Der Vergleich der Interpretation des ´Großen Sprungs nach vorn´ und der chinesischen Kulturrevolution, der beiden für die Geschichte des sozialistischen China so bestimmenden Ereignisse, zeigt zwischen den überwiegenden Darstellungen der Sechziger/Siebziger Jahren und den heutigen (gemeint ist: seit dem Anfang der Achtziger Jahre des letzten Jahrhundert) extreme Unterschiede sowohl in der gesamten Konzeption wie auch in der Methodik auf.
Bei den älteren Darstellungen, speziell der Kulturrevolution, handelte es sich in der Regel um Berichte von Personen, die China zur Zeit der Kulturrevolution selbst erlebt haben (Myrdal, Bettelheim, Masi, usw.); bei den neueren ist dies nicht der Fall. Es fehlen bei ihnen unmittelbar persönliche Erfahrungen, es handelt sich also immer um Geschichten ´aus zweiter Hand´.
Die älteren Darstellungen berufen sich neben den eigenen Erlebnissen und den selbst durchgeführten Untersuchungen vor Ort auf Gespräche mit den unmittelbar Beteiligten, z. B. Rotgardisten und Bauern der Volkskommunen (z. B. Jan Myrdal), den offiziellen Quellen, usw. – also auf Primärquellen; die neueren jedoch zu einem großen Teil auf anekdotenhaften Erzählungen angeblicher Augenzeugen und zweifelhaften Sekundärquellen.
Fast immer wird bei den älteren Darstellungen auf eine theoretische Aufarbeitung und ein tieferes Verständnis der politischen Vorgänge Wert gelegt, um die chinesische Politik dieser Jahre wirklich verstehen zu können.
Inhalt
Prinzipielle Unterschiede
Thema 1: „Großer Sprung nach vorn = Hungersnot“ - Glaube und Plausibilität
1. Der ´Große Sprung nach vorn´: Hintergrund, Konzept und Umsetzung
2. Die Reduktion des ´Großen Sprungs nach vorn´ zur katastrophalen Hungersnot am Beispiel Vogelsang: Fragen und Einwände
3. Ist die Darstellung Vogelsangs richtig? - Annäherung an die historische Wirklichkeit
4. Die Zahlen zu den Hungertoten
5. Wer trägt die Verantwortung?
6. Was heißt ´Hungersnot´?
7. Zusammenfassung
8. Bemerkungen zu Vogelsangs Methode
Literatur
Thema 2: Kulturrevolution - Affinität und totales Unverständnis
1. Zitate
2. Ein kleine Auswahl der Literatur der Sechziger/Siebziger Jahre zur Kulturrevolution: begeisterte Erlebnisberichte und positive Analysen
3. Eine kurze Schilderung der Kulturrevolution
4. Die Darstellung der Kulturrevolution bei Kai Vogelsang
- Einige merkwürdige Formulierungen
- Zur Fragwürdigkeit einer Reihe von Behauptungen bei Vogelsang
- Die grundlegende Interpretation der Kulturrevolution bei Vogelsang
5. Die Ideologie Vogelsangs, die hinter seiner Interpretation steht
6. Woher kam die frühere Begeisterung für die Kulturrevolution in Europa und weltweit?
Nachtrag:
Zum Maoismus heute
Prinzipielle Unterschiede
Der Vergleich der Interpretation des ´Großen Sprungs nach vorn´ und der chinesischen Kulturrevolution, der beiden für die Geschichte des sozialistischen China[1]so bestimmenden Ereignisse, zeigt zwischen den überwiegenden Darstellungen der Sechziger/Siebziger Jahren und den heutigen (gemeint ist: seit dem Anfang der Achtziger Jahre des letzten Jahrhundert) extreme Unterschiede sowohl in der gesamten Konzeption wie auch in der Methodik auf.
´Großer Sprung´ und ´Kulturrevolution´ hängen nicht nur zeitlich eng zusammen, sie zeigen auch die Grundprinzipien und die praktische Durchführung von dem auf, was ´Mao Zedong – Ideen´ bzw. ´Maoismus´ genannt wird und bei beiden Ereignissen den ´Roten Faden[2]´ darstellt.
Als Beispiel für die heutige Darstellung wurde Kai Vogelsang, Geschichte Chinas, Stuttgart 2012, genommen. Ein weiteres, neueres Buch zur chinesischen Zeitgeschichte wäre: Sabine Dabringhaus, Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert, München 2009, das sich in ideologischer Position und Sprache kaum von dem Vogelsangs unterscheidet. Anders ist das Buch von Renate Dillmann, China: ein Lehrstück …, Hamburg 2009, das nachzuweisen versucht, dass die Entwicklung in China von der Staatsgründung 1949 bis zum 1. Fünfjahresplan positiv verlief, also Bodenreform und ´Neue Demokratie´ richtig und notwendig waren, es China für eine weitere Entwicklung aber an der nötigen Reife fehlte und der Sozialismus daher zwangsläufig scheitern musste.
Die Differenzen zwischen der ´älteren´ und der ´neueren´ Darstellung liegen allgemein in folgenden Punkten:
1. Bei den älteren D., speziell der Kulturrevolution, handelte es sich in der Regel um Berichte von Personen, die China zur Zeit der Kulturrevolution selbst erlebt haben (Myrdal, Bettelheim, Masi, usw.); bei den neueren ist dies nicht der Fall. Es fehlen bei ihnen unmittelbar persönliche Erfahrungen, es handelt sich also immer um Geschichten ´aus zweiter Hand´.
2. Die älteren D. berufen sich neben den eigenen Erlebnissen und den selbst durchgeführten Untersuchungen vor Ort auf Gespräche mit den unmittelbar Beteiligten, z. B. Rotgardisten und Bauern der Volkskommunen (z. B. Jan Myrdal), den offiziellen Quellen, usw. – also auf Primärquellen; die neueren jedoch zu einem großen Teil auf anekdotenhaften Erzählungen angeblicher Augenzeugen und zweifelhaften Sekundärquellen[3].
3. Fast immer wird bei den älteren D. auf eine theoretische Aufarbeitung und ein tieferes Verständnis der politischen Vorgänge Wert gelegt, um die chinesische Politik dieser Jahre wirklich verstehen zu können. Das heißt, man versuchte, die programmatischen Konzepte, die Zielsetzungen und die Eigenheiten der sozialistischen Politik Chinas zu erfassen und sie mit den Versuchen ihrer Umsetzung in die Praxis zu vergleichen, besonders natürlich als Gegensatz zur sowjetischen Entwicklung. Die Verfasser der neueren D. scheinen überhaupt die Existenz von politischen Konzepten[4]in der chinesischen Geschichte zu bestreiten. Es sieht manchmal sogar so aus, als seien ihnen Grundbegriffe des Marxismus – bei der Darstellung der historischen Geschehnisse in einem damals sozialistischen Land! – völlig unbekannt[5]. Phänomene des gesellschaftlichen und politischen Lebens werden prinzipiell nicht weiter nachgefragt. Sie bleiben im Raum stehen, sind daher oft unverständlich und werden meist negativ-kommunistisch besetzt, das heißt als Beispiele für den Unsinn des Sozialismus.
4. Auffällig ist bei den neueren D. die Reduktion der zeitgeschichtlichen Vorgänge in China auf ein einzelnes Stichwort:
- Großer Sprung = Hungersnot
- Kulturrevolution = Chaos
Diese Arbeitsweise ist auch beim Boulevard-Journalismus zu finden. Mit dieser Methode kann eine Diskussion zum Thema bereits abgeschlossen werden, bevor sie überhaupt angefangen hat: Man sucht sich ein bestimmtes, anscheinend erdrückend negatives Phänomen aus einer über Jahre hinweg laufenden, geschichtlichen Epoche heraus, reißt es aus seinem Kontext, indem man auf die Schilderung der Hintergründe und der eigentlichen Zielvorstellungen verzichtet, stellt es also isoliert in den Raum und erreicht dadurch, dass der gesamte Zeitraum - wie auch die gesamte Gesellschaftsordnung und das gesamte politische System - negativ besetzt sind. Dadurch werden jede weitere Analyse und Debatte verhindert, da sie, in diesem Fall in Anbetracht von ´Hungersnot´ und ´Chaos´, als von vornherein sinnlos erscheinen.
Dieses Verfahren kann seine Wirksamkeit dadurch erlangen, indem es sich auf die weit verbreitete mainstream-Auffassung beruft, Sozialismus/Kommunismus sei a priori etwas Böses, dem alles Schlimme zuzutrauen wäre. Dies erinnert natürlich an die anti-sowjetische Propaganda zur Zeit des ´Kalten Krieges´ mit ähnlichen Reduktionen: Stalin = Arbeitslager, DDR = Mauer, etc.
5. Ebenfalls als eine Reduzierung der tatsächlichen, politischen Positionen der damaligen Zeit lässt sich die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen den Fraktionen der Kommunistischen Partei Chinas bei den neueren D. sehen. Mao Zedong und Deng Xiaoping werden nicht als Vertreter unterschiedlicher, politischer und weltanschaulicher Positionen gesehen. Die gesamte Debatte, der jahrzehntelange politische Kampf, der in China stattgefunden hat, werden zu einem persönlichen, letztendlich nicht weiter erklärbaren Machtspiel zwischen zwei Personen minimalisiert. Geschichte wird letztendlich als eine Aneinanderreihung sinnloser, von plumper Konkurrenz bestimmter Streitigkeiten betrachtet.
6. Ebenfalls charakteristisch für die neueren D. ist die Sprache. Man bemüht sich nicht mehr um einen sprachlich neutralen Stil, sondern orientiert sich an der Gossensprache der ´Bild´-Zeitung, wohl im Glauben, damit mehr Leser erreichen zu können[6].
Weiter zur Analyse der Interpretationen des ´Großen Sprungs´ und der ´Kulturrevolution´:
Thema 1: „ Hungersnot“ - Glaube und Plausibilität
1. Der Große Sprung nach vorn: Hintergrund, Konzept und Umsetzung
Was war der soziale und politische Ausgangspunkt für den ´Großen Sprung nach vorn´ und was sollte eigentlich damit bezweckt werden? Vor welchem Background fand diese großangelegte, mehrjährige Kampagne statt? Die Antwort auf diese Fragen wäre wohl wichtig, um zu einer korrekten Gesamteinschätzung der Kampagne zu kommen.
Vogelsang formuliert seine Bewertung bereits in der Kapitelüberschrift aus: „Tödliche Experimente …“[7].
Dann führt er aus: „… nicht durch Maschinen oder Dünger, sondern durch Willensstärke und Muskelkraft“[8]sollten Industrie und Landwirtschaft wachsen. Wie denn sonst? „Menschen waren das einzige, was China im Überfluss besaß…“, hatte er eine Seite zuvor geschrieben. Aber dieser Aufschwung sollte nicht staccatohaft sein, es sollte nicht vor sich hingewurschtelt werden: Der erste Schritt dazu war die völlige Neuorganisierung der Landwirtschaft.
Die Umverteilung des Bodens 1949 ergab folgende Durchschnittsgrößen: Besitz der ehemaligen Landarbeiter und der Kleinbauern 0,1 ha, der mittleren Bauern 0,2 ha, der Großbauern 0,25 ha. 1950 - also etwa zur selben Zeit - betrug die Durchschnittsgröße eines bundesdeutschen Bauernhofs 25 ha, also das Zehnfache des Hofes eines chinesischen Großbauern![9]Von der für die Effektivität und Rentabilität notwendigen Kollektivierung ging man weiter zu den Volkskommunen als größere Einheiten, die eine möglichst weitgehende Selbstversorgung ermöglichen sollten. Es handelte sich hierbei um ein Konzept, das sich von dem der Sowjetunion, wie es am Anfang der Dreißiger Jahre durchgesetzt wurde, unterschied: Die Rolle des Zentralstaats bzw. der Zentralen Plankommission für die Wirtschaftsentwicklung war in China bedeutend geringer.
1953 war die erste Phase des Wiederaufbaus des Landes beendet: mit großem Erfolg. Von 1949 bis 1952 war zum Beispiel die Getreide- und Kartoffelproduktion um 42,8% gestiegen.
Noch beeindruckender aber waren die Erfolge in der Industrie: Die durchschnittlichen, jährlichen Zuwachsraten in dieser Periode lagen für Rohstahl bei 104,4 % (!), für Erdöl bei 53,3%, für Elektrizität bei 18,95%, für Baumwollstoff bei 26,55% und für Steinkohle bei 27%. Die gesamte Industrieproduktion stieg um jährlich 34,8%.[10]
Angesichts der erreichten, enormen wirtschaftlichen Erfolge in den Jahren zuvor werden die hohen Zielsetzungen der darauffolgenden Kampagne des ´Großen Sprungs´ viel verständlicher. Vogelsang erwähnt kein Wort davon. Es passt offensichtlich nicht in sein Konzept: Irgendeine Art von Fortschritt darf es in einem sozialistischen Land seiner Meinung nach nicht geben.
Im August 1958 setzte Mao die Bildung von Volkskommunen durch, zugleich sollte die Industrieproduktion weiter gesteigert werden, besonders die Stahlherstellung - und zwar durch Initiativen der Basis. Große Ziele wurden gesetzt – und die Verantwortlichen der Wirtschaft in den Provinzen und Regionen bestätigten deren Machbarkeit, korrigierten sie sogar nach oben.
Man muss hinzufügen, dass in den Metropolen die Arbeitslosigkeit 20-30% betrug: Auch wenig effektive Beschäftigung war immer noch besser als keine[11]!
Jack Chen schrieb: „Die Volkskommunen mobilisierten ihre gewaltigen Arbeitskraftreserven und nahmen tausende von Maßnahmen zur Strukturverbesserung in Angriff: Wasserreservoire, Be- und Entwässerungsanlagen, Terrassenfelder, Brunnen, Dämme, Deiche, Zisternen und Planierung von Anbauflächen. (…) In der Folgezeit wurden einige große und dauerhafte Leistungen erreicht, aber es gab auch schauderhafte Fiaskos. (…) Bis zum Ende des kommenden Jahrzehnts würden diese Projekte Chinas Ernährungs- und Bekleidungsprobleme gelöst haben. (…) Was das chinesische Volk in diesen Jahren schaffte, stellte den Bau der Großen Mauer bei weitem in den Schatten.“[12]
Und die Hungersnot? Jackie Chen schreibt detailliert von den geradezu idiotischen Fehlern, die gemacht wurden, beispielweise von den weit abgelegenen Kantinen auf dem Land, den überforderten Omas in den neuen Kindergärten der Volkskommunen, dem Glauben, alles, wirklich alles, in Rekordzeit schaffen zu können[13]und auch von den Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung, die auftraten. Aber - und das sollte auf keinem Fall vergessen werden - trotz allem war Anfang der Sechziger Jahre der Hunger in China definitiv besiegt.
2. Die Reduktion des ´Großen Sprungs nach vorn´ zur katastrophalen Hungersnot am Beispiel Vogelsang: Fragen und Einwände
Für Vogelsang war die Kampagne des ´Großen Sprungs´ eine einzige Katastrophe. Er behauptet, in einer geradezu apokalyptischen Hungersnot wären zwischen 1959 und 1961 „20, 30 vielleicht 40 Millionen“[14]Menschen gestorben.
Und keiner hat´s gemerkt! Das Erstaunliche der Hungerkatastrophe bleibt für Vogelsang ihre „Unsichtbarkeit“[15]!
Westliche Beobachter bemerkten keine Hungersnot[16]; bis 1960 waren auch sowjetische Ingenieure, Techniker und Facharbeiter in großer Zahl im Land, in rund 340 Großprojekten beschäftigt, die für die sowjetische Propaganda gegen Mao, die längst eingesetzt hatte, liebend gern von Katastrophen berichtet hätten; es gab viele Auslandsstudenten, Botschaftspersonal, Nachrichtenagenturen, Touristen, Journalisten… aber niemand nahm eine Hungersnot zur Kenntnis. Das Nachrichtenmagazin ´Der Spiegel´ schrieb später, ihre Journalisten wären ja in Peking gewesen und da gab es eben keine Hungersnot.
„Auch die SPIEGEL-Redakteure ahnten nichts von dem Desaster, das am Ende des „Großen Sprungs“ über die chinesische Nation hereinbrechen sollte. Entsprechend positiv fiel die Titelgeschichte von Anfang 1959 aus. Anders als die Sowjetunion setzte das kommunistische China in erster Linie auf die Landwirtschaft und konnte dabei erstaunliche Erfolge aufweisen. Gegenüber dem „vorrevolutionären Rekord“ 1936 hatten die Chinesen die Ernteerträge der Grundnahrungsmittel um über 150 Prozent erhöht; allein zwischen 1955 und 1958 verdoppelten sie die Hektarerträge. Erstmals seit vielen Jahrhunderten schien Chinas größter Dämon, der Hunger, gezähmt.“[17]
Auch einem Großteil der chinesischen Bevölkerung blieb die Hungersnot verborgen[18]! Erst über 20 Jahre später (!) dachten sich zwei amerikanische Demoskopen bei der Durchsicht der chinesischen Statistiken zum Bevölkerungszuwachs: Da muss eine Hungersnot gewesen sein!
Geschichtsschreibung beruht – als Wissenschaft – auf Vernunftkriterien, d. h. auf überzeugende Quellenbelege, auf den logischen Zusammenhang des Dargestellten, und auf eine selbstkritische Haltung des Autors.[19]Sichere, überzeugende Quellen sind oft nicht ausreichend vorhanden bzw. nicht zugänglich oder fehlen. Also geht es meiner Meinung nach oft um die Plausibilität.
In diesem Fall muss man sich fragen: Wie ist es möglich, dass niemand diese katastrophale Hungersnot mitbekam? Wie kann es sein, dass in über zwanzig Jahren keine Nachricht von der angeblich größten Hungersnot des Jahrhunderts nach außen drang? Die Städte werden vom Land ernährt, hätte nicht zuerst dort eine Hungersnot ausbrechen müssen? Warum war es nicht so? Warum wurde in gesamten Zeitraum Getreide exportiert? Gab es eine ganz China umfassende Hungersnot? Warum sind die Zahlenangaben zu den Opfern, z. B. bei Vogelsang, so unterschiedlich? Oder waren es doch nur Versorgungsschwierigkeiten? Welche Ursachen sollte eine plötzliche Hungersnot gehabt haben, die anscheinend von niemanden vorhersehbar gewesen war?
3. Ist die Darstellung Vogelsangs richtig? - Annäherungen an die historische Wirklichkeit
- Jack Chen spricht von einer Reihe vonNaturkatastrophen, die im Zusammenspiel mit den begangenen Fehlern 1959 bis 1961 zu Missernten führten.
Wemheuer, der im deutschsprachigen Raum sich mehr als jeder andere Sinologe mit diesem Thema beschäftigt hat - seine Promotion wie auch seine Habilitation handeln davon - schrieb, es sei nicht möglich, für die Hungersnot „eine Ursache als die entscheidende hinzustellen[20]. Die Naturkatastrophen gehörten zu den bestimmenden Faktoren. Andere Autoren geben auch der Einrichtung der Volksküchen, in denen jeder angeblich nach Belieben und so oft er wollte essen konnte, dem Getreideexport in andere Provinzen oder ins Ausland, der Vernachlässigung der Landwirtschaft zu Gunsten der Stahlproduktion[21]oder der Unterschlagung von Getreide die Schuld[22].
Vogelsang aber behauptet tatsächlich, die Jahre 1959 bis 1961 seien „gute Jahre“[23]gewesen. Missernten und Naturkatastrophen hat es für ihn nicht gegeben. An diesem Punkt widerspricht Vogelsang völlig dem anerkannten Experten auf diesem Gebiet.
1958 gab es unbestritten eine Rekordernte - die bis zu diesem Zeitpunkt größte Ernte in der Geschichte Chinas! In den folgenden drei Jahren gab es nachweisbar Hochwasser, Dürre und Pestepidemien. Der damalige stellvertretende Parteisekretär von Xinyang, dem Zentrum der Versorgungsschwierigkeiten, Zhang Suhfan, schrieb, es hätte 1959 in diesem Gebiet 100 Tage nicht geregnet.[24]
Die Ergebnisse der Getreideernten in Millionen Tonnen[25]
1958 1959 1960 1961 1965
200 mt 170 mt 143,5 mt 147 mt 200 mt
- In den Jahren 1958 und 1959, also auch noch im ersten Jahr der Hungernot, wurden drei Millionen bzw. vier Millionen Tonnen Getreide und weitere Lebensmittel ins Ausland exportiert[26], schreibt Vogelsang empört. An der obigen Statistik sieht man aber, dass dieGetreideausfuhrim Vergleich zur Gesamtproduktion minimal war!
- War einegrundsätzlich falsche Politik, nämlich die Einrichtung der Volkskommunen und die Mobilisierung der Bevölkerung für die Kleinproduktion, für primitive Stahlschmelzen, usw., für den Hunger verantwortlich? Dann hätte logischerweisemehr oder weniger ganz Chinavom Hunger betroffen sein müssen. Aber die Millionenstädte, die vom Land ernährt werden, wurden ja laut Vogelsang von der Hungersnot verschont[27]. In den Autonomen Regionen blieben – laut Wemheuer - Versorgungsschwierigkeiten völlig aus und das gleiche gilt für die Armeestützpunkte in ganz China. Eine der ersten Feldstudien in ´oral history´ fand 1992 in Guangdong statt: 300 Personen wurden befragt, es gab bei keinem der Befragten irgendeinen Hinweis auf eine Hungersnot[28]. Wemheuers Untersuchungen fanden in Henan statt, einer Provinz mit fast 100 Millionen Einwohnern (2003), der damals am meisten von Versorgungsschwierigkeiten betroffenen Provinz, aber auch dort war nur in einem von den drei Kreisen, die er studierte, wirklich eine enorm erhöhte Sterberate feststellbar. Das Gebiet von Xinyang, das besonders mit dem Hunger zu kämpfen hatte, bekam 1960 und 1961 3,3 Millionen Kilo Getreide aus anderen Provinzen als Hilfe.[29]Auch dies zeigt, dass nicht alle Gebiete von einer Krise betroffen waren.
Offensichtlich kann es sich nur um eine regional oder örtlich begrenzte Hungersnot gehandelt haben.
Zudem zeigen die Statistiken, die Wemheuer vorstellt, eine hohe Sterblichkeitsrate in den genannten Gebieten zwischen Herbst 1959 und Frühling 1960. Wir haben also auch eine deutliche zeitliche Begrenzung der Krise. Von ´drei bitteren Jahren´ kann im Sinn einer kontinuierlichen Hungersnot nicht die Rede sein.
Der Annahme einer prinzipiell falschen Politik der chinesischen Regierung in Bezug auf den ´Großen Sprung´ widerspricht also die zeitliche und örtliche Begrenzung der Versorgungsschwierigkeiten. Es gab in vielen Gebieten Chinas ernste Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln, das wurde auch nie verheimlicht – aber Hinweise auf eine echte Hungersnot gibt es nur für ein sehr begrenztes Gebiet.
4. Die Zahlen zu den Hungertoten
- Dem letzten Satz würde die Behauptung einer riesigen Zahl von Hungertoten natürlich widersprechen.
Vogelsang spricht von „20, 30 vielleicht 40 Millionen“ Hungertoten. Wemheuer zitiert in seinem Buch ´Steinnudeln´ verschiedene Autoren, die von 15 bis 45 Millionen in ganz China[30]ausgehen, in seinem letzten Buch gibt er 30 Millionen an[31]. Er selbst hat nur in einem bestimmten, relativ kleinen Gebiet seine Untersuchungen durchgeführt. Dikötter beruft sich auf die gleichen Autoren wie Wemheuer, es sind immer dieselben Quellen, die herangezogen werden: Alle berufen sich auf die ´Entdecker´ der Hungersnot, auf die ersten, welche enorme Zahlen über eine Hungersnot in China in die Welt setzten: 30 Millionen Tote zwischen 1958 und 1962 (Basil Ashton, 1982) oder 30 Millionen zwischen 1958 und 1961 (Judith Banister, 1987); danach wurden Neuberechnungen angestellt: 23 Millionen (Peng Xizhi, 1987), 38 Millionen (Jung Chang), 36 Millionen (Yang Jisheng) und zuletzt 32,5 Millionen (Cao Shuji, 2005). Dikötter ist etwas vorsichtiger als andere Autoren, er schreibt, es handle sich bei diesen Angaben um die Anzahl der Menschen, die eines „premature death“ gestorben waren, also an Hunger, Unterernährung, Krankheiten, Gewaltanwendung, usw.[32].
- Wie kam man auf so unterschiedlichen Schätzungen?
Im Vergleich der Daten der Volkszählungen von 1953 und 1964 hätte die Bevölkerung unter der Voraussetzung einer kontinuierlichen Zuwachsrate in der Periode zwischen 1959 und 1961 um 27 Millionen höher sein sollen, als sie es tatsächlich war.
Der Grund für diese statistische Unregelmäßigkeit soll - wie es zum ersten Mal 1982 behauptet wurde - eine schreckliche Hungersnot gewesen sein. Die Jahre 1959-1961 wurden als die ´drei bitteren Jahre der Hungersnot´ bezeichnet.
Sind jetzt wirklich 27 Millionen Menschen verhungert, bzw. eines „premature death“ gestorben? Aber warum sind es oft so viele Millionen mehr?
Auf höhere Werte als 27 Millionen kam man, in dem man von einer höheren Geburtenquote ausging, also von einer höheren Anzahl von Geburten in den Fünfziger Jahren, als offiziell gemeldet war. Die offizielle Geburtenrate wurde in diesen Berechnungen genauso wenig wie die offizielle Sterberate akzeptiert. Man verließ sich auf eigene Schätzungen.
Ist eine solche Methode zulässig? Bei einer Bandbreite von 15 bis 45 Millionen Toten - bei einer so hohen Fehlerquote! - würde man spontan sagen, nein. Wemheuer hält sich bei seinen eigenen Arbeiten an die offiziellen Zahlen, er geht in seinen Untersuchungen in Henan von der offiziellen Sterblichkeitsrate aus. Die wagen Schätzungen der andern Autoren, die ganz China betreffen, werden von ihm zitiert, aber er selbst arbeitet nicht nach deren Methode.
- Gehen wir von den gegebenen, offiziellen Zahlen aus, also von 27 Millionen „premature death“.
Geburtenrate:
Von diesen 27 Millionen, die also statistisch fehlen, waren 18 Millionen noch gar nicht geboren!
“The Chinese are a highly talented people, but they have not learnt the art of dying without being born.“[33]
Die Geburtenrate war 1959 - 1961 auffällig gefallen, aber es können verschiedenste Gründe dafür verantwortlich gewesen sein: der höhere Anteil an berufstätigen Frauen, die Missernten, die Epidemien, die Ablehnung der kollektiven Kinderbetreuung, verschiedenste Gründe, die davon abhielten, schwanger zu werden, usw. Auch in den Jahren vor 1959 war die Geburtenrate bereits kontinuierlich gesunken.
Auf jeden Fall können Ungeborene nicht verhungern!
Sterblichkeitsrate:
Todesfälle pro 1.000 Menschen in einem Jahr:[34]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die höhere Todesrate im Zeitraum zwischen 1959 und 1961 im Vergleich zu 1958 würde in absoluten Zahlen 11 Millionen Tote ausmachen. Natürlich gibt es immer statistische Schwankungen, nur ein einziges Jahr sticht wirklich hervor: 1960. Die große Katastrophe müsste in diesem Jahr stattgefunden haben. Dies stimmt auch mit Wemheuers Untersuchungen in der Provinz Henan überein.
[...]
[1]Ich gehe – ohne es an dieser Stelle weiter begründen zu wollen - davon aus, dass das heutige China nicht mehr sozialistisch, sondern ein imperialistisches Land ist.
[2]Dass es einen solchen ´Roten Faden´ gibt, wird bei Vogelsang schon bestritten. Seiner Meinung nach waren es nur sinnlose Kampagnen, die rein der Machterhaltung dienten.
[3]Die Memoiren eines Arztes von Mao, Li Zhisui, den Vogelsang zitiert, sind widerlegt (siehe u.a. Texte bei www.chinastudygroup.com); Chang/Halliday hatten die gleiche ideologische Absicht wie Li, nämlich aufzuzeigen, dass Mao ein Psychopath war, und sind genausowenig glaubwürdig. Wemheuer versuchte Aussagen von Menschen, die die Hungersnot in Henan noch erlebt hatten, zu sammeln, bzw. die von Familienangehörigen (´oral history´). Die Problematik liegt sowohl darin, dass sie nicht von schriftlichen Quellen unterstützt werden, als auch im großen Zeitraum, der zwischen dem Großen Sprung und den Interviews Wemheurs liegt: rund 50 Jahre!
[4]Auf sozialer Analyse beruhende politische Programme werden im Slang der ´Postmoderne´ als ´Großerzählungen´ bezeichnet.
[5]Beispiel: Vogelsang, 548. „Die VR China war nie eine klassenlose Gesellschaft. Alle Staatsangestellten wurden in Rangstufen eingeteilt …“ Bestimmend für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse ist für Karl Marx die Stellung zu den Produktionsmitteln (Fabriken, Maschinen): Der Eigentümer der Produktionsmittel ist der Kapitalist; derjenige, der an ihnen arbeitet, ist der Arbeiter. Dies hat mit Rangstufen und unterschiedlicher Bezahlung erstmal nichts zu tun. Zudem wurde niemals von den Kommunistischen Parteien behauptet, dass sozialistische Länder keine Klassengesellschaften wären! 1936 unterschied die Stalinsche Verfassung drei Klassen: Arbeiter, Bauern, Intelligenz; in China kam 1949 noch die ´nationale Bourgeoisie´ dazu. Der Große Sprung wie die Kulturrevolution hatten zudem gerade das Ziel die neu entstandene ´Klasse´ der ´neuen Bourgeoisie´ zu entmachten, im notwendigen ´Klassenkampf´.
[6]Beispiele: Vogelsang über Mao Zedong: „Bevor Mao seine Theorien weiter ausspinnen konnte, …“ (531); „Als Mao bereits ein sabbernder Pflegefall war, …“ (575)
[7]Vogelsang 546
[8]Vogelsang 551
[9]Dillmann 61
[10]Domes/Näth 16/17
[11]Z. B. die Schilderungen von Guan Ailian in Guangdzhou
[12]Jackie Chen 110
[13]So erwähnt Jack Chen einen Tanzlehrer, der stolz behauptete, die Ausbildungszeit zur professionellen Balletttänzerin auf drei Monate verkürzt zu haben!
[14]Vogelsang 554; keine Quellenangaben
[15]Vogelsang 554
[16]Vogelsang 554
[17]HTTP://WISSEN.SPIEGEL.DE/WISSEN/DOKUMENT/DOKUMENT.HTML
[18]Z. B. in: J. D. Spence, Das Jahrhundert Chinas, München 1997
[19]Jordan 191
[20]Wemheuser 8, 24
[21]Wemheuer 7/8
[22]Thaxton, bei Wemheur 14
[23]Vogelsang 553
[24]Wemheuer 116
[25]Dillmann
[26]Vogelsang 555
[27]Vogelsang 554
[28]Wemheuer 9
[29]Wemheuer 104
[30]Wemheuer 1
[31]Wemheuer, Der Große Hunger
[32]Dikötter 324/325
[33]Utsa Patnaik, Revisiting alleged 30 million famine death during China´s Great leap, People´s Democracy 26, 26. Juni 2011
[34]Utsa Patnaik, Revisiting …
- Quote paper
- Dr. Anton Stengl (Author), 2014, Westliche Erzählungen von chinesischer Geschichte. Der "Große Sprung nach Vorn" und die Chinesische Kulturrevolution in der Perspektive der Sechziger/Siebziger Jahre und der Gegenwart, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/375681
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