Im Rahmen dieser Arbeit sollen folgende rechtliche Sachverhalte und Fragen geklärt werden:
- Erläutern Sie das Verhältnis von EU-Recht zum nationalen Recht, geben Sie Beispiele
- Sie glauben als Verwaltungsmitarbeiter, eine EU-Verordnung verstoße gegen nationales Recht. Können Sie die Verordnung mit dieser Begründung außer Acht lassen?
- A fühlt sich durch lärmende Kinder eines städtischen Kindergartens in seiner Mittagsruhe gestört und möchte die Stadt auf Einhaltung von Ruhezeiten verklagen. Handelt es sich hierbei um eine privatrechtliche oder um eine öffentlich rechtliche Streitigkeit?
Aufgabe 1a
Erläutern Sie das Verhältnis von EU-Recht zum nationalen Recht, geben Sie Beispiele Das EU-Recht genießt Vorrang vor dem nationalen Recht aller EU-Staaten und hat somit ein höheres Gewicht als das Recht der Mitgliedsstaaten.[1] Hierbei gilt der Vorrang des EU-Recht gegenüber jeder Rangstufe der Mitgliedsstaaten, also auch gegenüber dem Grundgesetz (GG) bzw. den Verfassungen.
Weiterhin ist das EU-Recht in den Mitgliedsstaaten unmittelbar anwendbar, so dass sich durch das EU-Recht auch subjektiv öffentliche Rechte für den Einzelnen ergeben können, auf die er sich vor Gericht berufen kann.[2] Es bedarf – in den meisten Fällen – keiner gesonderten Umsetzung durch die nationale Legislative.
Hierbei gelten die Grundsätze des Vorrangs von EU-Recht vor dem nationalen Recht sowie die unmittelbare Wirkung des EU-Rechts sowohl für das Primärrecht (und mit ihm die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, die vor allem über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) herausgearbeitet wurden), als auch für das Sekundärrecht, deren Bestandteile in Art. 288 Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) genannt sind.
Erstmals herausgearbeitet wurden diese Grundsätze in den 60er-Jahren durch den EuGH in den Entscheidungen Van Gend & Loos gegen die Niederländische Finanzverwaltung (EuGHE 1963, 1, Rs. 26/62)[3] und Costa gegen ENEL (EuGHE 1964, 1251, Rs. 6/64).[4]
Beispiele für den Vorrang des EU-Rechts und der unmittelbar Wirkung des EU-Rechts sind neben den o.g. EuGH-Entscheidungen u.a. der Fall „Tanja Kreil“ (EuGHE 2000, I-69, Rs. C-285/98)[5] in der verhandelt wurde, dass § 1 Abs. 2 Satz 3 des Soldatengesetzes (SG) in Deutschland gegen die Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 verstößt, oder der Fall „Sari Kiiski“ (EuGHE 2007, I-7643, Rs. C-116/06), nach dem nationales Recht zum Elternurlaub u.a. wegen der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 gegen Unionsrecht verstoßen, wenn das nationale Recht die Möglichkeit des mind. 14-wöchigen Mutterschutzes bei Schwangerschaft verwehrt.
Die Unmittelbarkeit des EU-Rechts kann in diesem Beispiel gut erkannt werden, da das Bundesministerium des Innern (BMI) mit Rundschreiben vom 19.06.2011 (AZ: D 2 –211 435/35) den Verstoß deutschen Rechts gegen Unionsrecht erkannt hatte und gleichzeitig schon vor einer beabsichtigten Änderung des deutschen Rechts um Bearbeitung solcher Fallkonstellationen nach Unionsrecht bat.
Ein weiteres (erdachtes) Beispiel zum Verhältnis EU-Recht zum nationalen Recht wäre die Nichtumsetzbarkeit von – auch nachträglich erlassenen – nationalen Regelungen, die z.B. niedrigere Entschädigungsbeträge oder –prozentsätze vorsehen würden bei Verspätungen von Flug- oder Bahnreisen als die bereits in den EU-Verordnungen beschlossenen Beträgen und Prozentsätzen. Für Flugverspätungen gibt es die Verordnung Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004, für Bahnverspätungen eine Festlegung der Prozentsätze und einer Höchstgrenze für nicht auszuzahlende Mindestbeträge in der Verordnung Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007, deren Regelungen durch nationales Recht nicht unterschritten werden dürfen.
Aufgabe 1b
Sie glauben als Verwaltungsmitarbeiter, eine EU-Verordnung verstoße gegen nationales Recht. Können Sie die Verordnung mit dieser Begründung außer Acht lassen?
Eine EU-Verordnung ist gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV ein Rechtsakt, der allgemeine Geltung hat, in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gelten soll.[6] Daher kann eine EU-Verordnung mit der Begründung, sie verstoße gegen nationales Recht, zunächst niemals außer Acht gelassen werden dürfen, sondern muss vielmehr ohne weiteres zur Anwendung gebracht werden. Gleichzeitig wird das entgegenstehende nationale Recht verdrängt und nicht mehr zur Anwendung gebracht, der sog. Anwendungsvorrang.
Sollte der Verwaltungsmitarbeiter jedoch mit dieser Rechtslage nicht zufrieden sein und er von der Rechtwidrigkeit der EU-Verordnung im Bezug auf das weitere EU-Recht überzeugt sein, scheinen folgende Schritte angebracht:
- Ausführung der EU-Verordnung (ggf. unter Gebrauch der Remonstration)
- Klage vor dem EuGH in Form einer Nichtigkeitsklage
Erst wenn im diesem Schritt der EuGH die Nichtigkeit der EU-Verordnung erklärt und sie aufhebt, kann der Verwaltungsmitarbeiter das nationale Recht wieder anwenden.[7] Andernfalls bleibt es bei der Anwendung der EU-Verordnung, die der Verwaltungsmitarbeiter – wie zu Beginn des Prozesses – nicht außer Acht lassen darf, sondern weiterhin zur Anwendung bringen muss.
Aufgabe 2
A fühlt sich durch lärmende Kinder eines städtischen Kindergartens in seiner Mittagsruhe gestört und möchte die Stadt auf Einhaltung von Ruhezeiten verklagen. Handelt es sich hierbei um eine privatrechtliche oder um eine öffentlich rechtliche Streitigkeit?
Im vorliegenden Fall fordert A die Stadt zu einem Handeln auf, nämlich der Einhaltung von Ruhezeiten zur Mittagszeit. Eine öffentlich rechtliche Streitigkeit könnte demnach vorlegen, wenn der Streitgegenstand durch die Anwendung öffentlich rechtlicher Rechtsnormen gelöst werden muss.[8]
Um zu klären, ob eine Rechtsnorm öffentlich rechtlich ist, gibt es – neben vielen weiteren – drei wichtige Theorien zur Abgrenzung zu einer privatrechtlichen Streitigkeit:
- die Interessentheorie,
- die Subordinationstheorie sowie
- die modifizierte Subjektstheorie, welche derzeit die herrschende Meinung (hM) darstellt.
Demnach ist eine öffentlich rechtliche Streitigkeit gegeben, wenn eine Norm zur Anwendung kommt, bei der zwingend ein Träger hoheitlicher Gewalt zum Handeln Berechtigter oder Verpflichteter ist.[9]
Die Einhaltung von Ruhezeiten zur Mittagszeit müsste also in einem solchen Fall in einer Norm festgelegt sein, die ausschließlich die Stadt zur Aufgabenerfüllung verpflichtet. Eine gesetzliche Norm zur Einhaltung einer Mittagsruhe gibt es hierbei weder auf europäische, noch auf bundes- oder landesrechtlicher Ebene.[10]
Trotzdem kann auf zwei Arten eine Mittagsruhe geregelt werden. Erste Möglichkeit ist die Festlegung einer Mittagsruhe im Mietvertrag und ähnlichem, durch die sich die jeweils unterzeichneten Mietparteien verpflichten, die Vertragspunkte einzuhalten (also auch die Mittagsruhe). Eine solche Regelung ist im Bereich des Privatrechts zu verorten.
Die zweite Möglichkeit ist die Festlegung einer Mittagsruhe auf kommunaler Ebene im Rahmen einer Verordnung.[11] Auf eine solche Regelung kann sich jeder Bürger der betreffenden Kommune berufen.
Im vorliegenden Fall fühlt sich der A als Bewohner einer Kommune durch lärmende Kinder eines städtischen Kindergartens in seiner Mittagsruhe gestört. Es erscheint hier offensichtlich, dass der städtische Kindergarten keine privatrechtliche Beziehung zu dem A hat, z.B. in Form eines Mietvertrages o.ä., erst recht, da es sich um einen städtischen Kindergarten und keinen privaten handelt, bei dem es die Möglichkeit gegeben hätte, dass der A als Eigentümer des Grundstück das selbige dem privaten Kindergarten vermietet hätte.
Die einzig mögliche Rechtnorm, auf die sich A zur Einhaltung der Mittagsruhe beruhen könnte, wäre eine Verordnung in der betreffenden Stadt. Damit begehrt der A ein Handeln, bei der durch das evtl. Vorhandensein einer Norm zwingend ein Träger hoheitlicher Gewalt zum Handeln Berechtigter oder Verpflichteter wäre. Die modifizierte Subjektstheorie ist daher im vorliegenden Fall gegeben, so dass es sich bei der Klage des A auf Einhaltung von Ruhezeiten wegen lärmenden Kindern eines nahegelegenen städtischen Kindergartens um eine öffentlich rechtliche Streitigkeit handelt.[12]
Quellenverzeichnis
BMI-Rundschrieben über die Mutterschutz und Elternzeitverordnung – MuSchEltZV vom 19.06.2011, URL: www.unibw.de/gleichstellung/personen/gleibmil/elternzeit/at_download/down1, Abruf: 24.11.2013
Gemeine Everswinkel: Ordnungsbehördliche Verordnung vom 22.02.2013, URL: http://www.everswinkel.de/de/Buerger/Rathaus/Ortsrecht-Satzungen/PDF-Dateien/1_2.pdf, Abruf: 23.11.2013
Classen, Dieter: Rechtsschutz, In: Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, Schulze, Rainer / Zuleeg, Manfred (Hrsg.), 2006, S. 184-221
Maurer, Hartmut: Allgemeines Verwaltungsrecht, 18.Auflage, 2011
Oppermann, Thomas / Classen, Dieter / Neltesheim, Martin: Europarecht, 5.Auflage, 2011
Stumm, Elmar: Verwaltungsrecht II, Verwaltungsverfahren (VwGO), 2006
Wolff, Hans J. / Bachof, Otto: Verwaltungsrecht I, 12.Auflage, 2007
Zusammenfassungen der Gesetzgebung, URL: http://europa.eu/legislation_summaries/institutional_affairs/decisionmaking_process/l14548_de.htm, Abruf: 24.11.2013
[...]
[1] URL: http://europa.eu/legislation_summaries/institutional_affairs/decisionmaking_process/l14548_de.htm, Abruf: 24.11.2013
[2] Vgl. Nettesheim, Martin, in Europarecht, 5.Auflage, 2011, § 9, Rn. 14, 16
[3] URL: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61962CJ0026:DE:PDF, Abruf: 24.11.2013
[4] URL: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61964CJ0006:DE:PDF, Abruf: 24.11.2013
[5] URL: http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=44931&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1, Abruf: 24.11.2013
[6] Vgl. Nettesheim, Martin, in Europarecht, 5.Auflage, 2011, § 9, Rn. 71
[7] Vgl. Classen, Dieter, in Europarecht (Handbuch in Europarecht), 2006, § 4, Rn. 39
[8] Vgl. Stumm, Elmar: Verwaltungsrecht II, Verwaltungsverfahren (VwGO), 2006, Teil II, 1.Kapital, § 1, Rn. 42
[9] Vgl. Wolff, Hans J. / Bachof, Otto: Verwaltungsrecht I, 12.Auflage, 2007, § 22, Rn. 28
[10] Mit Ausnahme der Regelungen in der Geräte- und Maschinenlärmschutzverordnung – 32. BImSchV, die jedoch im vorliegenden Fall der Kindergartenkinder nicht anwendbar sind und welche daher nicht weiter ausgeführt werden.
[11] Siehe als Beispiel die „Ordnungsbehördliche Verordnung über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Gebiet der Gemeinde Everswinkel unter URL: http://www.everswinkel.de/de/Buerger/Rathaus/Ortsrecht-Satzungen/PDF-Dateien/1_2.pdf, Abruf: 23.11.2013
[12] Angemerkt sei durch den Verfasser die Einschätzung, dass aufgrund der relativ geringen Nutzung von kommunalen Verordnungen zur Einhaltung einer Mittagsruhe das Begehren von A nur wenig Chance auf Erfolg in der Begründetheit haben sollte.
- Citation du texte
- Brank Anders Wernersson (Auteur), 2013, EU-Recht und nationales Recht. Klärung einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/375239