Das naive Käthchen gelangt durch Hingabefähigkeit und Glaube an die Wahrheit, während die Kunigunde sich der Täuschung durch die Sinne bewusst ist und versucht sich diese zunutze zu machen. Der Gegensatz zwischen Käthchen und Kunigunde hinsichtlich ihrer Erkenntnisfähigkeit wird in der Aufführung theatral reflektiert und der Zuschauer in die Dualität des Erkenntnisgewinns einbezogen. Nicolas Stemann führt in seiner Inszenierung die Illusion des Zuschauers im Theater durch die Reflexion seiner Mittel (Schauspielstil, Kostüme, Requisiten, Bühne) vor.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Schauspielstil
2.1 Die Funktion des Schauspielers
2.2 Die Mittel des Schauspielers
3. Kostüme und Requisiten
4. Bühne
5. Zuschauer
6. Schlussbemerkung
1. Einleitung
In der Aufführung „Das Käthchen von Heilbronn“ im Deutschen Theater wird der Zusammenhang zwischen Liebe, Vertrauen und Erfassen der Wahrheit durch Inhalt und Darstellung thematisiert. Es geht um die Erkenntnisfähigkeit mit Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung, um die geheimnisvolle Spannung zwischen Traum und Wahrheit, Illusion und Wirklichkeit, Glauben und Wissen. Wie gelangt der Mensch zur Wahrheit? Kann er seinen Sinnen trauen? Wieviel Wahrheit birgt der Traum? Inhaltlich wird der Konflikt zwischen Wirklichkeit und Illusion vor allem an zwei gegensätzlichen Figuren verdeutlicht: Käthchen und Kunigunde.
Käthchen erfährt durch einen Traum, in dem es von einem Cherub geführt wird, dass es Friedrich Wetter heiraten wird. Von der Wahrhaftigkeit dieses Traumes überzeugt, folgt es dem Grafen gegen seinen Willen fortan in völliger Ergebenheit. Nichts kann Käthchen davon abhalten – nicht, dass der Graf es erniedrigt, es beispielsweise vor ihm knien muss, und auch nicht, dass es von ihm mit Füßen getreten wird oder der Graf ihm Schläge mit der Peitsche androht. Es schreckt nicht davor zurück, für ihn durch das Feuer zu laufen und wird von Engeln gerettet. Lieben, Vertrauen und Glauben sind hier auf sonderbare Weise miteinander verknüpft, denn diesen gemeinsam scheint die „Vernebelung der Sinne“ zu sein. Die Figur des Käthchens verkörpert eine naive Haltung gegenüber der Wirklichkeit, denn ihre Annahmen über sie sind nicht gesichert, sie hinterfragt nicht und weiß nichts über die trügerische Kraft der sinnlichen Wahrnehmung, weshalb sie an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben kann. Die intrigante Kunigunde hingegen weiß um die leichte Illusionierbarkeit der Sinne und nutzt diese aus. Mit Hilfe ihres künstlichen mosaischen Körpers bringt sie zuerst den Burggraf, dann den Rheingraf und schließlich Graf Wetter dazu, sich in sie zu verlieben, um sich jeweils mit einem zu verbünden und gegen einen anderen in den Krieg zu ziehen. Die Aufdeckung des Betruges durch den Burggraf, dann durch den Rheingraf bedeutet immer Desillusionierung und Zerstörung von Liebe und Vertrauen, so dass Kunigunde ein Ziel der Rache ihrer ehemaligen betrogenen Liebhaber wird. Auch hier sind Liebe, Vertrauen und Glauben miteinander verbunden.
Nicolas Stemann gelingt es in seiner Inszenierung des „Käthchens“, den Zuschauer in den Dualismus von Wirklichkeit und Illusion einzubeziehen, indem er das illusionistische Instrumentarium des Theaters zur Schau stellt. Zu Beginn der Aufführung fordert Frank Seppeler respektive Graf Wetter vom Strahl das Publikum auf, ihm die drei Wörter „Ich liebe dich“ zu sagen. Danach verlangt er Vertrauen von Seiten des Publikums, da auch er ihm Vertrauen entgegen bringe. Nach und nach treten die anderen Schauspieler Peter Pagel (Gottschalk), Thomas Schmidt (Burggraf) und Michael Schweighöfer (Rheingraf) auf die Bühne und betonen: „Denken Sie daran, was Sie mir versprochen haben!“ und fordern ebenfalls Vertrauen vom Publikum. Alle Schauspieler wiederholen diese Sätze und sprechen durcheinander. Zum Schluss erscheinen auch Aylin Esener (Kunigunde) und Christine Schorn (Gräfin Helena) auf der Bühne, um Vertrauen einzufordern. Zunächst irritieren diese Sätze, doch im Laufe der Aufführung wird die Bedeutung klar, vor allem bei der Wiederholung dieser Forderungen im letzten Drittel der Aufführung, als ein Teil des Publikums, der Chor, den Zuschauerraum verlässt. Mit dem Besuch der Theateraufführung lässt der Zuschauer sich auf die Illusionierung durch das Schauspiel ein, er muss sich in gewisser Weise hingeben, den Verstand ausschalten und der Wahrnehmung vertrauen. Dasselbe passiert beim Verlieben: Wer liebt, der vertraut und glaubt dem Partner, ohne seine eigene Wahrnehmung kritisch zu prüfen. Oder umgekehrt: nur wer vertraut und seinem Gegenüber glaubt, gibt sich der Liebe hin. Die Zuschauer werden aufgefordert, die Schauspieler zu lieben, weil sie ihnen das Schauspiel glauben sollen, ohne es für Theater zu halten. Genau genommen ist es ein Paradox, denn in seiner Inszenierung offenbart Stemann die Theatersituation und der Zuschauer wird zwischen Illusion der Handlung und Erkennen des Theatermachens hin- und hergeworfen. Mit der Erkenntnis, dass die Illusion durch verschiedene Mittel des Theaters herbeigeführt wird, glaubt der Zuschauer dem Spiel nicht mehr, er misstraut ihm. Genau diese Mittel versucht Stemann in der Inszenierung zu reflektieren. Dem Zuschauer soll bewusst werden, welche Techniken angewendet werden, um Illusion zu erzeugen. In dieser Arbeit möchte ich die Selbstreflexion des Theaters in dieser Inszenierung untersuchen, wobei ich zunächst den Schauspielstil auf diese Frage hin analysiere, dann die Verwendung von Kostümen und Requisiten. Danach ziehe ich die Reflexion der Bühne auf ihre Wirkungsweise in die Betrachtung hinein und schließlich komme ich auf den Zuschauer zu sprechen.
2. Schauspielstil
Die Schauspieler agieren in einer Weise, dass oft nicht deutlich wird, ob sie als Schauspieler oder als Figur auf der Bühne erscheinen. Ich möchte die Begriffe „Schauspieler“ und „Figur“ an dieser Stelle kurz erläutern: Im zuerst genannten Fall tritt die Theatersituation ins Bewusstsein der Anwesenden, d.h. Schauspieler stellen eine Handlung auf der Bühne für ein Publikum szenisch dar. Dies ist die Realität. Im zweiten Fall herrscht die Illusion, die Ebene der Darstellung sei Wirklichkeit, obwohl Personen, Handlung, Ort und Zeit eigentlich fiktiv sind. Die Zuschauer vergessen für die Zeit der Aufführung die beschriebene wirkliche Theatersituation – das war das Konzept des bürgerlichen Illusionstheaters seit dem 18. Jahrhundert, das Nicolas Stemann mit dieser Inszenierung in Frage stellt. Hier vermischen sich Figuren- und Schauspieleridentität. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass Inka Friedrich in der Rolle des Käthchens im Gegensatz zu allen anderen als einzige Schauspielerin konsequent in ihrer Rolle bleibt, so dass zwei konträre Schauspielstile gezeigt werden und sich eine Vergleichsebene eröffnet. Wie reflektieren die Schauspieler ihre Funktion und ihre Mittel, als Figur präsent zu sein?
2.1 Die Funktion des Schauspielers
Charakter und Gefühlsleben der Figur[1], die der Schauspieler durch seine Rolle repräsentiert, müssen glaubwürdig durch eine angemessene Mimik und Gestik, durch Bewegung und den Sprechstil dargestellt werden, wenn der Zuschauer in eine Illusion versetzt werden soll. Im konventionellen Theater hat der Schauspieler die Funktion, in der Identität einer Bühnenfigur vollkommen aufzugehen. Wie bereits erwähnt, verfolgt Inka Friedrich in der Rolle des Käthchens während der gesamten Aufführung einen illusionistischen Schauspielstil, der sich in ihrer äußerst emotionalen Spielweise bemerkbar macht. Ihr Verhalten auf der Bühne ist immer durch Handlung, Gefühle und Charakter des Käthchens motiviert: jedes gesprochene Wort, der Tonfall, das Aufreißen der Augen, das eigene Ohrfeigen, jede Bewegung, Wutausbrüche und Verzweiflung wie das Stampfen mit dem Fuß, das Schreien, das Umwerfen des Stuhles, Weinen und Lachen, das unterwürfige Hinlegen auf den Boden, das nervöse Reiben der Hand in der Hosentasche, als der Graf sie wegschickt, das plötzliche Hochreißen des Armes und Strecken des Oberkörpers, als sie zeigen soll, woher sie komme etc. Inka Friedrich erscheint auf der Bühne immer in der Rolle des Käthchens. Anders ist es bei den übrigen Schauspielern: Diese sind nur zeitweise als Figur präsent, denn oft befinden sie sich in einem „Zwischenzustand“, so dass sich schwer entscheiden lässt, ob ein bestimmtes Verhalten zur Rolle gehört oder zum Schauspieler selbst. In der Szene des Vehmgerichtes beispielsweise verziehen sich Friedrich Wetter, Gräfin Helena, Gottschalk und der Burggraf langsam in den hinteren Teil der Bühne – Kunigunde und der Rheingraf treten ab – als Theobald Friedeborn seine Anklage gegen Friedrich Wetter vorträgt. Obwohl sie innerhalb der Handlung dem Gericht beiwohnen, stehen sie im hinteren Teil der Bühne gelangweilt herum, schauen und laufen umher, flüstern und verschwinden schließlich nach und nach. Später, noch bevor Friedeborn seine Anklage vollständig vorgetragen hat, kommen sie dann wieder zurück. Es wirkt, als würden sie als Schauspieler die Handlung kennen und könnten für einen Augenblick die Bühne verlassen. Dennoch sind sie in dem Augenblick nicht völlig von ihrer Rolle befreit, denn Kunigunde und der Rheingraf halten sich an den Händen, was die enge Beziehung zwischen beiden anzeigt – und das gehört eben zur Handlung des Dramas. Auch vor Beginn des Vehmgerichtes (bei der Forderung nach Vertrauen) befinden sich die genannten Schauspieler in diesem „Zwischenzustand“, da die Handlung laut Drama zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht begonnen hat und sie mit dem Publikum kommunizieren. Trotzdem begrüßt Frank Seppeler Christine Schorn mit „Hallo Mama“. Ferner wird der Beginn der Aufführung gar nicht durch einen Vorhang und Löschen des Lichtes angezeigt. Frank Seppeler kommt, bevor er anfängt, mit dem Publikum zu sprechen, zwei Mal verunsichert auf die Bühne und geht wieder. Das Licht im Zuschauerraum bleibt an. Nach der Ansage des zweiten Aktes und der Schilderung der Situation, dass Kunigunde zusammen mit dem Rheingrafen einen Angriff auf Graf Wetter plant, verhalten sich die anderen Personen auf der Bühne sehr lässig, als wären sie gelangweilt. Der Rheingraf beispielsweise „flegelt“ sich auf dem Stuhl herum. Insgesamt kommen und gehen die Schauspieler während der Aufführung scheinbar unabhängig von der Handlung auf die bzw. von der Bühne. Als Käthchen auf dem Weg zum Kloster über die Drehbühne entgegengesetzt der Drehrichtung läuft, geht der Rheingraf zuerst von rechts nach links, dann von links nach rechts über den vorderen Bühnenrand und spricht dabei zum Publikum: „Super, hä? Toll, nicht?“, weil er schneller voran kommt als Käthchen. Dieser Auftritt ist überhaupt nicht mit der Handlung zu begründen und zeigt lediglich die Technik der Drehbühne.
Ein weiteres Indiz dafür, dass die Schauspieler in ihrer Identität als Figur in einem fiktionalen Rahmen oder als Schauspieler in einer realen Theatersituation nicht festgelegt werden können, ist das Ansagen der Auftritte, das Sprechen der Regieanweisungen und das Erzählen des Handlungsablaufes ohne szenische Darstellung. Indem die Schauspieler Aylin Esener, Peter Pagel, Thomas Schmidt und Michael Schweighöfer sich erzählerisch betätigen, distanzieren sie sich von ihrer Rolle als Figur in einer fiktionalen Handlung. Sie nehmen Kontakt zum Zuschauer[2] auf und erklären ihm das Geschehen von einer Außenperspektive aus, ohne in dem Moment völlig involviert zu sein. So gibt zum Beispiel Aylin Esener die Regieanweisung für die erste und letzte Szene (Vehmgericht, Hochzeit), Peter Pagel sagt den zweiten Akt (Krieg) und den fünften Akt an, Thomas Schmidt den vierten Auftritt und erzählt das Geschehen vor der Köhlerhütte mit Hilfe einer an die Wand projezierten Powerpoint-Präsentation. Michael Schweighöfer gibt die Regieanweisung für den zweiten und sechsten Auftritt und beschreibt unter Zuhilfenahme einer Powerpoint-Präsentation erst die Vorbereitung des Angriffes auf das Schloss Kunigundes, dann das brennende Schloss. Wie zu erwarten besitzen die benannten Schauspieler nicht nur die erzählende Funktion, durch die sie sich distanzieren, sondern sind auch an szenischen Darstellungen innerhalb der Handlung beteiligt, so dass hier die Reflexion auf die doppelte Identität des Schauspielers auf der Bühne erfolgt.
[...]
[1] Zur Vereinfachung verwende ich im Folgenden ausschließlich den männlichen Begriff „Schauspieler“.
[2] Auch hier verwende ich zur Vereinfachung ausschließlich die männliche Bezeichnung.
- Arbeit zitieren
- Janine Dahlweid (Autor:in), 2004, Die Reflexion des Theaters in der Aufführung "Das Käthchen von Heilbronn" am Deutschen Theater unter der Regie von Nicolas Stemann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37531
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