Die folgende Arbeit untersucht die Bezogenheit der Mockumentary auf den Dokumentarfilm. Die Mockumentary ist eine Schnittstelle zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Sie hat zwar die Form eines typischen Dokumentarfilms, ihr Inhalt ist jedoch rein fiktiv. Die starre Trennung der Bereiche Spielfilm und Dokumentation wird hier aufgehoben: Das Reale wird inszeniert und die Fiktion weist eine Eigenrealität auf. Das gleichzeitige Aussenden dokumentarischer und fiktionaler Signale dieser hybriden Form kann unterschiedlichen Intentionen des Filmemachers folgen. So kann die Mockumentary zum einen unterhaltend und belustigend auf den Rezipienten wirken, oder aber sie verwirrt ihn und führt ihm buchstäblich vor Augen, wie schnell er an die Grenzen seiner Medienkompetenz stößt.
„Film, das ist 24 Mal Wahrheit pro Sekunde.“ Diesen Satz ließ Jean Luc-Godard einen seiner Charaktere in seinem Film »Le Petit Soldat« (1960/1963) sagen. Einige Zeit später entgegnete ihm daraufhin der Regisseur Brian De Palma mit seiner Behauptung, die Kamera würde 24 Mal die Sekunde lügen.
Diese beiden provokativ formulierten Aussagen spiegeln den Diskurs wieder, der das Medium Film seit seiner Entstehung umgibt: Kann Film die Wirklichkeit abbilden, wiedergeben und vermitteln? Kann Film lügen? Und wie funktionieren die Mechanismen, die zum Wirklichkeitseindruck eines Films beitragen?
Das Kino entstand als Jahrmarktsattraktion. Seine Herkunft verleugnet es bis heute nicht, verspricht es uns doch nach wie vor mit großem Werbeaufwand stets Neues, unglaubliche Sensationen und noch nie Dagewesenes zu zeigen. Bei der ‚Verwirklichung’ solcher Wunder steht dem Spielfilm, durch die digitale Technik, eine breite Palette offen. Auch der Dokumentarfilm arbeitet mit Illusionen, doch verwischt er die Spuren der Manipulation geschickt. Ähnlich der Photographie besteht an ihn jedoch der Anspruch Sachverhalte objektiv, unverfälscht und glaubwürdig wiederzugeben.
Im gesellschaftlichen Diskurs werden diese Form des Wirklichkeitsbezugs und die damit zusammenhängenden Strategien und Probleme immer wieder thematisiert. So haben wir als Mitglieder einer modernen Mediengesellschaft gelernt, dass Filme „irgendwie“ immer subjektiv sind und es die Wahrheit nicht gibt. Wir glauben längst nicht mehr alles, was uns das Fernsehen präsentiert und sind, so nehmen wir an, in der Lage zwischen der Darstellung von Wirklichkeit (im Dokumentarfilm) und der Darstellung fiktiver Welten (im Spielfilm) zu unterscheiden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Grundlagen zur Mockumentary
1.1 Herleitung des Begriffes und Definitionsversuch
1.1.1 Wer hat´s erfunden?
1.2 Abgrenzung zu anderen Film-Genres
2 Medientheoretische Einbettung der Mockumentary
2.1 Die Wirklichkeit des Films
2.1.1 Gegenüberstellung der fiktionalen und dokumentarischen Filmrealitäten
2.2 Bezugspunkt Dokumentarfilm
2.2.1 Selbstverständnis und Anspruch der Filmemacher
2.2.2 Darstellungsformen der Filme
2.2.3 Erwartungshaltung des Publikums
2.3 Inszenierung von Authentizität
2.4 Exkurs: Fälschung oder Fake?
2.4.1 Beispiel: Die Born-Affäre
3 Strategien und Intentionen der Mockumentary
3.1 (Pseudo-) Authentisierungsstrategien der Mockumentary
3.2 Die ‚Mock-docness’ der Mockumentary
3.2.1 Grad 1: Parodie
3.2.2 Grad 2: Kritik
3.2.3 Grad 3: Dekonstruktion
4 Filmbeispiele
4.1 Beispiel 1: DAS FEST DES HUHNES
4.1.1 Daten, Stab und Besetzung
4.1.2 Kurzinhalt
4.1.3 Sequenzprotokoll
4.1.4 (Pseudo-) Authentisierungsstrategien
4.1.5 Grad der ‚Mock-docness’
4.2 Beispiel 2: TOD EINES PRÄSIDENTEN 42 Schnittstelle Mockumentary
4.2.1 Daten, Stab und Besetzung
4.2.2 Kurzinhalt
4.2.3 Sequenzprotokoll
4.2.4 (Pseudo-) Authentisierungsstrategien
4.2.5 Grad der ‚Mock-Docness
4.3 Beispiel 3: MUXMÄUSCHENSTILL
4.3.1 Daten, Stab und Besetzung
4.3.2 Kurzinhalt
4.3.3 Sequenzprotokoll
4.3.4 (Pseudo-) Authentisierungsstrategien
4.3.5 Grad der ‚Mock-docness’
5 Resümee
Literaturverzeichnis I
Internetquellen
Filmverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Anhang
5.1 Sequenzprotokolle
5.1.1 DAS FEST DES HUHNES
5.1.2 TOD EINES PRÄSIDENTEN
5.1.3 MUXMÄUSCHENSTILL
„ Was ist, ist sowohl Wirklichkeit, als auch Möglichkeit. Was du dir ausdenkst, weil es möglich ist, ist damit auch Wirklichkeit. [ … ] >Die Frage ist nur, warum eine erdachte Wirklichkeit noch neben die bestehende gestellt werden muß.< “
Nooteboom 2001, 43
Einleitung
„ Film, das ist 24 Mal Wahrheit pro Sekunde. “ 2 Diesen Satz ließ Jean Luc-Godard einen seiner Charaktere in seinem Film LE PETIT SOLDAT (1960/1963) sagen. Einige Zeit später entgegnete ihm daraufhin der Regisseur Brian De Palma mit seiner Behauptung, die Kamera würde 24 Mal die Sekunde lügen. Diese beiden provokativ formulierten Aussagen spiegeln den Diskurs wieder, der das Medium Film seit seiner Entstehung umgibt: Kann Film die Wirklichkeit abbilden, wiedergeben und vermitteln? Kann Film lügen? Und wie funktionieren die Mechanismen, die zum Wirklichkeitseindruck eines Films beitragen?
Das Kino entstand als Jahrmarktsattraktion. Seine Herkunft verleugnet es bis heute nicht, verspricht es uns doch nach wie vor mit großem Werbeaufwand stets Neues, unglaubliche Sensationen und noch nie Dagewesenes zu zeigen. Dem zahlenden Zuschauer soll der Atem stocken angesichts der magischen Attraktionen, wie sie die Realität nicht kennt. Bei der ‚Verwirklichung’ solcher Wunder steht dem Spielfilm, durch die digitale Technik, eine breite Palette offen. Auch der Dokumentarfilm arbeitet mit Illusionen, doch verwischt er die Spuren der Manipulation geschickt. Ähnlich der Photographie besteht an ihn jedoch der Anspruch Sachverhalte objektiv, unverfälscht und glaubwürdig wiederzugeben. Im gesellschaftlichen Diskurs werden diese Form des Wirklichkeitsbezugs und die damit zusammenhängenden Strategien und Probleme immer wieder thematisiert.3 So haben wir als Mitglieder einer modernen Mediengesellschaft gelernt, dass Filme „irgendwie“ immer subjektiv sind und es die Wahrheit nicht gibt. Wir glauben längst nicht mehr alles, was uns das Fernsehen präsentiert und sind, so nehmen wir an, in der Lage zwischen der Darstellung von Wirklichkeit (im Dokumentarfilm) und der Darstellung fiktiver Welten (im Spielfilm) zu unterscheiden.
Eine Schnittstelle zwischen diesen beiden Welten, stellt die Mockumentary dar. Sie hat zwar die Form eines typischen Dokumentarfilms, ihr Inhalt ist jedoch rein fiktiv.
Die folgende Arbeit untersucht die Bezogenheit der Mockumentary auf den Dokumentarfilm.
Die zwei zentralen Fragen lauten dabei:
1. Auf welche Weise adaptieren Mockumentaries eine dokumentarische Machart?
2. Warum adaptieren Mockumentaries eine dokumentarische Machart? Welche Intention steckt dahinter?
Die Arbeit gliedert sich in vier Hauptkapitel und ein Resümee.
Einleitend wird im ersten Kapitel anhand der Entstehungsgeschichte des Begriffs und der Abgrenzung zu anderen, verwandten Filmgenres nach einer allgemeinen Definition für Mockumentaries gesucht. Schon hier wird die Reflexivität zum Dokumentarfilm deutlich, mit der sich die Arbeit in den anschließenden Kapiteln noch eingehender auseinandersetzt.
Das zweite Kapitel nähert sich der Mockumentary auf medientheoretischer Ebene. Es beleuchtet den Wirklichkeitsbezug von Mockumentaries und ihre vakante Stellung zwischen Dokumentation und Fiktion. Zunächst wird das Problem der Wirklichkeit in den Diskurs der Filmtheorie überführt. In diesem Zusammenhang wird das Realitätsmodell von Eva Hohenberger vorgestellt. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob und wie das Medium Film als Instrument der Wirklichkeits(re)produktion dienen kann, haben sich im Laufe der Zeit viele verschiedene Strömungen innerhalb des Dokumentarfilms entwickelt.4 Da sich die Mockumentary stets auf den Dokumentarfilm bezieht, werden in diesem Kapitel die verschiedenen Realitätsmodi dokumentarischer Darstellungsformen nach Bill Nichols erläutert. Außerdem folgt in diesem Kapitel eine Gegenüberstellung der fiktionalen und dokumentarischen Filmrealitäten. Es wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen „fiktional“ und „dokumentarisch“ auf unterschiedlichen Konventionen beruht, die als ungeschriebene ‚Wahrnehmungsverträge’ zwischen Regisseur und Zuschauer betrachtet werden können.5
Es folgt ein Exkurs, in dem eine Abgrenzung der Mockumentary gegenüber der Fälschung und der Lüge im medienspezifischen Kontext anhand eines Beispiels vorgenommen wird.
Nach der medientheoretischen Einbettung in die Thematik, steht im dritten Kapitel die Frage im Mittelpunkt, auf welche Weise Filmemacher dokumentarische Authentizität erzeugen. Außerdem dient das Kapitel dem Aufbau eines Analyserasters, mit dessen Hilfe im vierten Kapitel einige Mockumentaries exemplarisch untersucht werden.
Dazu werden die (Pseudo-) Authentisierungsstrategien erläutert, die Mockumentaries nutzen, um die Lesart eines Dokumentarfilms zu etablieren. Anhand des dreistufigen Schemas von Roscoe und Hight zur Reflexivität der Mockumentary gegenüber dem Dokumentarfilm wird dann der hinter diesen Strategien steckenden Intention der Filmemacher nachgegangen. Hier wird u.a. deutlich, dass die Mockumentary durch die Imitation des Dokumentarfilms, nicht nur die unterhaltsame Belustigung des Rezipienten, sondern auch die kritische Bewusstmachung oder sogar die Dekonstruktion des Dokumentarfilm-Genres zum Ziel haben kann und, dass dies nicht nur abhängig von der Intention des Filmemachers, sondern auch von den jeweils vorherrschenden Codes und Konventionen sowie der Erwartungshaltung des Rezipienten ist. Roscoe und Hight unterteilen Mockumentaries dementsprechend in drei verschiedene Grade der ‚Mock-docness’.
Im vierten Kapitel werden die dem Mockumentary-Genre zuzurechnenden Filme DAS FEST DES HUHNES, TOD EINES PRÄSIDENTEN und MUXMÄUSCHENSTILL vorgestellt und anhand des zuvor aufgebauten Rasters analysiert. So werden zunächst die in ihnen vorkommenden (Pseudo-) Authentisierungsstrategien herausgearbeitet, um anschließend eine Zuordnung zu den von Roscoe und Hight eingeführten Graden der ‚Mock-docness’ vorzunehmen.
1 Grundlagen zur Mockumentary
1.1 Herleitung des Begriffes und Definitionsversuch
„ Mock u men ta ry, n.: A television programme or film which takes the form of a serious documentary in order to satirize its subject ” 6
Demnach übernehmen Mockumentaries also die Form eines ernst gemeinten Dokumentarfilms, um ihr Thema satirisch darzustellen. Dieser Eintrag aus dem Oxford English Dictionary macht bereits den Bezug der Mockumentary zum Dokumentarfilm deutlich und gibt erste Informationen über ihre Form, ihr Vorgehen und ihre Absicht. Später wird sich jedoch zeigen, dass diese Definition zu eng gefasst ist, da sie außer Acht lässt, dass es sich bei einer Mockumentary nicht zwangsläufig um eine Satire handelt, sondern dass sie auch die Kritik oder sogar die Dekonstruktion des dokumentarischen Genres an sich intendieren kann. Nach dem aktuellen Begriffsverständnis kann man die Mockumentary als hybride7 bzw. dokufiktionale Form - oder schlicht als docufiction bezeichnen.8
Anstelle von Mockumentary, werden von anderen Autoren auch die Bezeichnungen Fake-Doku 9 , Mock-Documentary 10 oder fingierter Dokumentarfilm 11 benutzt. Bei der sogenannten Pseudo-Doku handelt es sich zwar auch um ein fiktionales Format, das den Anschein erweckt, es sei dokumentarisch. Der Zuschauer wird jedoch, im Gegensatz zur Mockumentary, nicht über den fiktiven Charakter der Handlung aufgeklärt - im Gegenteil, durch verschiedenen Authentifizierungssignale wird er im Glauben bestärkt, es handele sich um reale Ereignisse.12
Woher der Begriff Mockumentary stammt und seit wann er benutzt wird, lässt sich nur vermuten. Auch die beiden Autoren Roscoe und Hight, die sich mit dem Genre in ihrem Buch „ Faking It - Mock-Dokumentary and the Subversion of Factuality “ auseinandergesetzt haben, geben an, dass sie trotz eingehender Recherche nur wenige Hinweise auf die Herkunft des Wortes finden konnten.13 Fest steht, dass 1964 im Film A HARD DAY´S NIGHT, einer Komödie, die im dokumentarischen Stil ein paar Tage aus dem Leben der Beatles beschreibt, erste Hinweise auf den Begriff der Mockumentary auftauchen. So wird Ringo von einer Reporterin gefragt „ Are you a mod 14 or a rocker? “, woraufhin er entgegnet „ Um, no. I ´ m a mocker 15 . “ 16 1965 findet die Mockumentary daraufhin zwar im Oxford English Dictionary erstmals Erwähnung, populär wird sie jedoch erst in den 80er Jahren, als der Regisseur Rob Reiner seinen Film THIS IS SPINAL TAP - A ROCKUMENTARY BY MARTIN DIBERGI (1984) in mehreren Interviews als Mockumentary bezeichnet. Dieser stellt eine Parodie auf das dokumentarische Subgenre der Rockumentary, (die zu der Zeit zahlreich produzierten Dokumentarfilme über Rockbands) dar. Er gilt als bekanntester Vertreter des Mockumentary-Genres.
Im Folgenden wird ein Versuch unternommen die Mockumentary zu definieren. Dies ist nicht ganz trivial, da es, analog zum Dokumentarfilm, sehr unterschiedliche Formen der Mockumentary gibt. Roscoe und Hight haben in ihrer umfangreichen Studie eine detaillierte Kategorisierung der Mockumentary vorgenommen. Sie definieren sie folgendermaßen:
„ Mock-dockumentaries are fictional texts which in some form › look ‹ like documentaries. These texts tend to appropriate certain documentary modes, as well as the full range of documentary codes and conventions. ” 17
In ihrem Buch „ F is for Phony. Fake-Documentary and Truth ´ s Undoin g“ geht Alexandra Juhasz noch einen Schritt weiter und betont neben der Verwendung dokumentarischer Stilmittel auch inhaltliche Aspekte:
„ For my purpose here, fake documentaries are fiction films that make use of (copy, mock, mimic, gimmik) documentary style and therefore acquire its associated content (the moral and social) and associated feelings (belief, trust, authenticity) to create a documentary experience defined by their antithesis, self-conscious distance. ” 18
Eine weitere, relativ umfangreiche Definition liefert die Internetseite Wikipedia, die aufgrund der geringen Anzahl anderer Definitionen als erwähnenswert betrachtet wird:
„Der Filmgenre-Begriff Mockumentary ist ein Kofferwort (englisch (to) mock: `vortäuschen, verspotten´ (sich mokieren) und documentary: „Dokumentarfilm“) und die Bezeichnung für einen fiktionalen Dokumentarfilm, der einen echten Dokumentarfilm oder das ganze Genre parodiert.
Eine Mockumentary tut so, als sei sie ein Dokumentarfilm, ohne tatsächlich einer zu sein. Dabei werden oft scheinbar reale Vorgänge inszeniert oder tatsächliche Dokumentarteile in einen fiktiven bzw. erfundenen Zusammenhang gestellt. Es ist ein geläufiges filmisches Genremittel für Parodie und Satire. Eine Mockumentary kann außerdem das Ziel haben, ein stärkeres Medienbewusstsein zu schaffen und Zuschauer dazu zu bringen, Medien zu hinterfragen und nicht alles zu glauben, was täglich im Fernsehen zu sehen ist. Mockumentarys präsentieren sich z. B. oft als historische Dokumentarfilme aus bisher noch unveröffentlichtem Material mit talking heads, die vergangene Ereignisse erörtern oder als cin é ma v é rit é Leute durch verschiedene Ereignisse zu begleiten scheinen.
Der Autor, Schauspieler und Regisseur Christopher Guest hat sich auf dieses Genre spezialisiert und bislang vier derartige Mockumentarys geschaffen. Die wohl bekannteste war This Is Spinal Tap.
Auch das relativ neue Genre der Doku-Soaps wird oft durch Mockumentary-Serien parodiert.
Nicht als Mockumentary anzusehen sind Pseudo-Dokus („Scripted Reality“), bei denen Dokumentationen nicht parodiert, sondern imitiert werden.“19
Als Formen der Mockumentary führen Roscoe und Hight die Parodie (1. Grad), die Kritik (2. Grad) und die Dekonstruktion (3. Grad) an.20 Sie betonen jedoch, dass es sich dabei nicht etwa um feststehende Kategorien handele, sondern dass die Übergänge oft fließend seien. Eine Einordnung der Filme sei deswegen keineswegs absolut, sondern auch von ihrer jeweiligen Rezeption abhängig.21 Ästhetische Merkmale eines Mockumentary-Filmes spielen für sie bei der Bestimmung der Mockumentary-Form keine Rolle.
Bayer dagegen beschreibt Mockumentaries als „ films thus recreate the aesthetics of cin é ma v é rit é films from the 1960s. ” 22 Wie diese Arbeit noch zeigen wird, ist jene Beschreibung jedoch zu pauschalisierend. Vielmehr adaptiert die Mockumentary diverse dokumentarische Ästhetiken und Darstellungscodes, um, je nach Grad, Aspekte der populären Kultur oder gar das ganze DokumentarfilmGenre zu parodieren oder zu kritisieren.
1.1.1 Wer hat ´ s erfunden?
Wegbereitend für das Mockumentary-Genre waren wohl Luis Buñuels Film LAND OHNE BROT (1933), der eine Parodie auf den ethnographischen Film dieser Zeit darstellt, und Orson Welles Hörspiel KRIEG DER WELTEN (1938), das die Form einer fiktiven Reportage hatte und ursprünglich als Hoax 23 gemeint war, Zeitungsberichten zufolge führte es aber zu heftigen Irritationen bei der Bevölkerung.24
Einige weniger bekannte Vertreter des Genres, wurden in den 60er und 70er Jahren produziert. Es entstanden Filme wie DAVID HOLZMAN'S DIARY (1967), PAT PAULSEN FOR PRESIDENT (1968), TAKE THE MONEY AND RUN (1969), oder THE RUTLES: ALL YOU NEED IS CASH (1978). Nach dem kommerziellen Erfolg von Woody Allens ZELIG (1983) und Rob Reiners THIS IS SPINAL TAP (1984), gab es einen regelrechten Boom des Genres und zahlreiche Mockumentaries folgten. Gemessen an den Verkaufszahlen und der Höhe der eingespielten Einnahmen waren laut der „Box Office Charts“25 seit 1978 bis heute im US-amerikanischen Raum die fünf erfolgreichsten unter ihnen BORAT (2006), BRÜNO (2009), BEST IN SHOW (2000), A MIGHTY WIND (2003) und ZELIG (1983).26
1.2 Abgrenzung zu anderen Film-Genres
Da die Suche nach einer eindeutigen Definition des Mockumentary-Genres bisher relativ wenige Ergebnisse zu Tage brachte, wird nun der Versuch unternommen, die Mockumentary durch die Abgrenzung zu anderen hybriden Filmformen und Genres näher zu bestimmen.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Meinungen zum eigenständigen Genre-Charakter von Mockumentaries gibt. So definiert Heller ein Genre beispielsweise als „ [ … ] ein Ensemble von Werken, das im Hinblick auf Sujet, Dramaturgie und Ästhetik von einer relativ konstanten Regelhaftigkeit ist, wobei die ständige Variation des erkennbar Vertrauten für die Lebendigkeit und historische Beständigkeit eines Genremusters sorgt. “ 27 In Anbetracht dieses Anspruchs einer einheitlichen Regelhaftigkeit, wäre allerdings darüber hinaus auch fraglich, ob man den Dokumentarfilm überhaupt als eigenes Genre bezeichnen kann. Da die Mehrzahl der Autoren jedoch von einer Eigenständigkeit des Genres ausgeht28 und eine eingehende Untersuchung hierzu den Umfang dieser Arbeit sprengen würde, ist auch im Folgenden die Rede vom Mockumentary-Genre.
Auch Roscoe und Hight setzen die Mockumentary in Relation zu anderen dokumentarischen Formen, wie der drama-documentary, und definieren sie darüber hinaus als fiktionale Texte,
„ [ … ] who position themselves quite differently in relation to the discourses of fact and fiction. In sharp contrast to drama-documentary, they tend to foreground their fictionality (except in the case of deliberate hoaxes). [ … ] mock-documentary utilises the aesthetics of documentary in order to undermine such claims to truth. ” 29
Zur Veranschaulichung des Unterschieds zwischen den beiden Formen, vergleichen Roscoe und Hight Mockumentaries mit Aprilscherzen, die als Kurzmeldungen in einer Zeitung abgedruckt werden.30 Dieser Vergleich ist gar nicht so weit hergeholt, war doch die von den meisten Autoren als erste Mockumentary bezeichnete SPAGHETTIERNTE (1957) tatsächlich als Aprilscherz gedacht.
Ähnlich gehen die Autoren Rhodes und Springer in ihrem Buch „ Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking ” vor. Sie versuchen sich dem Genre anzunähern, indem sie das Dokumentarische dem Fiktionalen und die Form dem Inhalt gegenüberstellen. Auf diese Weise grenzen sie vier verschiedene Genres voneinander ab:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Schema zur Einordnung hybrider Genre31
Auch wenn dieses Schema mit seiner strikten Gegenüberstellung von dokumentarischen und fiktionalen Formaten mittlerweile als überholt gilt, eignet es sich doch zur ersten Annäherung an die charakteristischen und genrespezifischen Merkmale der Mockumentary. Es wird deutlich, dass das Mockumentary-Genre, genau wie das Doku-Drama, an der Schnittstelle zwischen fiktionalem und non-fiktionalem Film anzusiedeln ist. Im Gegensatz zur Mockumentary nutzt das Doku-Drama allerdings szenische Elemente, um tatsächliche Geschehnisse wie (zeit-)historische Ereignisse in erzählender Form aufzubreiten. Oft handelt es sich dabei um historische Schlüsselereignisse, politische Skandale, Justiz- oder Unglücksfälle. Durch nachgestellte Spielszenen, sogenannte Re-enactments, wird eine Dramatisierung des Inhalts erreicht und „ the › promise of complete seeing ‹“ 32 wird erfüllt.
2 Medientheoretische Einbettung der Mockumentary
Wie im ersten Kapitel erläutert wurde, unterscheidet sich die Mockumentary in ihrer Form nicht vom Dokumentarfilm, sie hat die gleichen ästhetischen Merkmale und benutzt die gleichen Strategien, um Authentizität zu erzeugen. Im Gegensatz zum echten Dokumentarfilm ist die Geschichte, die eine Mockumentary erzählt, jedoch nicht gefunden, sondern erfunden. Ihr Inhalt ist rein fiktiv - Personen, Orte und Ereignisse entstammen der Phantasie des Filmemachers.
Über Mockumentaries zu sprechen, bedeutet demnach auch über Dokumentar- und Spielfilm und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit zu sprechen. Philosophische und medientheoretische Ansätze sollen nachfolgend als Grundlage dienen, um die Mockumentary im Laufe dieser Arbeit anhand konkreter Beispiele zu untersuchen.
2.1 Die Wirklichkeit des Films
Für alle Menschen, die einen Film sehen, ist der Filmemacher in diesem Moment der Schöpfer eines Ausschnitts ihrer Wirklichkeit.
„ [Der Film] spiegelt [ … ] Realität auf eine spezifische Art und Weise: durch Betonung, Interpretation, Verzerrung, Kommentierung, Fiktionalisierung, Dramatisierung, Raffung, Dehnung etc. Der Film erschafft damit [s]eine eigene filmische Realität, die auf die vermeintlich wirkliche Realität verweist, von ihr aber unterscheidbar ist. “
Implizit verdeutlicht dieses Zitat, dass sich Wirklichkeitsmodelle automatisch pluralisieren, wenn sich der Wirklichkeitsbegriff von der Realität33 löst.34 Eine absolute Unterteilung in „wirklich“ und „nicht wirklich“ macht demnach keinen Sinn.
Auch wenn eine erschöpfende Darstellung der Diskussion um das konstruktivistische Wirklichkeitsverständnis an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, scheint in diesem Zusammenhang jedoch erwähnenswert, dass es nach dem konstruktivistischen Verständnis nicht die eine „objektive“Realität gibt, sondern dass sich jeder Mensch mithilfe der individuell unterschiedlichen Wahrnehmung und deren Verarbeitung durch das Bewusstsein seine eigene Wirklichkeit konstruiert. Nach dieser Auffassung kann es keine objektive Darstellung in den Medien geben, da die abgebildete Realität immer die Konstruktion eines Subjekts ist, das diese aus seiner individuellen Disposition heraus interpretiert: „ Medien liefern nach dem konstruktivistischen Verständnis damit zwar Aussagenüber die Realität, sind aber darin zugleich Teil der Realität und konstituieren diese damit letztlich erst. “ 35 Wirklichkeit ist also immer abhängig von den jeweiligen „ [ … ] biologischen, kognitiven und soziokulturellen Bedingungen, denen sozialisierte Individuen in ihrer sozialen und natürlichen Umwelt unterworfen sind. “ 36 Die Wirklichkeit wird von audiovisuellen Medien folglich nicht reproduziert, sondern innerhalb bestimmter Konventionen und Passformen inszeniert.
Auch Eva Hohenberger unterscheidet in ihrem Buch „ Die Wirklichkeit des Films “ zwischen verschiedenen Wirklichkeiten, bezeichnet diese jedoch als „Realitäten“. Um die weitere Untersuchung der Mockumentary und ihrer Strategien zu erleichtern und eine einheitliche Nomenklatur der Realitätsebenen zu schaffen, wird dieses Realitäts-Konzept nachfolgend kurz vorgestellt.
Das von Hohenberger entwickelte Realitäts-Konzept unterteilt die Film-Realität in verschiedene Ebenen und erlaubt auf diese Weise eine Kategorisierung verschiedener Filmgattungen.37
Die nichtfilmische Realität beschreibt den Zustand der Wirklichkeit ohne Kamera, Film und beteiligtes Personal.38 Diese Wirklichkeit entspricht am ehesten der konstruktivistischen „Realität“. Sie muss sich der Selektion des Filmemachers unterziehen.
Die vorfilmische Realität bezeichnet die Wirklichkeit, die sich vor der Fertigstellung des Films und während des Drehs vor der Kamera abspielt. Nachdem durch den Filmemacher etwas aus der nichtfilmischen Realität selektiert wurde, wird es vor der Kamera inszeniert. Diese inszenierte Realität wird auf dem jeweiligen Speichermedium festgehalten und ist damit zeitlich und räumlich von der nichtfilmischen Realität trennbar und unabhängig.39
Der Begriff Realität Film bezeichnet all das, was den Film als Institution charakterisiert, also Absichten, Technik, Schnitt, Organisation, Finanzierung etc. Das Ergebnis des ganzen Prozesses, also den fertigen Film, bezeichnet Hohenberger als filmische Realität. Dieser ist zunächst komplett unabhängig von der nichtfilmischen Realität, kehrt dann aber durch die Rezeption des Publikums wieder in diese zurück.40
In dem Moment, in dem die nichtfilmische auf die filmische Realität trifft, entsteht schließlich die nachfilmische Realität. Sie umfasst z.B. Kritiken, Verleihgeschäfte, Kinos, also schlicht alles, was sowohl die unmittelbare Filmbetrachtung und die Organisation dessen betrifft, als auch die Reaktionen, die sich daraus ergeben.41
Diese verschiedenen Realitätsebenen sind natürlich nicht immer leicht voneinander zu trennen. So verschwimmen vorfilmische und filmische Realität oftmals ineinander, denn was einmal „ vorfilmisch stattgefunden hat, ist jetzt in einer filmischen Realität aufgelöst. “ 42 Schon wenn der Filmemacher aus dem riesigen Repertoire der nichtfilmischen Realität die für ihn interessante vorfilmische Realität selektiert, beginnt strenggenommen die Umwandlung der vorfilmischen in die filmische Realität, hat dieser doch stets den fertigen Film im Hinterkopf. Die nichtfilmische Realität steht also für sich und ist, im Gegensatz zur vorfilmischen Realität, unabhängig vom Film selbst.43
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass jeder Film das Prinzip der vorfilmischen Realität, die durch die Projektion des Films wieder in die nichtfilmische Realität zurückgeführt wird, beinhaltet. Der Vorteil von Hohenbergers Konzept liegt darin, dass durch das Verhältnis der einzelnen Realitätsebenen zueinander, eine Einordnung eines Filmes in bestimmte Filmkategorien ermöglicht wird. So gebe eine inszenierte oder aber ungestellte vorfilmische Realität allein noch keine Garantie dafür, ob anschließend ein fiktionaler oder ein dokumentarischer Film entstehe.44 Denn ein Film stellt lediglich eine Andeutung ‚der Realität’ dar und nur die Art und Weise dieser Andeutung, also das Verhältnis des Films zur nichtfilmischen Realität, erlaubt seine Einordnung zwischen Fiktion und Dokumentation.
Doch wie verhält es sich mit der Mockumentary? Wie ist ihr Bezug zur Wirklichkeit? Welche Rolle spielen dabei die Medienkompetenz des Zuschauers und die damit verbunden Erwartungen und Konventionen? Um diese Fragen beantworten und die Mockumentary näher bestimmen zu können, wird im Folgenden eine Gegenüberstellung der fiktionalen und der dokumentarischen Filmrealitäten vorgenommen.
2.1.1 Gegenüberstellung der fiktionalen und dokumentarischen Filmrealitäten
Das Ziel des fiktionalen Films ist es, dass der Zuschauer die Perspektive der Kamera einnimmt. Auf diese Weise hat er die Illusion, beim Geschehen dabei zu sein. Um dies zu erreichen, verschleiert der fiktionale Film die vorfilmische Realität üblicherweise. Er versteckt seine Mittel und den Prozess seiner Entstehung, weder Kamerablick noch Montage werden enthüllt. Die filmische Realität wird als ein Ausschnitt der nichtfilmischen Realität präsentiert, die vorfilmische Realität wird dabei gewissermaßen übersprungen.45 Ein wichtiger Punkt dabei ist jedoch, dass sich der Zuschauer der Illusion des Spielfilms geradezu hingibt, er weiß also, dass es sich beim Gesehenen um Fiktion handelt.
Der Dokumentarfilm dagegen verschleiert die vorfilmische Realität seiner Entstehung meistens nicht. Er stellt einen „ [ … ] Prozess des Suchens, Recherchierens, des Sammelns von Materialen in allen möglichen Richtungen dar. “ 46 Die vorfilmische Realität recherchiert und sucht also in der nichtfilmischen Realität, aus der die Geschichte, um die es geht, ursprünglich entstammt. Dieser Prozess wiederum wird in den meisten Dokumentarfilmen auf der Ebene der filmischen Realität, also im eigentlichen Film, offenbart. Auf diese Weise wird dem Zuschauer zwar ein relativ authentisches Abbild der nichtfilmischen Realität geliefert, aber auch hier wird eine Illusion geschürt: Indem der Zuschauer gewissermaßen in die vorfilmische Realität miteinbezogen wird, erhält er auch hier das Gefühl des ‚Dabeiseins’ und es entsteht der Eindruck von Authentizität, tatsächlich ist „ [ … ] der Zuschauer nicht mehr direkter Augenzeuge im filmischen Prozess [ … ]. “ 47 Auch der Dokumentarfilm kann daher dem Anspruch, die Wirklichkeit objektiv abzubilden, nicht gerecht werden, denn auch er ist inszeniert. Wäre er objektiv, würden vorfilmische und filmische Realität zusammenfallen. Auch wenn er versucht seine Inszenierung zu verschleiern, indem er die verschiedenen Realitätsebenen ineinander verschwimmen lässt, arrangiert er doch seine eigene Wirklichkeit.48
Auf welche Weise diese neu konstruierte Wirklichkeit vom Rezipienten jedoch als diese erkannt wird und welchem der beiden Diskurssysteme er sie zuordnet, hängt zum einen von den ausgesendeten Realitäts- und Fiktionalitätssignalen ab, basiert zum anderen aber auch in entscheidendem Maße auf dessen Interpretation. Diese wiederum setzt die Fähigkeit zur Unterscheidung der Kategorien „Fiktion“ und „Non-Fiktion“ und eine Kenntnis der damit verbundenen Konventionen voraus.49 Der Unterschied zwischen fiktionalem Film und Dokumentarfilm ergibt sich also nicht nur aus der jeweiligen Intention des Filmemachers, sondern auch aus der Erwartungshaltung des Rezipienten.
Bei der Mockumentary handelt es sich demnach um eine Art Meta-Film. Sie gibt vor, genau wie ein Dokumentarfilm, den vermeintlichen Prozess ihrer Entstehung, also die Suche der vorfilmischen in der nichtfilmischen Realität, zu offenbaren. Tatsächlich verschleiert sie aber die vorfilmische Realität, versteckt die Mittel ihrer Entstehung und schafft somit lediglich eine Illusion von Authentizität, die im Folgenden auch als ‚(Pseudo-) Authentizität’ bezeichnet wird.
2.2 Bezugspunkt Dokumentarfilm
Offensichtlich müssen Merkmale existieren, die eindeutig dem Dokumentarfilm zugeordnet werden können, war doch bisher stets die Rede von dem Dokumentarfilm und der dokumentarischen Form, die die Mockumentary imitiert. An diesem Punkt kristallisiert sich daher die zentrale Frage heraus, ob es den Dokumentarfilm überhaupt gibt und worin der Dokumentarfilm besteht. Da es eine Vielzahl dokumentarischer Subgenres gibt, muss die Mockumentary, um authentisch zu wirken, die spezifische Darstellungsform des jeweils persiflierten oder kritisierten Dokumentarfilms imitieren.
Seitdem Dokumentarfilm als eigenständige Gattung wahrgenommen wird, gibt es zahlreiche Versuche sich per Definitionem seinem Wesen zu nähern.50 Diese werden hier nicht in ihrer Gänze dargestellt, da dies den Umfang der Arbeit sprengen und von der eigentlichen Fragestellung wegführen würde.51 Von Bedeutung scheint in diesem Zusammenhang jedoch die Annäherung an den Dokumentarfilm nach Bill Nichols. In seinem Buch „ Representing Reality “ arbeitet der Filmtheoretiker die Gemeinsamkeiten von Dokumentarfilmen heraus. Dazu untersucht er den Dokumentarfilm unter drei Gesichtspunkten:52
1) Selbstverständnis und Anspruch der Filmemacher
2) Darstellungsformen der Filme und verwendete Codes und Konventionen
3) Erwartungshaltung des Publikums
2.2.1 Selbstverständnis und Anspruch der Filmemacher
Zunächst kommt Nichols zu dem Schluss, dass sich die meisten Filmemacher eher der Darstellung der faktischen als der imaginären Welt verschrieben hätten. Da sie den Anspruch teilten, ihr Thema auf vernünftige und faire Art und Weise darzustellen, gehöre eine ausführliche Recherche und die neutrale Betrachtung eines Sachverhalts genauso zu den Leitprinzipien eines Dokumentarfilmers wie die Einhaltung moralischer und ethischer Grundsätze. Damit kämen die Filmemacher auch den Erwartungen des Publikums nach, das einem Dokumentarfilm mit der allgemeinen Erwartung gegenüber trete, durch ihn einen Zugang zu Fakten und Hintergründen zu erhalten.
2.2.2 Darstellungsformen der Filme
Anschließend analysiert Nichols den Dokumentarfilm auf der Textebene und arbeitet so sechs verschiedene Darstellungsformen und die von ihnen verwendeten Codes und Konventionen heraus. In seiner Typologie stehen die verschiedenen Modi stellvertretend für die geschichtlichen Entwicklungsstufen des Dokumentarfilms. Obwohl sich diese verschiedenen Repräsentationsformen oftmals überschnitten, sei innerhalb einer Entwicklungsstufe meist immer nur ein Modus dominant.53
1) Poetischer Modus
Der poetische Modus entwickelt sich in den 1920er Jahren und ist stark von der Avantgarde-Bewegung beeinflusst. Aus der Intention heraus, eine bestimmte Stimmung beim Rezipienten zu erzeugen, dominiert hier stets die Ästhetik des Gezeigten. Kennzeichnend für den poetischen Modus ist die fragmentarische Darstellung der subjektiven Wahrnehmung des Künstlers.54
2) Erklärender Modus
Zu diesem Modus zählt Nichols in erster Linie Filme aus den 1930er Jahren, wie die von John Grierson und Robert Flaherty. Diese Filme werden auch als ‚klassischer Erklärdokumentarismus’ bezeichnet. Sie zeichnen sich durch eine sog. ‚Voice of God’55 aus, d.i. eine scheinbar allwissende Erzählerstimme, die das Geschehen aus dem Off heraus kommentiert und den Zuschauer direkt anspricht. Mit Hilfe von Archivmaterial und Expertenwissen sollen die Bilder und die Argumentation des Erzählers untermauert werden. Der Zuschauer soll also von einer bestimmten Sichtweise überzeugt werden, welche ihm gewissermaßen aufoktroyiert wird.
3) Beobachtender Modus
In den 1950er Jahren löst die beobachtende Darstellungsform die Form des klassischen Erklärdokumentarismus ab. Ausschlaggebend hierfür sind Fortschritte innerhalb der Kamera- und Tonaufnahmetechnik. Die Entwicklung von Handkameras und tragbaren Magnetbandaufnahmegeräten ermöglicht es den Filmemachern, an Originalschauplätzen zu drehen und Originalton aufzunehmen. Ihre Maxime ist nun nicht mehr die Erklärung und Interpretation der gezeigten Welt, sondern ihre Beobachtung und Beschreibung. Auf diese Weise glauben sie einen direkten und unverstellten Zugang zur Realität zu haben, die es lediglich mit der Kamera einzufangen gelte.56 Jegliche Inszenierung wird vermieden, keine Einstellung wird nachgestellt oder wiederholt. Die Filmemacher, die sich dem Stil dieses sog. ‚Direct-Cinema’ verschrieben haben, arbeiteten ohne Drehbuch oder Script, agieren stets spontan und vermeiden die direkte Kommunikation mit den Akteuren. Auch Interviews sind verpönt, denn der „ [ … ] observational mode stresses the nonintervention of the filmmaker “.57
4) Interaktiver/ eingreifender Modus
Der Interaktive Modus ist nach Nichols der in den 1960er und 1970er Jahren vorherrschende Modus des Dokumentarfilms. Er hat seinen Ursprung in der Frauenbewegung und den politischen Protesten seit 1968. In diesem Modus wurden wieder verstärkt Interviews eingesetzt, man orientierte sich an der geschichtswissenschaftlichen Methode der ‚Oral History’, wonach mündliche Erinnerungsinterviews mit beteiligten Personen aufgezeichnet werden, die ihre subjektiven Wahrnehmungen und Meinungen bezüglich vergangener Ereignisse oder Prozesse zum Ausdruck bringen.58 In diesem Modus wird der Zeitzeuge und die verbale Schilderung seiner Geschichte zur zentralen Figur. Seine Äußerungen werden zur Kommentierung des Gezeigten eingesetzt und ersetzen die ‚Voice of God’ des Erklärenden Modus, „ dessen einziger Kommentar sich jetzt auf mehrere Stimmen verlagert “.59 Oft werden diese Kommentare der sog. ‚Talking Heads’ durch Archivaufnahmen, Diagramme oder historische Fotos unterstützt.
Der Filmemacher nimmt im Interaktiven Modus nicht länger die Rolle des unbeteiligten Beobachters ein, sondern wird in die Handlung miteinbezogen. In Frankreich kommt das Cin é ma V é rit é auf, das über die Provokation gegenüber dem Sujet eine direkte Interaktion zwischen Filmemacher und Gefilmtem herstellt. In diesem Zusammenhang ist auch die von Jean Rouch entwickelte Methode der Cin é Trance zu nennen, die dem Filmemacher als Mittel zur Annäherung an die Wirklichkeit dient.60
5) Reflexiver Modus
In den 1980er Jahren vollzieht sich eine Art Umbruch im Dokumentarfilm-Genre. Der neu aufkommende reflexive Dokumentarfilm zweifelt grundsätzlich am Objektivitätsanspruch und am Realitätsgestus des dokumentarischen Genres und fokussiert das Verhältnis von Film und Zuschauer. In ihm wird die Referenz zur nichtfilmischen Realität deutlich erkennbar. Die Filmemacher haben einen selbstreflexiven Ansatz und sind sich des konstruierenden und subjektiven Charakters des Dokumentarfilms bewusst.61 Der reflexive Dokumentarfilm ist somit immer auch eine Art Meta-Kommentar über die dokumentarische Form an sich:
„ Rather than following the filmmaker in her engagement with other social actors, we now attend to the filmmaker ’ s engagement with us, speaking not only about the historical world but about the problems and issues of representing it as well ” . 62
6) Performativer Modus
Dieser Modus, der ebenfalls in den 1980er Jahren aufkommt, ist schwer zu fassen und wird auch von Nichols nur wage beschrieben. So werden die Filme dieses Modus’ oftmals „ eher als Spiel- oder Experimentalfilme - und weniger als Dokumentarfilme “ 63 wahrgenommen.
Aufgrund des neuen Objektivitätsanspruchs in den sogenannten reflexiven und performativen Darstellungsformen, zählen Roscoe und Hight lediglich den zweiten, dritten und vierten Modus zum sogenannten „ classic objective argument “ , also zur klassischen dokumentarischen Form, die nach wie vor dem Allgemeinverständnis von Dokumentarfilm zugrunde liegt.64 Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Mockumentaries in der Regel die filmischen Mittel dieser drei Modi imitieren.
2.2.3 Erwartungshaltung des Publikums
„ Our fundamental expectation of documentary is that its sounds and images bear indexical relation to the historical world. As viewers we expect that what occurred in front of the camera has undergone little or no modification in order to be recorded on film and magnetic tape. ” 65
Demnach trete der Rezipient dem Dokumentarfilm mit der Erwartungshaltung gegenüber, den Beweis für tatsächlich stattgefundene Ereignisse geliefert zu bekommen, die kaum oder gar nicht durch Kamera oder Tonaufnahmegerät modifiziert wurden. Selbst wenn er an der Richtigkeit einer Darstellung zweifele, wisse er doch, dass sie sich auf die reale Welt bezieht. Nichols bezeichnet diese Haltung des Rezipienten auch als „ oscillation [ … ] between a recognition of historical reality and their cognition of an argument about it “.66 Woran aber erkennt der Rezipient, dass es sich um einen Dokumentarfilm handelt? Die Skizzierung der dokumentarischen Darstellungsformen hat gezeigt, dass es gewisse filmische Strategien und Codes gibt, die im Dokumentarfilm immer wieder eingesetzt werden. Durch jahrelange Seherfahrung haben sich sie Zuschauer an diese gewöhnt. Die Gewohnheiten haben sich schließlich zu Konventionen manifestiert, „ [ … ] die als veränderbare kulturelle Konventionen am Ende zu Stilmitteln und damit als kalkulierbarästhetische Strategien unterschiedlich einsetzbar werden. “ 67
Indem der Eindruck von „Echtheit“ und „Glaubwürdigkeit“ erzeugt wird, wird beim Zuschauer eine Assoziation zwischen Realem und Gezeigtem hergestellt und seiner Erwartungshaltung gegenüber dem Dokumentarfilm entsprochen.
2.3 Inszenierung von Authentizität
Auf den ersten Blick erscheint die Inszenierung von Authentizität als Widerspruch in sich, werden die beiden Begriffe doch oft als gegensätzliche Konzepte verstanden. Was inszeniert ist, könne nicht authentisch sein und was authentisch ist, benötige keine Inszenierung. So wird mit der Inszenierung die Vorstellung beabsichtigten Handelns und geplanter Effekte auf ein etwaiges Publikum verbunden, während das Authentische aus sich heraus zu bestehen scheint und keiner Kreativität bedürfe.68 Der Begriff der Authentizität besitzt fast immer eine positive Konnotation und wird mit Echtheit, Natürlichkeit und Glaubwürdigkeit verbunden.69 Seine Bedeutung ist vielschichtig und kann im Film-Kontext auf zwei verschiedene Weisen interpretiert werden:
1) „ Authentisch bezeichnet die objektive ‚ Echtheit ’ eines der filmischen
Abbildung zugrunde liegenden Ereignisses. Mit dem Verbürgen eines Vorfalls als authentisch wird impliziert, dass eine Sache sich so ereignet hat, ohne dass die filmische Aufnahme den Prozess beeinflusst hätte. Die Authentizität liegt in der Quelle begründet. “ 70
[...]
2 Le Petit Soldat. Regie: Jean-Luc Godard. Frankreich 1963 (1960). Zitiert nach Schaub 1979.
3 Vgl. Kreimeier 1997, 33
4 Z.B.: „Cinema Vérité“, „Direct Cinema“
5 Vgl. Arriens 1999, 85
6 Oxford English Dictionary 2011, 1137
7 Hybridität wird hier als eine Vermischung von Authentischem und Inszeniertem bzw. von Dokumentarischem und Fiktionalem verstanden.
8 Vgl. Rhodes/ Springer 2006
9 Vgl. Edthofer 2008
10 Vgl. Roscoe/ Hight 2001
11 Vgl. Hattendorf 1999
12 Vgl. Elias/Weber 2009, 182
13 Roscoe/ Hight 2001, 77
14 Engl. Ausdruck für modischen, Motorroller fahrenden Jugendlichen in den 60er Jahren
15 Engl. für Nachäffer, Spötter
16 http://www.imdb.com/title/tt0058182/quotes, 29.11.11, 19:58 h
17 Roscoe/ Hight 2001, 49
18 Juhasz 2008, 7
19 http://de.wikipedia.org/wiki/Mockumentary (18.11.11, 18:07 h)
20 Siehe Tabelle 2
21 Vgl. Roscoe/ Hight 2001, 115
22 Bayer 2006, 165
23 Engl. für Jux, Scherz, Schabernack, Schwindel, Halloweenscherz
24 http://en.wikipedia.org/wiki/The_War_of_the_Worlds_(radio_drama), 05.12.2011, 19:24 h
25 Box Office [engl./us-amerik. umgspr.] bezeichnete ursprünglich den Kartenschalter am Eingang eines Kinos. Inzwischen wird der Begriff für die Einnahmen verwendet, die ein Kinofilm während seiner Spielzeit in Kinos erwirtschaftet.
26 Vgl. http://boxofficemojo.com/genres/chart/?id=mockumentary.htm, 05.12. 2011, 20:55 h
27 Heller 2001,15
28 Vgl. Rhodes/ Springer 2006 sowie Roscoe/ Hight 2001
29 Roscoe/ Hight 2001, 46
30 Vgl. Roscoe/ Hight 2001, 2
31 Vgl. Rhodes/ Springer 2006, 4
32 Beattie 2004, 158
33 i. S. v. Gesamtheit des Realen
34 Vgl. Edthofer 2008, 29
35 Schmidt 1990, 37
36 Schmidt 1994a, 5
37 Vgl. Hohenberger 1988, 30ff
38 Vgl. ebd., 31
39 Vgl. ebd., 30ff
40 Vgl. ebd., 30
41 Vgl. ebd., 43
42 Ebd., 59
43 Vgl. Hattendorf 1999, 45
44 Vgl. Hohenberger 1988, 45
45 Vgl. Hohenberger 1988, 52
46 Rindlisbacher 1977, 50ff
47 Hattendorf 1999, 69
48 Vgl. Leiser 1996, 18ff
49 Vgl. Groeben 2000, 179
50 Vgl. Hohenberger 1998, 8
51 Vgl. dazu exemplarisch Reclams Sachlexikon des Films. 2002, S. 124.
52 Vgl. Nichols 1991, 14ff
53 Vgl. Nichols 1991, 153
54 Vgl. Nichols 2001, 105
55 Vgl. Koebner 2002, 127
56 Vgl. Roth 1982, 9f
57 Nichols 1993, 38
58 Vgl. Geppert 1994, 313
59 Hohenberger 1988, 130
60 Vgl. Pszola 2010, 10f
61 Vgl. Nichols 1995, 64
62 Nichols 2001, 125
63 Nichols 1995, 151
64 Vgl. Roscoe/ Hight 2001, 21
65 Nichols 1991, 27
66 Ebd., 28
67 Hickethier 2001, 192
68 Vgl. Hattendorf 1999, 67ff
69 Vgl. Schultz 2003, 12
70 Hattendorf 1999, 67
- Citar trabajo
- Janina Pszola (Autor), 2012, Schnittstelle Mockumentary. Ein hybrides Genre zwischen Fakt und Fiktion, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/371689
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