsmöglichkeit das Präventionskonzept „Trampolin“, das auf Basis einer Ausschreibung des Bundesministeriums für Gesundheit entwickelt wurde, vorgestellt. Auch der dem Konzept zugrunde liegende Resilienzansatz wird dargestellt.
Zum Schluss werden in Kapitel 7 die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammengefasst, um abschließend wichtige Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit mit dem Ziel der Hilfe für Kinder aus alkoholbelasteten Familien zu ziehen.
2. Grundlegende Begriffsbestimmungen
Im folgenden Kapitel werden die Begriffe Alkoholkonsum, -missbrauch und -abhängigkeit definiert.
2.1 Alkoholkonsum
Alkohol kann aus dem spanisch-arabischen ‚al-kuhl‘ hergeleitet werden und bezeichnet im Allgemeinen Ethanol, welches zur Gruppe der aliphatischen Alkohole gehört und auf Grund der narkotisierenden Wirkung den Betäubungsmitteln zugeordnet werden kann. Alkohol ist als kulturhistorisches Gut einzuordnen, weil beispielsweise die alten Ägypter schon vor circa 3000 vor Christus um die berauschende Wirkung des Alkohols wussten. Bis heute ist es vor allem in den westlichen Ländern sehr verbreitet. So belegt Deutschland einen der Spitzenplätze beim Pro-Kopf-Konsum und speziell beim jährlichen Bierkonsum liegen die Deutschen mit circa 140 Litern pro Jahr sogar auf Platz drei (Schandry 2011, 429).
Es gibt bestimmte Grenzwerte, die den Alkoholkonsum in risikoarm, gefährlich und hoch differenzieren. Der risikoarme Konsum liegt demnach bei bis zu 24 Gramm reinem Alkohol bei Männern und bei bis zu 12 Gramm reinem Alkohol pro Tag für Frauen. Dies würde für Frauen am Tag in etwa ein Glas Bier á 0,33 l bedeuten, für Männer demnach circa das Doppelte. Riskanter Konsum fängt bei 24 g reinem Alkohol bei Männern und für Frauen bei 12 g reinem Alkohol pro Tag an. Hochkonsum bezeichnet eine tägliche Alkoholmenge von 120 Gramm Reinalkohol bei Männern und mehr als 80 Gramm Reinalkohol bei Frauen.
Auch wenn die Zahl des Pro-Kopf Konsums gemessen in reinem Alkohol in Deutschland gesunken ist, belegt Deutschland im weltweiten Vergleich weiterhin einen Spitzenplatz, wie auch am Anfang des Kapitels erwähnt (Seitz et al. 2013, 15ff.).
2.2 Alkoholmissbrauch
Der Alkoholmissbrauch ist im DSM-IV definiert und wird folgendermaßen eingegrenzt: „Alkoholmissbrauch nach DSM-IV ist gekennzeichnet durch ein unangepasstes Muster von Alkoholgebrauch, das in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigungen oder Gefährdung in einem der folgenden vier Bereiche führt: Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder zu Hause; körperliche Gefährdung durch Konsum in Gefahrensituationen; Probleme mit dem Gesetz aufgrund des Konsums¸ wiederholte soziale oder zwischenmenschliche Probleme aufgrund des Alkoholkonsums“ (Scheurich/Brokate 2009, 2).
Der schädliche Gebrauch ist gemäß ICD-10-Code definiert als eine tatsächliche Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit, bedingt durch Alkoholkonsum (Seitz et al. 2013, 54).
2.3 Alkoholabhängigkeit
Die Alkoholabhängigkeit ist seit 1968 als Krankheit vom Bundessozialgericht der Bundesrepublik Deutschland als Krankheit definiert. Es gibt ein Hauptkriterium der Alkoholabhängigkeit; und zwar die Unmöglichkeit, den Konsum zu kontrollieren oder einzuschränken.
Falls der Konsum dennoch eingeschränkt wird, ist mit körperlichen Entzugssymptomen zu rechnen und es findet eine Toleranzsteigerung gegenüber dem Alkohol statt. Des Weiteren stehen Verpflichtungen und auch Vergnügungen eher an zweiter Stelle, denn sowohl Besorgung als auch Konsum nehmen einen immer größeren Stellenwert ein (Seitz et al. 2013, 55).
3. Alkoholabhängigkeit im familiären Kontext
In diesem Kapitel geht es um die Lebenssituation von Kindern, die durch eine elterliche Alkoholabhängigkeit betroffen sind. Zunächst wird der Begriff ‚Familie‘ aus systemischer Sicht erläutert und das heutige Verständnis von Familie und deren Aufgaben beschrieben. Des Weiteren folgen Auswirkungen der Alkoholabhängigkeit auf das gesamte Familiensystem.
Ferner wird sich die Schilderung der Merkmale einer alkoholbelasteten Familie daran anschließen, um dann zu möglichen verschiedenen Familienregeln überzugehen. Weiterhin werden die spezifischen Auswirkungen einer mütterlichen und väterlichen Alkoholabhängigkeit näher beleuchten. Im letzten Kapitel wird der Begriff Co-Abhängigkeit nach dem heutigen Verständnis erklärt, da eine Auseinandersetzung über die Auswirkungen auf die nicht alkoholerkrankten Familienmitglieder auch für die Praxis von Bedeutung ist.
3.1 Familie aus systemischer Sicht
Ein System wird erst durch den Beobachter, der dieses System vom Äußeren (der Umwelt) zum Inneren (im System) unterscheidet, erkennbar. Die Individuen halten dabei an bestimmten Verhaltensweisen fest, denn sie haben ein Bedürfnis nach einer bestimmten Ordnung, damit es ihnen überhaupt möglich ist, sich in diesen dynamischen Systemen zurechtzufinden. In der Kybernetik erster Ordnung, welches ein wissenschaftliches Programm darstellt, um zu beschreiben, wie komplexe Systeme geregelt und gesteuert werden, geht man davon aus, dass die Bildung von Subsystemen ab einem bestimmten Komplexitätsgrad zu Stabilität führt beziehungsweise, dass ohne entstehende Subsysteme Stabilität verloren geht. Klare Grenzen zwischen den Subsystemen sind von Bedeutung: Zwischen den Eltern und den Geschwistern, also den Kindern, sollte eine natürliche Grenze bestehen, die durch den erzieherischen Auftrag gegeben ist. Die Entscheidungen liegen bei den Eltern, ohne die Kinder zu entmündigen. Eine Aufhebung dieser Grenzen kann sich zum Beispiel in Form einer Parentifizierung zeigen.
In Familien gelten bestimmte Regeln wie zum Beispiel: „in dieser Familie wird nicht über die innere Gefühlswelt gesprochen“; solche Regeln können Einschränkungen der Verhaltensvielfalt mit sich bringen (Schlippe/Schweitzer 2009, 53 ff.).
In der Familie gibt die sogenannte Bindungskommunikation den einzelnen Familienmitgliedern ein Verbundenheitsgefühl. Die Kommunikation basiert folglich weniger auf einer Inhaltsebene sondern eher auf einer emotionalen Ebene. Die Familienmitglieder erhalten durch diese Kommunikationsebene Gefühle der Stabilität und Sicherheit und versichern sich, […] „dass ihre Beziehungswelt in Ordnung ist. Dass in unglücklichen Familien gerade ständig darum gerungen wird, wie man zueinander steht, unterstreicht die Bedeutung der Bindungskommunikation“ (Schlippe/Schweitzer 2012, 131). In einer Familie können sich die einzelnen Individuen als Ganzes begreifen und sind nicht nur bestimmten Rollen unterlegen, wie es zum Beispiel im Alltag der Fall ist, als Käufer oder Ähnliches. „Dieser Ganzheitsanspruch stellt das Heilversprechen des Familienbegriffs, zugleich aber sein größtes Risiko dar“ (Schlippe/ Schweitzer 2012,131).
Für die Familie entstehen verschiedene Aufgabenstellungen und mit der Aufgabenverteilung gehen auch bestimmte Konflikte einher (Uhlendorff/Euteneuer/Sabba 2013, 49). Die alltäglichen Verpflichtungen wie die Erledigung des Haushalts, der Kindererziehung und der Berufstätigkeit müssen abgesprochen und organisiert werden. Ziel ist dabei grundsätzlich, eine Balance im Sinne aller Familienmitglieder herzustellen. Hinzu kommt das Abstimmen von Zeitstrukturen im Alltag und von Erwartungen und Bedürfnissen in der Partnerschaft. Außerdem müssen sich Eltern darüber Gedanken machen, welche Erziehung sie anstreben und wie bestimmte Erziehungsvorstellungen in der Praxis umgesetzt werden können. Diese vier genannten Themen stellen eine große Herausforderung für die Familien dar. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie komplex ein Familiensystem ist, welche unterschiedlichen Konfliktthemen auftreten können und wie schwierig es ist, eine Balance zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, den eigenen Bedürfnisse, Vorstellungen und äußeren Gegebenheiten herzustellen (Uhlendorff/Euteneuer/Sabba 2013, 48 ff.), dann wird ersichtlich, wie komplex die Situation für Familien ist, in denen zusätzliche eine Alkoholproblematik herrscht. Sucht ist demnach ein „ […] systemischer, also zirkulärer Prozess: Der Konsum einer psychoaktiven Substanz wirkt sich im Hinblick auf Veränderungs- und Anpassungsprozesse auf vielen systemischen Ebenen aus und wird seinerseits von Reaktionen auf diesen Ebenen beeinflusst“ (Rennert 2012, 40).
3.2 Elterliche Alkoholabhängigkeit und die Auswirkungen auf das Familiensystem
Die elterliche Alkoholabhängigkeit führt zu intrafamilialen Veränderungen und zeigt sich neben Rollenveränderungen in einer negativen Familienatmosphäre. Sie ist durch Instabilität, Disharmonie, Unberechenbarkeit und Anspannung gekennzeichnet (Klein 2008a, 122). Die Auswirkungen auf das Familiensystem können durch das Bild eines Mobiles veranschaulicht werden. Diese Betrachtungsweise wurde schon von Wegscheider (1988, 52 ff.) verwendet und zwar wird sie als eine hoffnungsvolle Sicht beschrieben, weil an vielen Punkten angesetzt werden kann, um Veränderungen zu erreichen. Zobel (2008, 69 f.) betrachtet die Familie, in der eine Alkoholabhängigkeit auftritt, sowohl als Ganzes, also als ein System, aber auch in Hinblick auf einzelne Individuen, die über eine eigene Gedanken- und Gefühlswelt verfügen. Wie die Einzelteile eines Mobiles so sind auch die Familienmitglieder miteinander verbunden, zum Beispiel durch Traditionen oder bestimmte Familienregeln. Wenn ein Familienmitglied durch Alkoholabhängigkeit belastet wird, dann wirkt sich das auf die anderen Familienmitglieder aus. Bildlich gesprochen bewegen sich die anderen Teile durch die entstehende Last mit und versuchen eine Balance herzustellen. Dabei kann sich jedes Familienmitglied auf seine individuelle Weise an der Herstellung der Balance beteiligen. Häufig reagieren die anderen Familienmitglieder zunächst so wie bei einer anderen Erkrankung auch, und zwar mit Rücksichtnahme und Verständnis. Aufgaben des Erkrankten werden in der Hoffnung übernommen, dass sich die Situation möglichst schnell wieder normalisiert (Zobel 2008, 69 f.). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Alkoholabhängigkeit auch im Kontext der Familie betrachtet werden muss.
Die Reaktionen der Familienmitglieder hängen laut Feuerlein (2008, 63) von der Phase des Alkoholismus ab. In der Frühphase nehmen die Familienmitglieder die Zeichen der Alkoholabhängigkeit noch nicht richtig wahr. Da es sich bei einer Suchterkrankung um eine meist schleichende und langwierige Erkrankung handelt, bei der die bisherigen Bewältigungsmuster nicht mehr funktionieren, stehen die Familienmitglieder vor einer großen Herausforderung. Die Herausforderung wird zu einem frühen Zeitpunkt in ihrem Ausmaß noch nicht unbedingt erkannt (Zobel 2008, 69 f.). Mit fortschreitender Erkrankung und den spürbaren Auswirkungen der Alkoholabhängigkeit reagieren die einzelnen Familienmitglieder häufig ambivalent. Die Reaktion ist abhängig von der Verfassung des erkrankten Familienmitglieds und wechselt zwischen Sympathie oder Antipathie (Feuerlein 2008, 63). Vor allem die Kinder werden zu Reagierenden, die genau erkennen, auf welchem Alkoholpegel sich der Vater oder die Mutter gerade bewegt, und zielen ihr Verhalten auf die gerade vorherrschende Stimmungslage ab (Lambrou 2012, 47). In der kritischen Phase des Alkoholismus entstehen neue Rollenmuster, weil die abhängige Person zunehmend ihre Funktionsfähigkeit verliert und bestimmte Aufgaben nicht mehr weiter übernehmen kann, so dass die anderen Familienmitglieder diese Lücke füllen müssen. Weiterhin geschieht in dieser Phase häufig eine emotionale Abwendung zum erkrankten Elternteil und nicht selten entstehen Scheidungsgedanken auf Grund von häufigen Streitereien. In der chronischen Phase manifestiert sich sowohl die emotionale Abwendung als auch die Veränderung der Rollen (Feuerlein 2008, 63 f.). Hier folgt ein Zitat eines betroffenen Kindes, welches ein Beispiel für die veränderten Rollen im Familienhaushalt gibt und einen Eindruck darüber vermittelt, wie die Kinder diese wahrnehmen: „Während ich die Kinder draußen auf der Straße spielen hörte, robbte ich auf allen Vieren mit dem Schrubber durchs Haus und putze. Ich erinnere mich noch an die Getränkekiste, die unter meinen Füßen stand, damit ich bis zum Waschbecken reichte. Ich erinnere mich an die nicht enden wollenden Abwaschberge und daran, dass ich heulend am Becken stand und mich so unglaublich müde fühlte. Meine Mutter sagte immer, ich solle mich nicht beschweren, dass ich so spät ins Bett kommen würde, schließlich habe ich erst nach dem Abendessen angefangen, und es wäre nicht ihre Schuld, wenn ich mich permanent in eine andere Welt träumte und trödelte (Koch 2010, 41).
Dieses Phänomen wird auch als ‚Parentifizierung‘ bezeichnet. Die Kinder übernehmen, resultierend aus der Tatsache, dass die Eltern nicht in der Lage sind, ihrem erzieherischen Auftrag nachzukommen, Eltern- oder Partnerrollen. Auf der einen Seite erleben die Kinder unklare und diffuse Grenzen innerhalb der eigenen Familien, auf der anderen Seite erleben sie die ausgeprägte Abgrenzung nach außen. Das Familiensystem gerät durcheinander und im Extremfall verliert es jegliche Stabilität und Ordnung (Klein 2008a, 122).
Es kann folglich festgehalten werden, dass die Alkoholabhängigkeit weitreichende Folgen für das gesamte Familiensystem mit sich bringt. Zusätzlich müssen sich alle einzelnen Familienmitglieder mit der veränderten Situation arrangieren und dadurch verändern sich die Rollen aller Familienmitglieder: „Das Suchtsystem betrifft alle Personen in der Familie. Nicht nur der Einzelne – am Anfang die süchtige Person – ist krank, sondern das System Familie selbst. Die Sucht z.B. des Vaters prägt auch das Verhalten der Mutter, die Kinder müssen angemessen auf beide reagieren“ (Lambrou 2012, 24). Auch Arenz-Greiving (2013, 23) betont, dass sich die Alkoholproblematik gravierend auf alle Familienmitglieder auswirkt und sich das unter anderem bei den Rollenverständnissen und Rollenzuweisungen zeigt.
In der Literatur, so Woititz (2011, 8) und Lambrou (2012, 23), werden Kinder alkoholkranker Eltern als Opfer dieser Familienkrankheit gesehen, gerade weil sie kaum Möglichkeiten haben, sich den Gegebenheiten zu entziehen.
3.3 Merkmale und Bedingungen einer alkoholbelasteten Familie
Gesellschaftlich scheint sich eine elterliche Suchterkrankung nicht mit guter Elternschaft verbinden zu lassen. Suchterkrankte werden sehr negativ wahrgenommen und gelten häufig als ‚verwahrloste Menschen‘; dieses Bild wird auch durch die Medien vermittelt und verzerrt die Realität, denn wenige Eltern entsprechen wirklich diesem Stereotyp (Mayer 2008, 414). Mayer (2008, 415) macht deutlich, dass es sich bei einer suchtbelasteten Familie um eine individuelle Lebenssituation handelt: „Sicher ist, dass es die homogene oder stereotype Suchtfamilie nicht gibt“; und weiterhin macht er auf eine Besonderheit aufmerksam, die in der Beschäftigung mit Suchtfamilien zu beachten ist: „Bei all dem, was bisher über die Familien von Suchtkranken gesagt worden ist, ist zu beachten, dass alle Befunde und Berichte aus Familien stammen, die bereit waren, sich in Beratung oder Behandlung zu begeben. Es fehlt ein Vergleich zu Kontrollgruppen, was eigentlich jede wissenschaftlich begründete Aussage zwingend vorschreibt. Somit ist immer wieder deutliche Zurückhaltung zu üben, diese Beobachtungen verallgemeinern zu wollen“ (Mayer 2008, 415). Alkoholabhängigkeit kann nicht einer bestimmten Schicht zugeordnet werden, sondern ganz im Gegenteil: Alkoholabhängigkeit findet sich in allen Schichten und Berufsgruppen. Daraus geht hervor, dass die Alkoholabhängigkeit als einziges gemeinsames Merkmal zwischen verschiedenen alkoholbelasteten Familien zu sehen ist (Lambrou 2013, 30).
Trotzdem lassen sich Bedingungen finden, die in alkoholbelasteten Familien häufiger anzutreffen sind. Dazu gehören bestimmte Rahmenbedingungen wie Arbeitslosigkeit, welche finanzielle Probleme zur Folge haben kann. Die Kinder von unbehandelten suchtbelasteten Eltern gaben dazu an, dass sie die schwierige finanzielle Situation als problematisch empfinden (Klein 2005, 161). Außerdem kommen vermehrt ähnliche Beziehungsgefüge vor wie beispielsweise konflikthafte Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. Die Streitigkeiten der Eltern können dann zu Trennungen und Scheidungen führen; diese Familienstressoren treten vermehrt in Familien aus alkoholbelasteten Familien auf (Zobel 2006, 23). Daraus können sich wiederum bestimmte Strukturbedingungen ergeben. Denn Kinder aus alkoholbelasteten Familien wachsen seltener in klassischen Normalfamilien auf, in denen die leiblichen Eltern mit ihren Kindern zusammenleben. Andere Lebensformen in suchtbelasteten Familien, also Alleinerziehende, Stieffamilien und nicht eheliche Lebensformen, finden sich im Vergleich zur restlichen Bevölkerung häufiger (Klein 2008a, 415), und dies gilt vor allem für Familien mit unbehandelter Alkoholabhängigkeit (Klein 2005, 160). Arenz-Greiving (2013, 23) weist darauf hin, dass die Erkenntnisse über gewisse vorherrschende Strukturbedingungen in alkoholbelasteten Familien gerade in Hinblick auf Unterstützungsleistungen sehr wichtig sind, worauf im 5. Kapitel auch noch näher eingegangen wird. Weiterhin lassen sich bestimmte Folgen für die Kinder aus alkoholbelasteten Familien finden. Nach Woititz (2011, 7ff.) ist durch zahlreiche Untersuchungen beschrieben worden, dass Kinder von alkoholabhängigen Eltern(-teilen) mit emotionaler Kälte, Instabilität, Willkür, unklaren Grenzen, Respektlosigkeit, mangelnder Förderung und fehlendem Interesse auf Seiten der alkoholabhängigen Väter oder Mütter konfrontiert werden. Weiterhin wird durch mehrere Studien bestätigt, dass in dysfunktionalen Familien, worunter Familien mit Alkoholproblematiken zählen, über weniger Problemlösefähigkeit verfügen und eher eine negative und verletzende Kommunikation herrscht (Zobel 2006, 23). Auch wenn es einige Bedingungen gibt, die vermehrt in alkoholbelasteten Familien vorkommen, ist eine differenzierte Sichtweise nötig, damit einer möglichen ‚Stigmatisierung‘, unter denen auch die Kinder leiden, vorgebeugt werden kann (Mayer 2008, 415).
3.4 Familienregeln
In alkoholbelasteten Familien gibt es verschiedene Familienregeln, die hier in diesem Kapitel vorgestellt werden. Wegscheider (1988) benannte sieben typische Familienregeln, die von verschiedenen Autoren, darunter Zobel (2006), Arenz-Greiving (2007), Barnowski-Geiser (2009) und Klein (2008), aufgegriffen werden, woraus sich ableiten lässt, dass die damals entwickelten Familienregeln immer noch von Bedeutung sind. Rennert (2012, 202) zum Beispiel schätzt die Auseinandersetzung mit den Familienregeln für die Praxis als wichtig ein.
Folgende Regeln benennt Wegscheider (1988, 87 ff.):
1. „ Das Wichtigste im Familienleben ist der Alkohol“.
Die Autorin spricht von einem ständigen Kreisen um den Alkoholkonsum des betroffenen Familienmitglieds. Dies kann durch ganz verschiedene Handlungen geschehen, zum Beispiel, indem Familienmitglieder versuchen sich der häuslichen Situation zu entziehen oder dem erkrankten Familienmitglied helfen und zu Hause bleiben und indem sie die Flaschen sowohl suchen als auch leeren, während der Erkrankte sich damit beschäftigt, den Alkohol gut zu verstecken und dabei immer versucht einen gewissen Vorrat bereitzuhalten.
2. „Der Alkohol ist nicht die Ursache des Problems.“
Die entstehende Alkoholabhängigkeit wird zunächst häufig nicht wahrgenommen und im weiteren Verlauf wird die Alkoholabhängigkeit nicht als Ursache für die entstehenden Probleme und Schwierigkeiten gesehen.
3. „Der abhängige Elternteil ist nicht für seine Abhängigkeit verantwortlich, Schuld sind andere oder die Umstände.“
Der Abhängige projiziert seine eigenen Schuldgefühle auf andere Familienmitglieder und/ oder anderen äußeren Gegebenheiten.
4. „Der Status quo muss erhalten bleiben, koste es, was es wolle.“
Diese Familienregel steht allen Veränderungen im Wege; die alkoholkranke Person glaubt, dass sie ohne Alkohol nicht leben kann und versucht das entstandene Familiensystem aufrechtzuerhalten.
5. „Jeder in der Familie ist ein „Enabler“ (Zuhelfer).“
Die Autorin geht davon aus, dass alle Familienmitglieder die Alkoholabhängigkeit im Sinne der Liebe und Loyalität vertuschen, verstärken und sogar unterstützen.
6. „Niemand darf darüber reden, was in der Familie wirklich los ist, weder untereinander noch mit sonst jemandem.“
Der alkoholabhängige Elternteil möchte weder, dass Informationen über die Situation zu Hause nach außen gelangen, noch, dass Familienmitglieder Hilfen und Informationen erhalten.
7. „Niemand darf sagen, was er wirklich fühlt.“
Diese Familienregel kann entstehen, weil die betroffene Person selber so sehr leidet, dass sie nicht in der Lage ist, das Leid der anderen Familienmitglieder noch zusätzlich zu ertragen. Dadurch halten die übrigen Familienmitglieder ihre Gefühle zurück.
Aus den herrschenden Familienregeln resultieren sowohl Folgen für die Kinder als auch für die Familie. Durch die unausgesprochene Familienregel, dass niemand über die Situation zu Hause reden soll, stehen die Kinder mit ihren Beobachtungen und Gefühlen allein da (Lambrou 2012, 34 ff.). Die Alkoholabhängigkeit wird nicht offen als Ursache für die schwierige häusliche Situation benannt, und dies steht einer Veränderungen der Lebensumstände im Wege (2006, 23 f.). Der Alkohol ist aber das bestimmende Element innerhalb der Familie und sowohl die häusliche Atmosphäre als auch die Stimmung ist vom Alkoholkonsum des Erkrankten abhängig.
3.5 Alkoholabhängigkeit der Mutter
Der Anteil von alkoholabhängigen Frauen steigt kontinuierlich an. So hat er sich in den letzten 10 Jahren verdreifacht, häufig kombiniert mit einer Medikamentenabhängigkeit. Weiterhin sind Frauen auch heute noch mehr für Haushalt und Kindererziehung zuständig als Männer, obwohl die Haushaltstätigkeit der Männer im Vergleich zu früher sogar gestiegen ist (Uhlendorff et al. 2013, 50). Aus diesen Tatsachen heraus ergibt sich die Frage was eine mütterliche Alkoholabhängigkeit für die Familien bedeutet. So kann nämlich eine mütterliche Alkoholabhängigkeit als risikoreicher eingeschätzt werden, weil längere Interaktionszeiten und eine engere Mutter-Kind-Bindung zwischen Müttern und ihren Kindern herrscht (Klein 2008a, 1). Die mütterliche Alkoholabhängigkeit geht sowohl mit Konsequenzen für den eigenen Alkoholkonsum einher als auch mit Konsequenzen für den Alltag der Kinder, was durch die oben beschriebene Tatsache, dass viele Frauen mehr für Haushalt und Kindererziehung zuständig sind, begründet sein mag. So kann eine mütterliche Alkoholabhängigkeit zum Beispiel bei den Kindern im Laufe der Zeit dazu führen, dass sie vom gelegentlichem zum regelmäßigen Alkoholkonsum übergehen (Moesgen 2010, 22). Im Bereich des Alltags der Kinder geht die fehlende Funktion der Mutter häufig mit einer Mangelversorgung einher, sodass die Kinder auf sich allein gestellt sind. Die Kinder müssen abhängig von ihrem Alter Haushaltsaufgaben übernehmen und je nach Geschwisterkonstellationen sind sie zusätzlich für die Versorgung der jüngeren Geschwister verantwortlich (Zobel 2008, 45).
3.6 Alkoholabhängigkeit des Vaters
Trotz des Anstiegs alkoholabhängiger Frauen finden sich vermehrt Familien mit einem alkoholabhängigen Vater und einer nicht abhängigen, aber psychisch belasteten Mutter (Klein 2008a, 122). Diese Familienkonstellation bringt Veränderungen hinsichtlich der Rahmenbedingungen und der Rollenverteilung mit sich. Die Veränderung der Rollen und Funktionen, hat wiederum Auswirkungen auf die Beziehungsbedingungen innerhalb der Familie. Zobel (2006, 53) merkt an, dass eine väterliche Alkoholabhängigkeit häufiger zu Arbeitslosigkeit und somit zu finanziellen Problemen führt. Diese Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen innerhalb der Familie scheint an den immer noch vorherrschenden klassischen Rollenverteilungen (s. Kapitel 3.5) zu liegen. Bezüglich der Rollenveränderungen kann eine väterliche Alkoholabhängigkeit dazu führen, dass die Mutter die fehlenden Funktionen des Vaters ersetzen muss. Es liegt dann zum Beispiel in der Verantwortung der Mütter, Entscheidungen zu treffen, Finanzen zu verwalten und den Lebensunterhalt zu bestreiten (Rennert 2012, 88). Wenn die Mutter dieser Doppelbelastung nicht standhält, resultiert möglicherweise eine Überforderung der Kinder daraus, weil diese dann die fehlenden Rollen und Funktionen kompensieren müssen (Lambrou 2012, 100 f.). Des Weiteren verändern sich die Beziehungsbedingungen innerhalb der Familie. Erstaunlich ist, dass Moesgen (2010, 182) im Rahmen ihrer Dissertation herausgefunden hat, dass alle Jugendlichen, die bei der Forschung mit einbezogen waren, eine gute Beziehung zu ihrem alkoholabhängigen Vater hatten. Dies kann daran liegen, dass die Ehefrauen häufig die Verantwortung dafür übernehmen, das Familienleben aufrechtzuhalten und die Funktionsfähigkeit der Familie zu erhalten. Das anfängliche Verständnis der Ehefrauen verwandelt sich oft in kontrollierendes Verhalten um. Die Mutter wird dadurch auch von den Kindern als hart, kontrollierend, abweisend und gereizt empfunden (Zobel 2008, 44f.). Folgendes Zitat beschreibt dieses Gefühl, noch einmal näher: „ Meine Mutter hat immer das ganze Familienleben gemanagt. Sie hat alles geregelt, geguckt, dass alles läuft. Sie hat mich und meine Schwester erzogen. Meine Mutter macht halt Druck, dass mein Vater regelmäßiger zur Arbeit kommt“ (Martina 25 Jahre zitiert in Lambrou 2012, 100). Die Mutter hat also wegen all dieser Verpflichtungen keinen Raum mehr, sich emotional um die Kinder zu kümmern. Im Gegensatz dazu versucht der alkoholabhängige Vater seine Schuldgefühle mit verschiedenen Verhaltensweisen zu kompensieren und fördert mit diesem Verhalten die positiven Erinnerungen (Lambrou 2012, 100 ff.).
Sowohl eine mütterliche (siehe Kapitel 3.5) als auch eine väterliche Alkoholabhängigkeit wirkt sich auf das Trinkverhalten der Kinder aus. Kinder alkoholabhängiger Väter tendieren dazu, vom regelmäßigen Alkoholkonsum zum riskanten Trinkverhalten überzugehen. Des Weiteren hat ein Vergleich zwischen alkoholabhängigen und nicht alkoholabhängigen Vätern ergeben, dass bei Kindern von alkoholabhängigen Vätern mehr Alkoholmissbrauch (23,1% versus 19%) und eher eine Alkoholabhängigkeit (14,3% versus 7,7%) auftritt (Moesgen 2010, 22).
Die Auswirkungen der elterlichen Alkoholabhängigkeit auf das eigene Trinkverhalten gelten als großes Risiko für die Kinder und dieses Thema wird ohne geschlechtsspezifischen Bezug auch im weiteren Verlauf (s. Kapitel 4) noch einmal aufgegriffen.
3.7 Co-Abhängigkeit
Erfahrungsberichte aus den USA stellen den größten Teil der ermittelten Daten her, ansonsten finden sich viele Quellen aus dem populärwissenschaftlichen Bereich zu diesem Thema (Rennert 2012, 28). Nach Flassbeck (2010, 29ff.) ist der Begriff Co-Abhängigkeit seit den 1980er Jahren hier in Deutschland von Fachleuten aufgenommen und diskutiert worden. Die ersten Veröffentlichungen und die dadurch entstandene Sensibilisierung für die Angehörigen von Suchtkranken kommen aus den USA.
Rennert (2012, 28) setzt den Begriff Co-Abhängigkeit in Bezug zu Personen, die mit einer suchtkranken Person zusammenleben, und sieht diese Sichtweise als ursächlich dafür an, dass die Betroffenen von Suchtkranken mehr in den Fokus geraten sind. (Rennert 2012, 223). Auch für Flassbeck (2010, 45) ist die Voraussetzung für eine Co-Abhängigkeit die enge Beziehung zur abhängigen Person. Das Anliegen der co-abhängigen Personen ist es in der Regel lediglich, den Betroffenen zu helfen. Dies geschieht bewusst oder unbewusst. Assfalg (2009, 11) geht in seiner Beschreibung etwas weiter und versteht unter der Hilfe des Co-Abhängigen eher eine Aufrechterhaltung der Abhängigkeit durch bestimmte entwickelte Verhaltensweisen. Rennert (2012, 41) macht deutlich, dass die Auffassungen von Co-Abhängigkeit sehr verschieden sind und dass keine allgemeingültige Definition getroffen werden kann. Jedoch geht sie von dem Verständnis aus, dass die Co-Abhängigen in einer krank machenden Situation gefangen sind und es sowohl interpersonale also auch intrapsychische Dynamiken gibt. Sie distanziert sich deutlich von der Annahme, dass co-abhängige die Alkoholkrankheit verursachen und eine Heilung unter Umständen sogar verhindern (Rennert 2012, 41). Co-abhängige Personen übernehmen die ganze Verantwortung für die abhängige Person, für deren Leben, Gefühle und Probleme. Die co-abhängigen Partner neigen dazu, ihre eigene Gefühlslage abhängig von der jeweiligen Stimmung des Partners zu machen. Sie verlieren ihr Gefühl für sich selbst, sie können nicht mehr zwischen ihren eigenen und den Gefühlen des Partners unterscheiden (Zobel 2006, 79f.). Diese Auffassung teilt auch Rennert (2012, 172): „Die Unterdrückung des Selbst zugunsten des Gefühls, mit dem anderen verbunden zu sein, ist eines der Kennzeichen von Co-Abhängigkeit“. Die vermeintliche Hilfe des Co-Abhängigen sowie das Abfedern der Konsequenzen verhindert eine eigene spürbare Wahrnehmung der Auswirkungen und eine Auseinandersetzung findet somit nicht statt (Knoll 2010, 28).
Um eine ressourcenorientierte Sicht auf die Co-Abhängigkeit zu haben, ist es von Bedeutung, die mit der Co-Abhängigkeit verbundenen Reaktionen erst mal als gesunde Reaktionsweise aufzufassen. Wenn ein Familienmitglied erkrankt, dann reagieren die übrigen Familienmitglieder mit Fürsorge und Mitgefühl. Und dieses Verhalten entspringt aus einer prosozialen und mitfühlenden Haltung gegenüber dem Süchtigen. Leider wird diese Hilfe aber vom abhängigen Partner häufig missbraucht und erfüllt somit nicht die Hoffnung der Angehörigen, dass sich das Verhalten des Süchtigen und die Familiensituation verbessern (Flassbeck 2010, 29 ff.). Auch Knoll (2010, 125f.) beschreibt die Reaktionen der Familienangehörigen im Zusammenleben als zentrale Tugenden, bestehend aus Nächstenliebe, Solidarität und Hilfsbereitschaft. Knoll beschreibt es zwar nicht direkt als Ressource, sieht aber folglich auch in der Reaktion der Angehörigen eine gesunde oder normale Reaktion. Flassbeck (2010, 45) und Knoll (2010, 125 f.) sind sich einig darüber, dass die co-abhängigen Personen eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Krankheit und das Wahrnehmen der Folgen seitens des Abhängigen eher verhindern als fördern. Die Motivation, das eigene Suchtverhalten zu verändern, findet ihren Ursprung darin, das Suchtproblem und dessen negative Konsequenzen wahrzunehmen und sich der Entwicklungen bewusst zu werden. Weil der co-abhängige Partner dies aber eher verhindert, kann diesem Verhalten eine suchtfördernde Wirkung nachgesagt werden (Aßfalg 2009, 20).
- Arbeit zitieren
- Annabell Hupperich (Autor:in), 2014, Kinder aus alkoholbelasteten Familien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/378545
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