Eiskunstlauf gehört zu den Sportarten, die bereits in sehr jungen Jahren begonnen werden müssen, damit Chancen auf den „Sprung“ in die hochleistungssportliche Karriere bestehen. Nicht selten erfolgen die ersten Schritte auf dem Eis im Vorschulalter.
Aus dem reinen Freizeitvergnügen wird häufig durch Trainer, die auf Talentsuche sind, aus der Kür eine Pflicht. Es folgt jahrelanges intensives Training unter Einschränkung oder Zurückstellung anderweitiger Interessen und Potenzialnutzungen. Ehrgeizige Trainer und Eltern geben im frühen Kindesstadium Ziele vor, die das Leben des jungen Leistungssportlers stark bestimmen. Die Hauptaufgabe des heranwachsenden Eisläufers besteht letztlich darin, die Anforderungen von Schule und Ausbildung mit denen des Sports zu verbinden. Dies sind auch die Voraussetzungen für die spätere berufliche Entwicklung.
Die Lebensbereiche Sport und Schule bzw. Ausbildung stehen in zeitlicher und leistungsmäßiger Konkurrenz. Hier stellt sich vor allem bei Kinderleistungssportlern die Frage, wie sich die sportspezifische Sozialisation zunächst auf Schule bzw. Ausbildung und anschließend auf die berufliche Integration auswirkt. Der Leistungssport steht damit in einem fundamentalen Spannungsverhältnis zur Ausbildung und einer späteren Berufskarriere. Zwischen Sport und Ausbildung bzw. Beruf besteht damit im Zeitablauf ein wachsender Zielkonflikt.
Es ist zu klären, welche aus dem Hochleistungssport resultierenden individuell entwickelten Fähigkeiten bzw. Defizite (personale Ressourcen) und welche externen Einflussmomente (Bekanntheitsgrad durch die Medien, Ansehen der Sportart Eiskunstlauf, sportbegeisterte Berufskollegen) bzw. Unterstützungsleistungen von der Familie, dem Trainer und dem Verband (Beziehungen) diese Entwicklung beeinflussen.
Interessant und neu im sozial- und sportwissenschaftlichen Bereich ist die Fragestellung, inwieweit sich diese sehr speziellen und vielfältigen Fähigkeiten eines erfolgreichen Eiskunstläufers auf den nach- und außersportlichen schulischen bzw. beruflichen Werdegang auswirken. Zeichnen sich erfolgreiche Sportler durch besonders hohe Werte in Disziplin, Ehrgeiz, Zielorientierung und Zeitmanagement aus und behalten sie diese dauerhaft für ihr weiteres Leben bei? Kann die Selbstsicherheit, sich vor einem Publikum zu präsentieren und es mit einzubeziehen („in den Bann zu ziehen“), auf die Ausbildungssituation bzw. später den Beruf übertragen werden und ist dies förderlich?
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Vorwort
I. Themenaufriss
1. Problemstellung
2. Gegenstand und Ziel der Arbeit
II. Eiskunstlauf: Eine Sportart stellt sich vor
1. Geschichte
1.1 Wettbewerbe
1.2 Regeln
1.3 Technik
1.4 Ein kritischer Blick auf die Leistungsbeurteilung bei Wettkämpfen
III. Sozialwissenschaftliche Perspektiven
1. Sozialökologischer Ansatz
2. Der Ansatz der konstruktivistischen Sozialisationsforschung
2.1 Das Konzept des Kindes als Akteur
2.1.1 Agency und Sozialisation
2.1.2 Reichweite und Grenzen des Akteurskonzepts
3. Handlungstheoretische Grundlagen
3.1 Soziale Lern- und Erwartungs-Wert-Theorien
3.2 Das handlungstheoretische Partialmodell der Persönlichkeit
4. Selbstdarstellung als Persönlichkeitseigenschaft oder Impression-Management?
4.1 Begriffsverortung und -abgrenzung von Persönlichkeit
4.2 Die Impression-Management-Theorie
5. Spezielle Lerneffekte
5.1 Der Imagefaktor
5.2 Körperbild und Körpereinstellung
5.3 Die Selbstdarstellung und personale Zusammenhänge
6. Strukturelle und systemspezifische Einflüsse im Leistungssport Eiskunstlauf
6.1 Der Zeitfaktor
6.2 Motivations- und Disziplinierungsmethoden bis Mitte der 1990er Jahre
6.3 Konsequenzen für den Handlungsspielraum des Eiskunstläufers
6.4 Das Ausscheiden aus dem Leistungssport
7. Berufliche Sozialisation
7.1 Begriffsverortung der beruflichen Sozialisation
7.2 Berufsbeeinflussende Sozialisationsinstanzen in der Kindheit
7.3 Die Einflussfaktoren Schicht und Geschlecht auf den beruflichen Habitus
7.4 Hauptphasen und -instanzen beruflicher Sozialisation
7.5 Selektion und Anforderungsprofile von Arbeitgebern
7.6 Zusammenschau und Abgleich der erlernten Fähigkeiten im Eiskunstlauf mit den Anforderungen im Berufsleben
8. Ableitung theoretischer Ansätze für den empirischen Teil
IV. Empirische Untersuchungen und Befunde
1. Methodisches Vorgehen
1.1 Fragebogen „Eiskunstlauf und Beruf“
1.2 Stichprobe
2. Untersuchungsvariablen und Operationalisierung
2.1 Berufskarriere
2.2 Hochleistungssport-Karriere
3. Durchführung
4. Idealtypisches Basismodell
5. Statistische Auswertungen und Ergebnisdiskussion
5.1 Grundlegende Ergebnisse zur Charakterisierung der Stichprobe
5.2 Ergebnisse zum idealtypischen Basismodell
5.3 Typen von empirisch nachweisbaren beruflichen Werdegängen
5.3.1 Einfluss des Alters
5.3.2 Eiskunstlauf und der berufliche Werdegang
5.3.3 Präsentations- und Selbstdarstellungsfähigkeit
5.3.4 Eiskunstlauf, Beruf und Schicht
5.3.5 Bereichsspezifisches und generalisiertes Kontrollgefühl
5.4 Diskussion zum Themenschwerpunkt Eiskunstlauf und Beruf
V. Entwicklung und Ausblick
1. Veränderungen seit der aktiven Zeit der Untersuchungsgruppe
1.1 Optimierung des Bewertungssystems seit den 1990er Jahren
1.2 Eiskunstlauf als Spiegel gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen
1.3 Sportliche Motivations- und Disziplinierungsmethoden nach 1995
1.4 Pädagogische Ansätze für den Trainingsbereich
1.5 Unterstützende Institutionen: Laufbahnberatung an Olympiastützpunkten
2. Ausblick: Schule und Leistungssport
VI. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Fragebogen zu „Eiskunstlauf und schulische Bildung“
Vorwort
Der Abbruch einer verheißungsvollen Entwicklung im Hochleistungssport aus gesundheitlichen Gründen war für mich eine einschneidende Lebenserfahrung. Noch immer liebe ich den Eiskunstlauf - auch wegen seiner umfassenden Ansprüche an Technik und Ästhetik sowie seiner Harmonie zwischen Körper und Seele. Es blieb mir ein Bedürfnis, mit Aktiven, Trainern und Funktionären zu kommunizieren und die laufenden Veränderungen in „meinem Sport“ zu diskutieren. Vor allem machen sich viele meiner Gesprächspartner derzeit ernsthafte Gedanken und Sorgen über die Zukunft des Eiskunstlaufs.
Gegenwärtig spielt der deutsche Eiskunstlauf1,2 im internationalen Vergleich keine überragende Rolle. Deshalb gerät er bei den Sportinstitutionen und -funktionären zunehmend unter Druck; es drohen massive Mittelkürzungen und die Schließung von Leistungszentren. Viele der Verantwortlichen sehen als Folge ein abnehmendes Medieninteresse und einen entsprechend geringeren Anreiz in der Nachwuchsbildung. Die hierfür genannten und vermuteten Gründe sind vielschichtig. Auffallend dabei ist, dass sie stark aus einer subjektiven Situationseinschätzung herrühren. Trainer und Funktionäre beklagen, Kinder und Jugendlichen seien heute nicht mehr bereit, ihren Lebensfokus komplett auf den Sport zu richten.
Die „Ablenkung“ durch schulische und berufliche Anforderungen ist hier ein häufig genannter Grund. Stimmt dieses Argument? Werden heute die Lebensbereiche Leistungssport und Ausbildung bzw. Beruf von den aktiven Eiskunstläufern anders gewertet als früher? In welchem Ausmaß spielen diese neue Werteverschiebung sowie die spezielle Persönlichkeitsentwicklung durch den frühkindlichen Trainingsbeginn beim Eissport eine Rolle für die Ausbildung und den späteren Berufserfolg?
Fundierte Antworten auf diese Fragen bedürfen einer wissenschaftlichen Aufarbeitung und sind zentrales Thema dieser Arbeit. Mit den hieraus gewonnenen Erkenntnissen und abgeleiteten Schlussfolgerungen möchte ich Leistungssport treibende Eiskunstläufer, Eltern und Trainer auf häufig auftretende Problemfelder und Herausforderungen während der aktiven Phase aufmerksam machen. Wo sich bereits in den letzten Jahren Lösungsmöglichkeiten entwickelt haben, werden diese im letzten Teil der Arbeit vorgestellt. Andere Problembereiche können sich nur mit dem Hinweis „Hilfe zur Selbsthilfe“ an die ehemals aktiven Eissportler richten.
I. Themenaufriss
Eiskunstlauf gehört zu den Sportarten, die bereits in sehr jungen Jahren begonnen werden müssen, damit Chancen auf den „Sprung“ in die hochleistungssportliche Karriere bestehen. Nicht selten erfolgen die ersten Schritte auf dem Eis im Vorschulalter.
Aus dem reinen Freizeitvergnügen wird häufig durch Trainer, die auf Talentsuche sind, aus der Kür eine Pflicht. Es folgt jahrelanges intensives Training unter Einschränkung oder Zurückstellung anderweitiger Interessen und Potenzialnutzungen. Ehrgeizige Trainer und Eltern geben im frühen Kindesstadium Ziele vor, die das Leben des jungen Leistungssportlers stark bestimmen. Die Hauptaufgabe des heranwachsenden Eisläufers besteht letztlich darin, die Anforderungen von Schule und Ausbildung mit denen des Sports zu verbinden. Dies sind auch die Voraussetzungen für die spätere berufliche Entwicklung.
1. Problemstellung
Die Lebensbereiche Sport und Schule bzw. Ausbildung stehen in zeitlicher und leistungsmäßiger Konkurrenz. Hier stellt sich vor allem bei Kinderleistungssportlern die Frage, wie sich die sportspezifische Sozialisation zunächst auf Schule bzw. Ausbildung und anschließend auf die berufliche Integration auswirkt. Das heutige Hochleistungssportsystem kann unter dem Gesichtspunkt des intensiven Trainings und der dadurch bedingten Zeitknappheit unter dem Stichwort „Totalisierung“ diskutiert werden, d.h. für den Sportler existiert nur eine lebensbestimmende Größe, nämlich der Sport (vgl. Emrich 1996, S. 34; Hackfort/Emrich/Papathanassiou 1997; S. 13ff.; Heinilä 1982, S. 235 ff.). Eine immer höhere Wettkampfdichte lässt den ausgeübten Sport in Richtung „Professionalisierung“ tendieren (vgl. Hackfort/Emrich/Papathanassiou 1997, S. 14 ff.). Der Leistungssport steht damit in einem fundamentalen Spannungsverhältnis zur Ausbildung und einer späteren Berufskarriere. Zwischen Sport und Ausbildung bzw. Beruf besteht damit im Zeitablauf ein wachsender Zielkonflikt.
Es ist zu klären, welche aus dem Hochleistungssport resultierenden individuell entwickelten Fähigkeiten bzw. Defizite (personale Ressourcen) und welche externen Einflussmomente (Bekanntheitsgrad durch die Medien, Ansehen der Sportart Eiskunstlauf, sportbegeisterte Berufskollegen) bzw. Unterstützungsleistungen von der Familie, dem Trainer und dem Verband (Beziehungen) diese Entwicklung beeinflussen.
Interessant und neu im sozial- und sportwissenschaftlichen Bereich ist die Fragestellung, inwieweit sich diese sehr speziellen und vielfältigen Fähigkeiten eines erfolgreichen Eiskunstläufers auf den nach- und außersportlichen schulischen bzw. beruflichen Werdegang auswirken. Zeichnen sich erfolgreiche Sportler durch besonders hohe Werte in Disziplin, Ehrgeiz, Zielorientierung und Zeitmanagement aus und behalten sie diese dauerhaft für ihr weiteres Leben bei? Kann die Selbstsicherheit, sich vor einem Publikum zu präsentieren und es mit einzubeziehen („in den Bann zu ziehen“), auf die Ausbildungssituation bzw. später den Beruf übertragen werden und ist dies förderlich?
Aber auch die Kehrseite der Medaille muss betrachtet werden: Inwieweit kann ein kindlicher Leistungssportler mit der Konzentration auf den Sport und dem dort rigide herrschenden System - der „Unterwerfung“ - Autonomie und Handlungskompetenz entwickeln? Der Aufbau von Handlungskompetenz ist in der kindlichen und jugendlichen Entwicklung ein wichtiger Prozess und Baustein für die Heranbildung einer ausgeglichenen Persönlichkeit. Wird dies durch die Vorgaben von Eltern, Trainer und Verband verhindert? Sind alle Beteiligten in gleichem Maße dafür ausschlaggebend oder benötigt das Kind zum Beispiel vor allem die Unterstützung und den Rückhalt der Eltern?
2. Gegenstand und Ziel der Arbeit
Es geht um die erkenntnistheoretischen Gewinne zur Beantwortung der Frage, wie im „Sportleralltag“ Ausbildung und später ein Berufseintritt ihren bedeutungsgemäßen Rang erlangen bzw. behaupten können.
Die Diskussion um die Vereinbarkeit von Schule und Training und die Notwendigkeit greifender Lösungen werden immer dringlicher, da der Druck auf das Eiskunstlaufsystem enorm angestiegen ist. Den wesentlichen Ausschlag dafür geben zwei Faktoren: Zum einen hat das abgesunkene Wettkampfniveau der deutschen Eiskunstläufer einen Renommeeverlust in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit erfahren. Zum anderen war die häufige Kritik an der subjektiven Bewertung im Eiskunstlauf 1998 bei dem 47. ISUKongress (International Skating Union) Anlass für folgende Veränderungen: Seit der Saison 1998/99 wird für die Berechnung der Ergebnisse beim Eiskunstlaufen ein neues Platzierungssystem angewandt. Das „One by One“ oder OBO System gestattet einen direkten Vergleich aller Teilnehmer mit allen anderen Teilnehmern. Es wurde entworfen, um die Änderungen der Platzierung von Läufern durch die Wertungen später startender Läufer wesentlich zu reduzieren. Bei ISU-Eiskunstlauf-Meisterschaften wird weiterhin ein VideoAbspielsystem eingeführt, mit dem Preis- und Schiedsrichter bestimmte geforderte Elemente im Kurzprogramm und in den Pflichttänzen auf einem persönlichen Monitor ansehen können, bevor sie ihre Wertung geben. Diese Standardisierung im Bewertungssystems hat zu einer Anhebung des Leistungsniveaus im Eiskunstlauf geführt. Zusätzlich ist das Leistungsniveau im Bildungsbereich in den letzten Jahren enorm gestiegen. Bedingt ist dies durch die gewachsene Bedeutung der Abschlüsse. Intensivierte Lehrpläne in den Schulen sowie die Anforderungen für qualifizierte Arbeitsplätze erschweren zunächst einen gelungenen Berufseintritt. Die Auswirkungen dieser Veränderungen zeigen sich in einem erheblich angestiegener Druck auf den Eiskunstläufer. Der Zielkonflikt zwischen Sport und Schule ist noch eklatanter geworden.
Ziel dieser Arbeit ist, aufklärend und unterstützend zu wirken. Die aus ihr resultierenden Erkenntnisse richten sich vornehmlich an die heute aktiven Eiskunstläufer, Eltern und Verbände, da sie alle gemeinsam ausschlaggebend die Ausbildung und damit die berufliche Basis beeinflussen.
Um den Aufbau der Arbeit leichter zu erfassen, wird an dieser Stelle ein kurzer Überblick über die thematischen Abhandlungen gegeben. Nach dem Thermenaufriss (Teil I) folgt eine dem grundlegenden Verständnis dieser Sportart dienende Einführung in die spezielle „Welt“ des Eiskunstlaufs (Teil II). Sodann behandelt Teil III die sozialwissenschaftlichen Aspekte des Themas, die in Teil IV durch empirische Untersuchungen hinterfragt und aus denen realitätsgerechte Befunde abgeleitet werden. Teil V zeigt die Weiterentwicklungen nach dem Zeitraum, in dem die Untersuchungsgruppe Hochleistungssport betrieben hat (19801990) und gibt einen Ausblick. Etwas detaillierter stellen sich die Hauptkapitel wie folgt dar:
Teil II „Eiskunstlauf: Geschichte und Umfeld“ stellt zunächst die Sportart „Eiskunstlauf“ mit ihrer geschichtlichen Entwicklung, den Wettbewerben, Regeln und der Technik vor. Kapitel 1 schließt ab mit einem kritischen Blick auf die Leistungsbeurteilung im Eiskunstlauf. Diese sportartspezifischen Faktoren wirken sich auf die Eiskunstläufer aus. In einem ersten Schritt wird ein Modell entworfen, das theoretisch die speziellen Bedingungen für die Eiskunstläufer erklärt. Kapitel 1 geht von dem sozialökologischen Ansatz aus, der dir speziellen Person-Umwelt-Beziehungen zunächst auf der Ebene von Strukturen erklärt. Um diesen Ansatz auf Individuen anwenden zu können, wird die konstruktivistische Sozialisationsforschung sowie das Agency-Konzept (Kapitel 2) herangezogen. Bei Kinderhochleistungssportarten wie dem Eiskunstlauf ist vor allem die Handlungsautonomie von Interesse. Dies beschreibt Kapitel 3 auf der Basis handlungstheoretischer Grundlagen. Eine Überleitung zu den speziellen Lerneffekten im Eiskunstlauf (Kapitel 5) ist die Frage, ob die Selbstdarstellung im Eiskunstlauf als eine Persönlichkeitseigenschaft oder gelernte Taktik („Impression Management“) gesehen werden muss (Kapitel 4). Kapitel 5 behandelt dann diese speziellen Lerneffekte des Eiskunstlaufs.
Wichtiger Ausgangspunkt für Kapitel 6 ist die Doppelbelastung durch Schule und Sport. Doch auch das sportliche Umfeld und systemspezifische Verhaltensweisen sind für die Eiskunstläufer prägend. Es ergeben sich daraus bestimmte Motivations- und Disziplinierungsmethoden für das Training. Die Konsequenzen der eissportspezifischen Sozialisation für den Handlungsspielraum zeigen die anschließenden Ausführungen auf. Das Ausscheiden aus dem Leistungssport als kritisches Lebensereignis beendet die Darstellung der eiskunstlaufspezifischen Sozialisation. Übergeleitet wird nun zu der zentralen sozialwissenschaftlichen Fragestellung dieser Arbeit, inwieweit das Eiskunstlaufen Zusammenhänge mit dem beruflichen Werdegang aufweist.
Dazu geht Kapitel 7 auf die berufliche Sozialisation ein. Zunächst werden die berufsbeeinflussenden Sozialisationsinstanzen in der Kindheit dargestellt. Schicht und Geschlecht zusammenhängend mit dem beruflichen Habitus wirken auf die Hauptphasen und -instanzen der beruflichen Sozialisation ein. Nachdem damit die Arbeitnehmerseite durch sozialisatorische Einflüsse dargestellt ist, zeigen die anschließenden Ausführungen von Arbeitgeberseite die Selektionsmechanismen und Anforderungsprofile der Berufe auf, in denen die untersuchten Eiskunstläufer tätig sind. Zusammenfassend wird ein Überblick der erlernten Fähigkeiten im Eiskunstlauf und den Anforderungen im Berufsleben gegeben.
Die wissenschaftstheoretische Themenabhandlung schließt ab mit der Zusammenstellung von Annahmen und einem Modell, das im empirischen Teil die Fragen der Auswirkung des Hochleistungssports „Eiskunstlauf“ auf die Ausbildung und eine spätere berufliche Integration der ehemaligen Sportler beantworten soll.
Die quantitativen empirischen Untersuchungen (Teil IV) erfassen zunächst die personenspezifischen Daten der befragten Eiskunstläufer. Im Kern der Ermittlungen stehen retrospektiv:
- der sportliche Werdegang (aktive Phase, Ausscheiden, post-aktive Phase),
- die Ausbildung, auch im Hinblick auf die Doppelbelastung Schule und Leistungssport,
- der berufliche Werdegang anhand von Idealtypen3 und
- die aktuelle, allgemeine Kompetenz- und Kontrollwahrnehmung in Anlehnung an den Fragebogen von Krampen (1991).
Die Wiedergabe von Kommentaren der Eiskunstläufer auf den schriftlichen Fragebögen sowie Leitfaden-Interviews zu den empirisch vorgefundenen beruflichen Typen sollen die quantitativ ermittelten Daten im Detail ergänzen und ihnen die notwendige Lebensnähe verleihen. Der empirische Teil endet mit der Darstellung und Interpretation der gewonnenen Ergebnisse.
Teil V „Entwicklung und Ausblick“ stellt zunächst in Kapitel 1 die Veränderungen nach der aktiven Zeit der Untersuchungsgruppe (ab 1990) dar. Ausgehend von den Optimierungen im Bewertungssystem bei Wettkämpfen, wird auf die speziellen systemspezifischen Entwicklungen bezüglich der Herstellung von Disziplin bei den jungen Eissportlern eingegangen. Es folgen Hinweise auf pädagogische Ansätze für den Trainingsbereich und auf heute vorhandene unterstützende Institutionen, z. B. die Laufbahnberatung an Olympiastützpunkten. Kapitel 2 geht themenspezifisch auf die Fortschritte in der Koppelung zwischen Leistungssport und Schule als Vorbedingung für den beruflichen Werdegang ein. Die Arbeit schließt mit einem „Vogelblick“ auf sportspezifische Entwicklungen und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge.
II. Eiskunstlauf: Eine Sportart stellt sich vor
Die Faszination des Eiskunstlaufs hat eine lange Tradition. Vor über 200 Jahren wurde sie wie folgt beschrieben:
„Der Eisläufer findet in der Ausübung seiner Kunst einen herrlichen Genuß. Er ist im Stande, seinem Körper ungewohnte Bewegungen mitzutheilen, die auf dem Lande unmöglich sind. Auf einem Elemente, wo die Friction beinahe Null ist; gleichsam frei von den Gesetzen, welche sonst die Bewegungen einschränken, schwebt er, wie auf Luft gewiegt, von einer Seite zur anderen, schießt jetzt mit der Geschwindigkeit eines Pfeils vorüber, beschreibt jetzt zierliche Bogen, schreitet in Spiral- und Schlangenlinien umher, oder läßt sich vom Hauch des Windes forttreiben“ (aus: „Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen, 1796“, zitiert nach Hampe 1994, S. 144).
Voller Faszination verdeutlicht dieses Zitat die Besonderheit des Eiskunstlaufs: Die Verschmelzung von Sport und (darstellender) Kunst. Zuschauerwirksame, attraktive Programme verkörpern die Synthese von Körperbewegung, Musik und auch des Kostüms. Im Wettbewerb werden ausgeglichene Programme gefordert, die Sprünge mit Mehrfachdrehungen um die Körperlängsachse, Pirouetten und Schritte (Schrittfolgen) sowie im Paarlauf geworfene Sprünge und Hebungen beinhalten.
Demgegenüber sind im Eistanz Sprünge und Mehrfachdrehungen und Überkopfhebungen nicht gestattet. Daher sind Choreographie, die künstlerische Gestaltung mit einer großen Schrittvielfalt und zahlreichen tänzerischen Körpertechniken Wesensmerkmale dieser Disziplin.
Ausbildungsinhalte sind neben dem Elemente- und Schritttraining auch die Entwicklung konditioneller Voraussetzung (Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Flexibilität), eine Ballettschulung und das damit verbundene Erlernen eines tänzerischen Bewegungsrepertoires. Welche Auswirkungen die ästhetische Komponente des Sports auf den Eiskunstläufer und seine Körpereinstellung hat, wird detailliert das Kapitel 2 dieses Teils aufzeigen.
1. Geschichte
Der Ursprung des Eislaufens geht auf die Möglichkeit einer schnellen Fortbewegung zurück. Archäologische Funde aus der Jungsteinzeit zeigen aus gespaltenem, flachgeschliffenen Unterbeinknochen des Rindes, Pferdes oder Rentiers gefertigte Gleitkufen (Abbildung 1, vgl. www.sportbox.de/kompendium vom 20.02.2004). Der Abstoß zum Fortbewegen wurde wegen der fehlenden Kante mittels Stöcken oder einem Speer realisiert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Prähistorischer Knochenschlittschuh
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Holländischer Schnabelschlittschuh
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Wiegemesser, erster hochgebauter rundgeschliffener Holz-Eisen-Schlittschuh
Eine wesentliche Verbesserung des „Schlittschuhs“ gelang in der Bronzezeit. Man durchbohrte mehrmals den Knochen und befestigte ihn mit Riemen an den Sandalen (Abbildungen 2 und 3). Dies verlieh dem Läufer mehr Sicherheit. Der älteste Fund von Knochenschlittschuhen stammt aus der Schweiz und ist in der Berner Stadtbibliothek ausgestellt. Sein Alter wird auf 4.000 Jahre geschätzt. Funde jüngeren Datums stammen aus Kasachstan, Ungarn, Österreich, Holland, England, Skandinavien und Deutschland (vgl. Hampe 1994, S. 15f.). Zu jener Zeit dienten Schlittschuhe als Fortbewegungsmittel. Der „Eislauf“, ursprünglich besonders in wasserreichen Pfahlbau-Gebieten ausgeübt, ist ein Kulturprodukt, das dem Zurücklegen von langen Strecken und dem Jagen diente.
Im Laufe der Neuzeit verbreitete sich der Eislauf stark und wurde zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Wesentliche Voraussetzung für diese Entwicklung war die damalige Entdeckung von Bewegung als körperlichem Vergnügen und als Mittel zur Erhaltung der Gesundheit des Körpers, sowie die Herausbildung des Konkurrenzgedankens bei ersten Schnelllaufwettbewerben.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelte sich das Eislaufen in vielen Ländern Europas zur „Gentle Art“. Die Ausübung war elitär. Vor allem Adelige, aber auch die „gutbetuchte“ Intelligenz (vgl. Hampe 1994, S. 25) grenzten sich auf diese Weise von den unteren Schichten ab. Zum Beispiel sah der englische Adel sah im Eislauf eine seinem Habitus entsprechende Bewegungsform: “The influence of elegance and good manners can not be overestimated when following the early development of skating” (Brown 1977, S. 13).
Die Eisläufer trugen gepuderte Perücken und ver- suchten sich in seidenen Brokatgewändern in der „Kunst“ des Figurenlaufens (Abbildung 4). Kunst war die Beherrschung des Schlittschuhs und die „würdevolle“ Ausführung der Figuren manifestierte die heute bekannte Trennung von Technik und Präsentation. Auch in Frankreich, Italien und dem späteren Österreich-Ungarn diente der Eislauf dem höfischen Vergnügen oder war aristokratisch geprägt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Der englische Kava- lierstil um 1750
In Deutschland hingegen wurde der Eislauf bis Ende des 18.Jahrhunderts nur als Vergnügen der Jugend und unteren Schichten toleriert. Nur vereinzelt war er Bestandteil der höfischen Kultur. Den Einzug in das breite Bürgertum ermöglichte die Dichtung, beginnend mit Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803). Die Begeisterung der deutschen Dichter für den Eiskunstlauf wurde zusätzlich gefördert durch die zeitgenössischen pädagogischen Bestrebungen. Unter dem Einfluss von Rousseaus „Emile“ mit der Forderung nach einem Gleichmaß zwischen geistiger und körperlicher Bildung wurde der Eislauf als Mittel der harmonischen Erziehung von Körper und Geist gepriesen (vgl. Reuel 1928, S. 26).
Dies galt in weiten Teilen Europas zunächst nur für Männer. Für Frauen stand das Eislaufen erst in Folge von Goethes Engagement und der Forderung der deutschen Aufklärungspädagogik in der Mitte des 19.Jahrhunderts offen.
Die Entwicklung zum Eiskunstlauf vollzog der Amerikaner Jackson Haines Mitte des 19. Jahrhunderts. Er entwickelte 1863 einen Stahlschlittschuh, der zwar am vorderen Ende noch eine Hochwölbung besaß, aber durch Schrauben an einem Stiefel fixiert war. Dieser erste Eislaufstiefel war leichter und bot einen zuverlässigeren und festeren Halt. Die Kufe war an der Spitze und dem Ende stark gekrümmt, in der Mitte hingegen abgeflacht. Dieser Schlittschuh ermöglichte erstmals, weite schwungvolle Bögen mit kurzen schnellen Drehungen zu verbinden und damit verschiedene Laufformen miteinander zu kombinieren. Nach einem Schaulaufen in Wien 1868 schreibt Franz Biberhofer über Haines in der Chronik des Wiener Eislauf Vereins:
„Der Abstoß verschwand beim Bogenlaufen fast vollständig, seine Wendungen waren so blitzschnell, dass man scharf hinsehen musste, um den Moment nicht zu verpassen. Dabei waren seine Bewegungen der Musik so angepasst, dass eine Balletteuse auf der Bühne ihn hierin nicht übertreffen konnte“ (Polednik 1979, S. 11).
Die „Versportung“ des Eiskunstlaufs begann mit den ersten großen Wettbewerben. 1872 fand in Wien der „Erste Internationale Eissporttag“ als Kunstlaufkonkurrenz statt (vgl. Brown 1977, S. 13). Die Konkurrenz (Wettbewerb) bestand aus drei Teilen: Pflicht (Schulfiguren), Spezialfigurenlauf und Produktionslaufen (frei gestaltbare Kür). Hier erfolgte in der Benotung erstmals die Trennung von künstlerischem Ausdruck und technischer Ausführung.
Mit der Zunahme internationaler Wettbewerbe wurden einheitliche Regeln immer dringlicher. 1892 wurde dazu die Internationale Eislauf-Union (ISU) gegründet. Die ersten Weltmeisterschaften wurden 1896 (Herren), 1906 (Damen) und 1908 (Paare) ausgetragen. Der Eiskunstlauf gehört auch zu den ältesten olympischen Wintersportdisziplinen. Einzel- und Paarlauf sind seit 1908 Disziplinen des Programms und waren - weil es die Winterspiele offiziell erst seit 1924 gibt - Bestandteil der Sommerspiele. Eistanz als Sportart entstand in Österreich und England. 1929 wurde er in die Wettlaufordnung der ISU aufgenommen. Als moderne Hallensportart ist der Eiskunstlauf insbesondere in den Industrienationen und den traditionellen Wintersportländern der Nordhalbkugel verbreitet (vgl. www.sportbox.de/ kompendium vom 20.02.2004).
1.1 Wettbewerbe
Weltmeisterschaften (auch Jugendweltmeisterschaften) und Europameisterschaften finden jährlich statt. Seit 1994 werden Olympische Spiele um zwei Jahre gegenüber den Sommerspielen versetzt durchgeführt. Zum Programm gehören dort Wettbewerbe im Einzellauf (Damen, Herren) sowie Paarlauf und Eistanz. Teildisziplinen sind das Technikprogramm und die Kür im Einzel- und Paarlauf. Ein Wettbewerb im Eistanz besteht aus Pflichttänzen, Originaltänzen sowie dem Kürtanz. Die Leistung im Eistanzen basiert auf schritttechnischen Grundlagen, die exakt, temporeich und in Anpassung an die Musik tänzerisch wieakrobatisch dargeboten werden. Neben der Fähigkeit, den Körper als Instrument des Tanzes facettenreich einzusetzen, bedarf es einer kreativen Gestaltung, Präsenz durch Persönlichkeit und einer individuellen Charakterdarstellung. Um die Teilnehmerfelder auf 24 bis 26 Starter zu begrenzen, müssen die Einzelläufer Vorwettkämpfe bestreiten, in denen eine Kür zu zeigen ist.
Eingangsvoraussetzungen für die Qualifikation zu nationalen Wettbewerben werden in Deutschland im Klassenlaufen (Prüfungen mit bestimmten Elementen) überprüft. Qualifikationen der einzelnen Verbände für internationale Meisterschaften ergeben sich je Disziplin aus den Platzierungen der Läufer. Die drei Erstplatzierten der jeweiligen internationalen Meisterschaft nominieren sich namentlich gebunden für das Folgejahr. Kann ein Verband eine Platzierung unter den ersten zehn erreichen, so ergeben sich daraus zwei Startplätze. In jedem Fall darf jeder von der ISU zugelassene Verband einen Starter nominieren. Dieser muss sich aber über die Vorwettkämpfe vor Ort qualifizieren.
1.2 Regeln
Internationale und nationale Meisterschaften werden nach den gültigen „REGULATIONS“ der ISU durchgeführt (vgl. Special regulations figure skating 1990 und Special regulations ice dancing 1990). 2003 wurden auf Grund der häufigen Probleme und Beschwerden bezüglich unfairer und subjektiver Bewertungen die Regeln so geändert, dass sie eine objektivere Leistungsbeurteilung zulassen.4 Wie bereits aufgezeigt hat diese Standardisierung im Bewertungssystem den Druck auf die Eiskunstläufer erhöht. Zusätzlich zu den Anforderungen auf der Beziehungsebene wie der Imagepflege und auf das äußere Erscheinungsbild ist nun auch das sportliche Leistungsniveau angestiegen.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich zunächst auf die Verhältnisse der Untersuchungsgruppe, deren Teilnehmer zwischen 1980 und 1990 aktiv waren. Es werden daher die vor 2003 geltenden „REGULATIONS“ vorgestellt. Die seinerzeitigen Bewertungen hatten die Notengebungen (vgl. www.sportbox.de 20.02.2004):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Jedes teilnehmende Land (auf Bundesebene) bzw. jeder zugelassene Verband (international) stellt je Disziplin einen Preisrichter. Zum Einsatz kommen jedoch nur neun Preisrichter, die ausgelost werden. Bei geringerer Preisrichterzahl (nationale Vergleiche) ist immer eine ungerade Anzahl zu wählen, um eindeutige Ergebnisse zu erhalten. Aus den vergebenen Punktwerten ergibt sich jeweils die entsprechend zugeordnete Platzkennziffer. Für die Rangfolge in den Teildisziplinen ist die mehrheitlich vergebene Platzziffer ausschlaggebend. Durch Multiplikation der Platzkennziffer mit den folgenden Gewichtungsfaktoren wird das Wettkampfresultat ermittelt.
Für den Einzel- und Paarlauf sind dies 0,5 für das Technikprogramm und 1,0 für die Kür. Für das Technikprogramm der Einzel- und Paarläufer sind Elemente vorgegeben, die in gewisser Weise variabel sind. Zum Beispiel wird bei den Herren ein Dreifachsprung aus einer Verbindung gefordert. Variabel ist dabei der gewählte Sprung und auch die Verbindung. Für den Eistanz gelten die folgenden Faktoren: 0,4 für die Pflichttänze, 0,6 für den Originaltanz und 1,0 für die Kür.
Jeder Preisrichter vergibt zwei Wertungen, die Techniknote (A-Note - technical merit), mit der die technische Ausführung der Elemente, Mannigfaltigkeit des Repertoires bewertet werden, und die Note für den Künstlerischen Ausdruck (B-Note - artistic impression), welche die Harmonie des Vortrages und seine Übereinstimmung mit der Musik, räumliche Verteilung des Programms auf der Eisbahn, Bewegungsfluss, Originalität, und Ausgestaltung des Charakters der Musik (thematische Darstellung - Interpretation der Musik) repräsentiert.
Bei den Paarläufern wird zusätzlich das Gleichmaß der Bewegung beider Partner bewertet, häufiges Trennen voneinander gilt als negativ. Typische Elemente des Paarlaufs sind Überkopfhebungen, Wurfsprünge und Sprünge sowie gemeinsame Pirouetten.
1.3 Technik
Die Bestandteile der Wettkampfprogramme sind folgendermaßen gruppiert:
Einzel:
- Sprünge mit Mehrfachdrehungen um die Körperlängsachse (Saltodrehungen sind im Wettbewerb nicht gestattet)
- Sprungverbindungen als direkte Sprungkombination, als Sprungsequenz (Schritte oder kleine Sprünge zwischen den Sprüngen)
- Pirouetten
- Schritte und Schrittfolgen
Paarlauf:
- Wurfsprünge
- Twist-Lift (Wurf-Lutz)5
- Überkopfhebungen (Lasso, Hebestütz)6
- Todesspiralen7
- Paarlaufpirouettenkombinationen
Eistanz:
Eistanzspezifische Schritte
- Tanzhebungen
- Akrobatische Hebungen
- Tanzpirouetten
- Tanzhaltungen
- Kreative Tanzelemente mit verschiedensten Körpertechniken
Tanzhaltungen
- Kilianhaltung8
- Foxtrotthaltung
- Walzerhaltung
- Tangohaltung
- Haltungsvariationen
Hebungen
- Mit und ohne Drehung
- Mit und ohne Positionswechsel
- Spezielle Hebungen entsprechend den ISU-Vorgaben
Schritte
- Dreier-, Gegendreierschritte, Wenden-, Gegenwendenschritte
- Mohawk-9, Choctawschritte10, Schlingen-11, Twizzelschritte12
- Eistanzspezifische Schritte
Tanzpirouetten
entsprechend des aktuellen Reglements
Schrittfolgen
- Spiralenschrittfolgen
- Längsschrittfolgen
- Kreisschrittfolgen
- Serpentinenschrittfolgen in verschiedenen Tanzhaltungen oder nebeneinander
Das bisher Vorgestellte erweckt zunächst den Eindruck, dass die Leistung im Eiskunstlauf nach klar definierten Regeln objektiv bewertet werden kann. Das anschließende Kapitel wird sich demgegenüber eingehend mit der Problematik der Leistungsbeurteilung beim Eiskunstlauf und Eistanz auseinandersetzen.
1.4 Ein kritischer Blick auf die Leistungsbeurteilung bei Wettkämpfen
„Jeder Leistungssport, aber der Eiskunstlauf speziell, lehrt einen von Kindheit an mit dem Erfolg aber auch vor allem mit Niederlagen (oft ungerechtfertigt) umzugehen!“ (weibliche Eiskunstläuferin, 29 Jahre, Trainerin).13
Die Leistung im Eiskunstlauf wird - formal gesehen - mit durch die in 1.2 und 1.3 vorgestellten Regeln und die Technik definiert. Anhand welcher Beurteilungskriterien gelingt dies bei einer ästhetischen und damit zum Teil nur subjektiv zu bewertenden Sportart wie dem Eiskunstlauf?
Grundsätzlich kann man eine solche Leistung aus einer Zusammensetzung aus „Aktion“ und „Präsentation“ sehen (vgl. Gebauer 1972). Beim Eiskunstlauf erfolgt diese Trennung in der Kür durch eine Bewertungsnote für die technische Leistung (A-Note) und eine für die Ausdrucksstärke (B-Note). Bis Mitte der 1990er Jahre existierte im Eiskunstlauf noch das Pflichtlaufen. Hier wurde die rein technische Leistung bewertet und zwar daran, wie deckungsgleich die Spuren von bestimmten Figuren auf dem Eis im dreimaligen Durchlaufen waren.
Bei der Kür, die heute neben den Basiselementen den Eiskunstlauf bestimmt, sind die Grenzen zwischen technischer- und Ausdrucksbewertung fließend. Hier ist zunächst der Frage nachzugehen: Wo hört die Aktion auf und wo fängt die Präsentation an? Vor allem im Hinblick auf das alleinige Ziel im Wettkampf - das Siegen - gewinnt diese Frage an Dringlichkeit. Wer gewinnt? Derjenige, der erfolgreich seine Aktionsleistung erbringt oder der sich besser präsentieren kann?
Um diese Fragen der Verwicklung der beiden Leistungskomponenten zu klären, muss darauf eingegangen werden, was genau die „Aktionsleistung“ und die „Präsentationsleistung“ im Eiskunstlauf sind. Da die untersuchten Eiskunstläufer noch in die Generation mit Pflichtlaufen fallen, ist es notwendig, diesen Punkt in die Betrachtung mit einzubeziehen.
Je nach Wettkampfniveau mussten bei Meisterschaften in der Pflicht bestimmte Figuren gelaufen werden. Ausschlaggebend war, dass sich die Spuren auf dem Eis bei dreimaligem Durchlaufen deckten und die Figur insgesamt symmetrisch angelegt war. Für Deckungsabweichungen oder „schiefe Achter“ gab es Abzüge. Obwohl sich dies nach einer objektiv messbaren Leistung anhört, ist doch allein das Augenmaß für die Bewertung ausschlaggebend. Ein gewisses Maß an subjektivem Ermessen war den Schiedsrichtern damit gegeben. Da die Pflicht jedoch keinerlei Ausdrucksstärke des Eiskunstläufers bewertet, kann sie eindeutig der Aktionsleistung zugerechnet werden.
Bei der Kür gestaltet sich die Abgrenzung schwieriger. In der Kurzkür, d.h. dem Technikprogramm, sind bestimmte Elemente je nach Wettkampfklasse vorgegeben. Der Eiskunstläufer muss somit bestimmte technische Leistungen vollbringen; die Zahl der Höchstschwierigkeiten ist festgelegt, und es gibt genaue Wertungsbestimmungen, die die Höhe der Punktabzüge für technische Mängel in der Ausführung verbindlich machen. Stürzt jedoch ein Eiskunstläufer bei einem Element, erhält er sowohl Abzüge in der A- als auch in der BNote.
Bewertungsabzüge durch die Preisrichter erfolgen anhand einer Abzugsskala, die jährlich von der ISU (International Skating Union) neu an die nationalen Verbände (in Deutschland: Deutsche Eislauf-Union e.V., DEU) herausgegeben werden. Darin sind die Abzüge hinsichtlich der Beschreibung des Fehlers, der Spannbreite der abzuziehenden Zehntel für alle Elemente (in der Kurzkür/Technikprogramm: acht vorgeschriebene Elemente) definiert. Alle Preisrichter werden in dem vor jedem Wettbewerbsteil stattfindenden Preisrichterbesprechungen auf die vorgeschriebenen Elemente und die entsprechenden Abzüge bei Fehlern von zuständigen Schiedsrichtern des Wettbewerbs hingewiesen.
Nach einem Wettbewerb besprechen sich die Preisrichter. Jede einzelne Wertung muss mündlich oder auch anschließend schriftlich („Explanation-sheet“) begründet werden. Geben Verhalten oder Wertungen eines Preisrichters Anlass zu Kritik, kann nach mündlicher oder schriftlicher Anhörung des Preisrichters dieser vom Vorstand der ISU/DEU schriftlich mit Begründung kritisiert werden. Auch Sanktionen durch die ISU/DEU sind in Form von Ermahnungen, Verwarnungen, Sperre oder Streichung aus der Preisrichterliste bei offenkundigem Fehlverhalten oder fehlerhaften Werten zugelassen.
Dennoch wird Eiskunstlauf immer wieder als subjektiv bewertete und damit oft unfaire Sportart kritisiert. Studien zur interpersonellen Übereinstimmung von Eiskunstlauf-Schiedsrichtern, die als Ausmaß der Subjektivität bzw. Objektivität der Leistung angesehen werden kann, zeigen, dass die interpersonelle Übereinstimmung mit zunehmender Komplexität abnimmt (vgl. Kimminus/Berwanger/Ulmer 2002, S. 439ff.). Die B-Note hatte deutlich niedrigere Übereinstimmungswerte als die A-Note.
Die B-Note für den künstlerischen Ausdruck ist damit häufig ein Sammelbecken für viele nicht genau definierbare Kriterien. Eine starke Betonung liegt auf dem Erscheinungsbild des Eiskunstläufers, dessen Eleganz, Temperament, Ausstrahlungskraft und Selbstsicherheit.
Mit diesem ersten Kapitel sind die bestimmenden Faktoren des Sports „Eiskunstlauf“ aufgezeigt. Es stellt sich nun die Frage, wie diese Bedingungen auf die Sportler selber wirken, das heißt: Wie gestaltet sich das Wechselspiel zwischen dem Eiskunstläufer und seiner speziellen Umwelt? Zu fragen ist hier nicht nur nach „objektiven“ Merkmalen der Umwelt, sondern auch nach den „subjektiven“ Vorgänge bzw. Erleben dieser Umwelt. Eine alles umfassende Theorie oder einen theoretischen Rahmen hierzu gibt es nicht. Wohl aber gibt es Überlegungen dazu, wie diese Aspekte zueinander in Beziehung stehen, wie die dabei vollziehenden Prozesse ablaufen und sich gegenseitig bedingen.
Diese Fragestellungen werden in dem anschließenden Kapitel erörtert. Ausgehend von dem sozialökologischen Ansatz (Urie Bronfenbrenner) wird die konstruktivistische Sozialisationsforschung vorgestellt. Diese bietet Erklärungen zu der speziellen Lebenslage von Eiskunstläufern, ihren personalen Ressourcen, den Beziehungen und den Teilhabemöglichkeiten an gesellschaftlichen Prozessen. Die folgenden Kapitel verstärken die Sicht auf das Individuum und kombinieren die soziale Lerntheorie mit Erwartungs-Wert-Theorien zu dem handlungstheoretischen Partialmodell der Persönlichkeit. Damit kann vor allem der Frage nachgegangen werden, welche Fähigkeiten (personale Ressourcen) Eiskunstläufer erlernen und welchen systemspezifischen Defiziten sie begegnen. Der Fokus bei diesen Überlegungen liegt auf der Schulzeit, da Eiskunstlauf meist nur in der Kindheit bzw. bis zum Jugendalter ausgeübt wird. Trifft der Standpunkt von Mitgliedern des Beirates zur konzeptionellen Weiterentwicklung der Schulen mit sportlichem Schwerpunkt zu, dass
„...auch noch die letzten Zweifler am Berliner Modell von der Richtigkeit überzeugt werden, dass Leistungssport erheblich zur Persönlichkeitsbildung junger Menschen beiträgt und es erstrebenswert ist, Ziele zu setzen, die durch Leistung zu erreichen sind, im Sport und in der Schule!“ (Köhler, Lawrence 1996, S. 27)?
III. Sozialwissenschaftliche Perspektiven
1. Sozialökologischer Ansatz
Die ökologische Sozialisationsforschung, deren bekanntester Vertreter Urie Bronfenbrenner ist, geht im Besonderen auf die komplexe Interaktion zwischen Person und Umwelt ein. Fundiert ist sie auf verschiedenen Ansätzen wie der Entwicklungspsychologie, mit Lewins Feldtheorie, der Psychoanalyse, Lerntheorien und der phänomenologischen Perspektive. Bronfenbrenner definiert damit die „Ökologie der menschlichen Entwicklung“
„als die fortschreitende gegenseitige Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche. Dieser Prozess wird fortlaufend von den Beziehungen dieser Lebensbereiche untereinander und von den größeren Kontexten beeinflusst, in die sie eingebettet sind“ (Bronfenbrenner 1981, S. 37).
Von besonderer Bedeutung sind bei dieser Definition folgende Punkte:
1. Die in Entwicklung begriffene Person wird nicht als Tabula rasa betrachtet, auf der die Umwelt ihre Eindrücke hinterlässt, sondern als wachsende dynamische Einheit, die das Milieu, in dem sie lebt, fortschreitend in Besitz nimmt und umformt. Da aber auch die Umwelt Einflüsse ausübt, entsteht ein Prozess gegenseitiger Anpassung.
2. Es muss beachtet werden, dass die Interaktion zwischen Person und Umwelt in beide Richtungen wirkt und dass sie durch Reziprozität charakterisiert ist.
3. Die für Entwicklungsprozesse relevante Umwelt entspricht nicht nur dem einzigen, un mittelbaren Lebensbereich um die Person: Sie umfasst mehrere Lebensbereiche und die Verbindungen zwischen ihnen, auch äußere Einflüsse aus dem weiteren Umfeld.
Man muss sich die Umwelt aus ökologischer Perspektive topologisch als eine ineinander geschachtelte Anordnung konzentrischer, jeweils von der nächsten umschlossenen Struktur vorstellen. Von innen nach außen betrachtet, sind dies das Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem. Menschliche Entwicklung wird in dieser Hinsicht als Ergebnis der Interaktion zwischen dem wachsenden menschlichen Organismus und seiner Umwelt angesehen. Verhalten (V) entwickelt sich als Funktion des Zusammenspiels von Person (P) und Umwelt (U), wie es in Kurt Lewins klassischer Gleichung V = f (P,U) formalisiert ist (Lewin 1935, S. 73). In der Praxis ist die Aufmerksamkeit meist asymmetrisch verteilt und zwar auf die Eigenschaften der Person und nur rudimentär auf Vorstellungen und Charakterisierungen der Umwelt.
Der ökologische Ansatz will eine in der sozialwissenschaftlichen Literatur häufig eingenommene, in der Forschungspraxis jedoch nur selten vertretene Position ernst nehmen und in Operationen umsetzen: die von Soziologen und Psychologen vertretene These nämlich, dass die Umwelt für Verhalten und Entwicklung bedeutsam ist, so wie sie wahrgenommen wird, und nicht, wie sie in der „objektiven“ Realität sein könnte. „Wir definieren Entwicklung als die Entfaltung der Vorstellung der Person von ihrer Umwelt und ihr Verhältnis zu dieser, als ihre wachsende Fähigkeit, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu entdecken, zu erhalten oder zu ändern“ (Bronfenbrenner 1981, S. 25).
Das Kind wird fähig, sich seine eigene Welt zu schaffen und vorzustellen; sie spiegelt sein psychisches Wachstum wider. Die Konstruktion der Realität kann nicht nur über Aktivitätsmuster erschlossen werden, wie sie in verbalem und nonverbalem Verhalten Ausdruck finden, sondern vor allem in den Tätigkeiten, Rollen und Beziehungen, die die entwickelnde Person aufnimmt. Diese drei Faktoren bilden nach Bronfenbrenner die Elemente (Bausteine) eines Mikrosystems: Es definiert sich als „ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“ (Bronfenbrenner 1981, S. 38). Ein Lebensbereich ist mithin ein Ort, an dem Menschen leicht direkte Interaktion mit anderen aufnehmen können. Der entscheidende Terminus in der Definition des Mikrosystems ist das Wort „erlebt“. Nicht nur die objektiven Eigenschaften der Umwelt sind wissenschaftlich relevant, sondern auch die Art und Weise, wie diese Eigenschaften von den Personen in diesen Umwelten wahrgenommen werden. Dies betont die phänomenologische Betrachtungsweise.
Die übergeordnete Ebene des Mikrosystems ist das Mesosystem. Es umfasst die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen sich die entwickelnde Person aktiv beteiligt, und ist somit ein System von Mikrosystemen. Es bildet und erweitert sich, wenn die sich entwickelnde Person in einen neuen Lebensbereich eintritt. Zum Mesosystem des Kindes gehören die Peers in der Nachbarschaft, der Kindergarten bzw. die Schule Außer dieser Primärverbindung kann es noch viele andere Verbindungen geben.
Das Exosystem folgt auf höherer Ebene dem Mesosystem. Die sich entwickelnde Person ist hieran nicht mehr selber beteiligt, jedoch in den Auswirkungen davon betroffen. In Bezug auf die Kinder ist dies etwa die Erwerbssituation der Eltern, deren Arbeitsplatzsituation oder deren Lebensform, Faktoren, die die Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten der Eltern prägen. Wie hinlänglich bekannt ist, wirken sich diese Bedingungen auf die Meinungen, Überzeugungen und das Selbstverständnis der Eltern aus. Damit aber haben sie auch Einfluss auf deren Erziehungsverhalten und bestimmen so auch die Lebensumstände der Kinder. Das Makrosystem bezieht sich auf die gesellschaftliche Ebene und umfasst Systeme (Mikro-, Meso-, Exosystem) mit ähnlicher Ordnung. Es wird von den sozialen Strukturen, sowie kulturellen Normen, Weltanschauungen und Ideologien einer Gesellschaft gebildet.
In diesem Modell der Ökologie menschlicher Entwicklung üben die im Mikrosystem Familie stattfindenden sozialen Interaktionen unmittelbaren Einfluss auf das Kind aus. Auf den weiteren Systemebenen wird der Einfluss mittelbar und damit möglicherweise auch weniger zwingend. Unbestritten ist, dass auf allen Ebenen Bedingungsfaktoren festzustellen sind, die den Prozess der Entwicklung beeinflussen.
2. Der Ansatz der konstruktivistischen Sozialisationsforschung
Beschreibt der sozialökologischer Ansatz insbesondere die Strukturen und Beziehungen innerhalb derer Transformationen bestehen und ablaufen, so lässt er vielfach offen, wie sich die darin notwendigerweise ablaufenden Prozesse tatsächlich gestalten. Mit dem Verweis auf die Reziprozität jeglicher Person-Umwelt-Beziehung wird verwiesen auf Aktivitäten, die diese Relation determinieren. Was fehlt ist eine Operationalisierung, die die unterstellte Entwicklung empirisch erfassbar macht. Mit der konstruktivistischen Sozialisationsforschung kann dieses Defizit ausgeglichen werden. Es liegt damit nahe, sich dem Verhältnis von Individuum und Umwelt, von Subjekt und Gesellschaft aus der Perspektive der konstruktivistischen Sozialisationsforschung zu nähern. Innerhalb dieses theoretischen Rahmens lassen sich die interessierenden Fragestellungen bezüglich der Lebenslage, den personalen Ressourcen, den Beziehungen und der gesellschaftlichen Teilhabe zusammenfügen.
Das Verhältnis von Individuum und Umwelt wird im Kontext der konstruktivistischen Sozialisationsforschung als Interaktion sozialer Strukturen mit individuellen Handlungsdispositionen (vgl. Edelstein 1999), als wechselseitige Verschränkungen von vorgegebenen Handlungsstrukturen und individuell erworbenen bzw. zu erwerbenden (Handlungs-) Kompetenzen durch das Individuum gefasst (vgl. Grundmann 1994). Sozialisation wird als Konstruktionsprozess betrachtet, der „gleichermaßen soziale Integration und damit die Stabilisierung sozialer Organisationen wie auch die Verselbständigung des Individuums gegenüber den sozial vorgegebenen Handlungsstrukturen“ ermöglicht (vgl. Grundmann 1999), S.28). Diese Theorierichtung versteht sich als eine Art integrative Perspektive für Fragestellungen der Familien- und Bildungsforschung sowie für Studien der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie (ebd.). Nach Edelstein (1999) bestimmen vier Vektoren das Kräftefeld in dem Kinder aufwachsen. Erstens sind dies die universellen Strukturen der Kompetenzentwicklung, zweitens die (Erfahrungs-)Biographie des Individuums. Drittens spielt die Strukturdynamik tens spielt die Strukturdynamik der, u.a. intergenerationalen Interaktion hinein wie beispielsweise über den Aufbau von Netzwerken und Beziehungen erfasst wird und schließlich viertens sind die sozialen Strukturen (im Sinne u.a. der Lebenslagen oder auch der bestehenden sozialen Ordnung) beteiligt.
Edelstein hierzu: „Im Individuum, insbesondere im Persönlichkeitssystem, entwickelt sich ein Gefüge affektiver Dispositionen, das (…) als interner Ausdruck selektiv (verstärkend) wirkender struktureller, kultureller und kommunikativer (situativer) Bedingungen mit den externen Opportunitätsstrukturen und Erfahrungskontexten in Wechselwirkung treten, um die Muster spezifischer und dennoch typischer Entwicklungsverläufe zu erzeugen“ (S.46). Genau in diesem Spannungsfeld gilt es die Wechselwirkungen von Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung (personale Ressourcen), Interaktionsprozessen in sozialen Netzwerken (Beziehungen) einerseits und ungleichen Strukturen (Lebenslagen) andererseits zu analysieren und zu interpretieren. Wie die (Kompetenz) Entwicklung der Kinder zur ReProduktion und Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung (vgl. James, Jenks & Prout 1998, S. 198) beiträgt (Teilhabe) und wie lebenslagenspezifische und entwicklungsbedingte Faktoren die soziale Position von Kindern mit bedingen und an der Herstellung der eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten von Kindern, an ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung mit beteiligt sind, werden zu zentralen Fragen.
Auch im Sinne der universellen Strukturen der Kompetenzentwicklung lassen sich die ungleichen Teilhabemöglichkeiten von Kindern betrachten, insofern in einer „psychologischen Lesart“ des Agency-Konzepts alterstypische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen sind, die phasen- bzw. stufenweise nach und nach Teilhabemöglichkeiten für Kinder eröffnen. Die konstruktivistische Sozialisationsforschung greift bei der Modellierung der Umwelten und ungleichheitsgenerierenden Strukturen auf das Arsenal der sozialökologischen Ansätze zurück (vgl. Bronfenbrenner & Morris 2000; Grundmann & Lüscher 2000). Integrieren lassen sich Fragestellungen aus entwicklungspsychologischer Perspektive, die Entwicklung im (sozialökologischen) Kontext analysieren (vgl. Gloger-Tippelt 2002, S.479ff).
2.1 Das Konzept des Kindes als Akteur
Mit der konstruktivistischen Variante der Sozialisationstheorie lässt sich die Verknüpfung zum kindheitstheoretischen Akteurskonzepts herstellen. Im Unterschied zu Varianten einer endogen-psychologischen Entwicklungslogik, die auf die (sich noch zu entwickelnden) Eigenschaften und Fähigkeiten von Kindern fokussiert und dabei die Kompetenzentwicklung von „natürlichen“ Kindern in den Blick nimmt und „agency“ als individuelles (Handlungs)Vermögen der Kinder fasst (vgl. Honig 2003; Emirbayer & Mische 1998), begreift das Agency-Konzept im Kontext einer sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung Kinder als kompetente und zugleich dezidiert soziale Akteure.
2.1.1 Agency und Sozialisation
In einem ersten Schritt wird zunächst der Begriff „Sozialisation“ näher erläutert, da er sich unter sehr verschiedenen wissenschaftlichen Sichtweisen entwickelt hat. Im Sinne einer erfahrungswissenschaftlich-kausalen Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen in der Entwicklung des Menschen zu einem sozial handlungsfähigen Subjekt ist sie erst in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts entstanden.
Sozialisation umfasst danach bestimmte Lern- und Entwicklungsprozesse. So muss jede Sozialisationstheorie die folgenden drei Fragen beantworten:
1. Wie wird gelernt?
2. Was wird gelernt?
3. Unter welchen institutionellen Bedingungen wird gelernt (vgl. Windolf 1981, S. 1).
Die erste Frage ist sozialwissenschaftlich am häufigsten untersucht worden. Kernpunkt ist die Verinnerlichung von Verhaltensschemata im Kindesalter. Die zweite behandelt den Inhalt des Erlernten und wird vor allem in der Soziologie erforscht. Von zentraler Bedeutung ist hier die Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen und Herrschaftsverhältnisse. Die dritte Frage behandelt den institutionellen Kontext, in dem Lernen stattfindet. D.h. Sozialisation setzt eine soziale Struktur und Institutionen (wie Schule, Sportverein etc.) voraus, in der Lernprozesse organisiert sind.
Aus dieser Sicht mussten frühere Annahmen über die vermittelnden bzw. unmittelbar auf das Kind einwirkenden familialen Sozialisationsbedingungen revidiert werden. Die ältere Forschung hatte häufig unterstellt, dass die Wertvorstellungen der Eltern, insbesondere des Vaters, sozialisationsrelevant seien (vgl. Hurrelmann; Ulich 1991, S. 41). Sie unterstellte damit eine unidirektionale Kausalbeziehung im sozialisatorischen Einfluss der Eltern auf das Kind.
Nach derzeitigen Vorstellungen findet Sozialisation im Austausch der Individuen mit ihrer alltäglichen, räumlich gedachten Umwelt statt, die jeweils durch materielle und kulturelle Gegenstände und durch andere Personen strukturiert ist. All diese Gegebenheiten werden in ihrem Zusammenwirken als sozialisationsrelevant angesehen.
Wie sieht nun die gegenseitige Anpassungsleistung zwischen Person und Umwelt aus? Gerade die Jugendphase ist ausschlaggebend „was gemeinhin auch als sozial-kulturelle Handlungsfähigkeit charakterisiert wird“ (Brinkhoff 1998, S. 11). Dabei spielen Persönlichkeitseigenschaften, speziell Kontroll- und Kompetenzüberzeugungen, eine ausschlaggebende Rolle. Sie sind ein maßgeblicher Faktor in Leistungssituationen und stehen daher in engem Zusammenhang mit dem sportlichen und schulischen Werdegang.
In diesem Zusammenhang konzeptualisiert das Agency-Konzept Kinder als eigenständige Akteure „ihrer“ Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse. Sie sind Informanten und Wissende (vgl. Alanen 2002; Zinnecker 1996). Die Betonung liegt auf ihrer aktiven Rolle im Individuations- und Vergesellschaftungsprozess. Die in der Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung schon seit einiger Zeit mitbedachte Einsicht in die Eigenanteile des Kindes in der Entwicklung von allgemeinen Lebensführungs- bzw. Handlungskompetenzen gehören zentral zu diesen Überlegungen (vgl. Lerner; Theokas; Jelicic 2005)
Dies zeigt sich u.a. im multiperspektivischen Blick auf die Familie. Vater, Mutter und Kind sind an der Konstruktion des „Kindseins“ beteiligt (vgl. Nauck 1995). So lässt sich untersuchen, ob bestimmte Tätigkeitsmuster - wie in dieser Arbeit dem Eiskunstlauf als Leistungssport - Prädiktoren für positive Entwicklungsmerkmale in der späten Kindheit sind. Zeitperspektivisch betrachtet, impliziert das Agency-Konzept gegenwärtige Lebensbedingungen, -formen und -äußerungen der Kinder zu berücksichtigen (vgl. Honig et al. 1996). Kinder werden als kompetente soziale Akteure im Hier und Jetzt gesehen (vgl. James, Jenks & Prout 1998). Die Konstituierung des Alltags als aktive Herstellungsleistung aus unterschiedlichen Perspektiven (vgl. Alt & Lange 2004; Brake 2004) ist ein zentrales Thema.
Die Möglichkeit, beide Zeitperspektiven, sowohl Gegenwart als auch Zukunft, miteinander zu verknüpfen, lässt die Fragestellung zu, wie sich Muster alltäglicher Lebensführung verfestigen, wie sich Lebensstile herausbilden, wie diese sich in Kompetenzen bzw. deren Defizite niederschlagen. All dies kann in Beziehung zu erweiterten oder aber eingeschränkten Teilhabechancen in gesellschaftlichen Handlungsfeldern gesetzt werden. Wie erleben Kinder sich selbst als aktiv Handelnde, als Gestalter ihrer Umwelt? Wie wirkt sich dies auf Entscheidungen, z.B. beim Schulübertritt, aber auch im späteren Leben aus?
2.1.2 Reichweite und Grenzen des Akteurskonzepts
Die beschriebene Orientierung am Subjekt, die Betonung der aktiven Beteiligung des Kindes im Sozialisations-, Entwicklungs- und Bildungsprozess (vgl. Leu & Krappmann 1999), hat nichts mit dem Bild eines individualisierten autonom agierenden Subjekts zu tun. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Einbindung der Kinder im sozialen Kontext, in spezifische Handlungsräume, die sich auch auf räumlich-geographische Unterschiede beziehen, welche die Grenzen der Agency und Eigenaktivität der Kinder, d.h. ihre „Reichweite“ (vgl. Leu & Krappmann 1999) abstecken.
Prout (2000) beispielsweise äußert sich kritisch über die Essentialisierung des AgencyKonzepts. Kinder und Familien sind in gesellschaftliche Transformationsprozesse einbezogen, so dass Zweifel an der "negotiating power", an der Aushandlungsmacht von Kindern angebracht sind. Obwohl letztere zweifelsohne im Familienalltag zugenommen hat, darf, so Prout, die Frage nach der Marginalität der Situationen, in denen Kinder Macht haben, nicht vergessen werden. Fragen zur Partizipation von Kindern (vgl. Alt; Teubner, Winkelhofer 2005) sind immer in Bezug zu setzen zu den Situationen und Kontexten in denen Kinder partizipieren dürfen, können, sollen.
Festzuhalten ist, dass Agency für eine kontextuelle Subjektivität, für ein Bezugnehmen auf Handlungsbedingungen (vgl. Honig 2003) steht. Agency deutet die Perspektivität von Wissen an und damit auch einen Bezug der Kinder zu ihrer Herkunft. Nach wie vor ist der primäre Kontext die Familie. Die Fragen nach der Eigenständigkeit der Kinder lassen sich dann als Fragen nach den bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnissen zwischen den Generationen stellen (vgl. Hengst & Zeiher 2005). Damit rücken Kompetenz- und Kontrollüberzeugungen in den Fokus einer weiteren Betrachtung.
3. Handlungstheoretische Grundlagen
Hier setzen die Soziale Lerntheorie und die Erwartungs-Wert-Theorie an. Darauf baut das handlungstheoretische Partialmodell der Persönlichkeit auf.
3.1 Soziale Lern- und Erwartungs-Wert-Theorien
Persönlichkeitseigenschaften, wie Kontrollüberzeugungen, werden in der Sozialisation durch Mechanismen des Bekräftigungs- und Beobachtungslernens erworben. Genetischen Determinanten kommt im Allgemeinen nur eine geringe Bedeutung zu (vgl. Krampen 1982, S. 135), den individuellen Erwartungshaltungen hingegen eine große. Sie sind Produkte von Lernprozessen, deren Basis subjektiv wahrgenommene Übereinstimmungen zwischen einer Handlung und einem Verstärker sind. Solche Übereinstimmungen (Kontingenzen) bzw. Nicht-Kontingenzen erlebt das Individuum in seiner sportlichen (vgl. Teil II), familiären, schulischen, beruflichen und sozioökonomischen Lernumwelt (vgl. Teil III, Kapitel 3).
Die folgende Darstellung der Sozialen Lerntheorie geht ausschließlich auf die Arbeiten von Rotter (1954, 1955, 1982) und deren Weiterentwicklung ein, da diese einen grundlegenden Einblick gewähren. Unter den weiteren theoretischen Ansätzen zum sozialen Lernen stützt sich die kognitiv-soziale Lerntheorie Mischels auf Rotters Ansatz und entwickelt diese unter Einbezug zusätzlicher kognitiver Konstrukte weiter (vgl. Mischel 1973). Wesentliche Gemeinsamkeiten der Theorien von Rotter und Mischel bestehen darin, dass sie sich nicht auf Erklärungen mehr oder weniger isolierter (sozialer) Lernprozesse beschränken. „Die Soziale Lerntheorie ist von daher eine molare Theorie, die sich mit Verhalten in komplexen, sozialen Situationen beschäftigt und dabei insbesondere die Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt stellt (vgl. Krampen 1982, S. 9).
In Abkehr von behavioristischen Ansätzen geht Rotter von kognitivistischen (subjektivistischen) Begriffen aus, d.h. es werden selbst- und umweltbezogene Kognitionen einbezogen. Dies ist eine dynamisch-interaktionistische Sichtweise: Verhalten wird durch eine Wechselwirkung von Individuum und personenspezifischer Umwelt bestimmt.
Die Soziale Lerntheorie baut auf drei grundlegenden Axiomen auf:
1. Gegenstand der Persönlichkeitsforschung ist die Interaktion von Individuum und sei ner bedeutungshaltigen Umwelt.
2. Der Reduktionismus für Persönlichkeitskonstrukte wird abgelehnt. Das heißt, Persön lichkeitskonstrukte müssen nicht durch andere Konstrukte - wie zum Beispiel physio logische oder neurologische - erklärt werden. Ihr Erklärungswert ist von solchen Kon strukten auf anderen Ebenen grundsätzlich unabhängig.
3. Persönlichkeitskonstrukte sind erst ab einer bestimmten phylogenetischen und onto genetischen Entwicklungsstufe für Erklärungen von Verhalten nützlich - dort, wo es um Handeln geht. Sie sind erfahrungsabhängig (vgl. Krampen 1991, S. 11).
Ihr liegt folgende formalisierte motivationstheoretische Annahme zugrunde: “The potential x to occur in situation 1 in relation to reinforcement a is a function of the expectancy of the occurrence of reinforcement a following behaviour x in situation 1 and the value of reinforcement a” (Rotter 1982, S. 52).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Somit bestimmen die nachstehenden vier Variablen die Entscheidung zwischen den Handlungsalternativen:
1. das Verhaltenspotenzial (behavior potential BP),
2. die Erwartung (expectancy),
3. der Verstärkungswert (reinforcement value RV) und
4. die psychologische Situation (situation S), in der sich die betreffende Person befindet.
Das Verhaltenspotenzial ist dabei die Eintrittswahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Verhalten in einer gegebenen Situation, die u.a. durch verfügbare Ziele bzw. vorliegende Bedürfnisse gekennzeichnet ist (vgl. Krampen 1982, S. 15).
Die Erwartungen sind subjektive Wahrscheinlichkeitsannahmen einer Person, dass in einer gegebenen Situation bestimmte Verstärker als Handlungsfolge auftreten. Sie hängen somit von der Anzahl der Belohnungen relativ zur Gesamtzahl an Handlungen ab (vgl. Weiner 1994, S. 191). Wird in derselben oder in ähnlichen Situationen die Erfahrung gemacht, dass ein bestimmtes Verhalten zu einem spezifischen Ergebnis führt (Handlungs-Ergebnis-Erfahrung), entwickelt sich daraus eine Erwartungshaltung für zukünftige Situationen (Verhaltens-Verstärkungs-Erwartung). Je stärker diese Erwartungshaltung internalisiert wird, umso mehr generalisiert sie und weitet sich auf ähnliche Situationen aus. In Abhängigkeit von der Lebenssituation, in der sich die Person befindet, und der Häufigkeit, mit der die Erwartungshaltung bestätigt wird, manifestiert sich diese als Persönlichkeitsdimension (vgl. Müller 1997). Das bedeutet, dass sich die Erwartungshaltung der Person mit zunehmender Erfahrung in solchen Situationen verfestigt.
Somit wird die Verstärkungserwartung in der Situation 1 (Es1) einerseits durch Erwartungen für diese spezifische Situation, aber auch durch die aus anderen Situationen generalisierten Erwartungen (GE) determiniert:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In subjektiv neuartigen, mehrdeutigen, kognitiv kaum oder nur schlecht strukturierten Handlungs- und Lebenssituationen, für die bislang keine spezifischen Handlungsziele und/oder Erwartungen vorliegen, sind generalisierte Erwartungen bedeutend. In Situationen hingegen, in denen die Person bereits Erfahrungen gemacht hat, die also bekannt oder strukturierbar sind, beeinflussen generalisierte Erwartungen das Verhalten nur wenig. Hier sind situations- und bereichsspezifische Erwartungen ausschlaggebender (vgl. Krampen 1987, S. 17).
Der Verstärkungswert (RV) wird als ein von der Erwartung relativ unabhängiges Konstrukt bezeichnet. Er bezieht sich auf „den Grad, mit dem einer von mehreren Verstärkern gegenüber anderen bevorzugt würde, [...] wenn alle dieselbe Auftrittswahrscheinlichkeit hätten“ (Rotter 1954, S. 107, nach Müller 1997, S. 38). Ein Verstärkungswert liegt nur dann vor, wenn sich die Person in einem Bedürfniszustand befindet und dieses Bedürfnis befriedigen möchte.14
An den Konstrukten „Verstärkungserwartung“ und „Verstärkungswert“ knüpfen die Erwartungs-Wert-Theorien in der Weiterentwicklung an. Sie gehen von einer subjektiven Rationalität der handelnden Person aus. Subjektive Valenzen (Werthaltungen, Zielpräferenzen, subjektive Verstärkungswerte) und subjektive Erwartungen (Instrumentalitäten, instrumentelle Überzeugungen) werden als die wesentlichen handlungssteuernden Variablen betrachtet: Die Handlung, die eine Person vollzieht, hängt davon ab, was sie wünscht (ihren Handlungszielen) und dem, was sie in der gegebenen Handlungssituation erwartet (ihren Vermutungen oder Annahmen über Handlungs-Ergebnis-Zusammenhänge) (vgl. Krampen 1982, S. 25).
Die vorgestellten Ausführungen legen nahe, dass ein und dieselbe Handlungs- und Lebenssituation bei verschiedenen Personen unterschiedlich wahrgenommen wird, was sich in einer Vielzahl von Verhaltensweisen zeigen kann.
3.2 Das handlungstheoretische Partialmodell der Persönlichkeit
Krampen (1991, S. 13) verbindet die Soziale Lerntheorie und ein differenziertes ErwartungsWert-Modell zu dem handlungstheoretischen Partialmodell der Persönlichkeit. Seine Erwartungs-Wert-Theorie soll Beschreibungen und Vorhersagen für Handlungsintentionen und Handlungen zulassen. Berücksichtigt werden dabei die sich wechselseitig beeinflussenden situativen und personalen Faktoren, d.h. hier liegt eine interaktionistische Sicht vor. Abbildung 6 zeigt die Verbindung der methodischen Ansätze.
Handlungen und Handlungsintentionen werden zurückgeführt auf:
- Situations-Ereignis-Erwartungen als subjektive Erwartungen einer Person darüber, dass ein bestimmtes Ereignis in einer gegebenen Handlungs- oder Lebenssituation auftritt oder verhindert wird, ohne dass die Person selber aktiv wird oder handelt;
- Kompetenzerwartungen (Situations-Handlungs-Erwartungen). Diese stellen subjektive Erwartungen darüber dar, dass in der gegebenen Situation der Person Handlungsal ternativen zur Verfügung stehen;
- Kontingenzerwartungen (Handlungs-Ergebnis-Erwartungen) als subjektive Erwartun gen darüber, dass auf eine Handlung bestimmte Ergebnisse folgen oder nicht folgen;
- Instrumentalitätserwartungen (Ergebnis- und Ereignis-Folge-Erwartungen) als subjek- tive Erwartungen darüber, dass bestimmten Ergebnissen oder Ereignissen bestimmte Konsequenzen folgen;
- Subjektive Bewertungen (Valenzen) der Handlungsergebnisse und Ereignisse, mithin die Valenzen der Folgen (vgl. Krampen 1991, S. 13).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Verbindung der methodischen Ansätze im handlungstheoretischen Partialmodell der Persönlichkeit (vgl. Krampen 1991, S.10)
Das handlungstheoretische Partialmodell der Persönlichkeit geht davon aus, dass auf allen Konstruktebenen Generalisierungen stattfinden. Diese führen zu unterscheidbaren, situativ und zeitlich relativ stabilen Persönlichkeitsvariablen. Anhand dessen können Personen und interindividuelle Unterschiede beschrieben werden. Somit werden unter engem Bezug auf die situations- und handlungsbezogenen Konstrukte des differenzierten Erwartungs-Wert-Modells folgenden Ableitungen aufgebaut (Abbildung 7):
- „Situations-Ereignis-Erwartungen, die sich auf situationsgebundene Erwartungen beziehen, dass bestimmte Ergebnisse in einer gegebenen Handlungs- oder Lebenssituation ohne eigene Aktivitäten auftreten, können dahingehend generalisiert werden, dass in vielen Situationen darauf vertraut wird, dass auch ohne eigenes Zutun positiv bewertete Ereignisse auftreten bzw. negativ bewertete Ereignisse verhindert werden. Die Person vertraut oder misstraut der Situationsdynamik. Der für dieses Persönlichkeitskonstrukt gewählte Terminus, der soziale und physische Aspekte umfasst, ist Vertrauen.
- Kompetenzerwartungen, die sich auf situative Erwartungen beziehen, dass eine oder mehrere Handlungsmöglichkeiten individuell verfügbar sind, finden ihre Generalisierung in der Aussage, dass man sich in vielen unterschiedlichen Situationen als kompetent und handlungsfähig erlebt. Das entsprechende Persönlichkeitskonstrukt wird als Selbstkon zept eigener Fähigkeiten bezeichnet.
- Kontingenzerwartungen, die subjektive Erwartungen über die Kontrollierbarkeit von Er eignissen durch die zur Verfügung stehende(n) Handlung(en) betreffen, werden in ihrer Generalisierung als Kontrollüberzeugungen bezeichnet.
- Instrumentalitätserwartungen, die situative Folge-Erwartungen beinhalten, werden in ih rer generalisierten Form als Konzeptualisierungsniveau benannt, womit das Ausmaß der kognitiven Durchdringung sowie des Verstehens von Handlungs- und Lebenssituati onen und ihrer Dynamik bezeichnet wird.
- Die auf Handlungsergebnisse, Ereignisse und Folgen bezogenen situationsspezifischen Valenzen finden ihre Generalisierung in den allgemeinen Wertorientierungen und Le benszielen der Person“ (Krampen 1991, S. 14f).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Handlungstheoretisches Partialmodell der Persönlichkeit (vgl. Krampen 1991, S.14)
Bezug nehmend auf die Soziale Lerntheorie von Rotter geht das handlungstheoretische Partialmodell der Persönlichkeit davon aus, dass die deskriptive und prognostische Bedeutung der Persönlichkeitsvariablen mit der Strukturiertheit und kognitiven Repräsentationen einer Handlungs- und Lebenssituation kovariiert.
Die subjektiven Neuheiten/Ambiguitäten von Handlungs- und Lebenssituationen sind auf einem Kontinuum situationsspezifischer und generalisierter Persönlichkeitsvariablen angesiedelt. Dies steht im Einklang mit dem Gedanken von Person- und Situationsfaktoren des dynamischen Interaktionismus. Dies gilt vor allem, wenn bedacht wird, dass Handlungen und ihre Ergebnisse sowie Folgen nicht nur auf die Situation, sondern auch auf die Persönlichkeitsmerkmale zurückwirken.
„Mit dem handlungstheoretischen Partialmodell der Persönlichkeit liegt somit unter funktionalistischer Perspektive ein Ansatz vor, der interaktionistische Vorstellungen mit der Möglichkeit verbindet, Aussagen über den relativen deskriptiven und prognostischen Wert von Persönlichkeitsvariablen und von situationsspezifischen Personvariablen zu machen“ (Krampen 1991, S. 15).
Je nach Ausprägung und Art der Situationsstrukturierung werden situationsspezifische, bereichsspezifische oder generalisierte Personvariablen unterschieden. Grundlage dafür ist die „hierarchische Struktur der handlungstheoretischen Persönlichkeitsvariablen“. Das handlungstheoretische Partialmodell der Persönlichkeit bietet mit diesem mehrstufigen Aufbau eine fundierte Basis, um der Frage des Zusammenhangs von Eiskunstlauf, Ausbildung und einer späteren beruflicher Integration nachzugehen. Letztendlich ist entscheidend, ob die Eiskunstläufer ihre im Sport erlernten Fähigkeiten generalisieren und in einen anderen Bereich (hier Beruf) übertragen können.
4. Selbstdarstellung als Persönlichkeitseigenschaft oder Impression-Management?
Als Fähigkeit interessiert bei Eiskunstläufern vor allem, ob ihre Selbstdarstellung auf dem Eis eine Interaktionsfähigkeit, eine Persönlichkeitsausprägung oder eine Kombination beider ist. Die folgenden zwei Kapitel gehen auf die theoretischen Standpunkte dazu ein.
4.1 Begriffsverortung und -abgrenzung von Persönlichkeit
Der Persönlichkeitsbegriff zielt hauptsächlich auf objektive Darstellungsmerkmale eines Individuums ab, während sich der Begriff des Selbst hauptsächlich auf die subjektive Sicht des Individuums bezieht (vgl. Mummendey 1995, S. 54). Das Selbstkonzept kann als Gesamtheit der auf die eigene Person bezogenen Beurteilungen verstanden werden. Es handelt sich aus psychologischer Sicht um relativ stabile Merkmale, also Merkmale im Sinne von Eigenschaften, die eine Person kennzeichnen.
Selbstkonzepte werden in der Sozialpsychologie häufig als Einstellungen aufgefasst, da es sich aus der Gesamtheit kognitiver und evaluativer Urteile zu dem Selbst bildet (vgl. Mummendey 1983; Greenwald/Pratkanis 1984). Die Besonderheit innerhalb der Konzepte, die sich mit Einstellungen befassen, liegt darin, dass im Falle des Selbstkonzepts Subjekt und Objekt der Einstellung identisch sind. So wird im Rahmen des Dreikomponenten-Ansatzes von attitude (kognitive, evaluative und konative oder intentionale Komponente) betont, dass Einstellungen eine Anregung zum Verhalten gegenüber einem Einstellungsobjekt enthalten; das heißt aber nicht, dass die Verhaltenskomponente der Einstellung konkretes Verhalten auslösen muss. Es handelt sich lediglich um ein beabsichtigtes, mögliches Verhalten.
Identität wird nach psychologischer Auffassung als etwas Stabiles angesehen und häufig mit den Begriffen Selbst und Selbstkonzept gleich gesetzt: ein Mensch stellt verschiedene soziale und situative Identitäten dar und er ist doch stets mit sich identisch. Er präsentiert verschiedene Arten des Selbst und verfügt zugleich über ein relativ stabiles Selbstkonzept. In vielen empirischen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass es situations-, gegenstands- und bereichsspezifische Selbstkonzepte gibt (vgl. Filipp/Brandstätter 1975; Mummendey 1976, Eysenck 1981, Krampen 1991).
An diesem Punkt knüpft eine Gegenströmung zu dem relativ starren Identitätsbegriff an: Die interaktionistische, soziologische Dimension der Identität. Diese übt Kritik an den lediglich psychologischen Vorstellungen des sich auf Persönlichkeitsstrukturen stützenden Konzepts der Identitätskategorie und der Vernachlässigung sozialstruktureller Bedingungen der Identität:
„Es gilt dagegen zu betonen, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Identität eines Individuums und damit seiner Fähigkeit zu sozialer Interaktion auf der Ebene sozialstruktureller Faktoren zu suchen sind und Identität nicht zureichend als ein subjektives, im Belieben des Individuums stehendes Bestreben, sich in einer Welt angeblich zunehmender Konformität als ein einmaliges festzuhalten, beschrieben werden kann“ (Krappmann 2000, S. 11).
Dieses Identitätskonzept erfüllt die Aufforderung Goffmans, „das Ich in die Gesellschaft zurückzuholen“ (Goffman 1961, S. 120). Der soziologische Interaktionismus konzentriert sich auf die sozialen Beziehungen des Individuums in einer symbolischen Umwelt. Grundlagen zur Klärung des Identitätsbegriffs beziehen sich dabei auf die Analyse von Alltagserfahrungen und der Beobachtung sowie der Auffassung, dass das Individuum auf soziale Beziehungen zu anderen angewiesen ist. Das „Selbst“ bzw. die „Identität“ kann sich nur in diesem Zusammenspiel über Werte und Normen im Sozialisationsprozess entwickeln. Dieses soziale Geschehen wird als ein offener, dynamischer Prozess angesehen (vgl. Krappmann 2000, S. 21).
Der Persönlichkeitsforschung steht die Impression-Management-Theorie gegenüber, die nicht auf die Persönlichkeit abstellt, sondern auf Fähigkeiten zur (strategischen und taktischen) Selbstdarstellung.
[...]
1 Eiskunstlauf bezieht sich hier und in den weiteren Ausführungen auf die Disziplinen „Einzel- und Paarlauf sowie Eistanz“.
2 Aus Platzgründen wird in dieser Arbeit auf eine Geschlechterdifferenzierung verzichtet. Der Begriff „Eiskunstläufer“ bezieht sich damit auch auf Eiskunstläuferinnen.
3 Der Begriff „Idealtyp“ bezieht sich in dieser Arbeit nicht auf das Verständnis von Max Weber.
4 Die Optimierung in der Leistungsbeurteilung wurde 1998 bei dem 47. ISU-Kongress (International Skating Union) beschlossen. Zu den Details, siehe Teil V, Kapitel 1.1.
5 Der Wurf-Lutz ist ein spezieller Wurfsprung. Bei diesem wird die Partnerin beim Absprung durch ihren Partner mit beiden Händen unterstützt und damit weit hochgedrückt.
6 Beim Lasso und bei der Hebestütz hebt der Partner seine Partnerin Hand auf Hand während des Laufs über den Kopf und dreht sich mit ihr um die Körperachse.
7 Die Partnerin wird, fast horizontal über dem Eis auf einem Bein gleitend und nur vom ausgestreckten Arm des Partners an der Hand gehalten, um dessen Körperachse gezogen.
8 Dies ist eine offene Tanzhaltung. Die linke Hand des Herrn hält die linke Hand der Dame. Die rechte Hand des Herrn ist auf der linken Hüfte der Dame. Die rechte Hand der Dame ist über die Hüfte ausgestreckt.
9 Schritt mit halber Drehung, ohne Kantenwechsel, also von Innenkante auf Innenkante oder von Außenkante auf Außenkante.
10 Schritt (Fußwechsel) mit halber Drehung, mit Kantenwechsel.
11 Schritte in Schlingenform.
12 Schritt mit Drehung auf der Stelle um 360°.
13 Aus Gründen der Anonymität, wird im Folgenden bei den Zitaten der Eiskunstläufer nicht die Disziplin genannt. Dabei geht keine Information verloren, da bei den späteren statistischen Auswertungen kein Unterschied bezüglich der Eiskunstlauf-Disziplinen festgestellt werden konnte.
14 Die vier vorgestellten Variablen bei der Entscheidungsfindung müssen vor dem Hintergrund der Eiskunstläufer als besonders wichtig angesehen werden. Die Eiskunstläufer lernen unter anderem, sich auf eine bestimmte Art zu präsentieren. Beherrschen sie dies, sind sie erfolgreich und werden in dieser Verhaltensweise verstärkt. Nun besteht ein Ansatzpunkt, dieses Verhalten zu generalisieren und in andere nicht-sportliche Kontexte zu übertragen. Im empirischen Teil können diese Zusammenhänge bezüglich Eiskunstlauf-Präsentation und beruflicher Selbstdarstellung belegt werden.
- Citation du texte
- Sibylle Schmidtke (Auteur), 2006, Eiskunstlauf und schulische Bildung - zwei Chancen für eine gelingende berufliche Integration, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/371951
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