Nachdem sich die in den 50er und 60er Jahren noch vorherrschende Erwartung, dass sich die Qualität des Arbeitslebens quasi im Selbstlauf mit dem technischen Fortschritt verbessern wurde, nicht erfüllt hatte, wurden die Arbeitsbedingungen Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre erstmalig in den Fokus gerückt. Den Forderungen der Arbeitnehmer, die auch in spontanen und gewerkschaftlich organisierten Streikaktionen zum Ausdruck kamen, wurde damals insofern Rechnung getragen, als dass eine Reihe staatlicher Maßnahmen vollzogen wurde. Diese reichten von der Verankerung von Arbeitsschutzgesetzen, über die Gründung der Bundesanstalt für Arbeits- und Gesundheitsschutz und die Festschreibung des Betriebsverfassungsgesetzes (1972) bis hin zur Initialisierung des Aktions- und Forschungsprogramms zur „Humanisierung des Arbeitslebens“ im Jahre 1974. Auch die Arbeitgeberverbände erkannten damals in der Entwicklung der Arbeitsbedingungen ein zunehmendes Hemmnis für die Steigerung der Produktivität und schlossen sich insofern dem Reformbündnis von Gewerkschaften und Bundesregierung an. In den folgenden Jahrzehnten vollzog sich - nicht zuletzt durch die fortschreitende Globalisierung - ein „gesellschaftlicher Umbauprozess“, der in vergleichbarer Form in sämtlichen kapitalistischen Landern zu beobachten war. Zentrales, übergreifendes Merkmal dieses Umbruchprozesses war die Durchsetzung einer marktorientierten Produktionsweise: Bereits in den 80er Jahren fugten sich die Unternehmen zunehmend mehr den Absatzmarkten, den Wünschen der Kunden, den Spezifika des Produktes sowie den preislichen Entwicklungen. Seit Mitte der 90er Jahre wurden die unternehmensinternen Prozesse verstärkt auf die Finanzmärkte, die Erwartungen der Investoren und deren Renditemargen sowie den Kurswert auf den Aktienmarkten ausgerichtet. Beständige Einsparungen und organisatorische Veränderungen wurden zur Tagesordnung. Das sogenannte „Shareholder-Value-Prinzip“ setzte sich immer mehr durch, das produktive Kapital wurde zum Anlageobjekt des zinstragenden respektive spekulativen Kapitals.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Gang der Arbeit
2 Aktuelle Ansprüche an ein Betriebliches Gesundheitsmanagement
2.1 Ziele und Anforderungen
2.2 Derzeitige Umsetzung in der betrieblichen Praxis
3 Präsentismus als eine zentrale Herausforderung im BGM
4 Statistische Untersuchung möglicher Einflussfaktoren auf Präsentismus
4.1 Vorbereitung und Durchführung
4.2 Ergebnisse
4.2.1 „Makroanalyse“ - Ergebnisse im Überblick und Auswahl zentraler relevanter Einflussfaktoren
4.2.2 „Mikroanalyse“ - Detaillierte Ergebnisse zu zentralen, relevanten Einflussfaktoren
5 Fazit und Ausblick
5.1 Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der Analyse . .
5.2 Implikationen für Unternehmen
A ANHANG
A.1 Datenmanagement
A.2 Ergebnisse der statistischen Analyse
A.3 Fragebogen
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1.1 Ziele der Arbeit
1.2 Gang der Arbeit - Methodisches Vorgehen
2.1 Anforderungen an ein BGM
2.2 Verbreitung von Betrieblichem Gesundheitsmanagement (nach Betriebsgrößenklassen)
2.3 Kennzahlen im Betrieblichen Gesundheitsmanagement
2.4 Kennzahlen im Betrieblichen Gesundheitsmanagement
3.1 Items zur Erfassung von Präsentismus
3.2 Defizite im Forschungszweig „Einflussfaktoren von Präsentismus“
4.1 Fünf Phasen einer statistischen Untersuchung
4.2 Fünf Phasen der hier durchgeführten statistischen Untersuchung
4.3 Fragebatterie ’Einstellung im Krankheitsfall’
4.4 Fragebatterie ’Verhalten von Arbeitnehmern im Krankheitsfall’
4.5 Fragebatterie ’Gründe für unterlassene Krankmeldungen’ (1) .
4.6 Fragenbatterie ’Gründe für unterlassene Krankmeldungen’ (2) .
4.7 Mögliche Einflussfaktoren für die Entstehung von Präsentismus
4.8 Systematisierung der potentiellen Einflussfaktoren
4.9 Kontingenztafel - allgemein
4.10 Untersuchte Variablenkombinationen
4.11 Skalenniveaukombinationen und zugehörige Zusammenhangsmaße in Anlehnung an Rinne
4.12 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten - Überblick
4.13 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten - Ranking (1)
4.14 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten - Ranking (2)
4.15 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten - Ranking (3)
4.16 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten - Ranking (4)
4.17 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten - Ranking (5)
4.18 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten - Ranking (6)
4.19 Relevante Einflussfaktoren
4.20 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten - Ranking (7)
4.21 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten - Ranking (8)
4.22 Ausgewählte Einflussfaktoren für die Detailanalyse
4.23 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten für signifikante Zusammenhänge Geschlecht * Präsentismus
4.24 Einfluss des Geschlechts auf das Verhalten im Krankheitsfall . .
4.25 Einfluss des Geschlechts auf Präsentismus
4.26 Einfluss des Geschlechts auf subjektiven und objektiven Präsentismus
4.27 Ergebnisse für das Geschlecht im Zeitverlauf/-vergleich
4.28 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten für signifikante Zusammenhänge Alter * Präsentismus
4.29 Einfluss des Alters auf das Verhalten im Krankheitsfall
4.30 Einfluss des Alters auf Präsentismus
4.31 Rangkorrelationskoeffizienten für den Zusammenhang zwischen
Alter und Präsentismus
4.32 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten für signifikante Zusammenhänge Gesundheitszustand * Präsentismus
4.33 Einfluss des Gesundheitszustandes auf das Verhalten im Krankheitsfall - Überblick
4.34 „Sehr guter“ vs. „sehr schlechter“ Gesundheitszustand und die
Wirkungen auf das Verhalten im Krankheitsfall
4.35 Einfluss des Gesundheitszustandes auf Präsentismus
4.36 Einfluss des Gesundheitszustandes auf subjektiven bzw. objektiven Präsentismus
4.37 Rangkorrelationskoeffizienten für den Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand und Präsentismus
4.38 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten für signifikante Zusammenhänge chronische Erkrankung * Präsentismus
4.39 Einfluss chronischer Erkrankungen auf Präsentismus
4.40 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten für signifikante Zusammenhänge zw. Medikamenteneinnahme * Präsentismus
4.41 Einfluss regelmäßiger Medikamenteneinnahme auf Präsentismus
4.42 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten für signifikante Zusammenhänge Anzahl Arztbesuche * Präsentismus
4.43 Einfluss der Anzahl Arztbesuche auf Präsentismus
4.44 Rangkorrelationskoeffizienten für den Zusammenhang zwischen der Anzahl Arztbesuche und Präsentismus
4.45 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten für signifikante Zusammenhänge Anzahl Fehltage aufgrund von Krankheit * Präsentismus
4.46 Einfluss der Anzahl Fehltage aufgrund von Krankheit auf das Verhalten im Krankheitsfall
4.47 Einfluss der Anzahl Fehltage aufgrund von Krankheit auf das Verhalten im Krankheitsfall - Vegleich der „Extremwerte“ ...
4.48 Einfluss der Anzahl Fehltage aufgrund von Krankheit auf Präsentismus
4.49 Einfluss der Anzahl Fehltage aufgrund von Krankheit auf subjektiven bzw. objektiven Präsentismus
4.50 Rangkorrelationskoeffizienten für den Zusammenhang zwischen der Anzahl Fehltage aufgrund von Krankheit und Präsentismus
4.51 Korrigierte Kontingenzkoeffizienten für signifikante Zusammenhänge Anzahl Fehltage aufgrund von Krankheit * Präsentismus
4.52 Einfluss ausgewählter Maßnahmen zur Senkung des Krankenstandes auf das Verhalten im Krankheitsfall
4.53 Einfluss einer gesundheitsgerechten Gestaltung der Arbeitsplätze auf Präsentismus - Überblick
4.54 Einfluss von Kontrollanrufen / -schreiben bei Erkrankungen auf Präsentismus - Überblick
5.1 Einfluss ausgewählter Einflussfaktoren - Fazit
A.1 Kritik an Frageblock q1
A.2 Kritik an Frageblock q2
A.3 Kritik an Frageblock q3
A.4 Kritik an Frage gl
A.5 Kritik an Frage g5
A.6 Kritik an Frage s13
A.7 Beobachtete und erwartete gemeinsame Häufigkeiten der Variablen Geschlecht * Präsentismus
A.8 Chi-Quadrat-Test für Geschlecht * q3_a
A.9 Kontingenzkoeffizient für die Variablen Geschlecht und Präsentismus (Einzelitem q3_a)
Tabellenverzeichnis
4.1 Vorgenommen Änderungen am Rohdatensatz
4.2 Vorgenommene Änderungen der Skalenniveaus
4.3 Überprüfung auf Fehleingaben
4.4 Inkonsistente Angaben bei der Variablenkombination Alter * Dauer des aktuellen Beschäftigungsverhältnis
4.5 Inkonsistente Angaben bei der Variablenkombination objektive Präsentismusvariablen * Anzahl Arztbesuche
4.6 Inkonsistente Angaben bei der Variablenkombination Schulabschluss * Ausbildungsabschluss
4.7 Inkonsistente Angaben bei der Variablenkombination Angaben zur Berufstätigkeit * Wochenarbeitszeit
4.8 Inkonsistente Angaben bei der Variablenkombination Angaben zum aktuellen Beschäftigungsverhältnis * Gruppe, wenn nicht voll erwerbstätig
4.9 Deklarierung benutzerdefinierter fehlender Werte (1)
4.10 Deklarierung benutzerdefinierter fehlender Werte (2)
4.11 Vorgenommen Änderungen am Rohdatensatz
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
Nachdem sich die in den 50er und 60er Jahren noch vorherrschende Erwartung, dass sich die Qualität des Arbeitslebens quasi im Selbstlauf mit dem technischen Fortschritt verbessern würde, nicht erfüllt hatte, wurden die Arbeitsbedingungen Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre erstmalig in den Fokus gerückt. Den Forderungen der Arbeitnehmer, die auch in spontanen und gewerkschaftlich organisierten Streikaktionen zum Ausdruck kamen, wurde damals insofern Rechnung getragen, als dass eine Reihe staatlicher Maßnahmen vollzogen wurde. Diese reichten von der Verankerung von Arbeitsschutzgesetzen, über die Gründung der Bundesanstalt für Arbeits- und Gesundheitsschutz und die Festschreibung des Betriebsverfassungsgesetzes (1972) bis hin zur Initialisierung des Aktions- und Forschungsprogramms zur „Humanisierung des Arbeitslebens“ im Jahre 1974. Auch die Arbeitgeberverbände erkannten damals in der Entwicklung der Arbeitsbedingungen ein zunehmendes Hemmnis für die Steigerung der Produktivität und schlossen sich insofern dem Reformbündnis von Gewerkschaften und Bundesregierung an.
In den folgenden Jahrzehnten vollzog sich - nicht zuletzt durch die fortschreitende Globalisierung - ein „gesellschaftlicher Umbauprozess“, der in vergleichbarer Form in sämtlichen kapitalistischen Ländern zu beobachten war. Zentrales, übergreifendes Merkmal dieses Umbruchprozesses war die Durchsetzung einer marktorientierten Produktionsweise: Bereits in den 80er Jahren fügten sich die Unternehmen zunehmend mehr den Absatzmärkten, den Wünschen der Kunden, den Spezifika des Produktes sowie den preislichen Entwicklungen. Seit Mitte der 90er Jahre wurden die unternehmensinternen Prozesse verstärkt auf die Finanzmärkte, die Erwartungen der Investoren und deren Renditemargen sowie den Kurswert auf den Aktienmärkten ausgerichtet. Beständige Einsparungen und organisatorische Veränderungen wurden zur Tagesordnung. Das sogenannte Shareholder-Value-Prinzip setzte sich immer mehr durch, das produktive Kapital wurde zum Anlageobjekt des zinstragenden respektive spekulativen Kapitals.
In der Erwartung, dass sich eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen quasi automatisch im Gefolge betrieblicher Rationalisierungen ergeben würde, überließen staatliche und auch gewerkschaftliche Arbeitspolitik den Unternehmen und ihren Reorganisationsmaßnahmen das Feld („Vereinbarkeit von Rationalisierung und Humanisierung“). Bestätigt durch erste Erfolge der neuen Managementkonzepte in Hinblick auf die Erfüllung alter Humanisierungsziele (Stichwort Lean Production), wandten sich die arbeitspolitischen Akteure in den 90er Jahren vielmehr dem Problem der Beschäftigungssicherung zu, das infolge steigender Arbeitslosenzahlen in den Vordergrund trat und sehr schnell und sehr nachhaltig alle anderen Zielsetzungen von der Agenda verdrängte. „Hauptsache Arbeit“ wurde zum zentralen Leitgedanken sämtlicher arbeitspolitischer Akteure, die nun zumindest in der Frage der Prioritäten geeint waren. Angestrebt wurden nun ökonomische und technische Zielsetzungen, wie wirtschaftliche Modernisierung oder später Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit, die „Qualität der Arbeit“ war kein Thema mehr.
Ganz im Gegenteil wurden und werden viele der früher von den Arbeitnehmern und ihren Interessenvertretungen erkämpften sozialen Errungenschaften im Zeichen der Standort- und Beschäftigungssicherung gegen Zusagen zur Arbeitsplatzsicherung eingetauscht, um nicht zu sagen „verkauft“ (z. B. Einkommensverluste, Verlängerung der Arbeitszeiten, Herabsetzung der Urlaubsansprüche, Verschlechterung der Pausen- oder Schichtzeitregelungen, Erhöhung der Leistungsziele). Zudem erscheint die Arbeitsgestaltung zunehmend rückwärtsgerichtet. So wird beispielsweise Gruppenarbeit eingestellt, Taktzeiten werden verringert und Beteiligungsformen zurückgenommen (vgl. [Sau07]).
Neben den genannten politischen und ökonomischen Veränderungen nahm und nimmt auch der anhaltende technologische Fortschritt starken Einfluss auf die Art und Ausgestaltung der Arbeit: Zum einen erfolgte eine sektorale Verschiebung weg von industriell geprägten, körperlichen Arbeitstätigkeiten im produzierenden Gewerbe hin zu wissensbasierten Tätigkeiten im (Dienst- leistungs-,) Informations- und Kommunikationstätigkeitsbereich, zum anderen wurde und wird die Zeit-Raum-Bindung durch den Einsatz moderner Medien zunehmend verändert.
Der Wandel der Arbeit in der Informations- und Kommunikationsgesellschaft ist charakterisiert durch „die Aufhebung klassischer Arbeitszeitmodelle - mit Überschneidung von Arbeit und Freizeit, mobilen, nicht personengebundenen Arbeitsplätzen, Aufhebung traditioneller Arbeitsorte, Arbeitsverdichtung durch Informationsflut sowie durch hoch komplexe Arbeitsmittel, mit denen die Beschäftigten ständig und überall erreichbar sind“ [VBG10, S. 71].
Nicht zuletzt übt auch die demographische Entwicklung Einfluss auf den Wandel in der Arbeitwelt aus. Die Menschen in Deutschland werden immer älter, die Anzahl der Erwerbspersonen sinkt [1]. Für Unternehmen resultieren diese Entwicklungen zum einen in immer älteren Belegschaften, zum anderen wird es für Unternehmen immer schwieriger, geeignete Fach- und Nachwuchskräfte zu finden.
In Anbetracht der beschriebenen Entwicklungen scheint die heutige Situation eine ähnliche wie in den 70er Jahren zu sein: der Problemdruck wächst, die Widerstände gegen unerträglich werdende Arbeitsbedingungen steigen, wobei diese heute nicht mehr nur in Streikaktionen2, sondern viemehr auch in „innere
Ülm Jahr 2030 werden voraussichtlich 17% weniger Kinder und Jugendliche in Deutschland leben als heute. Statt 15,6 Millionen heute werden es nur noch 12,9 Millionen unter 20-Jährige sein. Die Personen im erwerbsfähigen Alter - heute üblicherweise zwischen 20 und 65 Jahren - werden um ca. 15% beziehungsweise 7,5 Millionen Menschen zurückgehen. Die Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren wird hingegen um rund ein Drittel (33%) von 16,7 Millionen im Jahr 2008 auf 22,3 Millionen Personen im Jahr 2030 ansteigen“ - Statistisches Bundesamt, „Demografischer Wandel in Deutschland“ (2011), S. 8 https://www.destatis.de/ DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/VorausberechnungBevoelkerung/ BevoelkerungsHaushaltsentwicklung5871101119004.pdf? blob=publicationFile, abgerufen am 24.12.2012 Kündigungen“[2] seitens der Mitarbeiter münden.
Auch die Probleme und Belastungen der Beschäftigten sind heutzutage anders geartet. Beklagten Arbeitnehmer in den 70er Jahren insbesondere Belastungen bedingt durch schwere körperliche Arbeit, Umgebungsbelastungen und die negativen Auswirkungen restriktiver und monotoner Arbeit, lässt sich der Problemdruck, der heute weitgehend alle Beschäftigtengruppen betrifft, laut Sauer vorrangig drei Dimensionen zuordnen:
- „Zum einen ist dies ein wachsender Zeit- und Leistungsdruck, der gegenwärtig in allen Beschäftigten- und Betriebsrätebefragungen an erster Stelle steht.
- Zum anderen wird das Verhältnis von Arbeits- und Privatleben von immer breiteren Beschäftigtengruppen als problematisch erlebt.
- Schließlich verschärfen sich die objektive Unsicherheit und subjektive Verunsicherung nicht nur bei prekärer Beschäftigung, sondern auch breitflächig in der ’Normalbeschäftigung’.
Diese drei Entwicklungstendenzen kombinieren sich vielfach in einem Belastungssyndrom ’moderner Arbeit’, das in der Dominanz psychischer Belastungen seinen Ausdruck findet.“ [Sau07, S. 5]
Die zunehmende Flexibilisierung, der technologische Fortschritt, der erhöhte internationale Wettbewerbsdruck und hohen Qualitätsansprüche führen zu stetig steigenden Anforderungen an Betriebe und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hinzu kommt der fortschreitende demographische Wandel.
Betriebe können den steigenden Belastungen begegnen, indem sie die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit ihrer Mitarbeiter aktiv fördern. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass durch die Förderung von Gesundheit sowohl die Produktivität als auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter zunimmt. Gesunde und motivierte Beschäftigte wiederum sind ein zentrales Funadament für einen nachhaltigen, betrieblichen Erfolg. Der demographische Wandel verstärkt die Erfordernis zukünftiger Investitionen in den Erhalt der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Mitarbeiter.
Zum Erhalt der Gesundheit und der Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter tragen zum einen das individuelle Verhalten, zum anderen - in nicht unerheblichem Maße - aber auch die Verhältnisse, also Arbeitsbedingungen, Arbeitsorganisation etc., bei. Vor allem zwischen den Arbeitsbedingungen und der Gesundheit der Mitarbeiter gibt es deutliche Zusammenhänge: Schlechte arbeitsorganisatorische und arbeitstechnische Abläufe können sowohl auf die psychische als auch auf die physische Gesundheit ein negative Wirkung haben (vgl. [BJLH11, S. 7]).
Eine Möglichkeit, den gesteigerten Anforderungen adäquat Rechnung zu tragen und Arbeit mit ihren Herausforderungen und Veränderungsprozessen gewinnbringend für den Betrieb und seine Beschäftigten zu gestalten, besteht in der Entwicklung, Etablierung bzw. Weiterentwicklung eines integrierten betrieblichen Gesundheitsmanangements, das in dieser Arbeit in den Blick genommen wird.
Ziel ist, Unternehmen weiter für das Thema BGM und insbesondere für Präsentismus, eine der zentralen, aktuellen Herausforderungen, zu sensibilisieren und mit der Analyse beeinflussender Faktoren auf das Verhalten von Mitarbeitern im Krankheitsfall eine erste Grundlage zur Entwicklung angemessener und wirksamer Maßnahmen zu liefern.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1.1: Ziele der Arbeit
1.2 Gang der Arbeit
Zunächst wird das Betriebliche Gesundheitsmanagement thematisiert: Nach einer begrifflichen Bestimmung werden eingangs generelle Anforderungen und Zielsetzungen an ein bzw. in einem BGM angesprochen. In einem weiteren Abschnitt wird der aktuelle Status Quo dargestellt und kritisch beleuchtet. Im Anschluss an diese kurze Einführung in das Betriebliche Gesundheitsmanagement und einem Blick auf die praktische Umsetzung wird im dritten Kapitel mit dem Thema „Präsentismus“ eine der zentralen Herausforderungen im BGM näher betrachtet. Ausführlicher in den Blick genommen werden die Forschungsschwerpunkte Definition und Messung sowie insbesondere die Einflussfaktoren, die im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen. Die Arbeit schließt mit einer zusammenfassenden Darstellung der Ergebnisse und resultierenden Implikationen für Unternehmen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1.2: Gang der Arbeit - Methodisches Vorgehen
2 Aktuelle Ansprüche an ein Betriebliches Gesundheitsmanagement
Geänderte makroökonomische Veränderungen erfordern auch Veränderungen im BGM. Oppolzer zufolge hat „der Handlungsbedarf im Hinblick auf die Prävention arbeitsbedingter Gefährdungen, der mit dem klassichen Instrumentarium des technisch-medizinisch orientierten Arbeitsschutzes allein nicht hinreichend gedeckt werden kann, zugenommen.“ Das gelte „insbesondere für die nach wie vor zunehmenden psychischen Belastungen und die steigende Bedeutung psychischer Erkrankungen als Ursache vorübergehender (Krankenstand) oder dauerhafter Arbeitsunfähgikeit (Frühinvalidität), die nach einem ganzheitlichen, in allen Entscheidungen im Betrieb eingebetteten Gesundheits- mangement verlangen“ [Opp10, S. 9].
Nach einem kurzen Überblick über generelle Zielsetzungen und Anforderungen im BGM, wird daher zunächst der aktuelle Status Quo in der betrieblichen Praxis festgestellt: Inwiefern wird die derzeitige Ausgestaltung und Umsetzung des BGM in Unternehmen den Anforderungen gerecht? Welche Parameter werden zur Feststellung der Gesundheit der Mitarbeiter genutzt? Wie wird der Erfolg gemessen? Und: wo besteht noch Handlungsbedarf? Aus der Beantwortung dieser Fragen und dem immanenten Vergleich von Anspruch und Wirklichkeit („Soll-Ist-Abgleich“) resultieren wiederum aktuelle, zentrale Herausforderungen.
2.1 Ziele und Anforderungen
Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM), verstanden als „die gezielte Steuerung und die koordinierte Integration aller betrieblichen Strukturen und Prozesse in der Absicht, die Gesundheit und das Wohlbefinden sowie die Leistungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten zu erhalten und zu fördern“ [Opp10, S. 11f.], nimmt die Mitarbeiter und ihre Gesundheit in den Fokus. Die Unfallkasse des Bundes benennt zwei Fragen, derer sich ein BGM grundsätzlich annehmen sollte [Weg09, S. 2]:
1. „Was hemmt, demotiviert, frustriert, macht krank?
2. Was fördert, motiviert, schafft Arbeitszufriedenheit, hält gesund?“
Ein BGM soll die Gesundheit der Beschäftigten sichern und verbessern sowie die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Beschäftigten aufrechterhalten, was sich vielfach in der plakativen Maxime „Gesunde Unternehmen durch gesunde Beschäftigte“ ausdrückt. Mit dem Ziel, die Arbeit selbst gesünder zu gestalten und die Bewältigungsmöglichkeiten, Widerstandsressourcen und Kompetenzen der Beschäftigten zu erhalten und zu stärken, gilt es, die Ursachen für Motivation und Demotivation, für Gesundheit und Krankheit, für Erfolg und Misserfolg zu identifizieren und zu beeinflussen. BGM soll auf die betrieblichen Rahmenbedingungen und auf die Beschäftigten selbst wirken und ist insofern verhältnis- und verhaltensorientiert (vgl. u.a. [Opp10, S. 12] und [Weg09, S. 2f.]).
Stellt man die beiden stets immanenten Dimensionen ’Gesundheitszustand’1 und ’Präsenz’ einander gegenüber, lassen sich die Anforderungen vereinfacht wie folgt veranschaulichen (vgl. Abb. 2.1):[3]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.1: Anforderungen an ein BGM Dem übergeordneten Prinzip der Gewinnmaximierung folgend, ist der gewünschte Optimalzustand einer jeden Unternehmung quasi naturgemäß der „gesunde und anwesende Mitarbeiter“, den es zu fördern und zu erhalten gilt. Denn: Eine regelmäßige Anwesenheit und die Vermeidung von Fehlzeiten sind Grundvoraussetzungen für die kontinuierliche und verlässliche Nutzung der Arbeitskraft (vgl. [Opp10, S. 183]).
Hohe krankheitsbedingte Fehlzeiten sind zum einen zu vermeiden, da sie „Kosten ohne Leistung“ bedeuten und weil die Leistungserfüllung gegenüber den Kunden beeinträchtigt wird und sich insofern negativ auf den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens auswirken können. Überdies werden Vorgesetzte durch häufige Fehlzeiten in der Belegschaft angesichts knapper Personaldecken, wie in Unternehmen meistens vorherrschend, vor zusätzliche Probleme der Arbeitsorganisation gestellt. Die Aufrechterhaltung der betrieblichen Arbeitsabläufe wird somit erschwert. Nicht zuletzt implizieren hohe Abwesenheitsquoten für die anwesenden Mitarbeiter oft enorme Mehrbelastungen, weil aufgrund knapper Personaldecken die Arbeit der fehlenden Kollegen vielfach miterledigt werden muss (vgl. [Opp10, S. 187]).
Für die Abwesenheit ohne krank zu sein, ein Verhalten, das in der Literatur seit längerem unter dem Begriff „Absentismus“ (engl.: absenteeism) subsumiert wird, gilt natürlich dasselbe. Auch diese ist zu vermeiden, wobei gerade bei diesen „illegitimen“ Abwesenden die Frage nach den Beweggründen gestellt werden sollte (vgl. [Opp10, S. 189]).
Doch der gegenteilige Fall, also die Anwesenheit bei Krankheit, ist problematisch und Unternehmen sind gut beraten, ein solches Verhalten seitens ihrer Mitarbeiter zu verhindern. So ergibt sich (meist) nicht nur ein Produktivitätsverlust infolge eingeschränkter Gesundheit. Vielmehr kann ein derartiges Verhalten ernsthafte, gesundheitliche Gefährdungen zur Folge haben, die ihrerseits aller Wahrscheinlichkeit nach mittel- bis langfristig in Langzeiterkrankungen und damit in hohe Fehlzeiten münden (vgl. [Opp10, S. 187]).
Unternehmen sollten insofern dem Grundsatz folgen, dass die Verbesserung der Anwesenheit zwar wünschenswert ist, aber nicht um jeden Preis. Ob Unternehmen diesem Gedanken Folge leisten und inwiefern die erschlossenen Handlungsfelder Berücksichtigung in der praktischen Umsetzung finden, ist Thema des nächsten Abschnitts.
2.2 Derzeitige Umsetzung in der betrieblichen Praxis
Obwohl die Entwicklung eines ganzheitlichen Gesundheitsmanagements von den Trägern der gesetzlichen Unfall- und Krankenversicherung ebenso empfohlen wird wie von staatlichen Aufsichtsbehörden für Arbeitsschutz und entsprechenden Gesellschaften für Qualitätsmanagement oder Personalführung, wird der betrieblichen Gesundheitspolitik noch keine ausreichende Aufmerksamkeit beigemessen. Obwohl der Nutzen des Gesundheitsmanagements durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt und durch praktische Erfahrungen wiederholt nachgewiesen wurde, findet der Ansatz betrieblicher Gesundheitspolitik noch zu wenig Berücksichtigung (vgl. u. a. [Opp10, S. 12ff.], [BJLH11, S. 7]).
Dies gilt insbesondere für kleine und mittlere Betriebe. Eine von der Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA) in Auftrag gegebene, repräsentative Befragung zeigte für kleine und mittlere Unternehmen, dass nur gut ein Drittel (36 Prozent) der Unternehmen gegenwärtig ein Betriebliches Gesundheitsmanagement etabliert hat, wobei hier klare Unterschiede in Hinblick auf die Unternehmensgröße auszumachen sind (vgl. Abb. 2.2 sowie [BJLH11, S. 11]).
In Großbetrieben, die im Bereich des BGM als „Vorreiter“ gelten, ist der Anteil zwar erwartungsgemäß höher, doch auch hier hat sich das Konzept des Betrieblichen Gesundheitsmanagements noch nicht umfassend durchgesetzt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.2: Verbreitung von Betrieblichem Gesundheitsmanagement (nach Betriebsgrößenklassen)
Zu diesem Schluss kommt man zumindest bei Betrachtung der Ergebnisse der EUPD Research, die in ihrer Studienreihe „Gesundheitsmanagement“ Informationen und Daten über 508 der 800 größten Unternehmen Deutschlands akquirieren konnte. 258 der 508 insgesamt einbezogenen Unternehmen, also gut 50 Prozent, haben eigenem Bekunden nach ein Gesundheitsmanagement, 250 haben keines bzw. sind im Aufbau. Bei den 121 im Jahre 2007 befragten Konzerne liegt der Anteil noch höher: gut 70 Prozent gaben an, bereits ein Gesundheitsmanagement etabliert zu haben (vgl. [Hen07a]).
Strukturelle Verankerung
Betrachtet man die Ausgestaltung, liegt die Vermutung nahe, dass sowohl in kleinen und mittleren Betrieben als auch in Großunternehmen nach wie vor eine pathogenetische Sichtweise[4] vorherrschend ist: Die Frage, was krank macht, steht immer noch im Vordergund, die Frage, was gesund erhält, wird vernachlässigt. Die einseitige Betrachtung spiegelt sich dabei zum einen in den Strukturen wider, andererseits nähren auch die vorrangig verwendeten Instrumente und Kennzahlen diesen Verdacht.
So gaben beispielsweise drei Viertel der von der IGA befragten kleinen und mittleren Unternehmen mit Betrieblichem Gesundheitsmanagement an, BGM im Rahmen des Arbeitsschutzes durchzuführen. Nur in 20 Prozent der Betriebe ist BGM als eine eigenständige Maßnahme organisiert. Immerhin 37 Prozent gaben an, einen kontinuierlich arbeitenden Steuerkreis eingerichtet zu haben, der als als wesentliches Instrument für die Beteiligung aller Entscheidungsebenen an dem Prozess und für die Planung von Analysen, Maßnahmen und Evaluation steht. Wie die Planung und Konsentierung in den verbleibenden Unternehmen organisiert ist, bleibt zunächst unklar. Ein Großteil der Betriebe, die BGM über den Arbeitsschutz integriert haben, fällt die Entscheidungen vermutlich im Arbeitsschutzausschuss, dem gesetzlich vorgeschriebenen Steuergremium (vgl. [BJLH11, S. 12]).
Vor dem Hintergrund, dass offenbar ein großer Teil der Unternehmen den Einstieg in die Betriebliche Gesundheitsförderung über den Arbeitsschutz sucht, sei an dieser Stelle noch einmal darauf verwiesen, dass die klassischen Instrumente des technisch-medizinisch orientierten Arbeitsschutzes allein heute nicht mehr ausreichend sind was die Prävention arbeitsbedingter Gefährdungen anbelangt. Der Handlungsbedarf hat hier insbesondere in Anbetracht der nach wie vor zunehmenden psychischen Belastungen und der steigenden Bedeutung psychischer Erkrankungen als Ursache vorübergehender (Krankenstand) oder dauerhafter Arbeitsunfähigkeit (Frühinvalidität) zugenommen (vgl. [Opp10, S. 9]).
In Großunternehmen liegt die Verantwortung für das BGM meist in den Händen der Personalabteilung. Existiert im Unternehmen ein festangestellter Arbeitsmediziner, ist dieser zuständig, was insbesondere auf die Bereiche Chemie / Pharma sowie die Automobilindustrie zutrifft. Zudem ist eine zunehmende Professionalisierung erkennbar, die zu Differenzierung führt und unter anderem in der Bildung von Doppelspitzen ihren Ausdruck findet (vgl. [Hen07a, S. 14f.]).
Um beurteilen zu können, inwiefern die einzelnen, genannten Handlungsfelder Berücksichtigung finden, eignet sich ein Blick auf 'die gesundheitsbezogenen Kennzahlen, die im betrieblichen Kontext Anwendung finden, da sich hierin besonders gut das Verständnis von und der betriebliche Umgang mit dem Thema Gesundheit widerspiegeln.
Verwendete Instrumente und Kennzahlen im Controlling Controlling, als ein integraler Bestandteil jeder Management-Disziplin, ist auch aus dem Gesundheitsmanagement nicht wegzudenken. Controlling ist dabei nie Selbstzweck, sondern gewährleistet vielmehr eine betriebswirtschaftlich optimale Steuerung hinsichtlich des Einsatzes von Geld und Arbeitszeit. Dennoch kommt auch dem Controlling oft nicht die Bedeutung zu, die ihm eigentlich zuteil werden sollte. So bestätigten nur 62,5 Prozent der von der EuPD Research befragten Unternehmen das Vorhandensein eines regelmäßigen Controllings. 29,5 Prozent gaben an, den Grad der Zielerreichung zumindest von Zeit zu Zeit zu überprüfen, sieben Prozent verzichten gar vollständig auf eine Evaluation, wobei der Branchenzugehörigkeit hier eine bedeutende Rolle zukommt (vgl. [Hen07b, S. 47]).
Was die Controllinginstrumente anbelangt, nutzen die Unternehmen vor allem Ansätze, die die Informationen direkt über die Mitarbeiter generieren. Zu nennen sind hier insbesondere Befragungen von Teilnehmern an Gesundheitsmaßnahmen (75,3 Prozent) sowie generelle Zufriedenheitsbefragungen aller Mitarbeiter (60,5 Prozent). Ebenfalls etabliert scheinen interne und externe Benchmarkings. Befragungen von Führungskräften und die Balanced Scorecard kommen eher selten zum Einsatz (vgl. Abb. 2.3 sowie [Hen07b, S. 48f.]).
Bei den Kennzahlen stehen traditionelle Indikatoren wie der Krankenstand und die Arbeitsunfälle nach wie vor unverkennbar an der Spitze (vgl. Abb. 2.4).
Nahezu alle Unternehmen (94,9 Prozent) erheben krankheitsbedingte Fehlzeiten, mehr als vier Fünftel halten die Anzahl der Arbeitsunfälle (84,8 Prozent) fest. Kennzahlen zu Arbeitsfähigkeit (17,7 Prozent) und Präsentismus (15,2 Prozent) sind hingegen wenig etabliert (in vielen Fällen finden diese Indikatoren für den Gesundheiszustand der Mitarbeier zudem erst in Modellpro-jekten bzw. testweise in bestimmten Unternehmensteilen Anwendung). Bei den beiden zuletzt genannten Kennzahlen fällt es den Unternehmen darüber hinaus besonders schwer, Ziele vorzugeben; Grund ist, dass oftmals noch Vergleichswerte fehlen bzw. die Unternehmen erst Erfahrungen sammeln müssen. Konkrete Zielvorgaben finden sich erwartungsgemäß am häufigsten bei den Arbeitsunfällen sowie dem KPI[5] Krankenstand (vgl. [Hen07b, S. 50f.]).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.3: Kennzahlen im Betrieblichen Gesundheitsmanagement
Nur wenige Unternehmen leiten also wirklich harte Kennzahlen aus den verwendeten Controllinginstrumenten ab. Die Mehrheit beschränkt sich bei der Messung der Gesundheit nach wie vor auf die traditionellen Kennzahlen, wobei der Fokus unverkennbar auf der Erhebung des Krankenstandes bzw. der Fehlzeiten liegt. Allem Anschein nach scheinen Unternehmen Gesundheit insofern immer noch als die Abwesenheit von Krankheit zu verstehen. Gesundheit ist jedoch mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit, mehr als die uneingeschränkte biologische Funktionsfähigkeit des Organismus. Der World Health Organisation (WHO) zufolge ist unter Gesundheit vielmehr ein „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Gebrechen und Krankheit“ [Org09, S. 1][6] zu verstehen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.4: Kennzahlen im Betrieblichen Gesundheitsmanagement
Eine isolierte Betrachtung der Fehlzeiten gereicht also nicht zur Bemessung des Gesundheitszustandes der Mitarbeiter und wird den bestehenden Anforderungen nicht gerecht.
Zwar handelt es sich hierbei um ein einfaches und vergleichsweise leicht bestimmbares Kennzahlenmaß, das Flexibilität in Bezug auf Verhältnisbildung bietet sowie eine Verknüpfung mit Personalstrukturdaten und eine pekuniäre Abbildung ermöglicht. Doch sind Fehlzeiten vor allem auch ein Spätindikator, der zudem keinerlei Aussagekraft hinsichtlich der Ursachen der Abwesenheit besitzt (vgl. [Tre09, S. 19], [Weg09, s. 7f.]). Nicht zuletzt werden durch die alleinige Erhebung der Fehlzeiten die realen Kostenfaktoren nur mangelhaft abgebildet (vgl. [Tre09, S. 19], [Hen07b, S. 51]).
So sollte der anhaltend sinkende Krankenstand nämlich nicht zu der Annahme verleiten, dass Mitarbeiter gesünder als früher und infolgedessen die Kosten für Unternehmen und Sozialsysteme geringer geworden sind. Denn neben durchaus realisierten Verbesserungen im öffentlich-rechtlichen Arbeitsund Gesundheitsschutz und positiven Effekten der betrieblichen Gesundheitsförderung sind die seit Jahren sinkenden krankheitsbedingten Fehlzeiten darü- a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“ [Org46, S. 1] ber hinaus auf Selektions-, Struktur- und insbesondere Disziplinierungseffekte zurückzuführen. Letztere führen angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosenquoten dazu, dass die Symptomtoleranz der Beschäftigten bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen steigt, sodass sie erst bei schwerwiegenden Krankheitssymptomen der Arbeit fernbleiben (vgl. [Opp10, S. 188 ff.]).
Gestützt wird die These bezüglich der Disziplinierungseffekte durch zahlreiche Studien der letzten Jahre, die belegen, dass die Anzahl der Mitarbeiter, die trotz Krankheit zu Arbeit gehen, wächst. Während der Anteil im Jahre 1993 der Studie der Angestelltenkammer Bremen zufolge noch bei 40 Prozent lag, ermittelten Zok und der DGB in den Jahren 2007 bzw. 2009 einen Anteil von etwa 70 Prozent (vgl. [Zok08], [FT09, S. 19]).
Berücksichtigung in der Praxis hat dieses Verhalten jedoch bislang nur begrenzt gefunden. Der Anteil der Großunternehmen, die Präsentismus mittels einer Kennzahl festhalten, liegt bei etwa einem Sechstel (s. Abb. 2.4). Dies verwundert nicht zuletzt in Anbetracht der hohen Kosten, die durch Präsentismus entstehen: zum einen direkt infolge eingeschränkter Produktivität, zum anderen indirekt infolge mittel- bis langfristig resultierender Erkrankungen. Diese Kosten liegen dabei Studien zufolge sogar noch über denjenigen, die durch krankheitsbedingte Fehlzeiten entstehen (zu den Kosten von Präsentismus vgl. u. a. [Baa07], [FK10], [Hem04]).
Dr. Andreas Tautz, Chief Medical Officer der Deutsche Post World Net, äußert sich in diesem Zusammenhang wie folgt:
„Dem Thema Präsentismus wird - mangels eindeutiger und einfacher Messbarkeit - wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Und dies, obwohl die bisherigen Daten auf erhebliche Produktivitätseinbußen hinweisen. So gehen laut aktuellen Studien bei einer 37,5 StundenWoche ca 40 Minuten durch Fehlzeiten verloren, dagegen fast 2,5 Stunden durch Präsentismus.“( [Hen07b, S. 51])
Er spricht damit nicht nur bestehende Probleme der Praxis sondern auch
solche der Forschung an, die im folgenden Kapitel (teilweise)[7] näher in den Blick genommen werden.
3 Präsentismus als eine zentrale Herausforderung im BGM
Während Präsentismus in der betrieblichen Praxis vereinzelt nicht als Nebenschauplatz sondern als das „eigentliche Kernthema des Betrieblichen Gesundheitsmanagements“ bezeichnet wird, da schließlich „nicht die Zeit, die ein Mitarbeiter am Arbeitsplatz verbringt, sondern die hohe Konzentrations- und Leistungsfähigkeit während der Arbeit ... den unternehmerischen Mehrwert“ [Hen07b, S. 51] schaffe, findet es bei der Mehrheit der Unternehmen noch keine Berücksichtigung. Dieser Umstand könnte unter anderem dem aktuell noch eher lückenhaften Forschungsstand geschuldet sein.
Erstmalig thematisiert im Jahre 1955 findet das Thema Präsentismus auch im Forschungsbereich erst seit der Jahrtausendwende wirkliche Berücksichtigung, wobei der Begriff innerhalb existierender wissenschaftlicher Arbeiten sehr unterschiedlich definiert wird:
- „Das Verhalten, sich bei einer Erkrankung nicht krankzumelden, sondern arbeiten zu gehen, wird als <Präsentismus> bezeichnet“ [SS10, S. 93].
- „Presenteeism is defined as the loss in productivity that occurs when employees come to work but function as less than full capacity because of ill health“ [GB07, S. 3].
- „... the number of days when one is at work, but unable to undertake normal duties“ [VSSSH09, S. 27].
- „Sickness presenteeism [... ] refers to the phenomenon that people despite complaints and ill-health should prompt them to rest and take sick leave, go to work in any case“ [AG05, S. 958].
- „Hierunter [Präsentismus, Anm. d. Verf.] wird das Problem einer individuell verringerten Produktivität verstanden, wenn Arbeitnehmer trotz Krankheit zur Arbeit gehen“ [BH08, S. 10].
- „... if employees continue to work while still feeling sick - a concept known as ’presenteeism’“ [DV06, S.1].
Ungeachtet der zahlreichen (weiteren) Definitionen können innerhalb der Präsentismusforschung zwei Hauptstränge identifiziert werden: Der erste Präsentismusstrang untersucht das Verhalten von Mitarbeitern, trotz subjektiv (mehr oder weniger ernsthaft) empfundener Erkrankung zur Arbeit zu gehen, welches von zahlreichen gesellschaftlichen, arbeitsbedingten und / oder persönlichen Faktoren beeinflusst sein kann. Der zweite Präsentismusstrang versteht Präsentismus als gesundheitsbedingte Einschränkung der Arbeitsproduktivität. Dieser Forschungszweig befasst sich mit zwei Messvorgängen. In diesem Gebiet werden einerseits der Krankheitszustand der anwesenden Beschäftigten und ihre Produktivität sowie überdies der Einfluss der einen auf die andere Variable gemessen (vgl. [BS11, S. 14ff.]).
In Anlehnung an die europäische Sichtweise (1. Präsentismusstrang) wird Präsentismus in dieser Arbeit (weiterhin) verstanden als „das Verhalten, sich bei einer Erkrankung nicht krankzumelden, sondern arbeiten zu gehen“ (vgl. [SS10, S. 93]) und im weiteren Verlauf auch nur dieser Forschungsstrang weiter verfolgt. Die Definition erscheint überdies insofern plausibler, als dass sie nichts über Motive und Gründe aussagt, warum jemand krank zur Arbeit geht und durch Einbeziehung von Motiven in die Definition Begriffsbildung und Ursachenforschung vermengt würden.
Doch ist auch die hier gewählte Definition nicht unproblematisch, da für den darin enthaltenen Begriff der Krankheit keine eindeutige Defintion existiert. Je nach Bezugssystem und Perspektive (medizinisch, psychologisch, soziologisch, juristisch etc.) finden sich Krankheitsdefinitionen, die eine Abweichung von einer statistischen Norm hinsichtlich biologischer Strukturen und Funktionen, ihrer Regulation und ihrer Anpassung postulieren (vgl. [Häg11]), aber auch solche, die Krankheit als einen „regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit einer ärztlichen Heilbehandlung oder - zugleich oder allein - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat“1 kennzeichnen. Oftmals wird Krankheit auch als das Fehlen von Gesundheit angesehen, wobei auch dieser Begriff nicht eindeutig determiniert ist. Die am häufigsten zitierte Definition ist hier sicher die bereits erwähnte der World Health Organisation (WHO), die Gesundheit als einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Gebrechen und Krankheit“ [Org09, S. 1][8] [9] bezeichnet.
Einigkeit dürfte trotz aller Unterschiede jedoch dahingehend bestehen, dass Gesundheit und Krankheit nicht binär voneinander abgrenzbar sind, also keine dichotomen Zustände im Sinne von „entweder/oder“ („0/1“), sondern vielmehr „die Pole in einem Kontinuum gradueller Beeinträchtigungen der physischen, psychomentalen und psychosozialen Funktions- und Leistungsfähigkeit des Individuums“ [Opp10, S. 175] darstellen. Vor diesem Hintergrund kann es bei einer „leichten Erkrankung“ - anders als im Falle einer „schweren Erkrankung“ - durchaus zumutbar sein, trotzdem zur Arbeit zu gehen. Dazwischen gibt es Grauzonen relativer Krankheit (für eine ausführliche Diskussion vgl. [Opp10, S. 175ff.]).
In der praktischen Forschung wird das Problem der Krankheitsdiagnose überwiegend über Befragungen der Mitarbeiter gelöst. Dabei existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Items zur Erfassung des Verhaltens, trotz einer Erkrankung arbeiten zu gehen. Innerhalb deutscher Befragungen variieren dabei insbesondere die Antwortkategorien. Während in den Befragungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) lediglich erfasst wird, ob ein Mitarbeiter ein bestimmtes Verhalten gezeigt hat, werden im Index des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und im Gesundheitsmonitor der Bertelsmannstiftung auch die Häufigkeit erfragt (vgl. Abb. 3.1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3.1: Items zur Erfassung von Präsentismus
Der Unterschied zu internationalen Studien besteht vor allem darin, dass in diesen lediglich eine Frage zum Verhalten, trotz Krankheit arbeiten zu gehen, gestellt wird und zudem objektivierende Parameter wie „gegen den Rat des Arztes“ ausgeklammert werden (vgl. [BS11, S. 27])
Obwohl die Diskussion im Bereich Messung noch nicht abgeschlossen ist und bislang keine Studie existiert, die die Validität der verwendeten Items überprüft (vgl. [BS11, S. 28]), sollten sich Unternehmen jedoch nicht nur mit der Prävalenz dieses Phänomens beschäftigen, sondern sich im Zeichen der Entwicklung entgegenwirkender und präventiver Maßnahmen vor allem auch den Einflussfaktoren dieses Verhaltens zuwenden.
Neben den Bereichen Definition und Messung sowie Kosten und Folgen sind die Einfluss- bzw. Bestimmungsfaktoren von Präsentismus ein weiteres zentrales Forschungsgebiet, wobei der Forschungsstand auch in diesem Segment noch sehr uneinheitlich und unvollständig erscheint und zahlreiche Defizite ausgemacht werden können (vgl. Abb. 3.2).
Defizite/ Probleme im Forschungszweig „Einflussfaktoren von Präsentismus"
- unterschiedliche zugrunde liegende Definitionen für Präsentismus bzw. variierendes Verständnis von „Präsentisten"
- Verwendung unterschiedlicher statistischer Analyseverfahren -vorwiegend atheoretische Betrachtungsweise
- unterschiedliche Systematisierungen der Einflussfaktoren
- mangelnde Berücksichtigung von Interdependenzen
- inkonsistente Ergebnisse bei bislang untersuchten Einflussfaktoren
- isolierte Betrachtung eines einzelnen Präsentismussymptoms
- mangelnde Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Präsentismus
Abbildung 3.2: Defizite im Forschungszweig „Einflussfaktoren von Präsentismus“
So liegen den bestehenden Studien zum einen unterschiedliche Definitionen von Präsentismus bzw. ein variierendes Verständnis darüber zugrunde, wann Mitarbeiter als „Präsentisten“ zu bezeichnen sind. Während innerhalb der Analysen Zoks eine Person schon dann als „Präsentist“ gilt, wenn sie die Frage, ob sie im vergangenen Jahr trotz Krankheit zur Arbeit gegangen ist, mit „ja“ beantwortet, liegt im Verständnis von Aronsson et al. (2000) Präsentismus erst dann vor, wenn eine Person dieses Verhalten mindestens zweimal im Jahr gezeigt hat (vgl. [AGD00]). Vereinzelt gelten Arbeitnehmer erst dann als „Präsentisten“, wenn sie innerhalb eines Jahres viermal oder noch häufiger trotz Krankheit zur Arbeit gegangen sind (vgl. [NWMHT08]).
Die methodische Herangehensweise differiert auch insofern, als dass bei der Untersuchung der Einflussfaktoren unterschiedliche statistische Analyseverfahren herangezogen werden. Während innerhalb internationaler Studien primär (logistische) Regressionsanalysen dominieren (vgl. u. a. [AGD00], [EV08], [RB01], [VKP+04], [NWMHT08]), finden innerhalb existierender deutscher Analysen vor allem χ2- und t-Tests Anwendung (vgl. [Zok04], [Zok08]).
Kritisiert wird darüber hinaus die noch weitgehend atheoretische Betrachtungsweise (vgl. [Joh10]). Zwar finden sich erste Ansätze in den Publikationen von Aronsson und Gustaffson, die Johns in die Entwicklung seines Modells miteinbezieht, die Mehrheit der Erkenntnisse beruht jedoch auf empirischen Studien, die psychologische Theorien zur Erklärung des Präsentismus als Krankheitsverhalten gar nicht oder nur am Rande aufgreifen.
Die vorwiegend atheoretische Betrachtungsweise könnte einer der Gründe für die bisher eher unsystematisch erscheinende Herangehensweise innerhalb dieses Forschungszweigs sein. Während Badura und Steinke die Einflussfaktoren in ihrem Review in die drei Kategorien Persönliche Einflussfaktoren, Arbeitsund organisationsbedingte Einflussfaktoren sowie Strukturelle bzw. Umweltfaktoren unterteilen (vgl. [BS11, ]), sind Johns zufolge die Beziehung zwischen Absentismus und Präsentismus, die Rolle der Arbeitsplatzunsicherheit, -einstellungen und -erfahrungen, der Einfluss der Persönlichkeit und des sozialen Umfelds sowie die Subjektivität des Gesundheitszustandes bei der Untersuchung der Einflussfaktoren zu berücksichtigen (vgl. [Joh10]). Konsens scheint insgesamt jedoch im Hinblick auf eine Klassifizierung in personen- und arbeitsbezogene Faktoren zu bestehen.
Unvollständig bzw. lückenhaft erscheint der Forschungszweig insofern, als die bisherigen Studien inkonsistente Ergebnisse zu Tage förderten. Betrachtet man beispielsweise das Merkmal Geschlecht, so ergaben drei in Deutschland durchgeführte Befragungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) für diese soziodemografische Variable, dass Frauen häufiger betroffen sind (vgl. [SS10], [Zok08], [Zok04]), während das IGA-Barometer eine höhere Betroffenheit unter den Männern ermittelte (vgl. [BH08]) und damit zum entgegengesetzten Ergebnis gelangte.
Überdies erfahren mögliche Interdependenzen zwischen den einzelnen Einflussfaktoren mangelnde Berücksichtigung innerhalb der bisherigen Untersuchungen. Meist sind die Analysen auf bivariate Verfahren beschränkt. Es wird jeweils nur der Zusammenhang zwischen einem einzelnen Einflussfaktor und Präsentismus untersucht (vgl. u. a. [Zok04], [Zok08], [Pre10]) und mögliche moderierende Effekte insofern vernachlässigt.
Kritikwürdig ist darüber hinaus, dass trotz bestehender Qualifizierungen wie „gegen den Rat des Arztes“, „mit der Genesung bis zum Wochenende gewartet“, die die Messung unterschiedlich gearteter „Präsentismus-Symptome“ implizieren, oft nur „globale“ oder „isolierte“ Zusammenhangsanalysen durchgeführt werden. „Global“ meint in diesem Zusammenhang, dass neben den einzelnen Symptom-Variablen meist eine übergeordnete Variable existiert, anhand derer die Einteilung in „Präsentisten“ und „Nicht-Präsentisten“ vorgenommen wird und die bei der Berechnung von Zusammenhängen herangezogen wird. „Isoliert“ bedeutet, dass bei der Ermittlung der Zusammenhänge jeweils nur eine einzelne Symptomvariable betrachtet wird, wobei dies meist die Frage nach der Anwesenheit, „obwohl man sich krank gefühlt hat“ ist.
In diesem Zusammenhang ist weiterhin die mangelnde Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Präsentismus anzumerken. Obwohl in einigen Studien (insbesondere deutschen) neben der Frage, ob es innerhalb eines Jahres vorgekommen sei, dass man krank zur Arbeit gegangen ist, weitere Fragen enthalten sind (s. Abb. 3.1), findet innerhalb von Zusammenhangsanalysen oft nur die erstgenannte Berücksichtigung. Dabei wird insbesondere auch keine in „subjektiven“ und „objektiven“ Präsentismus vorgenommen, die sich in Anbetracht der partiellen Einbeziehung einer „ärztlichen Komponente“ anbieten würde. In Anbetracht der bisherigen Ausführungen kann konstatiert werden, dass eine Beschäftigung mit den Einflussfaktoren von Präsentismus nicht nur aus betriebswirtschaftlicher sondern auch aus forschungstechnischer Perspektive sinnvoll erscheint. Den bislang bestehenden Forschungslücken wird in der nachfolgenden Untersuchung insofern Rechnung getragen, als dass die beiden letztgenannten Aspekte Berücksichtigung finden. Das heißt, es erfolgt zum einen eine differenzierte Analyse von „subjektivem“ und „objektivem“ Präsentismus, zum anderen werden sämtliche, in die Befragung einbezogenen Präsentismus-Symptome in die Untersuchung integriert.
4 Statistische Untersuchung möglicher Einflussfaktoren auf Präsentismus
4.1 Vorbereitung und Durchführung
Eine statistische Untersuchung beinhaltet nach Kobelt und Steinhausen (in der Regel) fünf aufeinanderfolgende Phasen, namentlich Planung, Erhebung,
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4.1: Fünf Phasen einer statistischen Untersuchung
Im Rahmen der Planung ist zunächst die sachliche Abgrenzung vorzunehmen, d. h. es gilt den Gegenstand der Untersuchung in vollem Umfang genau zu definieren. Nach dieser sachlichen Abgrenzung erfolgt - unter Berücksichtigung der Zielsetzung - eine Auswahl der in der Untersuchung zu verwendenden statistischen Verfahren. An diese methodische Abgrenzung schließt sich die räumliche und zeitliche Abgrenzung an, bei denen die Fragen nach dem Gebiet und dem Untersuchungszeitraum im Fokus stehen. Hat man die genannten Ab- grenzungen vorgenommen, folgen nach einer abschließenden organisatorischen Vorbereitung der Untersuchung die Erhebung der Daten sowie die weiteren genannten Schritte (vgl. Abbildung 4.1 sowie [KS06, S. 5ff.]).
Im vorliegenden Fall stellt sich die Situation anders dar, da die Daten bereits vorliegen. Sie wurden im Jahre 2009 primärstatistisch erhoben und einer ersten deskriptiven Analyse unterzogen, was eine Änderung der ,gewöhnlichen Prozessabfolge' impliziert. Die Phase der „Erhebung“ entfällt genauso wie die einzelne Schritte der Planung, explizit die zeitliche und räumliche Abgrenzung. Darüber hinaus erfolgt eine Parallelisierung der noch verbliebenen „Planungs“- Schritte (sachliche Abgrenzung und Auswahl statistischer Verfahren) und der „Datenaufbereitung“. Abbildung 4.2 veranschaulicht den in dieser Arbeit voll zogenen Prozessablauf, der nachfolgend näher beschrieben wird:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4.2: Fünf Phasen der hier durchgeführten statistischen Untersuchung Zur Erhebung
Wie eingangs angemerkt wurden die Daten bereits erhoben. Wer die Daten wann, wie und mit welcher Zielsetzung erhoben hat, ist Inhalt der folgenden Absätze.
Informationen zur Datenquelle
Bei den vorliegenden Daten handelt es sich um Primärdaten, die im Jahre 2009 im Auftrag des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) erhoben wurden. Die Erhebung wurde in ähnlicher bzw. gleicher Form bereits in den Jahren 2003 und 2007 durchgeführt. Ziel der Befragung war die Untersuchung von Einstellungen und Verhalten von Arbeitnehmern im Krankheitsfall (vgl. [SS10, S. 94]).
Erhebungsmethode und Auswahlverfahren
Die Daten wurden - nach einem Pretest - im Rahmen einer computergestützten telefonischen Befragung, auch kurz CATI (Computer Assisted Telephone Interview)[10] genannt, vom Sozialwissenschaftlichen Umfragezentrum der Universität Duisburg-Essen erhoben.
Die Stichprobenziehung erfolgte mittels reiner Zufallsauswahl, die nach einem am Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim entwickelten Verfahren durchgeführt wurde. Die Stichprobe ist repräsentativ für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Jahre 2009.
Informationen zu den Probanden
Zu ihren Einstellungen und ihrem Verhalten im Krankheitsfall befragt wurden 2000 gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer im Alter zwischen 16 und 65 Jahren.
Zum Fragebogen
Dieser Abschnitt soll dem Leser einen Eindruck vom Aufbau, der Struktur und dem Inhalt des Fragebogens zu vermitteln. Der Fragebogen in seiner Gesamtheit kann dem Anhang entnommen werden.
Allgemeines
Der Fragebogen zur Ermittlung der Einstellungen und Verhaltensweisen von Arbeitnehmern im Krankheitsfall enthielt insgesamt 34 Fragen, von denen knapp die Hälfte (16) soziodemographischer Natur waren (Geschlecht, Alter, Familienstand etc.). Es handelte sich um sogenannte „geschlossene“ Fragen, d. h., sie enthielten vorgegebene Antwortmöglichkeiten. Sie waren weitgehend eindeutig und in einfacher Sprache formuliert.[11]
Operationalisierungen in Anlehnung an die Zielsetzung
Ziel der Befragung war die Untersuchung von Einstellungen und Verhalten von Arbeitnehmern im Krankheitsfall.
Die Einstellung von Arbeitnehmern im Krankheitsfall wurde insbesondere mittels der nachfolgenden Fragebatterie (vgl. Abb. 4.3) bestehend aus sieben Ja/nein-codierten Einzelfragen gemessen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4.3: Fragebatterie ’Einstellung im Krankheitsfall’
Eine weitere Fragebatterie enthielt sechs Ja/nein-codierte Einzelfragen zur Bemessung des Verhaltens von Arbeitnehmern im KrankheJtsfall (vgl. Abb. 4.4):
Zu dieser Fragebatterie zur Bemessung des Verhaltens von Arbeitnehmern im Krankheitsfall ist anzumerken, dass sie als Grundlage für die Messung von „Präsentismus“ bzw. die Kategorisierung in „Präsentisten“ und „Nicht- Präsentisten“ dient. So werden in Anlehnung an die Untersuchungen aus den
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4.4: Fragebatterie ’Verhalten von Arbeitnehmern im Krankheitsfall’
Jahren 2003 und 2007 auch in dieser Arbeit all diejenigen Arbeitnehmer als „Präsentisten“ deklariert, die mindestens eine der Fragen mit „Ja“ beantwortet haben.[12]
Ferner sei hingewiesen auf die unterschiedlichen Qualitäten[13] der einzelnen Fragen: Während die ersten drei eine rein subjektive Einschätzung des Befragten widerspiegeln, implizieren die anderen drei eine objektive Beurteilung, da in diesen Fragen die Komponente „Arzt“ mit einbezogen wurde („[..] obwohl der Arzt Ihnen davon abgeraten hat?“, „[..] obwohl der Arzt Ihnen dazu geraten hat?“, „[..] der Arzt Ihnen geraten hat, [..]“) (vgl. letzten Absatz in Kapitel 3).
Die bzw. mögliche Gründe für unterlassene Krankmeldungen wurden auf zweierlei Art erfasst. Zunächst wurden alle Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Meinung zum Rückgang von Krankmeldungen befragt:
In einem anderen Frageblock im Anschluss an die Fragen zum Verhalten im Krankheitsfall wurden nur diejenigen befragt, die wenigstens eine der Teilfragen mit "Ja"beantwortet haben, d. h. es wurden nur die ,Präsentisten’ befragt.
[...]
[1] and von 1993 bis 2011 (Quelle: Bundesagentur für Arbeit) siehe mitunter http://de.statista.com/statistik/daten/studie/218785/umfrage/ anzahl-der-von-streik-betroffenen-betriebe-in-deutschland/, abgerufen am 21.12.2012
[2] Innere Kündigung:= nicht explizit geäußerte mentale Verweigerung engagierter Leistung eines Mitarbeiters. Der Mitarbeiter will zwar seine Stellung behalten (keine Kündigung als offizielle und rechtlich wirksame Beendigung des Arbeitsverhältnisses), beabsichtigt aber, sich aufgrund der von ihm als frustrierend empfundenen Arbeitssituation nicht (über ein minimal erforderliches Maß hinaus) zu engagieren. Die innere Kündigung vollzieht sich als lautloser Prozess, ist deshalb auch für Vorgesetzte und Unternehmensführung nur schwer zu erkennen und einzudämmen. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/ innere-kuendigung.html, abgerufen am 21.12.2012
[3] Anmerkung: ’Gesundheit’ und ’Krankheit’ können bzw. sollten streng genommen nicht als binäre Zustände im Sinne von „entweder/oder“ („0/1“) voneinander abgegrenzt werden, da sie vielmehr Pole in einem Kontinuum gradueller Beeinträchtigungen der „physischen, psychomentalen und psychosozialen Funktions- und Leistungsfähigkeit des Individuums“ darstellen (vgl. [Opp10, S. 175])
[4] Anmerkungen
[5] Key Performance Indicator
[6] In Anlehnung an die Definition in der originären Fassung aus dem Jahre 1946: „Health is
[7] Ausführlicher betrachtet werden hier nur die Forschungsschwerpunkte Defintion, Messung und Einflussfaktoren. Weitergehende Informationen sowie Details zu den beiden anderen Zweigen, Kosten und Folgen, finden sich u. a. in [Baa07], [BS11], [HA09], [Joh10].
[8] "Nach ständiger Rechtsprechung, vgl. BSGE 85, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr. 11 S 38;
BSGE 72, 96, 98 = SozR 3-2200 § 182 Nr. 14 S 64 jeweils mwN via ...
[9] In Anlehnung an die Definition in der originären Fassung aus dem Jahre 1946: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“ [Org46, S. 1]
[10] Für ausführliche Informationen (insb. Vor- und Nachteile) zu CATI s. [SHE99], [FKL90]
[11] Diskussionswürdige Fragestellungen und Antwortkategorisierungen können dem Anhang entnommen werden.
[12] Die hier gewählte (operationale) Definition/Operationalisierung besagt ausdrücklich nicht, dass die im Fragebogen verwendeten Items den Begriff „Präsentismus“ (eindeutig/ausreichend/korrekt) erfassen oder dass die Variable „Präsentismus“ hierdurch gut abgebildet werden kann. Allerdings ist die Gültigkeit der Definition für „Präsentismus“ bzw. „Präsentisten“ explizit nicht Gegenstand der Untersuchung, sondern wird vorausgesetzt. Die Definition gibt also lediglich an, was im vorliegenden Fall unter dem Begriff „Präsentisten“ zu verstehen ist und wie selbige identifiziert werden können/sollen.
[13] Diese ’unterschiedlichen Qualitäten’ werden im Rahmen der Analyse berücksichtigt.
- Citation du texte
- Christina Mädge (Auteur), 2013, Präsentismus als neuartige Anforderung an ein Betriebliches Gesundheitsmanagement, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/373717
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