Dieser Aufsatz beschäftigt sich zunächst mit der Frage, inwiefern der Vater den Anforderungen von Nelsons sokratischer Methode gerecht wird. Zur Klärung dieser Frage werde ich den Textausschnitt, der in der Seminarsitzung vom 09.06.2015 thematisiert wurde, sowie zwei weitere Ausschnitte analysieren. Abschließend werde ich beurteilen, welche Auswirkungen meine Analyseergebnisse auf die Frage nach der Eignung des Vaters zum idealen Erzieher haben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Zu Campes Robinson
Die sokratische Methode
Analyse der Textstellen
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Joachim Heinrich Campe verfasste mit seinem 1779 erschienen Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder einen Roman, der in seiner Konzeption speziell auf die Bedürfnisse einer kindlichen Leserschaft ausgerichtet war und ihnen auf eine ansprechende Weise elementare Kenntnisse vermitteln sollte.
Er kleidete die eigentliche Romanhandlung, für die ihm Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe als Vorlage diente, in eine Rahmenhandlung, in der eine „zahlreiche Familie, die aus kleinen und großen Leuten bestand“ (Campe 1981, S. 19) zu allabendlichen Erzählungen über die Abenteuer des Robinson zusammenkommt. Als allwissender Erzähler führt der Vater des Hauses die Geschichte von Robinson jeden Abend fort. Dabei interagiert er in besonderer Weise mit seinen jungen Zuhörern. Er klärt Zwischenfragen, an für ihn wichtig erscheinenden Stellen ermahnt er zur Frömmigkeit und immer wieder fordert er die Kinder zur kritischen Auseinandersetzung mit Robinsons Erlebnissen auf. An vielen Stellen ähnelt das Verhalten des Vaters dem von Sokrates in den Dialogen Platons. Auf der stetigen Suche nach Wahrheit verwickelte dieser die Bürger von Athen immer wieder in Diskussionen über scheinbar selbstverständliche Begriffe wie etwa Tapferkeit oder Besonnenheit. Durch geschicktes Nachfragen brachte er seine Dialogpartner meist dazu, ihre Position zu überdenken und als falsch oder zu voreilig getroffen anzuerkennen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte der Philosoph Leonard Nelson ausgehend von diesen Dialogen die sogenannte sokratische Lehrmethode.
Dieser Aufsatz beschäftigt sich zunächst mit der Frage, inwiefern der Vater den Anforderungen von Nelsons sokratischer Methode gerecht wird. Zur Klärung dieser Frage werde ich den Textausschnitt, der in der Seminarsitzung vom 09.06.2015 thematisiert wurde, sowie zwei weitere Ausschnitte analysieren. Abschließend werde ich beurteilen, welche Auswirkungen meine Analyseergebnisse auf die Frage nach der Eignung des Vaters zum idealen Erzieher haben.
Zu Campes Robinson
Als Horaz in seiner Ars Poetica die später zu „Prodesse et delectare“[1] verkürzte Aussage traf, meinte er damit, dass Literatur entweder Nützen oder Erfreuen solle. Campe vereinigte beide Ambitionen in seinem Robinson der Jüngere. Das Medium der Literatur war ihm ein Werkzeug zur Umsetzung seiner pädagogischen Ziele, die er im Vorbericht zu seinem Robinson konkretisierte.
Sein Roman richte sich gleichermaßen an Kinder und ihre Erzieher. Einerseits möchte Campe seine „jungen Leser auf eine so angenehme Weise unterhalten [...], weil [...] die Herzen der Kinder jedem nützlichen Unterrichte sich nicht lieber öffnen, als wenn sie vergnügt sind (Campe 1981, S. 5)“. Andererseits will er „ein für angehende Pädagogen nicht überflüssiges Beispiel des väterlichen und kindlichen Verhältnisses [geben], welches zwischen dem Erzieher und seinen Zöglingen nothwendig obwalten muß“ (Campe 1981, S.14). Als Vorbild für die Umsetzung seines Romans nennt Campe Jean-Jacques Rousseau. Im Emil plädiert Rousseau für Defoes Robinson Crusoe als bestes und einziges Buch für Kinder. Allerdings sei diese Robinsonerzählung mittlerweile veraltet und ausschließlich für ein Erwachsenes Publikum geschrieben worden (vgl. Campe 1981, S. 11.). Rousseau fordert deshalb, dass die Geschichte „von allen nebensächlichen Zutaten befreit“ werden sollte (Rousseau 1998, S.440). Zu diesen nebensächlichen Zutaten gehört beispielsweise das europäische Werkzeug, dass Robinson im Original noch zustand, dessen er aber in der Bearbeitung beraubt wurde, um „dem jungen Leser die Bedürfnisse des einzelnen Menschen, der ausser Gesellschaft lebt [...] recht anschaulich zu machen“ (Campe 1981, S, 11).
Neben solchen Streichungen ist die Einbettung der Robinsongeschichte in die eingangs erwähnte Rahmenhandlung die wohl auffälligste Veränderung. Das Motiv des allabendlichen Erzählkreises, in dem die Kinder geschäftig und gespannt den Erzählungen des Vaters lauschen, ist exemplarisch für das pädagogische Konzept der Philanthropen, zu denen auch Campe als einflussreicher Vordenker und Gestalter gezählt wird. Im Vorbericht schreibt Campe, er wolle seine jungen Leser nicht „blos zu unthätigen Beschauungen [...], sondern Unmittelbar zu Selbsttätigkeit führ[en]“ (Campe 1981, S.7). Gleich im zweiten Absatz des Romans wird das Wort der Familie in der Rahmenhandlung bekannt gegeben: „Lebe und arbeite“ (Campe 1981, S. 19). Diesem Motto folgend achtet der Vater genau darauf, dass seine Zöglinge in beständiger Geschäftigkeit (vgl. Campe 1981, S.20) sind. Sie ist dabei nicht nur auf Taten beschränkt. Ebenso wichtig ist es dem Vater, dass sich seine Zuhörer nicht einfach von der Geschichte berieseln lassen. Er bindet die Kinder gezielt mit ein, sodass sich die Abenderzählungen nicht als langer Monolog des Vaters, sondern als lebhaftes Gespräch gestalten. Wann immer Robinson mit Problemen konfrontiert wird, veranlasst der Vater seine Zuhörer über das Geschehene zu reflektieren. Oft ermahnt er sie dabei zu den drei Grundwerten „der Tugend, der Frömmigkeit und der Zufriedenheit“ (Campe 1981, S. 6), dessen Beachtung Campe in seinem Vorbericht als seine „wichtigste Absicht“ (Campe 1981, S.6) bezeichnet.
Wenn Campe in seinem Vorbericht anmerkt, dass das in der Rahmenhandlung vorgefundene Verhältnis zwischen Vater und Kindern vorbildhaft für angehende Erzieher sein soll (vgl. Campe 1981, S. 14), so hängt dies sicherlich mit der souveränen Art der Gesprächsführung des Vaters zusammen, durch die er zum „aktiven Lernen“ animiert (Pulmer 2012, S. 274). Reinhart Stach charakterisiert das Auftreten des Vaters gar als „Musterlektion des Sokratisierens“ (Stach 1970, S.36). Inwiefern dies zutreffend ist, lässt sich am besten mit einem soliden Hintergrundwissen über die sokratische Methode bewerten.
Die sokratische Methode
Ein Anliegen philanthropischer Erziehung war es, die Fähigkeit der Kinder zum selbstständigen Denken zu fördern. Man wünschte sich „dreiste“ Kinder, die kritische Nachfragen anstellen und sich nicht mit einer einfachen Antwort zufriedengeben. Der Prototyp des dreisten Fragenstellers ist Sokrates, der so unnachgiebig war, dass er dies letztlich mit dem Tod bezahlte.
Im Dialog Theätet erklärt Sokrates seine Kunst der Mäeutik, was auf Deutsch übersetzt Hebammenkunst bedeutet. Wie bei den Hebammen, die bei ihrer Arbeit richtige Wehen von Scheinwehen unterscheiden können, sei es auch für Sokrates Arbeit die „wichtigste und lobenswerteste Aufgabe [...] das Echte vom Unechten zu trennen“ (Platon 2002, S. 17). Seine Patienten sollen mit seiner Hilfe jedoch keine Kinder, sondern kluge Gedanken gebären. So wie eine Hebamme nur bei der Geburt hilft, so betont auch Sokrates, dass er selbst zwar keine Wahrheiten hervorbringt, er aber durchaus seine Zuhörer bei ihrer eigenen Suche nach Wahrheit unterstützen wird (Platon 2002, S. 18).
Überzeugt vom philosophischen und pädagogischen Nutzen von Sokrates Vorgehensweise entwickelte Leonard Nelson seine sokratische Methode. Im gleichnamigen Aufsatz bezeichnet er sie als die Fertigkeit, das „Philosophieren zu lehren“ (Nelson 2002, S. 21). Obwohl er ein großer Bewunderer von Sokrates sei, gesteht Nelson dennoch ein, dass Sokrates Lehrweise noch verbesserungswürdig sei. Jeder intelligentere Gymnasiast [erkenne], daß Sokrates [...] an entscheidenden Stellen Monologe hält und daß der Schüler fast nur ein Jasager [sei]“ (Nelson 2002, S. 35). Nichtsdestotrotz gebiete sie dem Dogmatismus erfolgreich Einhalt (vgl. Nelson 2002, S.39). Mit der richtigen Herangehensweise könnte man sich dies zu Nutze machen, um Schüler zum eigenständigen Denken anzuleiten (vgl. Nelson 2002, S.34f.).
Nelsons eigener Schüler Gustav Heckmann formulierte insgesamt sechs Kriterien für ein gelingendes sokratisches Gespräch. Das erste Gebot ist „das Gebot der Zurückhaltung“ (Heckmann 2002, S.74). Nichts sei schädlicher, als wenn sich die Schüler von der Meinung des Lehrers beeinflussen ließen und dessen Meinung um seiner Autorität Willen übernehmen würden. Die Schüler sollen die Möglichkeit haben, „im Konkreten Fuß zu fassen“ (Heckmann 2002, S.75). Zur Vereinfachung abstrakter Gedanken sollte der Lehrer seine Gesprächsteilnehmer gezielt um konkrete Beispiele bitten (vgl. Heckmann 2002, S. 75). Dabei gilt: „je näher das Beispiel dem Erfahrungsbereich der Teilnehmer ist, desto besser ist es“ (Heckmann 2002, S. 75). Die wichtigste Aufgabe des Lehrers sei es, darauf zu achten, dass die Diskutierenden „das Gespräch als Hilfsmittel des Denkens voll ausschöpfen“ (Heckmann 2002, S. 76). Dafür bedarf es einer geschickten Lenkung. Jedem Teilnehmer soll klar werden, worüber gerade diskutiert wird (vgl. Heckmann 2002, S.76). Schließlich sollte die Diskussion nicht zu weit von der Ausgangsfrage abweichen (vgl. Heckmann 2002, S. 76f.). Wird ein Gesprächsleiter diesen Anforderungen gerecht, so entwickele sich eine fruchtbare Diskussion, die es den Teilnehmern ermögliche über die subjektiven Meinungen hinaus zu einer Art intersubjektiv gültigem Konsens zu kommen (vgl. Heckmann 2002, S. 76).
Zusammengefasst ist ein Gespräch genau dann sokratisch, „wenn es dem einzelnen Teilnehmer dazu verhilft, den Weg vom konkreten Erfahrenen zur allgemeinen Einsicht selber zu gehen“ (Heckmann 2002, S.74). Anhand dieser Definition soll auch im Folgenden bemessen werden, inwiefern der Vater in Campes Robinson der Rolle eines sokratischen Lehrers gerecht wird.
Analyse der Textstellen
In der im Seminar behandelten ersten Abenderzählung findet sich ein erstes Bestreben des Vaters nach einem sokratischen Vorgehen, welches in der dritten und besonders in der dreizehnten Abenderzählung deutlich zum Vorschein kommt.
Als Robinson in der Folge seines beratungsresistenten Verhaltens auf seiner einsamen Karibikinsel strandet, ruft Johannes – eines der älteren Kinder – erbost, er könne „auch gar kein Mitleid mehr haben mit dem dummen Robinson“ (Campe 1981, S.32). Der Vater entgegnet Johannes mit der rhetorische Frage, ob Robinson nicht gerade wegen seiner Lage Mitleid verdiene (Campe 1981, S.32). Anders als im Gebot der Zurückhaltung erwünscht, hält der Vater sich jedoch nicht mit seiner eigenen Meinung zurück. Seine strenge Ermahnung zum Mitleid (vgl. Campe 1981, S.32) ist an dieser Stelle nicht gerade förderlich. Anstelle einer Diskussion verfallen die Kinder in Schweigen.
In der dritten Abenderzählung gerät Johannes erneut in eine Diskussion mit dem Vater. Auf seine Frage, warum Gott ausgerechnet den unbelehrbaren Robinson als einziges Besatzungsmitglied vor dem Tod errettete, entgegnet der Vater mit einer Salve von Gegenfragen. Sie sollen verdeutlichen, dass man als Mensch nie alle Ursachen hinter einem Ereignis erkennen kann (vgl. Campe 1981, S. 47). Beispielsweise habe der Vater einmal aus scheinbarer Härte einem der Kinder verboten, sich an einem Ausflug zu beteiligen. Aber er tat dies nicht als Bestrafung, sondern um dem Kind durch einen Überraschungsbesuch seiner leiblichen Eltern eine Freude zu bereiten (vgl. Campe 1981, S. 47).
In diesem Abschnitt ist die Gesprächsführung durch den Vater auffallend nah an Heckmanns Kriterien für die sokratische Methode. Eine konkrete Ausgangsfrage – nämlich die, warum ausgerechnet Robinson errettet wurde – ist der Auslöser für eine Diskussion. Zur Lösung der Frage wird ein konkretes Beispiel formuliert, in dem sich der Vater nur zum Schein hart gegen das Kind verhält. In Wahrheit wollte er ihm „eine unerwartete Freude machen“ (Campe 1981, S. 47), wie Johannes auf das Fragen des Vaters hin richtig schlussfolgert. Von diesem konkreten Beispiel ausgehend führt der Vater Johannes durch geschicktes Fragen zu einer allgemeineren Beantwortung der Ausgangsfrage: „Und wisst ihr nicht schon längst, dass daß Gott alle Dinge viel besser versteht, als wir armen blödsichtigen Menschen wir so selten wissen, was uns eigentlich gut ist?“ (Campe 1981, S. 48). Von dieser Frage ausgehend stößt Johannes infolge der Beantwortung weiterer gezielter Warum-Fragen zu der Lösung, dass „Gott am besten weiß, warum er etwas thut, und weil wir das nicht wissen können“ (Campe 1981, S. 48).
Bis hierhin entspricht das Verhalten des Vaters der korrekten Ausführung der sokratischen Methode. Erstaunlicherweise scheint er Johannes den letzten und entscheidenden Schritt der Transferleistung nicht zuzutrauen. Auf der Grundlage der gemeinsamen Vorarbeit sollte Johannes der Methode gemäß als nächstes auf ein allgemeines Fazit abstrahieren. Das besagte Fazit ist dem Vater offenbar so wichtig, dass er sich in einen längeren Monolog über die allgemeine Lehre hinter Robinsons Strandung auf der Insel begibt (Campe 1981, S. 49). Hiermit unterläuft ihm der gleiche didaktische Fehler, zu dem sich auch Sokrates an vielen Stellen hinreißen ließ. Er nimmt Johannes nicht nur die Möglichkeit, eine eigene Antwort zu finden, er nutzt seine eigne Lösung dazu, um die Kinder eines Besseren zu belehren (Campe 1981, S. 49). Erneut übertritt der Vater bewusst, die Regel der Zurückhaltung, was der sokratischen Methode im Grunde ihr Ziel nimmt, nämlich die Schüler durch eigenes Denken zu einer Lösung kommen zu lassen, ohne Lösungswege unmittelbar zur Hand zu geben (vgl. Birnbacher 2002, S.7).
Deutlich zurückhaltender verhält sich der Vater erst in der dreizehnten Abenderzählung. Robinson steht vor der Frage, ob er einen Kokosnussbaum, der ihm bislang sehr nützlich war, fällen soll, um sich daraus ein Floß zu zimmern (vgl. Campe 1981, S. 174). Die Kinder werden dazu aufgefordert, Robinsons Problem in einer Diskussion zu erörtern. Die Befürworter und Gegner tragen ihre Argumente vor und wägen sie gegeneinander ab. Nach einiger Zeit zieht der Vater ein erstes Fazit:
„Nun Kinder, ihr seht, die Sache ist gar nicht leicht zu entscheiden. Alles, was ihr gesagt habt, ging dem guten Robinson die ganze Nacht auch im Kopfe herum; und das nennt man eine Sache überlegen, wenn man nachdenkt, ob es besser sei, sie zu thun, oder nicht zu thun“ (Campe 1981, S.176).
Durch das gemeinsame Abwägen von Robinsons Handlungsoptionen, lernten die Kinder, was der abstrakte Begriff „überlegen“ bedeutet. Auf den eigentlichen Inhalt der Überlegung zu schließen behält sich der Vater aber erneut selbst vor. In einem längeren Monolog erklärt er, wie man vernünftige und unvernünftige Taten unterscheidet. Die vernünftigste Handlung für Robinson sei es in diesem Falle, den Baum zu fällen, weil ein daraus gebautes Floß die Rettung von der Insel in Aussicht stellen könnte (vgl. Campe 1981, S. 177f.).
[...]
[1] Im Original: „Aut prodesse volunt aut delectare poetae.“ (Siehe: Horatius Flaccus 1997). Zu deutsch: „Die Dichter wollen entweder nützen oder unterhalten.“
- Citar trabajo
- Jeremias Düring (Autor), 2015, Ist der Vater in "Robinson der Jüngere" ein idealer Erzieher?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374082
-
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X.