In den christlichen Glaubensgemeinschaften und ihren Lehrstätten wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass das Neue Testament ein Evangelium lehrt, das von allen Christen in seinen zentralen Aussagen verstanden worden ist. Das entspricht dem Stand des Wissens bei den kirchlichen und staatlichen Lehrstätten. Die Tatsache, dass es unzählige christliche Kirchen und Denominationen gibt, zeigt jedoch mit aller Deutlichkeit, dass es vieles gibt, was entweder unverstanden geblieben ist oder zumindest keinen Konsens gefunden hat.
Im Buch wird versucht, Jesus und seinen Jüngern nachzureisen und dabei herauszufinden, was diese wirklich verkündet haben. Dabei werden viele Fragen erstmals so beantwortet, dass sich ein in sich stimmiges, weitgehend widerspruchsfreies Gesamtbild der tatsächlichen Ereignisse ergibt. Hier werden die vier Evangelienberichte und die Apostelgeschichte des Lukas in ein völlig neuen Licht gestellt.
Das Buch will erklären, warum die Jünger auch noch viele Jahre nach der Himmelfahrt Jesu keine Heiden missionierten. Dabei werden traditionelle Sichtweisen der Kirchen analysiert und schlüssig widerlegt. Die Indizien, die man aus der Anfangsgeschichte der Christenheit und aus dem Neuen Testament gewinnt, weisen mehr als deutlich darauf hin, dass die ursprünglichen Jünger Jesu zu keiner Zeit damit angefangen haben, das zu verkündigen, was typisch für die Verkündigung des Paulus war. Die Jünger Jesu predigten den Juden, was sie erwarteten: die baldige Rückkehr des Messias Jesus und der Anbruch des messianischen Reiches. Die Jünger Jesu hielten entsprechend der jüdischen Tradition an den Bundeszeichen, der Torah und der Beschneidung fest. Paulus erklärte sie hingegen für hinfällig und beschrieb die neue Heilskörperschaft der Gemeinde des Leibes Christi, die sich aus Juden und Nichtjuden zusammensetzte. Während die Jünger weiter in den Tempel gingen, die biblischen Festtage feierten und den Sabbat hielten und sogar die Speisegebote beachteten und die Beschneidungspraxis weiter beobachteten, wurde Paulus von Juden, aber auch von Judenchristen kritisiert und bekämpft, weil er lehrte, dass diese Dinge zum Heil nicht notwendig waren. Dies wird im Buch mit einer eindeutigen Exegese der neutestamentlichen Texte belegt und mit nachvollziehbaren Argumenten untermauert. Dieses Buch will auch aufklären, warum es diese frappierende Abweichung zwischen Kirchenglauben und biblischem Befund gibt.
Table of Contents
Vorbemerkungen
Das Evangelium nach Matthäus
Das Evangelium nach Markus
Das Evangelium nach Lukas
Das Evangelium nach Johannes
Die Apostelgeschichte des Lukas
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Vorbemerkungen
In den christlichen Glaubensgemeinschaften wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass das Neue Testament ein Evangelium lehrt, das von allen Christen in seinen zentralen Aussagen verstanden worden ist. Das entspricht dem Stand des Wissens bei den kirchlichen und staatlichen Lehrstätten. Und tatsächlich wird man nicht lange nach dem Kern dieses Evangeliums, der Hauptaussage jeder Verkündigung, in den Kirchen suchen müssen. Jesus Christus ist der Sohn Gottes, der für die Sündenschuld aller Sein *1 Leben gelassen hat und damit all denen das „ewige Leben“ anbietet, die an Ihn glauben. Er ist der im Alten Testament angekündigte Messias Israels, der das Gottesreich errichtet. Dieses ist jedoch nicht allein für Israel, sondern für alle Menschen zugänglich. Über diese Aussage wird man in der gesamten Christenheit einen Konsens finden. Wo nicht, wird man schwerlich von einer Zugehörigkeit zur Christenheit reden können.
Die Tatsache, dass es unzählige christliche Kirchen und Denominationen gibt, zeigt andererseits aber auch mit aller Deutlichkeit, dass es darüber hinaus vieles gibt, was entweder unverstanden geblieben ist oder zumindest keinen Konsens gefunden hat. Schließlich ist auch noch denkbar, dass es Dinge gibt, die überhaupt noch niemand oder nur wenige verstanden haben. Das korrespondiert mit dem von den Kirchen aufgrund sorgsamer Exegese festgestellten biblischen Grundsatz, dass Gott entscheidet, wem und wann Er das Verstehen gibt. *2 Sicher würden die wenigsten kirchlichen „Verstehensträger“ sagen, dass es nicht ein Evangelium, sondern zwei oder mehrere gute Botschaften gibt, die in Bezug auf ihren Inhalt abhängig von Zeit und Adressat und somit unterschiedlich sind. Wenn man einen Kirchenchristen fragen würde: „Was ist das Evangelium?“, würde er vermutlich nicht antworten: „Welches?“ Er würde eine der obigen Aussage entsprechende Antwort geben.
Dennoch müsste man bei einer eingehenderen Beantwortung der Frage Folgendes beachten:
1. Wenn Jesus Seine Jünger tatsächlich bis ans Ende der Welt geschickt haben sollte, damit sie missionierten, so nahm Er Sich doch einen Extra-Apostel für die Verkündigung einer Botschaft, die Paulus als sein eigenes Evangelium bezeichnete. *3 Wie die Ereignisse in der Apostelgeschichte zeigen – zum Beispiel die Vision des Petrus anlässlich der „Begeistung“ des Kornelius, – können die zwölf Jünger, die Jesus angeblich zur Missionierung der Welt hinausschickte, jedenfalls die ersten Jahre nicht die Auffassung vertreten haben, dass man den Nichtjuden der Nationen das Evangelium, wie die Jünger es von Jesus bekommen hatten, zu bringen habe.
2. Insofern ist es nicht selbstverständlich, einen Missionsbefehl für uns heute abzuleiten, aus dem, was Jesus den zwölf Jüngern gesagt hat oder aus dem, wie sie ihren Auftrag umsetzten. *4
3. Die Vision des Petrus kam viele Jahre nach der Himmelfahrt Jesu. All die Jahre vorher jedenfalls kann es keine Nationenmissionierung durch die zwölf Apostel gegeben haben. *5 Diese begann erst mit Paulus. Es muss also eine Erklärung für das Nichtpraktizieren der Nationenmissionierung geben.
4. Es gibt hierfür nur drei Erklärungsansätze. Entweder die Jünger hatten Jesus nicht verstanden; oder sie hatten Ihn verstanden, aber befolgten es nicht; oder die Nationenmissionierung gehörte nicht zu ihrem Auftrag. *6 Der Erklärungsansatz, dass sie einfach zeitlich noch nicht so weit waren, scheidet aus, denn das ergibt sich aus den Ereignissen um die Vision des Petrus über die unreinen Speisen und der Apostelkonferenz.
5. Nach der Vision des Petrus verging wiederum viel Zeit, ohne dass sich an der Missionspraxis der zwölf Apostel etwas geändert haben kann. Denn erst nachdem viele jüdische Christusgläubige sich gegen die Missionspraxis des Paulus wendeten, kam es zur Apostelkonferenz, bei der herausgearbeitet wurde, ob die von Paulus an den Nichtjuden praktizierte Missionierung zulässig war. Das lässt den Schluss zu, dass die Vision des Petrus lediglich dazu führte, dass man den Nichtjuden zuerkannte, des Heils teilhaftig werden zu können. Das ist zwar bereits im Alten Testament angedeutet, aber es entsprach nicht der jüdischen Überlieferung, dass vor dem messianischen Zeitalter den Nationen das Heil vollumfänglich zugänglich war.
6. Dass sich an der Verkündigung der zwölf Apostel an die Juden nach der Begegnung mit Paulus etwas geändert hätte, ist nicht überliefert. Es ist daher anzunehmen, dass die Jünger Jesu weiterhin das Evangelium von der Notwendigkeit der Umkehr zu dem Gott Israels verkündeten. Dieses verlangte, dass man Seine Gebote hält, wie sie in der jüdischen Torah aufgezeichnet sind und Seinem Messias Jesus Christus für die Erlösung dankt. Das messianische Reich stand jedem offen, der seinem Messias Yeschua folgte. *7
7. Für die Juden ist das Halten der Torah und die Wichtigkeit des Tempeldienstes zentraler Bestandteil ihres Glaubenslebens. Wären zu irgendeinem Zeitpunkt Torah und Tempeldienst auf breiter Linie durch die Gemeindeleiter der jüdischen Christengemeinde, wie zum Beispiel Jakobus, für aufgelöst erklärt worden, hätte dieser epochale Umstand in der Apostelgeschichte des Lukas seinen Niederschlag finden müssen. Stattdessen findet sich nur der Hinweis, dass sich die Nichtjuden nur an bestimmte Dinge halten müssen, die den Umgang mit ihren jüdischen Glaubensbrüdern erleichtern. Alles andere von dem, was ihre jüdischen Glaubensbrüder gemäß der Torah tun, müssen sie nicht erbringen. Dass die jüdischen Glaubensbrüder etwas nicht mehr erbringen müssten, ist nicht überliefert. Daraus ist zu folgern, dass sie weiter wie Juden lebten.
8. Auf der Apostelkonferenz wurde festgelegt, dass die nichtjüdischen Christen nicht das tun mussten, was für die jüdischen Christen selbstverständlich war. Das war zu allererst die Beschneidung, denn das war das Bundeszeichen des Judentums. Ihnen wurde aber auch nicht die Torah, einschließlich der Opferrituale, auferlegt. Angesichts der Tatsache, dass Paulus einer bestimmten Personengruppe gegenüber in seinen Briefen die Haltung vertrat, dass sie anstelle der Torah, der Zielgebung, den Christus, somit bereits das Ziel hätten, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass diese Sichtweise auf der Konferenz nicht angetastet wurde. Und daher umfasst der Beschluss des Jakobus, was die Nichtjuden leisten müssten, „nur“ Enthaltsamkeit in den speziellen Dingen, die für Juden nicht annehmbar und zugleich augenfällig waren, denn die Tischgemeinschaft wurde angestrebt, um eine Einheit derer, die an Jesus glaubten, zu bewahren. Dass es tatsächlich um solche Dinge ging, belegt die Geschichte mit dem heuchlerischen Petrus, der gegenüber den Juden zeigen wollte, dass er die Reinheitsgebote einhielt und sich deshalb von den „unreinen“ nichtjüdischen Gläubigen absonderte, obwohl er gerade wegen seiner Vision über die unreinen Speisen wusste, dass auch die nichtjüdischen Gläubigen von Christus „rein“ gemacht worden waren.
9. Nichtjuden, die Gottesfürchtigen und Proselytenbewerber, die an einer Bekehrung zum Judentum Interesse hatten, wurden grundsätzlich niemals von der Gemeinschaft des Heils ausgeschlossen, wenn sie bereit waren, dem Beschneidungsbündnis beizutreten. Das war auch schon im Alten Testament so.
Aus obigen Punkten und dem biblischen Zeugnis lassen sich weitere Schlussfolgerungen ziehen:
10. Petrus und die anderen Jünger Jesu praktizierten mindestens bis zur Vision des Petrus, wahrscheinlicher noch bis nach der Apostelkonferenz, ihr Evangelium nur den Juden zu bringen. Das war konsequent, denn das Evangelium, das sie von Jesus gehört hatten und das sie selber auch predigten, hatte einen durch und durch israelischen Bezug. *8 Und Jesus hatte gesagt, dass sie mit den Städten Israels nicht fertig werden würden, bis Er zurückkäme. Die Bibel nennt dieses Evangelium der jüdischen Apostel für das jüdische Volk das Evangelium der Beschneidung.
11. Ein Widerspruch der Missionspraxis der Jünger Jesu, die nur den Juden das Evangelium brachten, zum Missionsbefehl Jesu ist nicht zwingend, da es im gesamten Römischen Reich *9 und sogar in römischen Stützpunkten außerhalb des Reichsgebiets jüdische Gemeinden gab, die aus Juden (mehrheitlich) und Nichtjuden bestanden. Hinaus in alle Welt zu gehen, bedeutet nicht konkret nur Juden anzugehen. Es bedeutet aber auch nicht zwingend, zu den Nichtjuden außerhalb der Synagogen zu gehen. Im Alten Testament wird vorausgesagt, dass die Nationen im kommenden messianischen Reich die Herrschaft des jüdischen Messias anerkennen müssen. Für die jüdischen Missionare wäre es daher naheliegend, ihnen vom bevorstehenden Kommen des Reiches Kunde zu geben. Also konnte auch ihnen das Evangelium über das kommende Reich Gottes und den König des Reiches Gottes, Jesus Christus, bekanntgemacht werden. Das schloss aber nach dem Verständnis der Jünger damals nicht aus, die bisherige Praxis beizubehalten, dass jemand, der des Heils teilhaftig werden wollte, zuerst ein Jude werden musste. Genau das ist aber einer der wesentlichen Unterschiede zu dem, was Paulus den Nichtjuden verkündete. Paulus lehrte, dass man nicht die Beschneidung und auch nicht die Torah benötigte, um als Nichtjude des Heils teilhaftig zu werden.
12. Bei der Apostelkonferenz wurde den Nichtjuden also bestätigt, dass sie der Torah nicht folgen mussten wie die Juden, sonst hätte man ihnen nicht nur den kleinen Teil der Torah ausdrücklich auferlegt. Zugleich wurde nicht festgelegt, dass fortan die gläubigen Juden etwas an ihrer Haltung gegenüber der Torah zu ändern hätten. Damit blieb es bei zwei unterschiedlichen Verkündigungsinhalten, der von Paulus und der der anderen Apostel um Jakobus und Petrus. *10 Den jüdischen Gläubigen wurde nicht gesagt, dass sie von ihren bisherigen Gepflogenheiten Abstand halten müssten. Demzufolge ist anzunehmen, dass bei den jüdischen Gläubigen alles in Bezug auf die Torah beim Alten bleiben sollte. *11 Die Apostelkonferenz wäre die beste Gelegenheit gewesen, hier etwas zu ändern. Man tat es aber nicht! Das bedeutet, dass Paulus weiter sein Evangelium mit seinen Besonderheiten, die man als „neue Erkenntnisse“ bezeichnen könnte, verkündete. Die Bibel grenzt das zum Evangelium der Beschneidung (griechisch: τῆς περιτομῆς) ab und gibt dem einen anderen Namen Und auch die anderen Apostel verkündeten weiter ihr Evangelium unter den Juden, welches sie von Jesus gehört hatten. Zu diesem Evangelium gehörte nicht, dass man als Jude nicht die Torah halten müsste. *12
13. Christusgläubige Juden aus Jerusalem reisten Paulus sogar nach und verbreiteten die Falschmeldung, er würde auch Juden lehren, dass sie die Torah nicht mehr halten müssten. Das zeigt, dass die jüdischen Christen noch die Torah befolgten und den Opferdienst für notwendig hielten. Deshalb musste Paulus, als er nach Jerusalem kam, um sie zu überzeugen, dass er als Jude die Torah nach wie vor hielt, ein Opfer im Tempel erbringen (Ap 21,26). Wäre Paulus der Ansicht gewesen, man bräuchte als Jude keine Opfer mehr bringen, wäre dieses Verhalten ebenfalls Heuchelei gewesen, das gleiche Verhalten, welches er dem Petrus vorgeworfen hatte. *13
14. Die Tatsache, dass Juden aus Jerusalem, die Christusgläubige geworden waren, Paulus angingen und nicht die anderen Apostel und auch nicht Jakobus, den Gemeindevorsteher in Jerusalem, zeigt außerdem, dass die anderen Apostel und Jakobus sowie alle jüdischen Christen, nicht das Gleiche predigten wie Paulus. Offenbar hatten sie nichts an der Verpflichtung, die Torah minutiös einzuhalten, geändert. Sie unterschieden sich diesbezüglich offenbar nicht von den nichtchristlichen Juden, mit denen sie zusammenlebten. Für religiöse Juden ist es auch heute noch ein Sakrileg, überhaupt daran zu denken, dass die Torah nicht mehr zu beachten wäre. Zu keiner Zeit erlaubte das Judentum seinen Angehörigen, die Torah nicht mehr einzuhalten. Und auch Jesus bestätigte diese Sichtweise ausdrücklich, wenn auch vor Seinem Gang auf Golgatha. *14
15. Auf der Grundlage dieser Tatsache und Überlegungen ist der frappierende Unterschied in der Lehre des Jakobusbriefs und der Briefe des Paulus leicht nachvollziehbar. Paulus hatte überall, wohin er kam, größte Schwierigkeiten, sich gegen die Juden und Judenchristen zu behaupten, die darauf bestanden, die Torah halten zu müssen. Paulus lehrte die jüdischen Christen nicht, dass sie die Torah nicht mehr beachten müssten, aber er lehrte die Nichtjuden, dass sie in Christus der Torah enthoben waren. Christi Geist ist noch viel umfassender als die Torah. Er hat alles, was man beachten muss. Wer Christi Geist in sich hat, so die Lehre von Paulus, hat unendlich viel mehr als die Torah in sich. Und daher verhält sich Christi Geist zur Torah wie Gott zu den Buchstaben der Bibel. Er haucht allem erst Sinn und Verstand ein, die alles vollkommen erfassen lassen.
Schon hier ist zu bemerken, dass die obigen Punkte keine letztlichen Schlüsse zulassen, ob aus der Tatsache der zwei Evangelien und der zwei unterschiedlichen Adressaten, die bei den zwölf Aposteln hauptsächlich nur Juden (und diejenigen, die Juden werden wollten) und bei Paulus Juden und Nichtjuden waren, auch verschiedene Heilskörperschaften festzustellen sind. Anders gesagt, wer in den Himmel zu Christus, zum Leib Christi, ins Königreich, zum Volk Israel, zur Braut, zum Bräutigam und so weiterkommt, das ist grundsätzlich noch einmal eine andere Frage.
In der Schriftauslegung und Verkündigung werden diese Dinge meist „heillos“ durcheinandergebracht. Das ist verständlich. Wenn Erstklässler Euler, Gauß und Newton lesen, werden sie das Rechnen kaum lernen.
Aus dem oben Gesagten ist die Schlussfolgerung unumgänglich, dass es im Wesentlichen zwei Evangelien gab – mit unterschiedlichem Inhalt, wenn auch mit dem gleichen Kern der guten Nachricht, dass Jesus Christus für die Sündenschuld aller Menschen bezahlt hat.
Es dürfte in Anbetracht der Fakten des Neuen Testaments klar sein: Über Jahrzehnte war ein Evangelium gepredigt worden, welches nicht das berücksichtigt hatte, was Paulus an Neuem in seine eigene Verkündigung mit einbezogen hatte. Schon deshalb ist es berechtigt zu sagen, die Behauptung, dass es immer nur ein und dasselbe Evangelium gab, ist nachweislich falsch und kann gar nicht richtig sein, weder historisch noch aus der Sicht der in der Bibel nachvollziehbaren Heilsgeschichte. *15
Die Indizien, die man aus der Geschichte und aus dem Neuen Testament gewinnt, weisen sogar mehr als deutlich darauf hin, dass die ursprünglichen Jünger Jesu zu keiner Zeit damit angefangen haben, das zu verkündigen, was typisch für die Verkündigung des Paulus war. *16 Nach dem Kirchenhistoriker Harnack war Marcion der einzige Heidenchrist der nachapostolischen Zeit der Paulus verstanden hatte. Und der wurde von der katholischen Kirche als Häretiker betrachtet. Man könnte spotten, dass Paulus dem Schicksal der Exkommunikation nur deshalb entgangen ist, weil er biblischer Autor ist.
Es deutet alles darauf hin, dass die Jünger Jesu nur den Juden das Evangelium verkündeten. Ob sie den nichtjüdischen Zuhörern, die sie zweifellos auch hatten, etwas anderes verkündeten, ist nicht bekannt. Sie hätten ihnen „paulinisch“ verkündigen können, um sie auf besondere Weise anzusprechen, was in der Praxis bedeutet hätte, dass sie zwei verschiedene Botschaften übermittelten. Es ist jedenfalls nicht anzunehmen, dass sie jemals damit aufgehört haben sollten, den Juden anzuraten, an der Torah festzuhalten.
Es war für die Nichtjuden eine frohe Botschaft – ein Evangelium – als sie hörten, dass sie sich nicht beschneiden lassen mussten und nicht nach Jerusalem fahren mussten, um dort im Tempel zu opfern, und dass die Torah mit all ihren Geboten und Verordnungen nach wie vor nur für Juden galt. Dass sich bald die messianischen Juden fragten, ob die Freiheit bei der Nachfolge Christi wirklich so weit gehen durfte, ist verständlich. Auf der Apostelkonferenz wurde ihnen gesagt: „ Das darf so sein. Das ist berechtigt.“ Ob Jakobus im Nachgang so glücklich über seine Entscheidung war, ist nicht überliefert. Die Bibel berichtet, sie kommentiert nicht immer.
Natürlich kamen bald die gleichen Fragen, wie wir sie aus unserer Zeit kennen: „Ja, heißt das jetzt, dass wir lügen und stehlen dürfen? Denn nach der Torah ist das ja verboten.“ Hierzu genügt meines Erachtens der Hinweis, dass auch ein einfältiger Weltmensch kaum auf die Idee kommen würde, er dürfte in einem anderen Land einen Mord begehen, weil es doch nur nach dem Gesetz seines Herkunftslandes verboten sei und dort befände er sich schließlich nicht mehr. Das Argument der Thoraverehrer und „Thoraheiligen“, man müsse eine Einstellung der Gesetzlosigkeit oder der moralischen Beliebigkeit haben, wenn man die Torah oder auch nur die Zehn Gebote nicht als Soll-Vorschrift auffasst, ist nicht nur nicht stichhaltig, sondern geradezu grotesk.
Zu bedenken ist auch, dass es ebenfalls unter Juden schon immer eine ganz unterschiedliche Meinung darüber gab, wie die Torah zu halten war. Das machte ja die Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten und den Pharisäern recht deutlich. Diese Unklarheit ist auch bei den heutigen Vertretern der These, dass die Torah zu beachten sei, zu beobachten. Es gibt messianische Juden, die die Auffassung vertreten, dass die Torah nun aus dem Geist Christi heraus zu halten wäre, als ob der Geist Christi sich sagen müsste: „Ich muss die Torah halten!“ Auch das ist grotesk. Und manche evangelikalen Christen schließen sich dieser Auffassung an. Wenn man den Geist Christi als „Geist der Torah“ definiert, kommt man natürlich zu solchen Schlüssen. Aber das ist wenig hilfreich und kann leicht in die Irre führen.
Andere vergeistigen die Institution Torah, als ob die Torah unabhängig von Jesus eine eigene Bedeutung hätte und sie etwas für sich Existierendes sei. Das Paulinische des Evangeliums war seinerzeit neu und es war „revolutionär“ neu. Und es ist eine unverzichtbare Ergänzung zur Verkündigung der zwölf Jesusjünger, denn nun kann man verstehen, dass die Torah als Zielgebung verstanden werden kann, zum Ziel, zu Jesus Christus, hinzukommen. Nicht, in dem man sie hält, sondern, indem man verstehen lernt, dass man sie niemals so zu halten fähig ist wie sie gehalten werden müsste. Wenn man sich aber bei Christus angekommen wähnt und dann noch peinlich auf die Beobachtung von bestimmten Vorschriften pocht, ist man bei Christus noch gar nicht angekommen und tut recht daran, weiter den Zielgeber zu beachten, bis man gelernt hat, dass das niemals ausreicht. So qualifiziert man sich nicht für die nächste Nähe zu Gott. *17 Man kann also mit Sicherheit sagen, dass der Inhalt des Evangeliums, welches die zwölf Jünger Jesu einschließlich seines Bruders Jakobus verkündeten, bei ganz wesentlichen Überschneidungen im Kernbereich anders war als der Inhalt des Evangeliums, welches Paulus den Nichtjuden verkündete.
Doch worin genau bestand diese Abweichung? Und warum gab es diese Abweichung überhaupt? Was ist Sinn und Zweck der Unterschiede, denn bei Gott und der Verwaltung des Heils gibt es immer nur Sinn und Zweck, und so sollte auch hier herausgefunden werden können, warum es kein einheitliches, immer gleichlautendes Evangelium gab. Es wäre eines allmächtigen, allweisen und allgütigen Gottes nicht würdig, wenn Er einen chaotischen Umgang mit den Menschen, die von Ihm völlig abhängig sind, betreiben würde. Fragt man kirchliche Theologen nach den Plänen Gottes und ihrer Durchführung kommt man leicht zu dem Schluss, dass Gott Seine Weisheiten und dazu noch eine schmerzlich unübersehbare Menge an Ungewissheiten über die Menschheit ausgegossen hat, ohne dass man dabei eine Struktur erkennen kann, die auf ein erfreuliches Endergebnis hindeuten. In diesem Buch wird nachgewiesen, dass sich die Kirchenleute bei ihren Antworten irren, dass sie das Vorhaben und das Handeln des Gottes der Bibel verzerrt und zum Teil falsch darstellen und dass es eine Alternative gibt, die sie allenfalls schemenhaft erkennen können. Diese Alternative ist die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen.
Die Fragen, die zu stellen sind, sind einfach. Was beinhaltet dieses von den zwölf Aposteln seit Christi Himmelfahrt verkündete Evangelium? Darüber sind sich die großen Kirchen weitgehend einig und dennoch irren sie sich. Da fängt der Irrweg der Kirchen an, wo man nach dem Inhalt ihrer Verkündigung fragt und feststellt, dass die Kirchenlehren den Aussagen der Bibel widersprechen.
Erstaunlicherweise herrscht bei den meisten Christen die Ansicht, man könne unter Evangelium all das verstehen, was in den vier Evangelien und den Briefen des Neuen Testaments steht. Und auch viele Theologen würden das so stehen lassen. Und doch widersprechen sie sich in dem, was ihrer Meinung nach der Inhalt des Evangeliums sein soll. So würde zum Beispiel ein protestantischer Theologe sagen, wenn Paulus in seinen Briefen klarmacht, dass allein der Glaube zum Heil führt und das Gesetz, die Torah eine limitierte Bedeutung habe, *18 habe das ja schon Jesus in Wort und Tat verdeutlicht. Und er hat recht, wobei man sich über die „Deutlichkeit“ streiten kann! Doch bedeutet das, dass Jesus das auch in Seinem Evangelium verkündete? Keineswegs! Nicht alles, was Jesus sagte oder tat, gehörte zu Seiner Evangeliumsverkündigung, genauer gesagt, zu dem, was Er Selber als die Botschaft, die Er dem Volk zu bringen hatte, verstanden haben wollte. So sprach Er zum Beispiel in Gleichnissen, damit Ihn das Volk nicht verstand. Offenkundig gehörte das Verständnis über die Gleichnisse nicht zu dem, was Jesus dem Volk predigte. Dafür gab es gute Gründe! Und wie man zu sehen hat, waren es heilsgeschichtliche Gründe. Gott ist ein Maßarbeiter und Maßvollender Seiner eigenen Vorhaben.
Ein guter Katholik würde als Evangelium vielleicht die Bergpredigt nennen und vielleicht sogar noch etwas Außerbiblisches wie den Papst anführen, dem zu folgen heilsnotwendig sein solle. Evangelium ist das, was der Papst kundtut, denn der Papst ist der Stellvertreter Christi auf Erden, so sagt man als guter Katholik. Dem würde ein Protestant heftig – protestierend – entgegentreten. Mit Recht, denn die Bergpredigt ist eher untypisch für das, was Jesus als Evangelium predigte (und wenn man ehrlich ist, wird man fragen müssen, worin besteht die frohe Botschaft, wenn alles, was Mose gesagt hat, wesentlich verschärfter ausgelegt wird?). Und das, was der Papst sagt? – Für Nichtkatholiken ist es lediglich das, was einer unter vielen Religionsführern sagt.
Aber weder Protestant noch Katholik würden grundsätzlich anzweifeln, dass Paulus und die anderen Apostel das Gleiche predigten wie Jesus. Doch damit hätten sie sich gründlich geirrt. Darin liegt das ganze Dilemma des Kirchenchristentums. Mehr Scheinwissen als Seinserkenntnisse.
Man stelle sich also zunächst erst einmal die Frage, was Jesus gepredigt hat und was Seine Jünger gepredigt haben. Später soll man das den Lehren von Paulus gegenüberstellen. Man muss aufhören in Legenden zu denken. Die Legende besagt, dass alle die gleiche Botschaft hatten. Das ist weder historisch wahrscheinlich, noch lehrt es die Bibel. Nicht einmal Jesu Jünger predigten immer das Gleichet! Wenn man wissen will, was die zwölf Apostel nach der Himmelfahrt Jesu predigten, dann erhält man eine gute Vorstellung davon, wenn man die Pfingstpredigt von Petrus in Apostelgeschichte 2 und die Predigt des Stephanus zusammennimmt. Beide waren an Juden gerichtet. Und auch Jesus hatte Seine Botschaft den Juden verkündet und es abgelehnt, den Nichtjuden die frohe Botschaft von dem bald heranbrechenden Reich Gottes zu verkünden. *19 Die zwölf Jünger Jesu taten auch nichts anderes, auch wenn das auf den ersten Blick dem Missionsbefehl zu widersprechen scheint. *20
Wesentliche Punkte („A“ für Apostel) ihrer Verkündigung nach der Himmelfahrt Jesu waren (Diese Aufzählung wird nicht als vollständig betrachtet.):
A1. Das Volk Israel muss sich Gott in Gehorsam zuwenden, denn das Königreich Gottes ist nahe herbeigekommen.
A2. Wenn der Messias (zurück)kommt, beginnt das Königreich Gottes auf Erden und alle die Verheißungen, die Israel gegeben sind, werden sich erfüllen.
A3. Der Messias ist gekommen. Jesus Christus ist der Messias Israels und der Sohn Gottes.
A4. Jesus Christus ist das vollkommene Opfer für die Sünden. Wer dieses Opfer annimmt, ist vor Gott gerecht.
Doch muss gleich gesagt sein, dass Jesus A3 und A4 nicht gegenüber dem Volk verkündet hat, sondern meist nur A1. Seine Reden gegenüber den Hohepriestern, Schriftgelehrten, Pharisäern und den eigenen Jüngern waren anders als das, was Er dem Volk predigte. Und auch die Jünger haben erst nach der Himmelfahrt Jesu alle vier Punkte verkündet. Vorher, als der noch nicht gekreuzigte Jesus sie aussandte, haben sie das Gleiche gepredigt wie Jesus damals auch.
Aber jeden einzelnen dieser vier Punkte kann man als „frohe Botschaft“ (wörtlich „Evangelium“) bezeichnen für den, der es fassen konnte. Dann natürlich war es für religiöse Juden eine „frohe Botschaft“ zu erfahren, dass das messianische Reich nahe herbeigekommen war. *21 Die Frage, wer der Messias war, war eine ganz andere, wenn auch entscheidende.
Die judenchristliche Gemeinde ist viele Jahrzehnte in Jerusalem erhalten geblieben. Das wäre sicherlich nicht möglich gewesen, wenn sie das verkündet und verbreitet hätte, was Paulus predigte! Was Paulus predigte, darf angenommen werden, ist auch aus seinen Briefen zu entnehmen. *22
Dazu gehörte unter anderem („P“ für Paulus):
P1. Die Nichtjuden können durch Jesus Christus Vergebung ihrer Sünden erlangen.
P2. Die Nichtjuden müssen sich nicht an der Torah orientieren und müssen sich nicht beschneiden lassen, wenn sie ein Glied am Leib Christi werden.
P3. Eine Gemeinschaft von Gläubigen aus Juden und Nichtjuden, die vor Grundlegung der Welt erwählt worden ist, bildet den Leib Christi.
Dazu verkündete er A3 und A4, während A1 und A2 anscheinend bei Paulus, zumindest bei Nichtjuden, nicht priorisiert worden ist, denn da geht es um Israel und das messianische Reich. Was Paulus in rein jüdischen Versammlungen gepredigt hat, ist nicht überliefert.
Dies ist der Anschein, der sich aus seinen Briefen ergibt. Es ist jedoch anzunehmen, dass Paulus auch A1 und A2 nicht wenig verkündet hat, weil er ebenso den Juden das Evangelium brachte. Doch dies ist nicht das Thema der Briefe von Paulus, die wir im Neuen Testament haben. Gott hat es nicht für notwendig gehalten, alle Aktivitäten von Paulus aufzuzeichnen und zwar deshalb nicht, weil es heilsgeschichtlich nicht relevant ist.
Was nicht von den zwölf Aposteln („nA“) verkündet wurde, ist:
nA1. Die Torah ist hinfällig (und damit auch der Sabbat und die jüdischen Festtage).
nA2. Der Tempel und der Tempeldienst sind hinfällig.
nA3. Die Beschneidung ist hinfällig.
Sie duldeten aber offenbar, dass Paulus den Nichtjuden verkündete, dass sie nichts von alledem beachten müssten. Das erklärt völlig einleuchtend, warum Paulus dann von dem Evangelium der Beschneidung und dem Evangelium der Unbeschnittenheit redet.
Aber, könnte der Einwand lauten, Paulus lehrte doch, dass Christus des Gesetzes Vollendung ist; Paulus lehrte doch, dass kein weiteres Opfer notwendig wäre, weil Jesus alles erledigt hätte. Und auch der Hebräerbrief zeigt deutlich, dass es eine andere Ordnung gibt, seit Jesus Christus die alte Ordnung durch etwas Besseres ersetzt hat. Der alte Bund ist, wie es in Jer 31,31 vorausgesagt wurde, durch einen besseren, neuen Bund abgelöst worden. Das Alte war begrenzt in jeder Hinsicht, auch wenn man daran denken könnte, dass seine Wirksamkeit nach oben offen war, d.h. dass jedermann sich auf Gott einlassen konnte, um sich von Ihm führen und formen zu lassen. Aber von dem „In-Christus-sein“ von dem Paulus zu reden begann, gab es noch nichts, denn Christus musste ja erst noch kommen. Es würde also zu einer größeren Intimität und Nähe zu Gott unweigerlich kommen müssen, wenn man im Neuen Bund sein würde. *23 Wie kann es dann richtig sein, überhaupt an Torah, Tempeldienst und Beschneidung festzuhalten, die aus dem alten Bund übernommen werden müssten, wenn sie noch gelten sollten? Diese Einwände sind berechtigt.
Man hat also anscheinend zwei biblische Widersprüche. Einerseits kann man den zwölf Aposteln und Jakobus vorhalten, sie würden weiter an etwas Überkommenem festhalten, was Paulus für erledigt erklärt hat. Wie können sie Paulus Recht geben und selber die alte Praxis aufrechterhalten? Andererseits kann man nicht nur den Aposteln und Jakobus, sondern auch Paulus vorhalten, dass sie beides nebeneinander bestehen ließen. Gibt es nicht nur eine Wahrheit und demzufolge nur ein Evangelium? Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden. Es wird sich dabei zeigen, dass sie auf eine Weise beantwortet werden können, die keinen wesentlichen Widerspruch bestehen lässt. *24 Es ist allerdings nicht die traditionelle Weise, wie auf diese Fragen geantwortet wird, die ich hier entfalten werde.
Der tiefere Grund, warum keiner der zwölf Apostel lehrte, man müsse die Torah nicht mehr beachten, nicht mehr im Tempel opfern, nicht mehr den Sabbat und die Festtage halten, ist, weil das Volk noch unbekehrt war und keine Einheit mit seinem König Jesus Christus hatte. Wenn ein Volk einen König wählt, weiß der König, dass er ein Mandat hat. Ein König kann umgekehrt ein Mandat ablehnen, wenn er im Volk keine absolute und deutliche Mehrheit hat. Jeder, der einmal in einer Führungsposition war, weiß, wie wichtig einerseits die völlige Loyalität der Gefolgsleute und wie störend andererseits eine Opposition sein kann. Sie kann auch zum Scheitern eines Projekts oder zur Nichtregierbarkeit führen. Da Gott niemand zwingt, muss es einen anderen Weg geben, Menschen wohlwollend und gottwollend werden zu lassen. Das sind die Menschen genau dann, so lehrt es die Bibel, wenn sie in Christus sind.
Biblisch gesehen und heilsgeschichtlich verstanden ist ein Mensch erst dann bei seiner Bestimmung angekommen, wenn er bei Christus angekommen ist. Wenn die Bibel vom „In-Christus-sein“ spricht, meint sie die größtmögliche Nähe zu Ihm. *25 Man ist dann christusgemäß, und Christus braucht keine Torah oder sonstige Stützen oder Hilfsmittel. Die Torah ist die Schule nicht für die Hochschulreife, sondern für die Messiasreife. Doch der Messias sitzt auf dem Thron und das Volk steht zu Seinen Füßen. Für Israel gilt zu allererst, dass es bei seinem König angekommen sein muss. Der Sohn Gottes ist Sich Selber, weil Er Gott ist, Recht und Ordnung; Er ist Sich Selber höchste ethische Vollkommenheit, nicht nach menschlicher Art, sondern nach Gottes Art. Gott braucht Sich nicht Selber belehren und zur Reife bringen und kontrollieren, ob Er Sich an Sein Wesen hält. Bei uns Menschen ist das anders, weil wir noch lange nicht bei Gott angekommen sind, selbst wenn wir eine Lebensreife erreicht haben. *26
Es kommt nicht auf die Lebensreife an, sondern auf die Gottesreife.
Gott hatte schon immer Seine Identität. Er war schon immer Er Selbst.
Jemand der behauptet, Christ zu sein und morden würde (keine seltene Erscheinung in der Geschichte des Christentums der letzten 2.000 Jahren!), dem müsste man sagen, „du glaubst wohl, dass Jesus der Sohn Gottes ist und für deine Sünden gebüßt hat, aber du darfst und sollst nicht morden.“ Und schon hätte man ihn wieder in die Torah eingebunden, die ja nichts weiter ist als eine „Zielgebung“, eine Orientierung zum Ziel hin. Das hebräische Wort Torah müsste eigentlich mit „Zielführung" übersetzt werden. Juden verstehen es als Weisung mehr noch als ein bloßes Gesetz. Es ist leicht einzusehen, dass Torah meist eigentlich eine Weisung wie eine Weg-Weisung meint. Der Unterschied zum Begriff „Gesetz" ist offenkundig. Ein Gesetz ist im Wesentlichen eine Sammlung von Vorschriften, die dem Sinne nach, der im Idealfall in klare Worte gesetzt ist, zu befolgen sind. Dem Gesetz entspricht der Befehl. Eine Weisung entspricht mehr einem Auftrag und umfasst mehr als ein konkreter Wortlaut. Die Weisung lässt mehr Spielraum, wie man zum Ziel kommt. Am Beispiel des Gebotes „Du sollst nicht töten" soll das verdeutlicht werden.
Wenn man dieses Gebot nach dem Wortlaut nimmt, müsste man wie die indischen Jains ständig mit einem Mundschutz und einem Besen herumlaufen. Man müsste Vorsorge tragen kein Kleinstlebewesen einzuatmen und keines auf dem Boden zu zertreten. Das ist natürlich absurd. So wird das eigene Leben gar nicht mehr möglich. Das Gebot war nicht einmal so zu verstehen, dass man nicht aus Notwehr jemand töten durfte. Und es war auch noch nicht einmal so gedacht, dass man keinen Angriffskrieg führen durfte, sonst hätte Gott nicht wenig später, nachdem Er am Sinai die Zehn Gebote in Kraft getreten hatte, befehlen können, die Städte der Kanaaniter anzugreifen.
Die Torah sollte den Juden helfen, auf ein Ziel hin zu leben. D.h. das der, der die Gebote hält diesem Ziel näherkommt. Das Ziel war, eine bestimmte Lebensart, die dem Wesen Gottes nahekommt, einzuüben und anzunehmen. Das Ziel war niemals den Status eines „Gerechten" oder „Heiligen" zu erreichen, denn dazu war die Torah ungeeignet. *27
Diese Orientierung durch die Torah hat Gott ganz konkret aber Israel, dem Volk Seiner Wahl gegeben, das sich seit seiner Entstehung als halsstarriges Volk gezeigt hat. Die Torah wurde als Bundesverfassung ausschließlich dem Volk Israel zu einer bestimmten historischen Zeit an einem bestimmten historischen Ort gegeben, keinem anderen Volk. Wenn jemand, der sich als Christ versteht, einen Mord begeht, dann kann er in dem Moment nicht „in Christus“, also nicht im heiligen Geist gehandelt haben. Sich zum Christusglauben zu bekennen und „in Christus“ zu sein, sind also zwei verschiedene Dinge. In den Kirchen wird diese Unterscheidung nicht gemacht. Dementsprechend spricht man dort auch von einem Leib Christi, der die jeweilige Glaubensgemeinschaft oder alle ökumenisch vereinten Kirchen sein soll. Das ist ein verhängnisvoller Irrtum. An Christus zu glauben und eine Weisung wie die Torah notwendig zu haben, ist demnach kein Widerspruch. Braucht also Israel noch die Torah? Ja, denn wenn Israel noch nicht „in Christus“ ist, braucht es noch die Weisung und die Gebote Gottes.
Und der Kirchenglauben? Israel ist eine Volksgemeinschaft, eine Heilskörperschaft, die jederzeit für Individuen aufnahmebereit ist, die dazu gehören wollen. Auch am Sinai vor 3.400 Jahren war viel fremdes Volk dabei, das sich an die Rockschöße Israels gehängt hatte, weil man sehen konnte, dass dieses Volk unter einer göttlichen und beschützenden Macht stand. *28 Die Kirchen leben aber den Widerspruch, die Gebote Gottes für sich in Anspruch nehmen zu wollen, aber sich von Israel abzusondern. Wenn sie sich als torah-zugehörig verstehen, als zugehörig zum Neuen Bund Gottes mit Israel, dann können sie sich nicht gegen das eigentliche Bundesvolk stellen, ohne sich selbst ins Abseits zu stellen. Wer beim Durchzug durchs Rote Meer damals zu weit weg war vom Volk Israel, der ging bei dem anschließenden Hereinbrechen der zurückfließenden Fluten unter. Ebenso wird es den Kirchen ergehen, die israelfeindlich eingestellt sind. Ihr Untergang erfolgt in zwei Stufen. Zuerst werden sie nicht verstehen, dann werden sie sich auflösen. Man kann heute deutlich sehen, dass sie bereits inmitten der Stufe zwei sind. Die Kirchen werden immer leerer. Als sie noch voller waren, war die Situation auch nicht besser, denn da befand man sich in der Phase eins und die Kirchgänger wurden mit israelfeindlichen und auch sonst fehlerhaften Botschaften beschallt. Das geschieht in leeren Kirchen nun nicht mehr, aber die Medien haben längst andere Kanäle, die beinahe alle Menschen erreichen.
Israel ist in der Bibel die Braut des JHWH-Gottes und der ist Christus *29 Solange die Braut noch nicht zu ihrem Bräutigam gefunden hat, ist sie auch nicht „in Christus“. Das ist wie in einem Ehebund. Die Ehe ist erst dann an ihrem Ziel angelangt, wenn das Im-anderen-sein, was die geistliche, seelische und leibliche Ausrichtung betrifft, erreicht ist. Und auch das ist nur in Christus möglich. Es ist daher ein Irrtum, dass im Moment der Eheschließung bei Menschen nun alles besiegelt und unveränderlich festgelegt sei. Es ist erst der Anfang. Und auch da sollte man, wie es Gott tut, darauf achten, dass man die Personen nicht willkürlich, nach der Vorstellung des Menschen und entgegen den Vorstellungen Gottes zusammen tut, denn so bleibt alles Stückwerk und nichts passt zusammen. Was nicht zusammengehört, passt auch niemals zusammen. Gott sagt in der Heilsgeschichte, „jetzt ist Israel dran“ oder „jetzt sind die Erstgeborenen dran“. *30 Aber zuvor muss der Mensch neu gemacht werden. Er braucht eine Geistgeburt. Gott will ein Volk für Sich auswählen, welches einen bestimmten Auftrag erfüllen und einen bestimmten Gottesdienst verrichten soll. Und auch die Menschen sollen auf Gott hören, wenn sie ihre persönliche „Heilsgeschichte“ planen.
Bezeichnenderweise ist bei aller Auswahl durch Gott beim Volk immer die Freiwilligkeit gegeben. Gott zwingt Israel nicht. Er wirbt zwar um die Liebe zu Ihm, der Sein Volk immer liebt. Aber Er wartet und nimmt sich Äonen Zeit. Er weiß, das Volk wird sich hinführen lassen zur Umkehr und Hinwendung zu Ihm. Und wenn es seinen Gott so erkannt hat, wie Er erkannt werden kann, nämlich in Seiner ganzen Pracht und Schönheit, die Er in all Seinen Qualitäten hat, Seiner Liebe, Seiner Güte, Seiner Barmherzigkeit, Seiner Großzügigkeit, Seiner Wahrheit, dann wird es Ihn ebenso lieben und mehr und mehr zu Ihm hinwachsen in eben diesen Qualitäten. Das ist das Geheimnis der Ehe: Gott wählt aus, sodann werden Geist, Seele, Leib aufeinander ausgerichtet. Am Ende steht das herrliche Einssein mit Gott. Aber am Anfang steht die Wahl Gottes. Wenn Kirchen sich als neue Braut Israel oder gar als „Leib Christi“ bezeichnen, mögen sie das tun. Aber wenn Gott nicht so gewählt hat, ist es wirkungslos.
Weil Israel nicht aus eigenem Bemühen „in Christus“ sein kann, wird es auch so lange nicht „in Christus“ angekommen sein, wie Gott es bestimmt hat. Solange es aber außerhalb Christus ist, muss es die Verhältnisse draußen beachten. Außerhalb von Christus ist der Sabbat, der Feiertag, die Torah und der Tempeldienst, die alle dazu dienen, zum Christus hinzuführen. Daher ist es nicht ratsam, Juden, messianischen Juden und Christen, die sich fleißig im Befolgen von Sabbaten und Feiern von Festtagen üben wollen, zu maßregeln. Das ist oft anmaßend von Kirchenleuten, die selber nicht viel vom „in-Christus-sein“ verstanden haben und oft genug durch ihre israelfeindliche Einstellung zeigen, dass sie nicht berufen sind, im Auftrag von Gott zu handeln.
Sabbat haltende messianische Juden lassen sich möglicherweise ihrem Auftrag gemäß für den Dienst an Israel und den Nationen vorbereiten. Wenn sie aber Christen, die zum Leib Christi gehören, von den Vorzügen des Sabbathaltens künden, um sie auch für das Halten der Torah zu begeistern, sind sie ebenso an der falschen Adresse. Und so kommt es, dass Christen und künftige Lehrer des Gottesreiches aneinander vorbeireden. Das war im ersten Jahrhundert auch nicht anders. Man kann das auch am Neuen Testament sehen. Schon damals hatte es weitreichende Konsequenzen. Wenn Gott das so zugelassen hat, dann nur deshalb, weil es jedem die Grenzen aufzeigt. Ob man diese Grenzen akzeptieren will, ist eine andere Sache. Es gab damals Judenchristen, die es nicht akzeptieren konnten, dass Paulus das predigte, was sie als gegen die Tradition, schlimmer noch, gegen Gottes Wort gerichtet verstanden.
Wenn jemand konkrete Weisung braucht, dann mag er die Bergpredigt sein persönlicher Ratgeber sein lassen, aber dieser Ratgeber ist nicht ideal. Der ideale, viel bessere Ratgeber ist der Geist Christi, der in einem jeden wohnt, wenn man ein Glied am Leibe Christi ist. Im Leib Christi wird alles vom Geist Christi durchweht und durchdrungen. Es gibt Prediger, die ihren Zuhörern und Lesern die Lasten der Bergpredigt auferlegen, ohne dass sie selber diese hohen Anforderungen genügen können. Die Folge davon kann sein, dass viel geheuchelt wird, wenn man so tut als müsse man das Ideal der Bergpredigt erreichen und würde es auch erreichen können, wenn man sich nur ernsthaft und redlich darum bemühte. Und so redet man auch zu den Leuten. Da wird alter Sauerteig in neue Schläuche gedrückt. Aber selber hat man auch nur festgestellt, dass man immer wieder scheitert. Wenn man zu sich selbst ehrlich ist, wird man feststellen, dass die Jünger ganz recht hatten, als sie Jesus fragten, wenn die Dinge so „schlimm“ stehen, dass die Latte der Forderungen so hoch hängt, wer kann dann überhaupt noch ein Gerechter werden? Jesus antwortete, dass bei Gott alle Dinge möglich sind. Das bedeutet umgekehrt, Menschen vermögen es gar nicht. Und auch hier haben wir wieder einen dezenten Hinweis auf die Tatsache, dass man in Christus sein muss, denn Ihm als Gott ist es möglich unsere Gerechtigkeit zu sein.
Nur Gott selbst ist es möglich unsere Gerechtigkeit zu sein.
In Jesus ist das Heil, in Ihm ist auch die Gerechtigkeit. Ohne Heil keine Gerechtigkeit, ohne Gerechtigkeit kein Heil.
Die zwölf Jünger verhielten sich keineswegs widersprüchlich. Sie predigten nicht Wasser und tranken Wein. Sie predigten nicht die Freiheit von der Torah wie Paulus es gegenüber den Nichtjuden tat, und sie hielten selber die Torah mit vorbildlichem Eifer. Das genau war ihre Aufgabe, die sie von Jesus bekommen hatten, die viel größere Gerechtigkeit zu praktizieren, die durch den Geist Christi initiiert wird und dabei zugleich auf den Christus hinzuweisen, der größer ist als die Torah, weil Er das Ziel, die Vollendung der Torah ist.
Die nichtgläubigen Juden hätten Jakobus nie so geachtet, dass sie ihn als Gerechten bezeichnet hätten, wenn er nicht die Torah genau befolgt hätte. Die Torah ist aber nicht die Bergpredigt! Jesus und Stephanus waren nicht umgebracht worden, weil sie gegen die Torah verstoßen hätten, sondern weil sie die herrschende religiöse Autorität angriffen (heute muss man aus dem gleichen Grund mit Rufmord rechnen). Jakobus unterschied auch nicht Zeremonial- von Moralgeboten wie es die christlichen Kirchenlehrer tun, weil Gott so eine Unterscheidung niemals vorgesehen hat. *31
Den meisten Theologen ist entgangen, dass das Festhalten an jüdischen Gebräuchen nicht einer pragmatischer Taktiererei zuzuschieben ist, sondern sich aus dem Festhalten an biblischen Anweisungen ergibt. *32 Jakobus war der Bruder Jesu und hatte sehr wohl aus nächster Nähe verfolgen können, dass Jesus auch schon vor seinem öffentlichen Wirken die Gebote der Torah vorbildlich beachtete. Die Jünger Jesu hatten auch verstanden, dass die Gebote der Torah die Gebote Jesu Christi waren. *33 Er war nicht gekommen auch nur ein Tüpfelchen der Torah aufzulösen, aber Er hatte die Torah in einem doppelten Sinn erfüllt. Das versteht man nur, wenn man weiß, was die Torah im Verhältnis zum Torah-Geber Jesus Christus, JHWH, bedeutet.
Jesus hat die Torah für die Juden und ihr Gerechtigkeitsbedürfnis erfüllt, da sie auch beim Messias sehen wollten, dass Er gegen keines der Gebote der Torah verstieß. Dass war der Ausweis, dass Er der Messias war und somit konnte Er als Opferlamm für alle geschlachtet werden, da Er ohne Sünde war und sich zugleich als Messias qualifiziert hatte. Das könnte man den jüdischen Teil des Opfers nennen.
Und zum anderen erfüllte Jesus die Torah, weil ja die Torah auf Ihn hinwies und hinführte. Da Er nun gekommen war, stellte Er mit Seinem ganzen sündlosen und göttlichen Wesen, das Ziel der Torah dar. Er überkam die Torah, indem Er sie hielt und sie zugleich auf Sich vollendlich zuführte. In Jesus ist torahfreie Zone, weil Er die Torah in ihrer geistigen Form verkörpert. Sie kommt aus Ihm, es sind Seine Ideen, die das Heil aller Menschen planen. Die Torah ist ein Ausfluss Seiner Gedanken, die die Ganz-Hinführung und Ganz-Hineinführung zu Ihm und in Ihn hinein beginnen soll. Dieser Beginn kann ein Begleiten sein, bis das letzte Ziel, das „In-Christus-sein“ erreicht ist.
Um es klar zu machen, nicht sind Jesus und die Torah eins, weil Jesus die Torah bis ins letzte hält, sondern genau umgekehrt, weil Jesus die Torah aus sich herausnahm, kann sie nicht etwas anzeigen, was nicht im Geiste Christi begründbar wäre.
Nehmen wir das Beispiel des Sabbattages. Jesus hat als JHWH dem Volk Israel das Gebot gegeben, am Sabbat keine Arbeit zu tun. Er wollte das, damit das Volk Gelegenheit bekam, an diesem Tag Seiner zu gedenken und weil Er Seinem Volk mit einer Ruhephase wohltun wollte. Aus Seinen Gedanken der Fürsorge und aus Seinem Retterwillen entstand so das Sabbatgebot. Gott setzte den Sabbat als Ruhetag im Grunde durch Sein Vorbild nicht erst am Berg Sinai ein, sondern schon am Ende der Schöpfungswoche, denn alle Menschen sollen ja einst in Seine Ruhe eingehen. Seine Ruhe bedeutet, bei Ihm und in Ihm angekommen zu sein.
Die wahre Sabbatruhe bedeutet bei Christus und in Christus angekommen zu sein.
Der Sabbat ist wie die Torah für den Menschen gemacht, nicht umgekehrt der Mensch für die Torah, also kann noch viel weniger die Torah über Gott stehen. Sie dient dem Menschen und Gott hat sie in Seiner Fürsorge und aus Seinem Retterwillen, der heilsgeschichtlich zunächst bei Israel ansetzt, in Kraft gesetzt.
Die Torah ist eine glaubensmäßige Vorstufe zum Leben in Christus. Sie wurde aber speziell für das Volk Israel konzipiert. Wer immer sich diesem Volk anschließt und keinen direkten Zugang zu Christus hat, tut gut daran. Wer in die Ruhe Christus bereits eingegangen ist, braucht das nicht. Er braucht dann auch nicht das Sabbatgebot als verpflichtend betrachten. Man sieht aber daran auch, dass es völlig verfehlt ist, ein Sonntagsgebot einzuführen. Man bringt die Leute eher von Christus weg, weil sie wieder ihr Heil im Halten von Geboten sehen. Je fleißiger und „treuer“ man die Gebote hält, desto größer fällt die Belohnung aus. Diese Sichtweise ist, wenn man sie zum absoluten Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen macht, ein Irrweg aller Religionen. Ein Lohnverhältnis ist immer nur ein Arbeitgeber-Arbeitnehmerverhältnis, niemals ein Vater-Kind-Verhältnis. Der Lohngedanke ist eben auch im Christentum über Gebühr entwickelt und die Theologen suchen ihn auch da, wo er nicht hingehört. *34
Das Heil liegt allein in Christus und hängt in allem was „christusgemäß“ ist.
Wenn also jemand von der „geistigen Torah“ redet, dann kann er berechtigt nur Jesus Christus selber als Verursacher der Torah meinen. Mit allem, womit jemand der Torah einen eigenen, neben Christus bestehenden Wert zueignen will, befindet er sich im Unrecht und ist aus dem Einssein mit Christus „herausgefallen“. Er ist nicht wirklich herausgefallen, weil er nie wirklich drin war. Er ist dann bestenfalls auf einem guten Weg zum Christus, aber er ist noch lange nicht angekommen.
Es gibt zwei Arten Menschen. Die einen, die „in Christus“ sind und die anderen, die noch nicht in Christus sind. Sie sind irgendwo außerhalb und wenn sie wissen, dass die Torah ein Weg zu Christus ist, haben sie die richtige Zielrichtung. Die meisten Juden und sogenannten Christen sind tatsächlich noch lange nicht beim Ziel angekommen, selbst wenn sie kundtun, dass sie Jesus Christus gehören. Ihm gehört sowieso die ganze Schöpfung. Eine andere Frage ist, ob diese Zugehörigkeit in der Schöpfung bereits ganz durchgedrungen ist. Wo immer Paulus sagt, dass die Torah für Nichtjuden nicht anzuwenden sei, meint er das unter der Voraussetzung der Möglichkeit des unmittelbaren Eingangs in das Heilswesen Jesu Christi. Aber weil sie den Zweck behält, den Menschen ihre Ungerechtigkeit vorzuhalten, kann Paulus sagen, die Torah sei heilig, recht und gut, und er kann auch sagen, sie sei Dreck (Phil 3,8). Dreck und die Torah haben dies gemein: sie können Jesus nicht ersetzen. Wer die Torah an Stelle von Christus setzt, entwertet sie und dann kann sie sogar zu einem Hindernis auf dem Weg zur Hingabe an Christus werden. Es gibt viele Eiferer für die Torah wie Paulus einer war, als er noch Saulus hieß. Und doch sind sie noch sehr weit weg von Christus. Aus alledem kann man ebenso schließen, dass meist eine Verkennung der Zuständigkeiten und Heilszeiten vorliegt, wenn ein nichtjüdischer Christ anderen nichtjüdischen Christen das Einhalten der Torah vorschreibt. Jesus musste sich auch nicht sagen, dass Er sich an der Torah orientieren müsste, sondern Er sagte, dass Er das tut, was Ihm Sein Vater gesagt hat.
Die zwölf Jünger Jesu sind also Etappenarbeiter gewesen. Sie waren in dem Bereich im Einsatz, wo die Torah noch als Zielgeber gebraucht wird. Das erklärt auch die vermeintlich widersprüchlichen Aussagen des Paulus. Ein Schweitzer Messer kann unter Umständen lebensrettend sein, aber wenn sonst nichts dazukommt, macht es nicht satt. Aus sich heraus vermag es nichts, nur unter den gegebenen „heilsgeschichtlichen“ Bedingungen nützt es. Wenn mir das Manna in den Mund fliegt, brauche ich kein Schweitzer Messer. Die Torah ist so etwas wie ein Schweitzer Messer, genial und wertvoll, aber alleine vermag es nichts. Die Torah ist heilig, recht und gut und nützlich für alle, die noch nicht in Christus sind. Wer in Christus ist, ist eins mit dem Torah-Geber und lebt in einer höheren Daseinsebene. Ob er sich dessen bewusst ist, ist bei ihm ebenfalls eine Frage des Wachstums.
Es ist daher ein Unsinn zu sagen, dass Gott die Torah braucht, wie ich es schon von einem christlichen Verkünder gehört habe. Die Erlösung geht nicht von der Torah aus, sondern von Jesus Christus, der alles zur heilsgeschichtlichen Vollendung mit dem Vater geplant hat und natürlich Sein Ziel erreicht.
Bei manchen Juden könnte man den Eindruck haben, dass sie an zwei Götter glauben. Den, den sie Adonai nennen und die Torah. Das genau ist auch das Problem mancher christlicher Kirchen: vor lauter Gesetzeswerken haben sie das Wesen, den Willen und das Vorhaben Jesu Christi ganz aus den Augen verloren. Und schon schiebt sich wieder die Regel, die Pflicht, der Gehorsam einer Kirche gegenüber, der Konsens, der Ritus in Sicht und versperrt den Blick auf das Wahre.
Jesus hatte gesagt, er sei nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu vollenden. Er meinte nicht das deutsche Grundgesetz, sondern das israelische Grundgesetz, die Torah. D.h. wer Ihn als Angehöriger Israels, der zukünftigen Braut Christi, der bereits am Sinai die Torah gegeben worden war, nicht angenommen hat, für den kann weiter die Torah wie eine Richtschnur, ein Leitfaden, ein Lehrmeister usw. fungieren. Er hat ja sonst nichts, denn der Geist Christi ist ihm nicht zugeteilt. Das bedeutet aber auch, dass die Nation Israel nicht oder noch nicht ganz in diesem Christus sein kann, denn vor dem Einswerden kommt die Vermählung. Vor dem Einswerden von Mann und Frau, kommt die Eheschließung, weshalb es kein Einswerden vor der Eheschließung nach göttlicher Ordnung geben soll. Die Vermählung der Braut Israel mit dem Bräutigam Christus ist heilsgeschichtlich noch nicht dran. Jesus sagte daher auch: „Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.“ (Mt 5,18) *35
Bis alles geschehen ist! „Alles Geschehen“ ist eine ganze Menge Geschehen! Bis Himmel und Erde vergehen, kann tatsächlich viel geschehen. Dieser Satz passt in keiner Weise zu der Vorstellung, dass im Jahr 2018 die Torah nicht mehr gelten würde, denn Himmel und Erde sind immer noch nicht vergangen. Die Torah wird exakt dann nicht mehr zitiert werden müssen, wenn alles in Christus ist. Dieser Zeitpunkt wird in der Bibel genannt, da wo Paulus den Ephesern sagt, was sie von Gott bekommen haben: „Er hat uns ja das Geheimnis seines Willens zu erkennen gegeben nach seinem Wohlgefallen, das er sich vorgenommen hat in ihm für die Verwaltung bei der Erfüllung der Zeiten; alles zusammenzufassen in dem Christus, das, was in den Himmeln, und das, was auf der Erde ist - in ihm.“ (Eph 1,9-10)
Alles wird in Christus zusammengefasst und als wollte Paulus es nochmals unterstreichen, sagt er es nochmals: „in ihm“.
Alles ist durch Christus und zu Christus geschaffen. „ Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen. “ (Kol 1,20) Das sind Sätze, die das Weltkirchentum nicht versteht und noch nie verstanden hat, denn es muss geistlich verstanden werden. Um etwas geistlich zu verstehen, reicht es nicht, die Bibel zu studieren, sonst hätte Jesus nicht sagen können: „Ich preise dich, Vater und Herr des Himmels und der Erde, dass du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen geoffenbart.“ (Mt 11,25) Hier steht nicht „Unmündige“ (Lu17Ü) sondern népios, was „kleine Kinder“ bedeutet. Das sind eben genau die Kinder, über die Jesus sagte, dass man sie zu Ihm kommen lassen soll (Lk 18,16). Kant hatte schon Recht, dass es eine selbst verschuldete Unmündigkeit gibt. Was er aber nicht wusste, ist, dass man diese Unmündigkeit nicht durch humanistische Bildung, sondern allein durch Christus gewinnen kann. *36
Christus führt die Seinen mit Seinem Geist. Das ist geradezu das Kennzeichen der Angehörigen Christ, dass sie geistgeführt sind und das auch wissen. *37 Wenn alles bei Christus angekommen ist, übergibt Er alles dem Vater. Da fragt dann niemand mehr nach der Torah. „Wenn ihm aber alles unterworfen ist, dann wird auch der Sohn selbst dem unterworfen sein, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei.“ ( 1Kor 15,28 ) * *38
Da der Sohn sich aber auch Gott „unterwirft“, muss man für die übrigen, die zu „allem“ dazugehören, auch nicht unterstellen, dass sie das nicht freiwillig und mit Freude tun, jeder an seinem Platz. Dann, wenn alles Gott untergeordnet wird, hat jedes und jeder die Vollendungsstufe erreicht, denn nur so kann Gott alles in allem sein. Alles ist von Ihm durchdrungen, durchgeistet und durchseelt. *39 Mit der Kreuzigung sind die Weichen auf Sieg gestellt, er muss „nur noch“ eingefahren werden. Aber was alles in diesem „nur noch“ steckt! Mit der Kreuzigung ist noch lange nicht alles erfüllt, sonst könnte Paulus nicht Jahrzehnte später den Römern sagen, dass Israel verstockt ist, bis ganz Israel errettet wird (Röm 11,26). Er sagt nicht, das Israel „vielleicht“ noch errettet wird, sondern er stellt fest, „dass“ Israel errettet wird. Die gelehrten Kirchenvertreter haben es fertiggebracht, diesen Satz zweitausend Jahre lang zu ignorieren oder beständig zu leugnen, dass er das bedeutet, was er sagt. *40 Sogar jüdische Evangeliumsverkünder behaupten „ganz Israel“ dürfe man nicht als „ganz Israel“ lesen, sondern nur als ein Teil, der dann zu einem bestimmten historischen Augenblick vorhanden ist. *41 Natürlich ist es eine weit verbreitete Untugend, dass Menschen zu Übertreibungen neigen. Aber sie sollten sich eines gut merken: Gott übertreibt niemals und sagt immer exakt das, was Sache ist. Ob man es wahrhaben will und verstehen kann, ist eine andere Sache.
Dass sich „ganz Israel" auf die christliche Kirche beziehen könnte, wie manche annehmen, ist schon deshalb unmöglich, weil sich Paulus ja in seiner Argumentation vorher auf die Verstockung Israels als Volk bezogen hat und nun nicht jemand anderes anspricht, weil dann die Argumentation nicht mehr greift. *42 Aus dem gleichen Grund kann „ganz Israel" auch nicht alle Juden und alle Nichtjuden umfassen, die sich bekehrt haben. *43 Wenn Paulus von der Rettung ganz Israels redet, denkt er aber auch nicht an eine Redefigur, sondern an ein eschatologisches Ereignis. *44
Solange Israel noch nicht sein Ziel in Christus, nämlich bei der Vermählung erreicht hat, bleibt das Gesetz der Torah von Bedeutung. Es kann nicht erlösen, es kann erziehen, indem es Kenntnisse vermittelt. Die wertvollste Erkenntnis ist, dass der Mensch sie niemals ganz halten kann. Jesus hat die Torah geachtet und eingehalten. Er war der einzige. Viele Juden vieler Generationen haben den Versuch unternommen, die Torah zu halten. Jesu Jünger taten es auch. Nicht weil sie dachten, dass sie das zur Befreiung von Sündenschuld benötigten, sondern weil sie Juden waren, mit denen Gott einen Bund geschlossen hatte, der für Israel das Beachten der Gebote Gottes beinhaltete. Und sie waren in der Nachfolge Jesu, der die Torah beachtet hatte.
In diesem Zusammenhang ist die Trennung der Torah in Zeremonialgesetze und ethische Gebote eine Erfindung von Kirchentheologen, die lediglich belegt, dass sie ganz Wesentliches nicht verstanden haben. *45 Die Trennung ist willkürlich und künstlich und irrelevant. Die Akademien des weltlichen Gelehrtentums lehren menschliche Lehren. Wenn sie von Gott etwas wissen, dann ist das der Gnade Gottes zu verdanken. *46 Auch Jesus war ein Jude. Die torahfrommen Juden glauben ja in einem biblischen Anachronismus, wenn das Volk ein Maximum an Torahergebenheit erlangen würde, würde ihr Meschiach kommen. Dabei war Er es selber, der diese Voraussetzung Seines eigenen Kommens erfüllte, aber eben bei Seinem ersten Kommen für Sein zweites Kommen. Den Juden unterlief also ein Denk- und Aufmerksamkeitsfehler. Wenn Voraussetzung für das Kommen des Messias Sündlosigkeit war und es gar keinem Menschen möglich war sündlos zu sein, außer dem Menschensohn, dann war doch unvermeidbar, dass der Messias zwei Mal kommen musste. Zuerst als sündloser Menschensohn, um die Voraussetzung für Sein zweites Kommen zu liefern und dann als König über Israel und die Nationen. Dies war der Zweck Seines ersten Kommens: die Torah zu erfüllen, damit der Messias als König und Richter kommen könnte. Dabei brachte Er aber auch noch die Gerechtigkeit für alle durch Seinen Kreuzestod. *47 Bevor Jesus nicht beides erledigt hatte, das Torah erfüllende Leben für alle Juden und das sündlose Leben für alle Menschen, konnte auch nicht das messianische Reich in Kraft treten.
Die Juden begingen zwei Fehler. Erstens konzentrierten sie sich zu sehr auf sich und dachten nicht an ihre nichtjüdischen Nächsten. Hätten sie es getan, hätten sie verstanden, dass der Menschensohn für alle Menschen die Erlösung bewirken musste, wie es bereits im Alten Testament anklingt.
Und zweitens dachten sie, sie wären selber imstande die Torah einzuhalten. Das ist die für fromme Menschen typische unbekehrte Haltung des „ich kann es“ und „ich will es“, damit man sich ja nicht von Gott helfen lassen muss. Das Können und Wollen des Menschen war aber noch nie das Entscheidende. Anders gesprochen, den hochmütigen Menschen fehlt es an Demut, genauer gesagt, an göttlicher Demut. Es geht beim Erfassen des Göttlichen um Demut in Würde, nicht um Ehrlosigkeit, die aus dem Hochmut kommt. *48 Aber das Reich ist auch dann nicht gekommen, als Jesus Seine erste Mission erfüllt hatte. Er würde mindestens die nächsten 2.000 Jahre auf Seine Rückkehr warten lassen.
Hier setzt die Bibelkritik an, die behauptet, Jesus und Seine Jünger hätten sich einfach geirrt. Sie kündigten das Kommen an und dann kam es doch nicht. Weder der Messias kam noch einmal, noch sein Reich brach sichtbar an. Paulus gibt die Erklärung dafür (Röm 11,25-26). Diese (bis jetzt) 2.000-jährige Wartezeit ist die Verstockungszeit Israels und zugleich die Bildungszeit der Gemeinde des Leibes Christi im Verborgenen. *49 Gott hat auch wegen Seiner Heiligkeit und der Heiligkeit Seiner Wege Seine Pläne, Entscheidungen und Seine Wege vor den unkeuschen Augen der Menschen verborgen.
Dem entspricht auch Psalm 51,8: „Siehe, du hast Lust an der Wahrheit im Innern, und im Verborgenen wirst du mir Weisheit kundtun.“ Das ist der Welt verborgen, was Gottes Geist ausrichtet. Und daher ist die Botschaft vom Kreuz auch ein Ärgernis und eine Torheit für die Menschen. *50 Daher kann nur durch die Wirkung des Geistes Gottes ein Durchblick entstehen. Die Heilsgeschichte Gottes kann nur aus der Sicht Gottes verstanden werden. Sie kann somit auch nur durch den Geist Gottes aufgeschlossen werden. Der Menschengeist beschäftigt sich nur mit Kirchengeschichte. Und hat auch da keinen Durchblick. Wenn der Christus zu Seinem Volk, der Braut Israel zurückkehren wird, muss Er vorher vollständig sein, denn zum Christus gehört nicht nur das Haupt, sondern sämtliche Glieder. Diese Vervollständigung geschieht seit Golgatha und währt bis jetzt. Es weiß aber niemand, ob sie nicht schon morgen abgeschlossen sein wird. Fest steht nur, solange sie nicht abgeschlossen ist, kommt auch der Meschiach nicht zu Seinem Volk Israel zurück. Hier wird auch klar, warum es eine Entrückung und Auferstehung der Leibesglieder vorher geben muss, nämlich deshalb, weil der ganze Christus sich Israel präsentieren wird.
Paulus wusste das, denn er hat darüber geschrieben. Aber er hat es auch spät erfahren. Die Jünger wussten nichts davon, denn die Geheimnisse um den Leib Christi wurden Paulus und nicht den anderen Aposteln offenbart. *51 Wenn die Jünger davon wussten, dann hatten sie das von Paulus erfahren.
Man stelle sich vor, sie hätten das in ihren jüdisch-christlichen Gemeinden verkündet! Was hätte das ausgelöst, wenn sie zu den Juden gesagt hätten: „Wir von Israel werden einmal mit Christus zusammengeführt. Und wenn unser Messias kommt, bringt er ganz viele Nichtjuden mit, die zu Ihm dazugehören.“ Auch hierin kann man einen Grund sehen, warum Gott sich mit Paulus einen anderen als einen der zwölf Jünger Jesu ausersehen hat, dieses andere „Evangelium“ zu predigen, das so unerhört für jüdische Ohren geklungen haben musste. Was für den Menschen unerhört ist, wird von Gott hörbar gemacht. Aber das betrifft immer erst wenige, denn es ist nicht für die Masse bestimmt.
Man kann hier nicht von einem Beweis sprechen, dass die Zwölf nichts vom Leib Christi, der sich aus vergleichsweise wenigen Juden und vielen Nichtjuden zusammensetzt, verkündet haben und bei der Predigt vom messianischen Reich geblieben sind. Aber man müsste doch, wenn man die zwei Evangelien anzweifeln wollte, mit Erstaunen feststellen, dass sich nirgendwo im Neuen Testament, weder in der Apostelgeschichte noch in den Briefen und erst recht nicht in den Evangelientexten etwas finden lässt über eine Empörung der Juden darüber, dass die zwölf Jünger verkündet hätten, die Gemeinschaft der Geretteten würde sich mehrheitlich aus Nichtjuden zusammensetzen. Stattdessen liest man nur darüber, dass die Juden den Paulus verdächtigten, er würde sogar Juden lehren, sie müssten sich nicht mehr beschneiden lassen. Das passt viel besser zu der Annahme, dass sich die Verkündigung der Zwölf von der Verkündigung des Paulus ganz wesentlich unterschied, als zu der Annahme, dass beide das gleiche verkündeten.
Die Indizienkette ist erdrückend. Warum sind die Theologen und Bibelausleger der vergangenen Jahrhunderte nicht darauf gekommen? Weil sie in der Tradition verwurzelt sind? Die meiste Zeit war es lebensgefährlich eine von der Kirchentradition abweichende Sichtweise zu haben. In dieser Tradition der dogmatischen, mörderischen Rechthaberei, die der Machtausübung diente, steht diese theologische Sichtweise, dass es immer nur ein Evangelium gab und viele abweichende Ketzereien, die dann unbiblisch sein mussten. Was ist von dieser Sichtweise zu halten? Und auch heute noch werden Abweichler nicht ernst genommen, ausgegrenzt und als Irrlehrer gekennzeichnet, vor denen gewarnt wird. Der Wahrheitswert dieser herkömmlichen Sichtweise wird nicht von der Kirchengeschichte festgelegt und doch reflektiert. Er liegt bei null, weil die Bibel es beurkundet.
Doch zurück zu der Frage, warum Christus nicht sogleich zu Seinem Volk kam, nachdem Er in den Himmel aufgefahren war. Warum warten Christen seit zweitausend Jahren auf die Rückkehr Jesu, die er angekündigt hat? Ist es möglich, dass in der Zeit der Verstockung Israels die Gemeinde des Leibes Christi gebildet werden sollte? Das müsste dann wachstumsmäßig geschehen und Zeit beanspruchen. Gott hat keine Eile, weil Er genügend Zeit hat.
Andererseits muss man sich auch fragen: Warum sollte der Messias ein Volk regieren wollen, das Seine Existenz und Identität anzweifelt? Israel ist ein Schau-Volk. Es muss den Messias als solchen erkennen, wenn Er mit königlicher Macht kommt. Es wurde zwar immer geheißen, „Höre Israel…!“ und nicht „Schaue Israel!“ Doch gehört haben die Juden nie. Die Leibesgemeinde Christi ist dagegen kein Schau-Volk, sondern ein Glaubensvolk. Es wird geheiligt durch den Glauben, nicht durchs Schauen. Es wird gerettet durch den Glauben an Jesus Christus, nicht durchs Schauen Seiner Herrlichkeit. Und deshalb gilt der Glauben allein als zu gehender rechter Weg auch nur für die Leibesgemeinde. Mit dem Glaubensvolk hat Christus eine enge, intime Beziehung, denn Er ist das Haupt, die Gemeinde ist der Leib. Mit Israel, solange es noch nicht als Braut mit dem Bräutigam vermählt ist, besteht keine intime Beziehung, auch wenn es für den Bräutigam eine Liebesbeziehung ist *52 Für die Braut ist es das noch lange nicht. Die Liebe wird zuerst gegenseitig werden, bevor auch die Braut der Vermählung zustimmt. Und erst dann wird es eine intime Beziehung. Vor der Vermählung kommt das Reich Gottes, wo die Liebesbeziehung zwischen Israel und Seinem Gott wächst.
Im Reich Gottes wird die erste größere Ernte an Glaubenswerken stattfinden. Dazu gehören vor allem auch Werke der Aussöhnung. Das sichtbare Weltkirchentum hat wenige solcher Früchte hervorgebracht. Es hat Krieg geführt gegen die Heiligen Gottes und das Volk Gottes, Israel. Daran kann jeder erkennen, dass das Weltkirchentum nicht die Braut ist und auch nicht zum Bräutigam gehört, denn zwischen Braut und Bräutigam gibt es nicht Hass und Feindschaft, sondern wachstumsmäßige Liebe und Vertrauen. *53 Aber das kann sich alles ändern und wird sich ändern im Unterordnungsprozess unter den Heiland.
Zwangsehen gibt es nur unter Menschen, die nicht vom Geist Christi geleitet werden. Menschen ehelichen sich auch aus vielen Gründen, aber Ehen, die andauern, gibt es nur, wenn es eine liebende Gemeinschaft geworden ist, die von Gott gestiftet worden ist. Gott hat zweitausend Jahre keine Liebe gestiftet zwischen Weltkirchentum und Judentum. Es gibt aber bibeltreue Christen, die Gottes Volk lieben und schon immer geliebt haben. Es sollte daher nicht verwundern, wenn unter ihnen solche auserwählten Glieder Christi zu finden sind, denn Christus liebt Sein Volk. Manche sagen, das einzige biblische Kriterium, wonach sich bestimmen lässt, ob jemand zum Leib Christi dazugehört, sei die Geistesgabe. Nirgendwo in der Bibel steht, dass man Israel lieben muss. Aber abgesehen davon, dass Gott ausdrücklich sagt, dass freundschaftliche Beziehungen zu Israel Segen bringen und Feindschaft Fluch einbringt (1 Mos 12,3; 31,9-15), macht Gott hundertfach in Seinem Wort klar, wie Er zu Israel steht. Es ist töricht anzunehmen, dass man vor Gott Gefallen finden kann, wenn man mit denen sympathisiert, die Er zu Feinden erklärt hat und die ablehnt, denen Er eine bleibende Liebe zugesprochen hat. Der Fall ist also auch biblisch klar, da Jesus Sein Volk liebt, kann es kein Teil von Ihm geben, der es nicht liebt. Warum sollte Christus jemand Seinen Geist geben, der Israel nicht liebt, wenn Er ihn nicht dazu gibt, dass durch den Geist auch die Liebe die gleiche wird? Und deshalb ist die Liebe zu Israel ein Merkmal des Geistes Gottes. Die Schlussfolgerung, wer Israel nicht liebt, hat nicht die Liebe Gottes und damit auch nicht den Geist Christi in sich, scheint unausweichlich.
Wenn man sich heute anschaut, welche Haltung die Kirchenvertreter Israel gegenüber haben, wird man schwer an der Feststellung vorbeikommen, dass es gefährlich ist, sich darauf zu verlassen, dass die Worte Gottes im Alten Testament heute keine Bedeutung mehr haben, wo sie etwas für Israel verheißen. Genau das bestreiten einige jener Kirchenvertreter, die auch Israel zum Sündenbock im Nahostkonflikt machen. Joel zitierte Gott folgendermaßen: „In der letzten Zeit werde ich…mit allen Nationen ins Gericht gehen…Ich werde sie zur Rechenschaft ziehen für alles, was sie meinem Volk angetan haben, das mein Eigentum und mein Erbe ist.“ (Joel 4,1f und 14-16) Da kommen auch auf die UNO schwere Zeiten zu. Die UNO ist eine babylonische Schöpfung par excellence. Der Geist Christi weht in ihr nicht, sondern ein israelkritischer Geist.
Der Leib Christi ist eine andere Heilskörperschaft als Israel, auch wenn viele Juden dem Leib Christi angehören. Als nämlich Paulus an die Korinther schrieb, wandte er sich an eine Gemeinde, die sich aus Juden und Nichtjuden zusammensetzte, wobei die Nichtjuden wahrscheinlich zumindest mancherorts in der Mehrheit waren. Er bezeichnet sie in 1 Kor 6,15 und 1 Kor 12,27 als Glieder des Leibes Christi. Und in Eph 1,22-23 schreibt er über den Vater und den Sohn Christus: „ Und alles hat er seinen Füßen unterworfen und ihn als Haupt über alles der Gemeinde gegeben, die sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allen erfüllt.“
Hier wird der Leib Christi nicht nur mit der Gemeinde gleichgesetzt, sondern auch als Fülle Christi bezeichnet. Gr. „Pleroma“ bedeutet „Vervollständigung“. Christus wird durch die Gemeinde vervollständigt durch die, die zu Ihm dazugehören. Aber was ist damit gemeint, dass Christus „alles in allen erfüllt.“? Was ist alles? Wer sind alle? Das zu verstehen, hilft der Kontext: „jede Gewalt und Macht und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der nicht nur in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen genannt werden wird.“ (Eph 1,21) „Alles“ ist also jede Gewalt und Macht und Kraft und Herrschaft. Und „alle“ sind alle Personen, denn nur Personen haben Namen. Und dies alles ist den Füßen Christi untergeordnet. Die Übersetzung mit „unterwerfen“ ist möglich. Aber „hupotassó“ bedeutet vor allem auch „ unterordnen“.
Es ist natürlich so, dass ein Herrscher sich nur dann als Machthaber versteht, wenn Er auf alles, was sich in seinem Herrschaftsbereich befindet und ihm untergeordnet ist, auch jederzeit Zugriff hat. Deshalb haben sich Theologen ganz gegen die Logik gefragt, ob Gott auch Zugriff auf die Bewohner der Hölle hat. Für einige der älteren Kirchenväter war das keine Frage. Mit zunehmender Dominanz der Machtkirche Roms, die ihrem Kirchenvolk heidnische Gebräuche gestattete und andererseits der heidnischen Philosophie verbunden war, mehrte sich jedoch auch in der Frage nach der Herrschaft Christi der Pessimismus und das Evangelium wurde zu einer Deklaration des Elitarismus. Die großen Kirchen lehren einen pessimistischen Elitarismus. Pessimistisch ist er deshalb, weil nach dieser Lehre Gott keinen Zugriff mehr auf die Hölle hat und weil ein Großteil der Menschheit unerlöst weiter existieren muss. Elitär ist er deshalb, weil nur diejenigen erlöst werden, die das Evangelium nicht nur gehört, sondern auch geglaubt haben. *54 Da die Kirche zugleich die Sakramente zu unverzichtbaren Heilsmitteln erklärte, die nur sie zur Verfügung stellen konnte, bedeutete die Lehre von der „Ewigkeit der Hölle“ und die Sakramentalisierung der Kirche zusammengenommen eine Empfehlung, oft genug ein Druckmittel, für das Volk, ja nicht der Kirche den Gehorsam zu verweigern. Nicht alleine deshalb wurde die Kirche reich. Biblisch gesehen ist beides, Lehre und Ritus nicht begründbar. Es handelt sich um eine katholische Erfindung.
Es wurde also in der Kirchengeschichte nicht immer dasselbe und auch nicht ein einheitliches Evangelium gelehrt. Auch deshalb gibt es ja gerade die Vielfalt der Kirchen. Das hat zwar auch politische Gründe, aber eben auch theologische. Die katholische Kirche lehrt, man braucht Christus und eigene Werke; die protestantischen Kirchen lehren, man braucht Christus allein. Schon an diesem Hauptunterschied erkennt man, offensichtlich gibt es im realen Christentum tatsächlich ja auch mindestens zwei unterschiedliche „Evangelien“, die verkündet werden, auch wenn sich beide Parteien wenigstens darüber einig sind, dass nur eines davon, nämlich das eigene, richtig ist. Beide schließen sich gegenseitig aus. Was ist, wenn nun beide jeweils auch nur eine Schnittmenge mit der biblischen Wahrheit gemein haben? Kaum ein Theologe wird bezweifeln, dass das tatsächlich so ist. Niemand hat die ganze Wahrheit. Und wenn man zugibt, nur eine Schnittmenge der Wahrheit zu haben, ist es dann nicht denkbar, dass man sich als weltliche Organisation in einem gleichen Verhältnis zur Wahrheit befindet wie das religiöse Judentum zur Zeit Jesu oder zur Zeit nach den letzten Propheten, bis Johannes der Täufer kam? Es war die Zeit, in der man in Israel von der Überlieferung und der Interpretierung der Überlieferung lebte. Die prophetenlose Zeit in der Christenheit dauert nun schon 2000 Jahre.
Im Judentum war wie schon gesagt der Gedanke, dass der Messias zuerst kommen müsste, um für die Sünden Israels stellvertretend die Strafe entgegen zu nehmen, nicht weit verbreitet. Alle erwarteten nur den siegreichen, Frieden bringenden Messias. *55
In der Kirchenchristenheit ist man nicht darauf gekommen, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass es neben dem Evangelium für alle Völker, das Jesus als Sündenerlöser verkündet, noch ein zweites gibt, bei dem der Fokus auf Israel gerichtet ist. Dass dieses zweite Evangelium unbeachtet blieb, hing damit zusammen, dass man ersatztheologisches Denken einführte und zur alleinigen Wahrheit erklärte. Israel war als Gottesvolk gestorben, Jesus gehörte nun den Christen und nicht mehr den Juden. Man machte aus Ihm einen Heiden, denn Jude durfte Er ja nicht mehr sein!
Die Substitutionstheorie oder Ersatztheologie meint, dass die christliche Kirche heilsgeschichtlich an die Stelle Israels getreten sei. *56 Die Kirche ist also das eigentliche und „wahre Israel". *57 Die Kirchen haben es ja anderseits nicht viel mit der Heilsgeschichte, da sie einer gewissen Gleichförmigkeitstheorie anheimgefallen sind. Was heute nicht zu beobachten ist, gab es zu früheren Zeiten auch nie. *58 D.h., dass die Ersatztheologen alle Aussagen, ob im Alten Testament oder im Neuen Testament auf sich ins Hier und Jetzt übertragen. Als ob Gott schon im Alten Testament, wenn Er von Israel spricht, die Kirche gemeint hätte! Das Bemerkenswerte ist, dass die Gleichförmigkeitstheorie von Jesus nur für das bestätigt wird, was das stets gleichbleibende Desinteresse der Menschen an Gott anbelangt, das ihn gerichtsreif macht (Mt 24,36). Wie in den Tagen Noahs, sagt Jesus, so wird es auch am Ende der Zeit sein, dass die Menschen nicht umkehren von ihrem Tun. Und warum? Weil doch alles gleich bleibt. Petrus warnt vor dieser Sichtweise (2 Pet 3,4). Und so spotten die Feinde des Evangeliums, dass sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. In Wirklichkeit bleibt nur Gott zuverlässig gleich (Heb 13,8). Interessant ist aber wie Petrus seine Warnung weiter ausführt. Das ist prophetisch: „Denn nach ihrem eigenen Willen ist ihnen dies verborgen, dass von alters her Himmel waren und eine Erde, entstehend aus Wasser und im Wasser durch das Wort Gottes, durch welche die damalige Welt, vom Wasser überschwemmt, unterging.“ (ElbÜ, 2 Pet 3,5-6) Das ist ja gerade der Vorwurf an den Aktualismus und die Evolutionstheorie, die gegen die biblische Offenbarung gerichtet sind und damit auch die Sintflut leugnen. Dies hat aber zur Folge, ebenfalls zu leugnen, dass die Menschheit wegen ihrer Sünden untergegangen ist. Es gibt keinen Gott, der die Menschen wegen ihren Sünden belangen könnte, das ist die Kernaussage dieser gottlosen Lehren. Die Bibel sagt, dass das Gericht wegen der Sünden der Menschen abermals kommen wird. Und so sagt Petrus folgerichtig: „Die jetzigen Himmel aber und die Erde sind durch sein Wort aufbewahrt, für das Feuer behalten auf den Tag des Gerichts und des Verderbens der gottlosen Menschen.“ (2 Pet 3,7)
Da helfen auch Darwin und Konsorten nichts. Petrus verdeutlicht auch, der Aktualismus und jede Lehre, die gegen Gott und damit gegen die Wahrheit gerichtet ist, ist nicht unweigerliches Ergebnis wissenschaftliches Forschen, sondern entspringt dem „eigenen Willen“. Es ist der sündige, gottlose, rebellische Willen des Menschen.
Und so ist es auch mit der Substitution Israels durch die Kirche. Es gibt keine Weiterführung von „richtiger Kultur“ nur eine Weiterführung menschlicher Tradition. Es ist die Tradition (auch) der Sünde, der Unwahrheit, des menschlichen Selbstbetrugs. Die Weiterführung, die Gott betreibt, ist das Gegenteil und nennt sich zurecht Heilsgeschichte, im Gegensatz zur menschlichen Unheilsgeschichte. Auf die Kirchen, sofern sie sich an dieser Unheilsgeschichte beteiligen, trifft daher auch das genaue Gegenteil zu, von dem, was sie annehmen. Sie sind nicht Träger der Verheißungen von Gottes Volk, sondern Träger der menschlichen Tradition des Gott widerstrebenden Volkes Israel. Und daher stehen sie in einer Sukzession des Unrechts, während sie das Rechte durch das Unrechte ersetzen. Es ist eine Substitution und Sukzession der Verweigerung gegen Gott. Die Substitution der Verweigerung ist der Versuch aus schwarz weiß zu machen und sich zugleich Gott zu widersetzen. Das ist besonders perfide, weil man sich über Gott hinwegsetzt und so tut, als ob das Gottes Willen entspräche. Wo gibt es das? Ein Vater beklagt die schwere Erziehbarkeit seines Sohnes. Daher wirft er sein Kind auf die Straße und sucht sich stattdessen als Ersatz irgendein anderes Kind von der Straße. Die Ersatztheologen wollen glauben machen, dass Gott so ist, dabei sind nur sie selber so. Wenn ein Kirchenmitglied nicht so ist, wie es sein soll, wird es anathema erklärt und ausgestoßen. Wenn Gott mit Israel so verfahren würde, dann hätte Er tausendmal mehr Grund, mit der Kirche ebenso verfahren zu haben. Diese Theorie vom Ersatz Israels durch die Kirche pflegten bereits Kirchenangehörige des zweiten Jahrhunderts. So z.B. der Verfasser des fälschlicherweise so genannten Barnabasbriefes. *59 Dann folgten dieser Tradition des Wunschdenkens Kirchenangehörige aus der Zeit der Konstituierung der katholischen Kirche. Z.B. Eusebius *60 oder Origenes und Augustinus, der ganz entscheidend die Kirchenmeinung der folgenden Jahrhunderte bis zum heutigen Tag mitprägte. *61 Die Kirchenangehörige des Protestantismus haben das von der katholischen Kirche übernommen. *62 So z.B. Luther *63 So dass es überhaupt nur wenige gab, die das anders sahen. *64 Kirchenangehörige des 20. Jahrhunderts bekamen zumindest in Deutschland noch einen Schub zur Ersatztheologie. Erich Sauer bezeichnete Israel als „gesteigerter Fluch". *65 Man wollte das nun auch „wissenschaftlich" belegen. So unterstellte man Lukas die Ersatztheologie vertreten zu haben. *66 Man könne als Jude nur noch in der Kirche an den Segnungen, die ursprünglich Israel verheißen waren, teilhaben. *67 Es mehren sich aber auch Fragen, ob man das einfach so behaupten dürfe, dass alles was Israel betrifft, sofern es Gutes ist, einfach auf die Kirche übertragen werden könne. *68 Und wenn ja, welche? Warum sollte man nicht das Schlechte übertragen und das Gute den Juden überlassen, korrespondierend mit der Tatsache, dass Christen wenig von Juden verfolgt wurden, aber Christen viele Millionen Juden verfolgt und ermordet haben.
Die Juden werden als „am Gesetz gescheiterte" (Bultmann) klassifiziert. Das offenbart jedoch ein krasses Missverständnis. Erstens war das genau der Sinn des Gesetzes, dem Menschen über das Scheitern den Weg zum nicht gescheiterten Christus zu ebnen. Und daher ist das Scheitern eher ein Zeichen der gnädigen Zuwendung als des bleibenden Fluches, der ein Verlust der Verheißung bedeuten könnte. Zweitens weist Paulus deutlich darauf hin, dass das Scheitern am Gesetz jedem nicht nur droht, sondern ganz sicher ereilt, ob Jude im Judentum nach Mose oder ob Nichtjude in den Kirchen, die er selber bereits anleitete. Ebenso gilt das für die Nachfolgekirchen und alle Glaubensgemeinschaften, unabhängig davon, ob sie sich in einer Genealogie von heilsgeschichtlicher Relevanz sehen oder nicht. Das Scheitern am Gesetz ist dem menschlichen Bemühen inhärent! Und weil das so ist, können weder Juden noch Kirchenangehörige für sich in Anspruch nehmen Nichtgescheiterte des Gesetzes oder Verheißungsträger zu sein, allein aufgrund ihrer Stellung zum Gesetz.
Die meisten Theologen sind sich einig, dass die ersten Christen keine Ersatztheologie vertraten und dass diese Sichtweise erst in den folgenden Jahrhunderten entstand . *69 Einer der ersten überlieferten Vertreter dieser Lehre war Justin. *70 Zur Zeit Tertullians, am Ende des zweiten Jahrhunderts war die Lehre bereits etabliert. Man wird aber nicht fehl gehen in der Annahme, dass es bereits zur Apostelzeit vereinzelt Nichtjuden gab, die sich gegen Juden bewusst abgrenzten und damit einhergehend Gedanken hatten, die zumindest den Keim ersatztheologischen Denkens bereits inne hatten. Zurecht bemerkte Adolf Harnack: „Eine solche Ungerechtigkeit wie die der Heidenkirche gegenüber dem Judentum ist in der Geschichte fast unerhört.“*71 Er nennt die Kirchen Plünderer am Eigentum der Juden. Das waren sie ja auch in rein materieller, nicht nur geistlicher Hinsicht!
Wer zu den Christen dazu gehören wollte, durfte kein Jude mehr sein und an vergangene „jüdische“ Hoffnungen glauben. Stattdessen hat man jahrhundertelang solche bis aufs Blut bekämpft, die ein „anderes“ Evangelium vertreten haben als das ersatztheologische. Schon das sollte einem zu denken geben. Wer sich mit der Gewalt der Waffen behaupten muss und sich nicht mit der Kraft der Worte begnügen kann, hat wohl selber noch nicht das Evangelium verstanden.
Nach der Bibel wird jeder gesegnet, der Israel segnet und jeder verflucht, der Israel flucht. *72 Das betrifft nicht nur irdische Reichtümer. Es geht dabei auch um geistliche Schätze. Die Ersatztheologie hat viel Fluch über die Kirchenvölker gebracht. Man hat Israel bestohlen und behauptet, Gott habe sich von Seiner großen Liebe abgewendet. Doch Gott ist nicht wie ein Mensch, der von großer Liebe redet und dann irgendwann sagt, „was interessiert mich meine Rede von gestern?“. Gott ist treu, weil Er Sich stets selber treu ist. Indem die Kirchen Israel beraubt haben, hat Gott ihnen das Verständnis Seines Wortes nicht zugelassen. Das ist ein Grund, warum die Kirchen die Bibel auch gerade da nicht verstehen, wo sie klar ist. Das ist der Grund, warum die Kirchen nicht einmal verstehen, dass sie nicht verstehen. Man könnte das als außerbiblisches Geheimnis bezeichnen.
Dass die Katholiken, die schon 1700 Jahre bei ihrer Sichtweise geblieben sind, was das wahre Evangelium sein soll, in altjüdischer Tradition die Werke so sehr hervorheben, zeigt zumindest, dass all das, was das Evangelium vom kommenden Reich Gottes (kurz: Reichsevangelium) angeht, stark im Bewusstsein der Christen aus alter Zeit geblieben ist. Diese standen viel näher an der Zeit, als noch die Apostel gepredigt hatten und das Neue Testament geschrieben worden ist. Mit anderen Worten, Protestanten und Katholiken (und somit auch die Orthodoxen) und alle, die sich auf eine katholische oder protestantische Tradition stützen, haben schwache Argumente in Bezug auf die Frage, ob es nur ein Evangelium gibt, wenn man auf ihre eigene Dogmen- und Theologiegeschichte blickt. Beide würden vielmehr aus ihrer Auslegungstradition heraus, sich darauf berufen können, dass das, was sie unter „Evangelium“ verstehen, eine Wandlung erfahren hat.
Ein Nichtchrist hat es zum Beispiel schwer herauszufinden, was das „Evangelium“ überhaupt ist, weil er von den verschiedenen Glaubensträgern innerhalb des Christentums ganz unterschiedliche Auskünfte bekommt. Und da wo die Auskünfte übereinstimmen, gibt es sowieso keinen Streit. Das sind interessanterweise gerade die Dinge, die Paulus und Petrus gemeinsam als Kern des Evangeliums verkündigt haben.
Daraus lässt sich schließen, dass den Kirchen ein Mandat gegeben worden zu sein scheint, die Grundzüge der Botschaft vom Erlöser und Heiland der Welt eben dieser Welt mitzuteilen. Das ist das Evangelium vom Reich Gottes und Seinem König. Darüber muss man nicht streiten und gewöhnlich wird darüber auch nicht gestritten, Christus ist der Messias und Sohn Gottes ist, der für die Sünden der Welt sein Leben gegeben hat. *73 Im Glauben an den Christus bekommt man das ewige Leben und entkommt dem ewigen Gericht. Dies ist der Kern dieses Kirchen-Evangeliums, aus dem bezeichnenderweise sowohl Israels Segensverheißung und die Bedeutung der Gemeinde des Leibes Christi entfernt worden sind, als seien sie besondere Geheimnisse, von denen vorerst nicht jeder wissen soll.
Aber auch schon in Bezug auf den Kern des Reichsevangeliums, das die Kirchen dieser Welt vertreten, gibt es fundamental verschiedene Ansichten. Die Katholiken sagen zwar, dass Jesus Christus der Heiland und Welterlöser ist, sie sagen aber zugleich, dass der Mensch auch die Sakramente der Kirche benötigt, um zum Heil zu gelangen. *74 Das heißt, dass die Kirche Roms in Wahrheit das „Christus alleine“ gar nicht vertritt. Ihr Christus ist nur teilkompetent. Er ist daher nicht der biblische. Wenn er nicht der biblische ist, ist er nicht der wahre Christus. Eine Beschäftigung mit diesen unbiblischen Sonderlehren ist jedoch nicht nötig, wenn man herausarbeiten will, was das Evangelium beinhaltet und um welches Evangelium es sich handelt.
Im Judentum war immer klar, dass der König, der Messias, von Gottes Gnaden kommen wird um das Gottesreich aufrichten wird. Es ist die Königsherrschaft JHWHS, „malchuth JHWH“, eine Begrifflichkeit, die oft für Gott selbst gesetzt wurde und zwar im Kontext der Erwartung des Messias. Wenn der Messias kommt, beginnt das Gottesreich, auch „malchuth schamajim“ – Königreich der Himmel genannt, *75 so wie bevorzugt von Matthäus. Bei der Ankündigung der Geburt Jesu wird ausdrücklich auf diese Verbindung – Messias – Gottesreich hingewiesen (Lk 1,31-33). Jesus ist der verheißene König. *76 Er ist der, der auf dem Thron Davids sitzen wird (Hes 34,23; 37,24). Diese Königsherrschaft wird aber nicht durch die Gemeinde anstelle von Israel verwirklicht, sondern durch den Messias und Sein Volk. *77 Ob die Königsherrschaft bereits mit dem ersten Kommen Jesu angefangen hat oder erst mit dem zweiten Kommen, kann dahingestellt bleiben. Sie wird aber jedenfalls mit dem zweiten Kommen in Kraft gesetzt und auch vollendet und das wird mit dem Königsvolk der Juden geschehen. *78
Jesus hat immer das gleiche Evangelium verkündigt, solange er selber noch nicht davon geredet hat, dass Er der Messias ist. *79 Als Jesus das dann auch, zuerst Seinen Jüngern, dann anderen geoffenbart hat, war das eine Ergänzung zu Seiner bisherigen Verkündigung. Es war natürlich eine ganz wesentliche Hinzufügung, die das, was bisher zum Beispiel von Johannes dem Täufer verkündet worden war, entscheidend ergänzte. Johannes der Täufer hatte gepredigt „ kehrt um zu eurem Gott, bekehrt eure Herzen, haltet die Gebote Gottes. Das Reich Gottes ist nahegekommen. Tut Buße solange ihr es noch kommt, damit ihr euch für das Reich Gottes als würdig erweist, wenn nicht erwartet euch das äonische Gericht!“ *80
Genau das gleiche hat Jesus zunächst auch verkündigt. Er hatte zunächst keinen Grund, davon abzuweichen. Jesus hat aber heilsgeschichtlich gehandelt und daher irgendwann damit angefangen, den Bewohnern der Städte, in die er kam, das Strafgericht anzukündigen, da sie nicht willig waren umzukehren. Die zwölf Jünger haben das miterlebt. Zum Beispiel in Mt 11,21: „Wehe dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Wären solche Taten in Tyrus und Sidon geschehen, wie sie bei euch geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche Buße getan.“
Da begann offenbar eine Frist, nämlich eine Umkehrfrist abzulaufen. Fristen und Zeiten sind oft eine Bewährungs- oder Umkehrzeit in der Bibel. Da geschieht etwas, das heilsgeschichtlich von Belang ist.
Als Jesus bemerkte, dass Sein Predigen die Nation nicht zur Umkehr brachte, begann Er mit Seinen Warnungen. Er setzte Seine veränderte Verkündigungsweise fort, indem Er dazu überging, nur noch in rätselhaften Gleichnissen zu reden. Die Jünger bemerkten das und fragten Ihn danach. Die Antwort Jesu ist verblüffend und aufschlussreich: „Euch ist‘s gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu verstehen, diesen aber ist‘s nicht gegeben.“ (Mt 13,11). Warum diese Mauertaktik? Man kann von einem Volk nicht verlangen, dass es umkehrt, wenn man nicht mehr klar und deutlich sagt, um was es geht und von was es umkehren soll und was die Konsequenzen sind.
Entspricht das etwa dem Beispiel, dass seither in den Kirchen als Evangeliumsverkündigung betrieben wird? Predigen die Geistlichen in Gleichnissen, dass sie mit Jesu sagen können: „Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es nicht.“ (Mt 13,13) *81 Die Kirchenvertreter sagen doch, sie folgen Christus nach. Warum reden sie dann nicht auch so in unverständigen Gleichnissen? Vielleicht erklären sie dazu: „Weil wir nicht zu Juden reden. Wir leben jetzt in der Zeit, dass der ganzen Welt das Evangelium gebracht werden soll.“ Damit würden sie aber zu verstehen geben, dass Jesus tatsächlich einen Unterschied in Seiner Verkündigung machte, denn Seinen Jüngern erklärte er Seine Gleichnisse. Er unterschied also selber zwischen denen, die Ihn verstehen sollten und denen, denen Er zwar verkündete, die aber nicht mehr alles, was Er sagte, verstehen sollten.
Denkt man über die heutige Zeit nach, muss man sich fragen, ob Gott heute nicht das gleiche tut! Er lässt durch die einen das verkündigen, was jeder verstehen darf. Das ist an die Adresse des Volkes weltweit gerichtet. Dann aber hat Er eine Gruppe von „engsten Mitarbeitern“, denen Er darüber hinaus auch die Gleichnisse und Geheimnisse erschließen lässt.
Genau diese These wird in diesem Buch vertreten. Nicht für jeden ist alles bestimmt, sondern Gott gibt jedem zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichem Maß. Er schert nicht alle über einen „Heils-Schopf!“ Das tut Er deshalb nicht, weil jeder Mensch von Ihm zu einem ganz bestimmten Zweck ins Leben gerufen wurde . *82 Gott hat Ordnungen geschaffen, die Er nach Seinem Ratschluss und Seinem Plan einhält, um das Ziel Seiner Verherrlichung zu erreichen. *83 Dann wird die Verherrlichung Sein alles in allem und alles in Ihm sein. *84
Jeder hat seinen eigenen Lebenslauf,
jeder hat seinen eigenen Heilslauf.
Nur der Heiland ist bei allen derselbe.
Und daher ist es auch heute noch so, dass viele die Gleichnisse gar nicht richtig verstehen können. Sie sind dazu nicht autorisiert. Biblische Inhalte, die über die bloße Wortbedeutung hinausgehen, sind nicht selbsterklärend und lassen unterschiedliche Deutungen zu. In den Kirchen richtete man sich seit jeher nach der herrschenden Dogmatik. Eine Glaubensvorstellung, die wie ein ungeschriebenes Dogma ist, besagt, es gäbe nur ein Evangelium und der Witz der Kirchengeschichte ist, dass es tatsächlich viele, stark voneinander abweichende Evangelien in der Verkündigung gab und gibt. Die Witzigkeit wird folgerichtig genau da wiederholt, wo man sagt, es gibt nur eine Kirche Gottes, obwohl es in der Welt so viele Kirchen gibt. Um diesen Widerspruch auszuräumen, ist man dabei, alle Kirchen unter einem Dach zu vereinen. *85 Jesus hat auch irgendwann damit angefangen, Seinen Opfertod anzukündigen, wogegen sich sofort die Jünger verwahrten. Das beweist zumindest, dass Jesus vorher bei der Verkündigung diesen Bestandteil des Evangeliums, der heute von allen Kirchen als wichtigster Bestandteil angesehen wird, nicht berücksichtigte und somit Seine Evangeliumsverkündigung ganz wesentlich anders war als ab diesem Zeitpunkt, oder besser gesagt, sie war ganz anders, als das, was die Jünger nach der Auferstehung Jesu verkündeten.
Jesus hat niemand außer Seinen Jüngern gesagt, was passieren würde. Das bedeutet, dass Jesus selber nie ein Evangelium verkündet hat mit dem Zentralteil, welcher das zentrale Thema jeder Verkündigung heutzutage ist. Als Er Seine Bergpredigt hielt, hat Er nichts davon gesagt. Auch nicht, als Er die fünftausend speiste. Hätte Er es getan, hätten die Evangelisten es gewiss nicht versäumt, davon zu berichten. Sie hielten sich an die Fakten. Das Volk wollte so etwas auch gar nicht hören. Die Reaktion der Jünger beweist das. Nicht einmal die Jünger wollten dieses neue Evangelium hören, dieses Skandalium, das behauptete, dass der Messias Israels von Juden geopfert würde zum Segen der Welt. Wenn aber die Jünger, die drei Jahre lang mit Jesus zusammen waren und sogar glaubten, dass Er der Messias war, nicht glaubten, dass es zu Jesus Auftrag gehörte als Opferlamm zu sterben, dann ist es völlig unglaubwürdig annehmen zu wollen, dass das Evangelium, welches von dem Jesus im Fleische verkündet worden ist, überhaupt den seit der Auferstehung Christi und noch heute wichtigsten Teil des Evangeliums umfasste. Dieser wichtigste Teil ist das Unerdenkliche: Jesus, der Sohn Gottes musste sterben, damit wir leben können.
Aber warum predigte Jesus Seinen Tod nicht in Seiner Evangeliumsverkündigung? Es wäre heilsgeschichtlich unpassend gewesen, denn solange das Volk Israel die Möglichkeit hatte als ganzes Volk umzukehren, war Jesu Ermordung durch Sein Volk kein Thema. Wer hätte Ihn ermorden sollen, wenn die Juden doch ihren Messias zum König haben wollten! Die Opferung konnte nur geschehen, solange man Jesus verkannte. Das Opfer war für die Erlösung aus der Sündenschuld notwendig . *86
Aber wir können nicht beurteilen, ob dieses Opfer nicht in einem anderen Kontext hätte erbracht werden können. Zum Beispiel als unerzwungene Tat. Auch dem Opfer Isaaks wäre kein Mord vorausgegangen, sondern es wäre eine freiwillige Tat, ohne Zwang gewesen, nur um dem angenommenen Willen Gottes zu entsprechen. Wichtig am Opfer Jesu waren außer der umfassenden Gültigkeit zwei Dinge: dass Er es freiwillig erbrachte und Seine persönliche Geeignetheit. Jesus war ja nicht nur sündlos, sondern Er war als Schöpfer auch der Verursacher der Existenz aller Menschen, für die Er sich opferte. Diese Dinge sind unabhängig von der politischen Situation in Israel oder der Befindlichkeit Seines Volkes. Und daher wäre auch das Opfer, das Jesus erbrachte, in jedem anderen denkbaren Kontext möglich gewesen. Eines Mordes hätte es nicht bedurft. Jede Gräueltat, jede Schandtat erfährt Gericht. Israel hat als Ganzes Gericht erfahren. Auch das entspräche nicht Gottes Gerechtigkeit, wenn nicht das Gericht immer in gnädiger Zuwendung münden würde. So auch bei dem Gottesmördervolk Israel. *87
Fakt ist, dass Jesus ab einer bestimmten Zeit anfing, in Gleichnissen zu reden und das Gericht anzukündigen und zugleich Seinen Jüngern zu sagen, dass Sein Tod unmittelbar bevorstand. Jesus handelte jederzeit heilsgeschichtlich stimmig. Und daher predigte er nicht immer das Gleiche.
[...]
1 Zur besseren Unterscheidbarkeit werden Pronomen, die sich auf Jesus Christus oder Gott beziehen, groß geschrieben.
2 Spr 2,6; 1Kor 1,4.5; 12,8; Eph 1,17; 2Tim 2,7; Jak 1,5.
3 So in Röm 16,25 und 2 Tim 2,8. Es wird in der Literatur meist mit Evangelium für die Heiden, Evangelium für die Nationen oder Evangelium der Nationen und Evangelium für die Unbeschnittenen genannt. Paulus hat es selber Evangelium der Unbeschnittenheit genannt, wie man „akrobystias“ (εὐαγγέλιον τῆς ἀκροβυστίας) übersetzen kann (wörtlich: „Evangelium dessen, was das extreme Ende bedeckt“, εὐαγγέλιον τῆς ἀκροβυστίας). Das Wort „für“ steht jedoch nicht im Text, da „tes“ (τῆς) nicht „für“, sondern „der“ bedeutet. Dieses Evangelium von Pauls war eben gerade nicht einfach nur ein Evangelium „für“ die Nichtjuden, sondern es war auch das Evangelium, das sich von dem Evangelium der Juden unterschied.
4 Dies entspricht dem Phänomen von Anhängern einer historischen Religion oder Weltanschauung, dass Anweisungen, die zu einem konkreten historischen Zeitpunkt einer bestimmten Personengruppe gegeben worden sind, in einem wenn auch nur entfernt ähnlichen Kontext von ganz anderen Personengruppen übernommen werden, mit dem üblichen Problem der Entscheidung, was noch gelten kann und soll und was nicht.
5 Jedenfalls nicht von der Art wie sie die christliche Kirche später für beauftragt hielt. Auch im Judentum gab es so etwas wie eine Missionierung, aber sie war stets der inneren Zurüstung untergeordnet. Der jüdische Gelehrte Hillel wies seine Schüler an, auch Nichtjuden zur Torah zu ziehen (M. Abboth 1,12). Rabbi Eleezer dürfte allerdings mit seiner Idee, dass Gott nur deshalb die Juden unter die Nationen zerstreute, auf einsamer Flur gewesen sein (b. Pes. 87 b).
6 Jedenfalls nicht so, wie sie heute von den Kirchen meist verstanden wird.
7 Im Judentum glaubte man daran, dass Gott Sünden vergibt, aber dass eine ganze Person nicht nur rückwirkend, sondern auch vorauswirkend ein für alle Mal völlig von der Sündenschuld befreit sein könnte, das war das Neue am neuen Glauben der Christen (James Parkes: „Das Judentum verkündigte, dass Gott Sünde vergibt; aber das Christentum verkündigte, dass Gott die Sünder erlöst.“ In „The conflict of the church and the synagogue”, S. 120, 1961).
8 Das ist natürlich von allen Theologen unbemerkt geblieben. So auch Michael Green in „Evangelisation zur Zeit der ersten Christen“, 1977, über Jesus, der „sich in der Zeit seines Wirkens fast ganz auf Israel beschränkte.“
9 Das „Römische Reich“ wird im Neuen Testament nicht genannt. Es war bei Juden verhasst, obwohl sie Sonderrechte im gesamten Reich genossen. Im Neuen Testament wird das Römische Reich aber mit der „Ökumene“ gleichgesetzt.
10 Da den Nichtjuden auf der Apostelkonferenz nicht ausdrücklich zum Halten der Torah verpflichtet wurde, ergab sich die Frage nach der Freiheit von den Geboten der Torah. Genau mit dieser Frage hatte Paulus in seinen Gemeinden zu kämpfen. Und daher thematisieren seine Briefe auch immer wieder die Moral. Freiheit erfordert Reife.
11 Zu beachten ist, dass gerade die frommen Diasporajuden nicht selten Eiferer für die Torah waren. (Vgl. Karl Baus, „Das Judenchristentum“ in Jedin: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 1, S. 83-84) Dieses Phänomen, dass eine kulturelle Gruppe in fremder Umgebung besonders an Traditionen festhält, ist ja allgemein bekannt.
12 Und auch in 2.Korinther 11,4 warnt Paulus davor, ein „anderes“ als das von ihm verkündete Evangelium annehmen zu wollen.
13 Vgl. John Charles Ryle, „Expository Thoughts on Luke“, Bd. 1, S. 239, 1858.
14 Mt 5,18; Lk 16,17.
15 Nicht allen Theologen ist entgangen, dass es in der Verkündigung des „Evangeliums“ unterschiedliche Phasen mit unterschiedlichen Inhalten gab. Diese Unterschiede seien jedoch als „Erweiterungen“ zu verstehen. Oder als unterschiedliche Quellen (*Vgl. Bernhard, Weiss, „Die Quellen der synoptischen Überlieferung“, S. 7, 1908) Doch begrifflich wird dabei nicht herausgestellt, dass die „Erweiterungen“ so substantiell sind, dass man nicht sogar von etwas ganz anderem zu reden hätte. Ein Passagierdampfer ist ja auch nicht einfach nur eine Erweiterung eines Ruderbootes. Kirsopp Lake meint, drei Phasen der Verkündigung unterscheiden zu müssen. Zunächst wurde das kommende Reich verkündet. Dies geschah durch Jesus. In der zweiten Phase wurde von den Jüngern Jesu der Messias Jesus verkündet, der Gesalbte Israels. In der dritten Phase wurde Jesus als Kyrios verkündet, der Herr aller Herren. Soweit bis zur Bekehrung des Kornelius, eines Nichtjuden, der bisher andere „Herren“ gekannt hatte (Kirsopp Lake, „The beginnings of Christianity“, Bd 4, S. 128f). Moody kommt nach sorgfältigem Quellenstudium zu dem nicht überraschenden Schluss, dass die Masse der Christen des zweiten Jahrhunderts nicht viel mehr an Theologie verstand wie das, was im Jakobusbrief enthalten ist. Wie sollte es auch anders sein? Die Wenigsten konnten lesen. (C.N. Moody, „The Mind oft he Early Converts“, 1920) Paulus und Johannes habe man einfach nicht verstanden, und ihre bedeutenden Lehren habe man sich kaum jemals zu eigen gemacht (Michael Green, „Evangelisation zur Zeit der ersten Christen“, S. 154, 1977). Stattdessen habe man weitgehend die „Lehre über Gnade, Rechtfertigung, Heiligung, Einssein mit Christus“, mithin alles fremde Ländereien für die katholische Kirche, „über Bord geworfen und sie ersetzt durch eine Religion neuer ethischer Gesetzlichkeit und eine Christologie, die nicht mehr an der Menschheit Jesu interessiert war.“ Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine kleine „Herde“ derer gegeben hätte, die die Bibel sehr gut kannten und sich der Gemeinde des Leibes Jesu Christi zugerechnet hätten. Dass dies keinen literarischen Niederschlag gefunden hat, widerlegt auch der Brief an Diognet, einer außerkanonischen Schrift des zweiten Jahrhunderts nicht (vgl. H.G. Meecham, „The Epistle to Diognet“).
16 Was typisch für die Verkündigung des Paulus war, hat man bereits noch zu Lebzeiten von Paulus angefangen zu vergessen. Man kann bei den namhaften Christen der nachfolgenden Jahrhunderte mit einigem Recht von deutlichen Anzeichen sprechen, dass sie sich jedenfalls überwiegend auf die apostolischen Lehren beriefen, wenn man Paulus davon ausnimmt. Über Ignatius und Polykarp, Heilige der katholischen und der orthodoxen Kirche aus dem zweiten Jahrhundert, heißt es bei Michael Green, sie hätten Paulus „offensichtlich nicht verstanden“ (Michael Green in „Evangelisation zur Zeit der ersten Christen“, S. 154, 1977). Fakt ist, dass in Bezug auf die Lehre Paulus sich die protestantischen Kirchen und die katholische Kirche zwei völlig entgegengesetzte Positionen einnehmen. Die katholische Kirche steht in der nachapostolischen Tradition des Unverständnisses paulinischer Lehren. Ihr „Evangelium“ ist eine Mischung aus biblischen Lehren, biblischen Fehlinterpretationen und heidnischen Überlieferungen. Ob es überhaupt noch Evangelium genannt werden kann, hängt davon ab, ob der Christus, den die Kirche verkündet, der biblische oder ein anderer Christus ist.
17 Bei einer Bibelkonferenzstätte referierte 2013 ein messianischer Jude, dass Paulus nur ein falsches Verständnis der Torah anmahnte, aber selbstverständlich dafür gewesen sei, dass auch ein Nichtjude weiterhin die Torah zu halten hätte. Dann verstieg er sich zu der Behauptung, dass Gott vor der Schöpfung die Torah „konsultiert“ hätte. Wie sich also Menschen heute fragen sollen, „Was empfiehlt mir die Torah?“, hat Sich auch Gott einst fragen müssen, „Was empfiehlt mir die Torah?“ Es fällt schwer, hier nicht an den Götzendienst im Alten Testament zu denken. Wer die Torah auf eine Stufe mit Gott stellt, der hat sicherlich den Boden der Anbetung des Vaters und der Nachfolge des Sohnes verlassen. Es ist genau dieser Missbrauch der Torah, den Paulus mit aller Schärfe anging. Man kann auch ein Pharisäer sein, der an die Messianität Jesu glaubt und dennoch nicht ganz im Herzen belehrt ist.
18 „(Christus) ist das totale Ende des Gottesgesetzes vom Sinai. Durch ihn und seine Tat am Kreuz ist es als Heilsweg völlig außer Kurs gesetzt. Nicht eine einzige Bestimmung des alten Gesetzes darf mehr als Ergänzung herangezogen werden…“ (Erich Schnepel, „Das Werk Jesu“, S. 77, 1992).
19 Mt 7,6; 10.6; 15,24.
20 Theologen weisen gelegentlich darauf hin, dass „Paulus niemals von der Frohen Botschaft vom Reich spricht“ (Michael Green, „Evangelisation zur Zeit der ersten Christen“, S. 60, 1977). Doch immer da, wo er auf das Reich Gottes zu sprechen kommt, ist ein zumindest indirekter Bezug zum Evangelium ersichtlich (Röm 14,17; 1 Kor 4,20; 6,9-10; 15,50 u.a.). Es fällt aber auf, dass es dabei um Belange des Anfängerglaubens geht. Dieser benötigt „Moralpredigten“ und steht im Zusammenhang mit der Predigt vom Kommen ins messianische Reich, dem „Reich Gottes“ oder „Himmelreich“. Man muss also nicht annehmen, dass Paulus gegenüber den anderen Aposteln ein eingeschränktes Repertoire an Themen und Inhalten gehabt hätte. Er war den Königreichskindern ein Königreichskind und den Gliedern des Leibes Christi ein Glied des Leibes Christi.
21 Der „Terminus technicus“ war auch bei Nichtjuden und Nichtchristen der damaligen Zeit nicht ganz unbekannt. Mit „Evangelium“ überbrachte man auch militärische Siegesbotschaften. So wurden auch Botschaften von Göttern bezeichnet, die über ein Orakel ergingen und solche, die im Zusammenhang mit dem Herrscherkult standen (Homers Odyssee 14,152f; Aristophanes Eq. 656; Plutarch, Sertorius 11; Plutarch, De Fortuna Romanorum 6). In jeder dieser Beziehungen war das Wort auch für Christen zutreffend. Christus war der Sieger über Sünde, Tod und Teufel, somit die mächtigsten Gegner, die es überhaupt gab. Das Evangelium war eine Botschaft von Gott und zugleich eine Verlautbarung vom höchsten aller Herrscher wie man ihm dienen sollte.
22 C. E. Stuart stellt klar: „Es muß hier festgehalten werden, daß er (Paulus) nicht das Evangelium des Reiches Gottes predigte: das wäre nicht dem Zeitalter angemessen gewesen, in dem er lebte. Dieses Evangelium predigte unser Herr. Es wurde jedoch mit seinem Tod beiseite gesetzt, um in der Zukunft wieder eingesetzt zu werden (Mt 24,14; Of 14,6.7). Doch Paulus sprach über das Reich Gottes, denn es existiert heute hier auf dieser Erde.“ (C. E. Stuart, „Tracings from the Acts of the Apostles”, S. 285, 1885).
23 Thomas drückte es so aus: „Der Bund ist »besser«, weil er absolut ist statt bedingt, geistlich statt fleischlich, universal statt ortsgebunden, ewig statt zeitlich, individuell statt national, innerlich statt äußerlich.“ Dabei scheint er übersehen zu haben, dass auch der Neue Bund an erster Stelle Israel nennt und die Nationen gar nicht erwähnt (W. H. Griffith Thomas, „Hebrews: A Devotional Commentary“, S. 103, 1961).
24 Vgl. J. N. Darby, „Notes on the Gospel of Luke“, S. 61, 1869.
25 Vgl. Martin Schacke, „Die Neuordnung Gottes und das Sein in Christus“, S. 24, 1979.
26 Vgl. Martin Schacke „Die Neuordnung Gottes und das Sein in Christus“, S. 74, 1979.
27 Die Torah wird von den meisten orthodoxen Juden als Gottes Maßstab des rechten Handelns für den Menschen angesehen. (Vgl. Michael L. Brown, „Handbuch Judentum“, S. 42, 2009).
28 Das kann man auch heute noch erkennen, wenn man sich die geringe Mühe macht, genau hinzuschauen. Das tun die Nationen nicht, was in der Bibel die Parallele der törichten Gewohnheiten der Gottlosen hat, die nicht mit dem Gott Israels rechnen. Das wird aber eine der größten Probleme der Nationen in naher Zukunft sein.
29 Als JHWH wird in der Bibel sowohl der Vatergott als auch der Sohn Gottes bezeichnet.
30 Bei Gott entsteht alles durch einen Geburtsvorgang. Sogar Sein Christus ist geboren worden als Mensch, der vollendet gemacht worden ist. Die ganze Schöpfung befindet sich in Geburtswehen, weil etwas Neues anstelle von ihr hervorgebracht wird (Röm 8,22). (vgl. Martin Schacke „Die Neuordnung Gottes und das Sein in Christus“, S. 64, 1979).
31 Das religiöse Leben der Urgemeinde unterschied sich nicht viel von dem anderer frommer Juden. „Sie lebt zwar ganz in der Gegenwart des auferstandenen Herrn, glaubt aber nicht, deswegen die ererbten Frömmigkeitsformen aufgeben zu müssen. Deshalb gehen die Christen der Urgemeinde, auch ihre führenden Männer wie Petrus und Johannes, weiter zum Gebet in den Tempel (Ap 2, 46; 3, 1). Man behält die Gebetsstunden des Judentums bei, desgleichen den Gebetsgestus und die üblichen Gebetstexte, die beim gemeinschaftlichen Gebet verwendet wurden, besonders also die Psalmen (3, 1; 9, 10; 9, 40).“ (Vgl. Karl Baus in „Das Judenchristentum“ bei Jedin: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 1, S. 98).
32 Typisch für das undurchdachte Herunterspielen der jüdischen Gewissenhaftigkeit der ersten Christen, an der Tora festzuhalten, behauptet Glashouwer, es sei dem Sektentum der Gemeinde zuzuschreiben, dass sie noch weiter in den Tempel gingen (Vgl. W.J. Glashouwer, „So entstand das Christentum“, S. 126, 1986). Nein, so entstand das Christentum höchstwahrscheinlich nicht!
33 Auch wenn Jesus „neue“ Gebote hinzufügte. Vgl. Wilhelm Meyer, „Handbuch über den zweiten Brief an die Korinther“, S. 431, 1870.
34 Vgl. Samuel Hopkins, „The System of Doctrines“, S. 289 , 1793.
35 Fritz Rienecker greift in seinem Kommentar zu kurz, wenn er in Jesu Christi erstes Kommen bereits die Erfüllung dieser Aussage sieht, denn es ist ja mit Seinem ersten Kommen ganz offenbar noch nicht „alles“ geschehen (Wuppertaler Studienbibel Bd. 1, S. 54).
36 „Das Ziel ist nicht die Unmündigkeit der Jünger, sondern deren Mündigkeit.“, Johannes Ramel in „Aufbruch des Glaubens“, S. 117, 1993.
37 Nach Schacke ist dieses Geführtwerden durch den Geist „geradezu ein Kennzeichen für die Mündigkeit der Söhne (Gottes).“ (vgl. Martin Schacke „Die Neuordnung Gottes und das Sein in Christus“, S. 57; 1979).
38 „unterwerfen“ ist hier nicht die passende Übersetzung. Das griechische „ hypotassó“ bedeutet „unterordnen“ oder „einordnen“. Es setzt sich zusammen aus hypo – unter und tasso – ordnen. Deshalb bringt „Strong`s Greek Concordance“ zu dem Begriff hypotasso die Erklärung: "under God's arrangement," i.e. submitting to the Lord (His plan).“, also sinngemäß „unter Gottes Ordnung“ und „unter Gottes Plan“. Das deutsche „unterwerfen“ hat eine überwiegend negative Bedeutung des Erleidens. Diese Bedeutung besagt, dass das Unterwerfen unter Zwang und gegen den Willen des Unterworfenen geschieht. In der Theologie sah man sich fälschlicherweise gezwungen hier auf die negative Bedeutung abzuheben und nimmt dabei in Kauf, das ganze Heilsgeschehen Gottes ins Negative zu verschieben.
39 So oder so ähnlich kann man es auch von den Kanzeln der Kirchen hören, ohne dass es im Sinne einer Allversöhnungslehre gemeint ist. So sagte Spurgeon zum Beispiel: „Das Evangelium zeigt uns den Herrn, wie er die Unwürdigen liebt und die Unfrommen rechtfertigt, und deshalb muss ich die Idee aus meinem Kopf streichen, dass göttliche Liebe von Bedingungen auf Seiten des Menschen abhängt.“ (Vgl. Iain H Murray, „Spurgeon wie ihn keiner kennt“, S. 82, Bd 24, S. 440) Man möchte Spurgeon fragen, was denn dann die Liebe Gottes daran hindert, alle Menschen zu retten, denn er hat Recht, man muss die Idee aus seinem Kopf streichen, dass göttliche Liebe von Bedingungen auf Seiten des Menschen abhängen!
40 Z.B. findet man bei Luther die rigorose Verweigerung gegenüber dieser Schriftaussage.
41 Zum Beispiel Arnold Fruchtenbaum.
42 Vgl. W.J. Glashouwer, „Warum immer wieder Israel", S. 69f, 2005.
43 Vgl. O. Cullmann, „Heil als Geschichte", S. 143, 1965.
44 Vgl U. Lutz, „Das Geschichtsverständnis von Paulus", S. 393f., 1968.
45 Diese Entstellung findet sich bei vielen Theologen (Vgl. Timothy Dwight, „Theology“, S. 246, 1822).
46 Vgl. Fritz Binde, „Vom Geheimnis des Glaubens“, S. 17-18; 1979.
47 Neuerdings gibt es Theologen, die wiederum das Zweite auf Kosten des Ersten vernachlässigen. Jesus sei demnach nur gekommen, um die Voraussetzungen für das messianische Reich herzustellen. Und auch so nur sei das Kreuz zu verstehen. Im orthodoxen Judentum besteht die überwiegende Haltung, dass es kein Universalopfer geben müsse.
48 „Biblische Demut ist keine charakterliche Ehrlosigkeit.“, Erich Sauer, „Der König der Erde“, S. 131, 1959).
49 Dazu passt, dass auch die Offenbarung Gottes im Verborgenen geschieht. Menschliche Weisheit und Erkenntnisvermögen reichen nicht aus, um Gott zu erkennen. Er muss sich offenbaren. Gott ist persönlich nur erfahrbar, wenn Er sich offenbart. Sonst bleibt er nur der unpersönliche Gott der Theoretiker (vgl. Emil Brunner, „Der Mittler“, S. 236, 1927). Die Gemeinde ist aber Sein Allerheiligstes, daher wird sie von gewöhnlichen Augen nicht gesehen.
50 Nach Schnepel war eines der größten Ärgernisse der Botschaft vom Kreuz die Einfachheit (vgl. Erich Schnepel, „Christus im Römerreich“, S. 25, 1936).
51 Röm 16,25-26; Eph 3,9; Kol 1,26-27; vgl. Heinz Schumacher, „Das Tausendjährige Königreich auf Erden“, S. 122, 1964.
52 Ein Prüfkriterium für jeden Christen ist die Frage: wie stehe ich zu Israel?
53 Theodor Böhmerle in „Zeit- und Ewigkeitsfragen im Lichte der Bibel“, S. 182, 1925/1926: „Heute noch will die Masse der Welt, ja sogar die Masse der Christenheit nichts vom Sohn.“
54 Einer der Kirchenväter, die eine optimistischere Sichtweise hatte, war Origenes. „Alle Schöpfung drängt zurück zu ihrem Ursprung in Gott; sie wird dafür einem Läuterungsprozess unterworfen, der sich über viele Äonen erstrecken kann, in dem alle Seelen, auch die bösen Geister der Dämonen und der Satan selbst, mehr und mehr gereinigt werden, bis sie der Auferstehung und der Wiedervereinigung mit Gott würdig sind. Dann ist Gott wieder alles in allem, und die Wiederherstellung aller Dinge (apokatastasis tôn pantôn) ist erreicht.“ (De princ. 1, 6, 1 3; 3, 6, 6; Contra Cels. 8, 72.) Karl Baus kommentierte dieses Wort von Origenes so: „Die Ewigkeit der Hölle war mit dieser Auffassung praktisch aufgegeben.“ (Vgl. Karl Baus, Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Großkirche, in Jedin: Handbuch der Kirchengeschichte, S. 274). Aber die Kirche hat sie wieder aufgenommen.
55 Da das Matthäusevangelium das herausstellt, sieht man es als Botschaft hauptsächlich für die Juden (Vgl Carl Friedrich Keil, „Commentar über das Evangelium des Matthäus“, S. 11, 1877).
56 Vgl. P. Stuhlmacher, „Biblische Theologie des Neuen Testaments", Bd. 2 S. 194, 1979.
57 Vgl. E. Dassmann, „Die Kirche als wahres Israel", S. 174ff, 2006.
58 Der geologische Aktualismus besagt, dass alles was man in der Natur heute beobachten kann hat sich nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten und der gleichen zeitlichen Dauer in der Vergangenheit abgespielt. Jedoch stellt jeder Regenguss den Gegenbeweis. Er ist immer verschieden von dem, was vorher war. Jeder Vulkanausbruch stellt alles auf den Kopf, was vorher war.
59 Vgl. Barnabasbrief 8,1ff; 4,6-8.
60 Vgl. Eusebius, Hist. Eccl. X 4,31ff und X 4,46ff.
61 Vgl. Augustinus, Contra Iulianum opus imperf. 4; Civ. Die 17,16; 18,47 und P. Althaus, „Die letzten Dinge, Lehrbuch der Eschatologie", S. 301f, 1926.
62 Vgl. A. Detmers, „Reformation und Judentum", S. 4, 2001.
63 J.G. Walch, „Dr. Martin Luthers sämtliche Schriften", S. 1863, 1986.
64 Vgl. Heinrich Bullinger, „Sermonum Decades quinque, 182v-183r und M. Hohl, „Heinrich Bullinger und seine Bundestheologie", S. 33f, 2001.
65 Erich Sauer, „Das Morgenrot der Welterlösung", S. 135, 1993.
66 H. Hübner, „Biblische Theologie des Neuen Testaments", Bd. 3, S. 138, 1995.
67 Stuhlmacher, „Biblische Theologie", Bd. 2, S. 194, 1979.
68 Vgl. M. Barth, „Das Volk Gottes" in „Jüdische und christliche Antworten", S. 66, 1977.
69 Z.B. Michael Green in „Evangelisation zur Zeit der ersten Christen“, S. 114, 1977.
70 Justin, Dialogue 12.
71 Adolf Harnack, „Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten“, Bd. 1, S. 69, 1924.
72 1 Mos 27,29, 4 Mos 24,9. Michael Brown bringt es auf den Punkt: „ Hinter Israel zu stehen, bedeutet, hinter den Absichten Gottes zu stehen." ( Michael L. Brown, „Handbuch Judentum“, S. 256, 2009).
73 Gelegentlich wird, vor allem von Atheisten, behauptet, dass die Idee von der Sünde nur bei den Juden ein Thema geworden sei. Das ist natürlich nicht richtig. In allen Kulturen gab es Opfer, um die Götter gnädig und wohlgesonnen zu stimmen. Nicht nur, weil man etwas Konkretes von ihnen erbat, sondern auch, um wegen dem Gott nicht wohlgefälligem Verhalten bestraft zu werden. Das war auch bei den Griechen nicht anders. Das Sündenbewusstsein lässt sich bei den Griechen literarisch leicht bis ins 5. vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen. Z.B. bei der Orestie des Äschylos, doch schon früher bei Homer kam es zur Geltung.
74 Vgl. James G. McCarthy, „Das Evangelium nach Rom“, S. 63, 1995.
75 Vgl. Strack/Billerbeck, Kommentar, Bd. 1, S. 172ff.
76 Mt 25,34.40; 27,29.37.42; Mk 15,32; Joh 12,13.15; 18,33.37.39.
77 Vgl. O. Cullmann, „Königsherrschaft Christi und Kirche im Neuen Testament“, S. 11ff., 1941.
78 Vgl. E.P. Sanders, „Jesus and Judaism“, 129ff., 1983.
79 In der Kirchentheologie wird das meist nicht thematisiert, weil ein heilsgeschichtliches Vorgehen Gottes mit einer stufenweisen Verkündigung nicht erkannt wird. (Vgl. Karl Baus, „Das Judenchristentum“ bei Jedin: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 1, S. 86) Würde man sie anerkennen, würde man auch erkennen können, dass die Ersatztheologie nicht haltbar ist.
80 Der biblische Begriff äonisch, wird in den meisten Bibeln im Deutschen mit ewig, Äon mit Ewigkeit, aber auch mit Welt oder Weltzeit wiedergegeben. Äonisch bedeutet eigentlich eine unbestimmbare Zeit. Die hebräische Entsprechung im Alten Testament ist „olam“. Im biblischen Kontext geht es immer um eine durch Menschen nicht festlegbare Zeit, die allein in Gottes Händen ist. Das Beispiel Jonas verdeutlicht das. Er war drei Tage und Nächte im Bauch des Fisches. Die Bibel benutzt hier das Wort Olam. Meist bezieht sich das Wort Olam oder Aion auf Zeitphasen von für Menschen nicht geringer Dauer. Die Gleichsetzung mit Ewigkeit ist daher irreführend. Alle Äonen, die sich auf die Menschheitsgeschichte beziehen, ergeben immer noch keine Ewigkeit, sondern nur den Rahmen des heilsgeschichtlichen Handeln Gottes in der Schöpfung. So steht der Begriff „ad olam“ oft für die Zeit bis zur Vollendung der Schöpfung bzw. bis zur „Schöpfung des neuen Himmels und der neuen Erde". (Vgl. Jacob Thiesen, „Israel und die Gemeinde" S. 165, 2007.) Im Zusammenhang mit der Landnahme Kanaans durch Israel sagt Gott dem Volk zu, dass es "ad olam", also jedenfalls bis es eine neue Erde gibt, das Land zum Eigentum haben wird. Das sollte die UN und die Araberstaaten, insbesondere die Palästinenser zur Kenntnis nehmen, wenn sie sich nicht gegen Gottes Willen stellen wollen.
81 Fritz Rienecker sieht in seinem Kommentar in der Wuppertaler Studienbibel (S. 173-175) nur Gericht und Scheidung als Grund für die unklare Verkündigung nach dem Motto, wer nicht gleich hören will, der ist selber Schuld, dass er bald gar nichts mehr versteht. Dieser Auffassung liegt ein Gottesbild eines bald beleidigten, irgendwann verhärteten Gottes zugrunde. Rienecker ist nicht auf den Gedanken gekommen, dass Gottes Verkündigung auch immer etwas mit Heiligkeit und Keuschheit zu tun hat. Warum soll man keine Perlen vor Säue werfen? Nicht weil Säue verachtenswert wären, sondern weil sie nicht den Wert der Perlen erkennen können. Das wäre ein unwürdiges Schauspiel, den Juden gleich die ganze Wahrheit über die künftigen Äonen zu verraten. Wie oft erlebt man das selbst, wenn man für die Wahrheit des Evangeliums Zeugnis ablegt, wie schnell man es der Lächerlichkeit preisgibt. Der Grund für die überlegte, ordentliche und behutsame Vorgehensweise bei der Verkündigung des Reiches Gottes liegt einfach daran, dass es in der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen verschiedene Phasen gibt. Gott nimmt Rücksicht auf die Menschen. Er zieht sein Programm nicht gnadenlos durch, Er bezieht die Aktionen und Reaktionen der Menschen mit ein. Er redet und Er schweigt. Und dann redet Er wieder.
82 Und so lange wie wir diesen Zweck nicht erfüllen, finden wir auch keine Ruhe. Ruhe finden wir erst, wenn wir ganz in Christus angekommen sind. Gooding schreibt hierzu: „Christus ist schließlich unser Schöpfer. Er kennt den Funktionsplan unseres Lebens. Seine Herrschaft und Züchtigung ist keine Tyrannei, die uns zwingt, unnatürlich zu leben. Diese Herrschaft ist notwendig, um uns davor zu bewahren, uns mit unserem Frust zu ruinieren, indem wir ständig mit der Bestimmung unseres Schöpfers für uns auf Kriegsfuß leben. Dies ist der einzige Weg zu wahrer Erfüllung: leben und wirken, wie wir leben und wirken sollten.“ (David Gooding, „Die Bibel – Mythos oder Wahrheit?“, S. 56, 1992).
83 Schöpfungsordnung und Heilsordnung führen zur Unterordnung unter Christus. Und in jeder dieser Ordnungsstufen offenbart sich Gott. Max Hartmann schrieb: „Die Sinnhaftigkeit und Planmäßigkeit der Naturgesetze, die in ihrer Gesamtheit zum Ausdruck kommt…, kann auch dem kritischen Naturforscher als eine grandiose Offenbarung Gottes in der Natur erscheinen.“ (vgl. Max Hartmann in „Atomphysik, Biologie und Religion“, 1947). Paulus redet in Röm 1 von einem Erkennen- und Wahrnehmen- „Müssen“!
84 Böhmerle stellt den Erlösungswillen Jesu in das Zentrum des Erlösungshandelns. Jesu „Leiden und Sterben ist ein Schritt Seines gewaltigen Freiheitsdranges durch Zeiten und Ewigkeiten. Wie die Wurzel Seines Todes Freiheit ist, so ist auch das Ziel Seines Todes Freiheit – Befreiung des ganzen Kosmos.“ („Zeit- und Ewigkeitsfragen im Lichte der Bibel“, S. 179, 1925/1926)
85 Man nennt das Ökumene und der Papst möchte gern der Hausherr dieses Unternehmens sein. Am Ende wird man dieses Menschenwerk auch fertigstellen und, wenn es zu spät ist, feststellen, dass es nicht die Kirche Gottes ist, sondern nur eine Gegenkirche, die Kirche des Menschen. Und es wird eine Kirche des Menschen der Sünde sein, weil schon die Glieder dieser Kirche solche Menschenkirchen waren.
86 Vgl. Samuel Hopkins, „The System of Doctrines“, S. 385, 1793.
87 Die Behauptung, dass es keine Juden waren, die schuldig sind an der Hinrichtung Jesu ist wegen Ap 2,23; 3,14 unbiblisch.
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- Roman Nies (Autor:in), 2017, Die zwei Evangelien. Die historischen Berichte des Neuen Testaments, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/377915
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