Dieser Kurzessay untersucht die Auswirkungen des Evolutionismus auf die heute Ethnologie. Rührt das anfängliche positive Bild dieser Wissenschaft daher, dass diese frühen Konzepte gänzlich überholt und abgelegt wurden und auch nicht mehr mit der Ethnologie in Verbindung gebracht werden? Oder finden sich doch noch Teilaspekte des Evolutionismus in ihr die aber vielleicht gar nicht so „evolutionistisch“ anmuten und als positiv zu bewerten sind?
Bei der Lektüre eines Ausschnittes des Werks „Ancient Society“ von Lewis Henry Morgan im Rahmen des Seminars „Fachgeschichte der Ethnologie“ drängten sich der Autorin unweigerlich einige Fragen und Gedanken auf. Zunächst einmal war diverse Aussagen des Autors schockierend, die man nach heutigem Ermessen durchaus als rassistisch bezeichnen könnte: Reflexionen über die unterschiedlichen Gehirngrößen von weiter oder weniger weit entwickelten „Indianern“ hätten so teilweise auch in das „Rassenlehre“-Konzept der Nationalsozialisten oder ähnliches Gedankengut gepasst. Allein Morgans Gesamtkonzept der Einteilung der Menschheit in verschiedene „Entwicklungsstufen“ empfand die Autorin als schwer vereinbar mit ihrem bisherigen Bild der Ethnologie als eine „tolerante“ Wissenschaft, die sich vorurteilsfrei den von ihr untersuchten Kulturen nährt und keine Kultur, schon gar nicht die eigene, über eine andere stellt.
Umso erstaunlicher war es, dass eine derartige Denkrichtung, deren Vertreter sich in ihren Texten so offensichtlich als den meisten Kulturen überlegen präsentieren, an den Anfängen der Ethnologie steht und quasi eines der „ursprünglichsten“ ethnologischen Konzepte darstellt.
Welche Auswirkungen hat die theoretische Ausrichtung des Evolutionismus auf die heutige Ethnologie?
Bei der Lektüre eines Ausschnittes des Werks „Ancient Society“ von Lewis Henry Morgan im Rahmen des Seminars „Fachgeschichte der Ethnologie“ drängten sich mir unweigerlich einige Fragen und Gedanken auf. Zunächst einmal war ich beinahe schockiert über diverse Aussagen des Autors, die man nach heutigem und auch nach meinem persönlichen Ermessen durchaus als rassistisch bezeichnen könnte: Reflexionen über die unterschiedlichen Gehirngrößen von weiter oder weniger weit entwickelten „Indianern“ hätten so teilweise auch in das „Rassenlehre“-Konzept der Nationalsozialisten oder ähnliches Gedankengut gepasst. Allein Morgans Gesamtkonzept der Einteilung der Menschheit in verschiedene „Entwicklungsstufen“ empfand ich als schwer vereinbar mit meinem bisherigen Bild der Ethnologie als eine „tolerante“ Wissenschaft, die sich vorurteilsfrei den von ihr untersuchten Kulturen nährt und keine Kultur, schon gar nicht die eigene, über eine andere stellt. Umso erstaunter war ich, dass eine derartige Denkrichtung, deren Vertreter sich in ihren Texten so offensichtlich als den meisten Kulturen überlegen präsentieren, an den Anfängen der Ethnologie steht und quasi eines der „ursprünglichsten“ ethnologischen Konzepte darstellt. Aufgrund dieser Überlegungen kam ich nun zur Frage, welche Auswirkungen der Evolutionismus auf die heutige Ethnologie noch hat. Rührt mein anfängliches (und noch immer) positives Bild dieser Wissenschaft daher, dass diese frühen Konzepte gänzlich überholt und abgelegt wurden und auch nicht mehr mit der Ethnologie in Verbindung gebracht werden? Oder finden sich doch noch Teilaspekte des Evolutionismus in ihr, die aber vielleicht gar nicht so „evolutionistisch“ anmuten und als positiv zu bewerten sind?
Der Evolutionismus scheint vor allem eines bis heute leider tatsächlich negativ geprägt zu haben: die Außenwahrnehmung der Ethnologie durch Fachfremde. Auch ich persönlich bekam schon von mehreren Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft bei Erwähnung meines Studienfachs Kurioses zu hören: von „Rassenlehre“ über „Indianerstudien“ bis tatsächlich hin zu „der Lehre von den Negern“ musste ich schon einige Vorurteile abwehren bzw. revidieren und die Ethnologie gegen solche Fehlmeinungen verteidigen. Bei der oberflächlichen Lektüre von Morgans Text war ich zunächst einmal nur froh, dass keine der fachfremden Personen mit mir las – andernfalls hätten sich meine die Wissenschaft verteidigenden Argumente wohl zum größten Teil in Luft aufgelöst. Doch bei der anschließenden Diskussion mit Kommilitonen und der erneuten, tiefergehenden Lektüre des Ausschnittes von „Ancient Society“ kamen einige Argumente und Punkte auf, die die Ethnologie im Allgemeinen und den Evolutionismus im Besonderen in ein positiveres Licht rückten, auch meinen, zunächst vor allem negativ besetzten Eindruck, zum Teil revidierten und fachfremden Vorurteilen entgegengehalten werden könnten, auch wenn die betreffenden Personen einmal einen evolutionistischen Text zu lesen bekämen. Zunächst einmal lohnt es sich meiner Meinung nach, einen zweiten Blick auf das Entstehungsdatum von Morgans Text zu werfen. Im Hinblick auf das Zeitalter des Imperialismus und unter anderem auch auf den Marxismus und die Darwinsche Evolutionstheorie zeigt sich, dass 1877, als „Ancient Society“ erstmals publiziert wurde, ein Konzept wie Morgan es vertrat in ähnlicher Form dem gesamten Zeitgeist entsprach und quer durch die Wissenschaften anzutreffen war. So beeinflussten sich die Wissenschaftler zum Teil auch gegenseitig: Marx und Engels bauten z.B. einen Teil ihrer Geschichtstheorie auf Lewis Henry Morgans Überlegungen auf (später war „Ancient Society“ dann sogar Pflichtlektüre in der Sowjetunion). Dies legitimiert Morgans fragwürdige Aussagen meiner Meinung nach nicht, lässt sie allerdings nachvollziehbarer dastehen. Das Beispiel von Marx‘ und Engels‘ Geschichtstheorie zeigt wie ich finde auch, dass man evolutionistische Konzepte nicht pauschal nur „rechtem“ Gedankengut zuordnen sollte. Somit ist diese theoretische Ausrichtung also nicht nur auf die Ethnologie beschränkt und auch im Hinblick auf den Zeitgeist nicht von Anfang an mit einer rassistischen Haltung gleichzusetzen. Ein weiterer ganz zentraler positiver Aspekt im evolutionistischen Gedankengut läuft fast Gefahr, im Vergleich mit den fragwürdigeren, schockierenderen Aussagen ins Hintertreffen zu geraten: laut den Evolutionisten sind alle Menschen von Grund auf gleich, haben also dieselben Anlagen und sind alle gleichermaßen vernunftbegabt und zu intellektuellen Leistungen fähig. Erst später, aufgrund von unterschiedlichen Voraussetzungen (z.B. Unterschiede in den naturräumlichen Bedingungen oder durch Naturkatastrophen oder Kriege bedingte Differenzen), entwickeln sich die Menschen nach evolutionistischen Vorstellungen verschieden schnell. Vor allem der erste Teil dieser These ist, wenn man den Zeitgeist des 19.Jahrhunderts im Blick hat, beinahe revolutionär. Und auch in der Auslegung des zweiten Teils fand ich in Morgans Text erstaunlich weitsichtige und für seine Zeit spektakuläre Aussagen. So prognostiziert er beispielsweise, dass sich die monogame Familie noch bis zur Gleichstellung beider Geschlechter weiterentwickeln wird – sieht man nicht gerade heute, dass sich dies in Teilbereichen durchaus bewahrheitet hat? Diese Überzeugungen tragen in erster Linie dazu bei, meinen negativen Eindruck teilweise zu revidieren, denn ich finde, dadurch wird deutlich, dass die in der heutigen Ethnologie geforderte Toleranz gegenüber Menschen anderer Kulturen gewissermaßen doch bereits hier angelegt ist. Somit würde ich diese These durchaus als einen Aspekt des Evolutionismus werten, der eine positive Auswirkung auf die heutige Ethnologie hatte. Natürlich ist der zweite Teil der Aussage meiner Meinung nach größtenteils kritisch zu betrachten und eher abzulehnen, doch könnte man diese Weiterentwicklung der These auch erneut dem damals vorherrschenden Zeitgeist zuschreiben und damit zumindest nachvollziehbarer machen. Ein anderes Merkmal der Arbeit von Morgan, das ebenfalls positiven Einfluss auf die heutige Ethnologie haben kann, ist das akribische Sammeln von Daten. So abwegig einige seiner Thesen uns heute erscheinen mögen – er hat sie mit einer Vielzahl von gesammeltem Material über Kulturen der ganzen Welt begründet und so nebenbei auch eine Fülle von Informationen über diese Kulturen zusammengetragen, die uns vielleicht heute noch nützlich sein könnten. Anzumerken ist hier meiner Meinung nach allerdings auch, dass Morgan und die meisten seiner evolutionistischen Kollegen sogenannte armchair anthropologists waren – sie haben die von ihnen publizierten Daten also nicht selbst erhoben, sondern quasi am Schreibtisch aus Materialien von Missionaren, Reisenden oder ähnlichen Personen zusammengetragen. Dies setzt meiner Meinung nach ein Fragezeichen hinter die Wiederverwendbarkeit der von den Evolutionisten gegebenen Informationen. Einige Kollegen Morgans mussten sich z.B. den Vorwurf anhören, nur solche Daten in ihren Werken verwendet zu haben, die ihre Thesen unterstützten. Doch auch wenn man diese Zusatzinformation über die evolutionistische Arbeitsweise im Kopf hat, so denke ich dennoch, dass das akribische Sammeln und Auswerten von Daten an sich einen Vorbildcharakter für die spätere Ethnologie haben kann. Und nebenbei sind einige Informationen in Morgans Text auch durchaus heute noch genauso gültig, wie z.B. Aussagen über konsanguinale und affinale Verwandtschaftsbeziehungen. Andere wiederum, wie die, dass Monogamie ein Merkmal „zivilisierter“ Gesellschaften ist, sind leicht mit Gegenbeispielen zu belegen. Zusätzlich kann man sagen, dass die gesamte vergleichende Methode Morgans und seiner Kollegen Dauerwirkung in der Ethnologie hatte: bis heute vergleichen Ethnologen Kulturen miteinander, auch wenn über die Richtigkeit dieses Verfahrens heftig debattiert wurde und Kulturvergleiche glücklicherweise nicht mehr durchgeführt werden, um die betreffenden Ethnien in unterschiedliche Entwicklungsstufen einzuordnen.
All diese Überlegungen zeigen, dass der Evolutionismus heute als ambivalent gesehen werden kann und vielleicht sogar muss. Ich denke zusammenfassend, dass man einige Aspekte dieser theoretischen Ausrichtung als durchaus positiv auffassen und sich ihrem Vorbildcharakter für die heutige Ethnologie bewusst werden sollte, anstatt nur die fragwürdigen Thesen zu betrachten und pauschal die gesamte Theorie zu verwerfen. Dennoch muss man sich mit diesen negativen Aspekten als Ethnologe kritisch auseinandersetzen und sie aus heutiger Sicht sogar ablehnen, denn sie prägen wie beschrieben die Außenwahrnehmung unserer Wissenschaft extrem negativ. Eine Aufgabe in Zukunft könnte also vielleicht sein, gerade Fachfremden diese Fehlwahrnehmungen, die zum Teil noch immer aus der evolutionistischen Ethnologie resultieren, noch effektiver zu nehmen und stattdessen das Bild einer toleranten Ethnologie, die sich allen Kulturen der Welt gleichermaßen vorurteilsfrei nährt, stärker zu vermitteln.
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- Arbeit zitieren
- Katharina Wilhelm (Autor:in), 2013, Welche Auswirkungen hat die theoretische Ausrichtung des Evolutionismus auf die heutige Ethnologie?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/375977