„Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden“ (Grundgesetz 2002), heißt es in Artikel 9 des Grundgesetzes und stellt damit die Grundlage für das heutige Verbands- und Vereinswesen. Die Tradition der organisierten Verbände hat in Deutschland eine vergleichsweise kurze Geschichte. Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert waren zwar verschiedene Organisationen wie der Deutsche Handels- und Gewerbeverein von 1819 oder der Börsenverein des deutschen Buchhandels von 1825 zu verzeichnen, allerdings mangelte es diesen an Struktur und einem passenden Apparat. Bismarcks Sozialistengesetze hemmten zusätzlich die Entwicklung von Verbänden, so dass sich erst nach 1890 Gewerkschaften als Großorganisationen etablieren konnten. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der verbandlichen Neukonstituierung begann auch die Erfolgsgeschichte der deutschen Interessengruppen, deren Grundlage nun felsenfest durch Artikel 9 im Grundgesetz verankert war und immer noch ist.
Ein halbes Jahrhundert später sind die modernen Interessenverbände und der oft gescholtene "Lobbyismus" aus dem Alltag deutscher Politik nicht mehr hinwegzudenken. Auch die beinahe stetige Präsenz der Gewerkschaften in den Medien wirft die Frage auf, wer in Deutschland eigentlich die Fäden in der Hand hält. Wo kommt verbandlicher Einfluss überhaupt zu tragen und wer sind eigentlich die Adressaten? Verfügen Interessengruppen in der BRD über Mittel die deutsche Politik mitzubestimmen oder vielleicht sogar zu leiten?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Adressaten des verbandlichen Einflusses
2.1 Bundesregierung
2.2 Parlament
2.3 Parteien
2.4 Medien / Öffentliche Meinung
3. Methodik des verbandlichen Einflusses
3.1 Lobbyismus
3.2 Medien
3.3 Personelle Durchdringung
3.4 Finanzielle Unterstützung
3.5 Stimmenpakete
4. Problematisierung des verbandlichen Einflusses
4.1 Die Korporatismus-Theorie
4.2 Kritik an der Korporatismus-Theorie
5. Fazit und Ausblick
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden“ (Grundgesetz 2002), heißt es in Artikel 9 des Grundgesetzes und stellt damit die Grundlage für das heutige Verbands- und Vereinswesen. Die Tradition der organisierten Verbände hat in Deutschland eine vergleichsweise kurze Geschichte. Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert waren zwar verschiedene Organisationen wie der Deutsche Handels- und Gewerbeverein von 1819 oder der Börsenverein des deutschen Buchhandels von 1825 zu verzeichnen, allerdings mangelte es diesen an Struktur und einem passenden Apparat. Bismarcks Sozialistengesetze hemmten zusätzlich die Entwicklung von Verbänden, so dass sich erst nach 1890 Gewerkschaften als Großorganisationen etablieren konnten. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der verbandlichen Neukonstituierung begann auch die Erfolgsgeschichte der deutschen Interessengruppen, deren Grundlage nun felsenfest durch Artikel 9 im Grundgesetz verankert war und immer noch ist. Das florierende Verbandswesen der Nachkriegszeit brachte Theodor
Eschenburg bereits im Jahre 1955 auf die Frage nach einer „Herrschaft der Verbände?“ (Eschenburg 1955). Die Zeiten des tatsächlichen Booms folgten jedoch erst in den sechziger und siebziger Jahren. Inzwischen verzeichnen die Verbände, insbesondere die Gewerkschaften, zwar einen Rückgang von Mitgliedern, allerdings vergeht kein Tag, an dem nicht der Name eines Gewerkschaftsfunktionärs in der Tagespresse auftaucht. Die Frage nach der Herrschaft der Verbände stellt sich auch heute noch. Gerade die beinahe stetige Präsenz der Gewerkschaften in den Medien wirft die Frage auf, wer in Deutschland eigentlich die Fäden in der Hand hält. Ausgerüstet mit Kampfmitteln wie Streik und Lobbyismus scheinen gerade die Arbeitnehmerverbände einen oftmals entscheidenden Trumpf gegenüber der Politik in der Hand zu haben. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist somit folgende: Verfügen Interessengruppen in der BRD über Mittel die deutsche Politik mitzubestimmen oder vielleicht sogar zu leiten? Zur Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden zunächst eine Bestandaufnahme durchgeführt werden, die die Adressaten verbandlichen Einflusses und die Methodik der Interessengruppen umreißt. Zur Klärung der Fragestellung wird der Einfluss der Verbände dann mit Hilfe der Korporatismus- Theorie beleuchtet, die Kritikpunkte an dem Konzept berücksichtigt und das daraus resultierende Fazit vorgestellt. Sowohl der Begriff Interessenverband, -organisation und -gruppe als auch Verband, beschreiben hier Institutionen, die für ihre Mitglieder gegenüber der Öffentlichkeit, dem Staat und anderen Verbänden, Einfluss nehmen wollen.
2. Adressaten des verbandlichen Einflusses
2.1 Bundesregierung
„Primäre Adressaten verbandlicher Einflussnahme sind die staatliche Verwaltung und die politische Exekutive, und noch immer sind Sachverstand und Information die wichtigsten Ressourcen von Verbänden“ (Sebaldt 1997: 254). Neben dem Bundeskanzler gelten die Ministerien und Bundesämter als wichtigste Anlaufstellen für Interessenverbände. Von 1948 bis 1958 richtete der BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.) 82,8 Prozent seiner Eingaben an Ministerien und Bundesämter, von 1985 bis 1986 kamen 67,2 Prozent der 232 BDI-Eingaben den Bundesministerien und Bundesämtern zu (Rudzio 2003, 94). Bei anderen Spitzenverbänden sind ähnliche Tendenzen zu erkennen. Da die meisten Gesetzesentwürfe unter der Federführung der Ministerien und Bundesämter entstehen, liegt es nahe, dass die Verbände ihre Kräfte auch an diesen Stellen bündeln. Ihr Ziel ist es dabei so früh wie möglich am Gesetzgebungsprozess teilzuhaben und gegebenenfalls mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln einzugreifen. Die Grundlage hierfür liefert §24 der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO II):
„Bei der Vorbereitung von Gesetzen können die Vertretungen der beteiligten Fachkreise oder Verbände unterrichtet und um Überlassung von Unterlagen gebeten werden, sowie Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Zeitpunkt, Umfang und Auswahl bleiben, wenn nicht Sonderfristen bestehen, dem Ermessen überlassen.“ (Rudzio 2003, 94)
Es handelt sich hierbei um eine Art „Handel“: Die Ministerien können von dem Fachwissen der Verbände profitieren, während die Ministerien überprüfen können, wie ein neues Gesetz bewertet wird und es im Dialog, gegebenenfalls gemeinsam, ändern. Der Bundeskanzler gilt, dem Artikel 65 des Grundgesetzes, zur Eigenverantwortung der Ressortminister zum Trotz, als der begehrteste Gesprächspartner und Adressat von Interessen (Mann 1994: 184). Ein Blick in die Medien macht deutlich wie sehr der Kanzler im Fokus der Verbände und gerade auch dem der Gewerkschaften steht. Manche Verbände forcieren sogar ihre Anliegen, indem sie ihren Unmut auf die Person des Regierungschefs projizieren und so versuchen in den Entscheidungsprozess miteinzugreifen. Verbindungen zur Verwaltung sind zumeist „Routinekontakte“, daher sind Spitzengespräche mit Ministern oder dem Kanzler immer von besonderer Natur. Dementsprechend zahlt es sich in der Regel auch aus, wenn ein Verband besonders gute Kontakte zu einem Minister oder direkten Zugang zu dem Bundeskanzler hat.
2.2 Parlament
„Der Bundestag spielt als Einflussadressat für Verbände lediglich eine nachgeordnete Rolle, allerdings rangiert er in der Einschätzung der Verbandsvertreter noch deutlich vor den Parteizenteralen“ (Sebaldt 1997: 254). Dementsprechend liegt auch die parlamentarische Arbeit im Zentrum des verbandlichen Interesses. 1760 Verbände (Rudzio 2003: 90) waren im Jahr 2002 offiziell beim Deutschen Bundestag registriert und haben damit das Recht auf Anhörung durch dessen Organe. In erster Linie sind Interessengruppen daran interessiert dauerhafte Gesprächspartner zu finden, diese müssen nicht notwendigerweise nur Abgeordnete sein. Auch wissenschaftliche Mitarbeiter der Fraktionen können hier als „mittelbare Weichensteller“ (Mann 1994: 179) dienen. Von besonderem Interesse sind die Ausschüsse, da hier fachlich spezialisierte Abgeordnete sitzen und auf den Grundlagen der Vorgaben ihrer Fraktionen, Vorentscheidungen treffen. Daher werden manche Ausschüsse zu Recht als „Verbandsinseln“ bezeichnet (Reutter 2001: 96). Oftmals sind Verbandsvertreter auch die einschlägig bekannten Experten, die in öffentlichen Ausschusssitzungen die Möglichkeit haben ihre Empfehlungen weiterzuleiten und so die Interessen des eigenen Verbandes auf diese Weise zu fördern. Allerdings sind derlei „hearings“ nicht notwendigerweise nur Gelegenheit für Verbandsmitglieder Lobbyismusarbeit zu leisten. Sie bieten der Exekutive auch die Möglichkeit die tatsächliche Interessenlage zu prüfen, Unstimmigkeiten, beispielsweise in einem Gesetzesentwurf zu erkennen und die Realisierbarkeit des Entwurfes zu prüfen.
Die Befunde aus früheren Legislaturperioden lassen drei Schlussfolgerungen zu: (1) spezifische Ausschüsse (vor allem in den Bereichen Agrar-, Wirtschafts- und Sozialpolitik) sind für Verbände von besonderem Interesse und weisen eine weit überdurchschnittliche Verbandsdichte auf; (2) eine Reihe von Verbänden ist in mehreren Ausschüssen vertreten; (3) es besteht eine höchst ungleichgewichtige Vertretungsstruktur (Reutter 2001: 96).
Je strukturierter ein Verband ist und je mehr er in der Lage ist die Einzelinteressen seiner Mitglieder unter einen Hut zubringen, desto größer sind seine Chancen in den politischen Entscheidungsprozess mit eingreifen zu können. Eine besondere Form der Interessenvertretung besteht wenn die parlamentarische Opposition im Bundesrat über eine Mehrheit verfügt und durch gezielte Unterstützung von Interessenorganisationen, zusätzliche Blockadearbeit gegen Gesetzesentwürfe leisten können, was in der Praxis allerdings eher selten vorkommt.
2.3 Parteien
„Die allgemeinen Linien der Politik werden von den Vorstellungen der politischen Parteien getragen. Infolgedessen richtet sich verbandspolitischer Einfluss auch auf die Parteien“ (Rudzio 2003: 96). Zwar sind Tendenzen erkennbar, auf welche Parteien die Verbände ihr Hauptaugenmerk richten, jedoch ist eine einseitige Ausrichtung taktisch unklug und somit auch unrealistisch, da keine einzelne Partei ununterbrochen regiert. Die personellen und organisatorischen Verflechtungen zwischen Verbänden und Parteien schlagen sich in den Profilen der verschiedenen Fraktionen wieder. Die CDU/CSU-Fraktion besitzt überdurchschnittlich viele Vertreter von Vertriebenenvereinen, Unternehmerverbänden, Mittelstandsorganisationen, Sportvereinen, katholischen Organisationen und vom Bauernverband. Die SPD hat ihre Schwerpunkte bei DGB-Gewerkschaften, sozialpolitischen Interessenvertretern und evangelischen Organisationen. Die FDP konzentriert sich auf wirtschafts-, agrar- und umweltpolitische Vereinigungen, während B’90/Die Grünen vor allem mit Umweltorganisationen und ideell-politischen Vereinigungen verflochten ist (Reutter 2001: 94).
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- Quote paper
- Michael Schaich (Author), 2004, Einflusssphären von Interessenverbänden auf den politischen Entscheidungsprozess der BRD, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37818
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