Die vorliegende Arbeit hat die Zielsetzung, einen Überblick über den Forschungsstand hinsichtlich der kognitiven Profile von Kindern mit Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung zu geben, um auf der basis dieses Forschungsstandes empirisch begründet Stellung zu der Frage nehmen zu können, ob bzw. inwieweit es sich bei Lese- und Rechtschreibstörung und bei Rechenstörung um domänenspezifische Funktionsstörungen handelt oder um gemeinsam verursachte Funktionsstörungen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsklärungen
2.1. Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung
2.2 Kognitive Profile
3. Ursachen von LRS und Rechenstörung
4. Methodische Vorgehensweise
4.1. Vorgehensweise bei der Recherche themenbezogener Texte und insbesondere themenbezogener empirischer Studien und Forschungsergebnisse
4.2. Vorgehensweise bei der Auswahl der Studien
4.3. Vorgehensweise bei der Darstellung der Studien bzw. ihrer Ergebnisse
5. Forschungsergebnisse und Diskussion zu kognitiven Profilen von Kindern mit LRS oder/und Rechenstörung
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
8. Pressemitteilung
Tabeilen Verzeichnis
Tabelle 1. Bei der Recherche im Internet verwendete Suchbegriffe
Tabelle 2. Merkmale der verendeten Stichproben
Tabelle 3. Forschungsdesign in den dreizehn ausgewählten Studien
Tabelle 4. Forschungsergebnisse zu den kognitiven Profilen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Graphische Darstellung der kognitiven Profile zweier Personen
Abbildung 2: Mögliche Wirkfaktoren und Interaktionsebenen einer LRS
Abbildung 3: Rechenstörungen und zugrundeliegende neurokognitive Defizite
Abbildung 4: Vermutete Wirkmechanismen bzM>. Zusammenhänge
Zusammenfassung
Aufgrund des stetig steigenden Erfolgsdrucks schon im frühen Alter gewinnen Interventionen von möglichen Lemstörungen mehr und mehr an Bedeutung. Die häufigsten Stömngen im Gmndschul- sowie Jugendalter können den weiteren Entwicklungsverlauf massiv beeinträchtigen, da sie als entwicklungsstabile Lemstömngen gelten. Lese-Rechtschreib- und Rechenstömngen werden in vorliegendem systematischen Review mittels Vergleich von 13 aktuellen Studien genauer untersucht. Vor allem liegt die Frage im Fokus, ob die Komorbidität der Lemstömngen auf einem gemeinsamen Kemdefizit oder aber auf unabhängig voneinander arbeitenden Kemdefiziten, sprich die These vom domänenspezifischen Defizit, basiert. Die Resultate zeigten, auch aufgmnd der gut vergleichbaren Studien, dass die These des domänenspezifischen Erklärungsmodells die zutreffende ist. Die Komorbidität der Stömngen ist somit eine additive Funktionsstörung. Dennoch liefern verschiedene Autoren die Hinweise, dass die Komorbidität nur als teilweise additive Funktionsstörung von Lese- und Rechenstömng aufgefasst werden kann. In Anbetracht der widersprüchlichen Hinweise und des Mangels an Vielialtigkeit der Forschungsdesigns sowie des Analyseverfahrens, werden Empfehlungen und Implikationen für die Forschung aufgezeigt.
1. Einleitung
Lesen, Schreiben und Rechnen sind Kulturtechniken, die in modernen Gesellschaften grundlegend wichtig sind. Sie gelten als Dienstleistungs-, Informations-, Wissensgesellschaften und können sogar als virtuelle Gesellschaften charakterisiert werden (Bühl 1997, ร.360). Wer nicht flüssig lesen, in Sprache und Schrift nicht korrekt formulieren kann oder die Grundrechenarten nicht beherrscht, hat kaum eine Chance, die Bildungsinstitutionen problemlos zu durchlaufen und formale Qualifikationen zu erwerben. Da die empirische Sozialforschung gezeigt hat, „[...] dass kein anderer Aspekt von Bildung die Lebenschancen und die Lebensqualität von Individuen so stark beeinflusst wie die in der Sekundarstufe erworbenen Bildungszertifikate" (Diefenbach, 2011, ร.139), bedeutet dies für Betroffene einen erheblichen Nachteil gegenüber denjenigen, die flüssig und korrekt lesen, schreiben und rechnen können. Darüber hinaus gewinnen die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen durch die immer häufigere Forderung zur Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen in unserer Gesellschaft, zunehmend an Bedeutung, damit Menschen neue Kompetenzen erwerben und diese im Erwerbsleben einsetzen können. Aufgrund dessen gelten sie auch als unverzichtbare kulturbezogene Grundkompetenzen. (Fries & Souvignier, 2015).
Die Vermittlung dieser grundlegend wichtigen Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens sind dementsprechend „eines der zentralen Bildungsziele der Grundschule. Die Grundlagen dafür werden jedoch viel früher gelegt, das heißt lange bevor Kinder in der Grundschule mit dem ausdrücklichen Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen beginnen. Dies eröffnet die Möglichkeit, bereits im Kindergarten die Voraussetzungen für den Erwerb d[ies]er Kulturtechniken zu verbessern" (Hasselhom et ab, 2015, ร.16).
Bei manchen Kindern stößt der Erwerb dieser Kulturtechniken aber auf Hindernisse. Beispielsweise haben sie Schwierigkeiten mit dem Lesen. Womöglich haben sie eine stark unterdurchschnittliche Lesegeschwindigkeit im Vergleich zu Gleichaltrigen, oder sie lassen Wörter beim Lesen aus oder ersetzen Wörter durch andere. Es besteht ebenso die Möglichkeit, dass Kinder Schwierigkeiten damit haben, die Regeln der Rechtschreibung zu erlernen - beispielweise verwechseln sie ähnlich klingende Buchstaben wie „d" und „t". Auch tun sich Kinder unter Umständen schwer damit die Grundrechenarten zu meistern. Zum Beispiel, weil sie Mengen nicht korrekt erfassen können oder sprachliche Symbole nicht in Ziffern Umsetzen können (Warnke, 2011).
Solche Kinder gelten als lese-, rechtschreib- oder rechenschwach, wenn ihre Leistungen in anderen Gebieten oder Fächern - unter Beachtung der Schwierigkeiten, die sich in ihnen durch die Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche ergeben - nicht deutlich von den durchschnittlichen Leistungen abweichen, die Gleichaltrige in diesen Gebieten oder Fächern zeigen. Diese Kinder sind also nur in Teilen leistungsschwach, weshalb Lese-, Rechtschreib- und Rechenschwächen auch als Teilleistungsschwächen bezeichnet werden (z.B. bei Wamke 2011, ร. 142). Darüber hinaus findet man - meist zur Bezeichnung stärkerer Grade der genannten Schwächen - die Begriffe „Lesestörung", „Rechtschreibstörung", „Rechenstörung" sowie „Dyslexie", „Legasthenie", „Dyskalkulie" und einige andere Begriffe.[1]
Wenn die von Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche betroffenen Kinder nicht dabei unterstützt werden, die Schwäche oder Störung zu überwinden, oder sie trotz Unterstützung nicht überwinden können, sind ihre weiteren Bildungs- und Berufschancen normalerweise beeinträchtigt. Ebenfalls haben sie Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Aufgaben in ihrem Privatleben. So schreibt Kirchberg, der als sein Dissertationsprojekt die einzige deutschsprachige Studie zu Dyskalkulie beziehungsweise Rechenschwäche im Erwachsenenalter durchgeführt hat:
„Über die Langzeiteffekte von Dyskalkulie ist bisher wenig bekannt. Es wird aber vermutet, dass die negativen Auswirkungen auf die Schullaufbahn und das Berufsleben massiver sind als bei Legasthenie. In einer englischen Studie [...] ist zu lesen, dass die Arbeitslosenquote 37-jähriger Männer mit adäquater Rechen- und Leseleistung bei 8% lag. Bei rechenschwachen Personen jedoch bei 48% und damit sogar höher als bei Personen mit schwachen Leseleistungen (41%) [...] Aber nicht nur das Berufsleben stellt für Erwachsene mit Rechenschwäche eine unüberwindbare Hürde dar, auch der Alltag ist massiv beeinträchtigt. Die Preise in Kaufhallen sagen den Betroffenen nichts, sie wissen nie, ob ihr Geld zum Einkäufen reicht, eine Kontrolle des Wechselgelds ist nicht möglich^] oder das Lesen von Fahrplänen ist kaum zu bewerkstelligen." (Kirchberg, 2015)
Wenn die Prävalenz von Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörungen in der Literatur größtenteils als um die fünf Prozent angegeben wird (Groschen, 2012; Koch, 2008; Schulte-Köme, 2010 & Wamke, 2011), mag dies auf den ersten Blick vielleicht als quantitativ nicht allzu bedeutsam erscheinen. Sie gehören dennoch zu den häufigsten Stömngen im Kindes- und Jugendalter und schon wegen der negativen Auswirkungen auf den Lebensverlauf und die Lebensqualität der Betroffenen erscheint der Versuch möglichst frühzeitiger Intervention wünschenswert. Lese- und Rechtschreibschwächen sind in den meisten Fällen keine vorübergehenden Phänomene, sondern relativ entwicklungsstabil.
So schreiben Schumacher, Schulte-Köme und Nöthen (2006) mit Bezug auf die Lese-Rechtschreibstörung „entgegen der verbreiteten Auffassung auch nicht mit Abschluss der Adoleszenz verliert", auch wenn "[cjharakteristischerweise [...] die Ausprägung der Funktionsbeeinträchtigung mit dem Älterwerden der Kinder ab [nimmt], obgleich bei vielen Betroffenen die umschriebenen Lemschwierigkeiten bis in das Erwachsenenalter hinein verbleiben" (Warnke, 2011, ร. 142).
Über Rechenschwäche berichtet Warnke (2011), dass es wenige Studien über den Verlauf und die Prognose dieser Störung gibt. Er vermutet, dass womöglich nur ein Drittel der betroffenen Schüler im Alter zwischen acht und zwölf Jahren die Rechenstörung überwinden. Ein Beispiel unterstreicht seine Vemiutung: „In einer klinischen Stichprobe haben [sechs] von [zehn] Kindern mit Rechenstörungen entweder die Klasse wiederholen oder die Sonderschule für Schüler mit Lembehinderung besuchen müssen“ (Warnke, 2011).
Die Voraussetzung dafür einschätzen zu können, ob oder inwieweit Interventionsmöglichkeiten erfolgversprechend sein können, ist es, zu wissen wo genau die Defizite der Kinder mit diesen Störungen hegen oder anders ausgedrückt: welche Funktionen genau bei ihnen gestört sind und wie es zu diesen Störungen konmit beziehungsweise was die Auslöser für die Defizite sind. In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung wichtig, dass Lese-, Rechtschreib- und Rechenschwäche häufig bei ein und derselben Person gemeinsam auftreten (vgl. hierzu die in Landerl et ah, 2009 zitierten Studien sowie Rubinsten & Henik, 2009). Das scheint darauf hinzuweisen, dass zwischen Dyslexie und Dyskalkulie doch Zusanmienhänge bestehen. Möglicherweise hegt oder liegen beiden Störungen dieselbe/n บrsache/n zugrunde. So ist es vorstellbar, dass beide Ausdruck einer geteilten kognitiven Funktionsstörung sind. Sowohl Lese- als auch Rechenstörungen könnten das Ergebnis von beeinträchtigten Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisfunktionen sein (Brainerd & Reyna, 1991; Swanson, 1993). Wenn dies aber so wäre, müsste man erklären, warum nicht alle von Dyslexie oder Dyskalkulie Betroffenen beide Störungen aufweisen. Dass dies so ist, spricht für die Gegenthese zur These vom gemeinsamen Kerndefizit, also die These vom bereichsoder domänenspezifischen Defizit (Landerl et ah, 2009). Laut dieser These ist die Komorbidität von Lese-Rechtschreib- und Rechenstörung darauf zurückzuftihren, dass „[...] Kemdefizite [sowohl] im Bereich phonologischer Verarbeitung [...] [als auch im Bereich] basaler numerischen Verarbeitung [...] [vorliegen], und dass [...] beide Kemsysteme gleichzeitig und unabhängig voneinander beeinträchtigt sind" (Heine et ah, 2012, ร.?ร).
An diese verschiedenen Thesen knüpft die vorliegende Arbeit an.
Ihre Zielsetzung ist es,
1. einen Überblick zu geben über den Forschungsstand hinsichtlich der kognitiven Profile von Kindern mit Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung, um
2. auf der Basis dieses Forschungsstandes empirisch begründet Stellung zu der Frage nehmen zu können, ob bzM>. inwieweit es sich bei Lese- und Rechtschreibstörung und bei Rechenstörung um domänenspezifische Funktionsstörungen handelt oder um gemeinsam verursachte Funktionsstörungen.
Die vorliegende Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Nach einer umfassenden Einleitung in Kapitel 1, ist Kapitel 2, der Klärung einiger Schlüsselbegriffe im Kontext der vorliegenden Arbeit gewidmet. Die Begriffsklärungen dienen dazu, das Verständnis der Arbeit zu erleichtern und insbesondere nachvollziehbar zu machen, welche Kriterien den Stichprobenauswahlen der Studien zugrunde gelegt wurden, über deren Ergebnisse wird später berichtet. In Kapitel 3 werden verschiedene Möglichkeiten vorgestellt, wie man das Auftreten einer Lese- und Rechtschreibstörung oder einer Rechenstörung erklären kann. Dabei geht es um theoretische Argumentationen beziehungsweise prinzipielle Möglichkeiten. Die Frage, inwieweit sich die eine oder andere mögliche Erklärung durch empirische Forschung bewährt hat oder durch sie falsifiziert wurde, wird in einem späteren Analyseschritt behandelt. Die Darstellung in Kapitel 3 soll ein besseres Verständnis der in empirischen Studien berichteten Forschungsergebnisse ermöglichen. In Kapitel 4 wird daraufhin beschrieben, welche Methode der wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegt bei
- der Recherche themenbezogener Texte und insbesondere themenbezogener empirischer Studien und Forschungsergebnisse,
- der Auswahl empirischer Studien zu den kognitiven Profilen von Grundschulkindem mit Lese-Rechtschreibstörung und /von Kindern mit/ Rechenstörung und
- der Darstellung der Studien und Forschungsergebnisse.
Kapitel 5 ist das zentrale Kapitel der vorliegenden Arbeit insofern als dass in ihm die ausgewählten Studien vorgestellt und die Forschungsergebnisse zusammengestellt und diskutiert werden, welche die Studien zu kognitiven Profilen von
Grundschulkindem mit Lese-Rechtschreibstörung und /von Kindern mit/ Rechenstörung erbracht haben. Im letzten Teil der Arbeit wird ein Fazit aus den Ergebnissen gezogen.
2. Begriffsklärungen
Da kognitive Profile von Grundschulkindem mit Lese- und Rechtschreibstömng Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, müssen die Begriffe „Lese- und Rechtschreibstömng" sowie „Rechenstömng" und „kognitive Profile" geklärt werden, die für das Verständnis der Arbeit essentiell sind. Dabei geht es nicht nur dämm den Gehalt beziehungsweise die Verwendungsweise/n dieser Begriffe zu erläutern. Darüber hinaus sollen durch die Darstellungen in den Kapiteln 2.1 und 2.2 Kriterien an die Hand gegeben werden, anhand derer die Studien, die in Kapitel 5 beschrieben werden, beurteilt werden können. Insbesondere sollen die Darstellungen in den Kapiteln 2.1 und 2.2 dabei helfen, feststellen zu können, inwieweit die in Kapitel 5 beschriebenen Studien überhaupt miteinander vergleichbar sind.
2.1 Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung
Wie in der Einleitung bereits angesprochen gibt es relativ viele verschiedene Begriffe, die benutzt werden, um Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwächen zu bezeichnen, damnter „Dyslexie", „Legasthenie", „Entwicklungsdyslexie", „umschriebene Lesestömng" und „Leserückstand“ bzw. „Dyskalkulie", „Akalkulie" und „Entwicklungsdyskalkulie". Weil mit diesen Bezeichnungen häufig bereits Annahmen über das Ausmaß der Schwäche, ihre Entwicklung oder ihre (Haupt-/)Ursache mitschwingen und Bezeichnungen nicht immer einheitlich benutzt werden, ist es nicht immer einfach, sich ein Bild davon zu machen, welche Autoren in ihren Texten jeweils Identisches oder Unterschiedliches thematisieren. Häufig folgt die Wahl bestimmter Begriffe impliziten Kriterien oder Annahmen, das heißt die gewählten Begriffe werden in einem Text entweder gar nicht definiert oder nur in sehr allgemeiner Weise, sodass in vielen Fällen weiterhin gilt, was Burton bereits im Jahr 1997 festgestellt hat:
"Intellectual disability is generally described in broad terms, i.e. a disability which started before adulthood; reduced ability to cope independently due to a reduced ability to understand new information and leam new skills [...] Learning disability is not defined by any clear 'cut-off point. The difficulty arises in deciding how and where to draw the line (or lines) between those eligible for the learning disability service, and the general population" (Burton, 1997, ร.37).
In der Literatur finden sich auch verschiedene Arten von Definitionen von Lemschwächen oder -Störungen bzw. Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörungen. Darunter befinden sich administrative, psychometrische, funktionale und juristische Definitionen (vgl. hierzu British Psychological Society 2000), aber auch Perfomianzdefinitionen, denen die Vorstellung zugrunde liegt, dass sich Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwächen oder -Störungen in schlechten Leistungen im Deutschunterricht oder schlechten Noten in Mathematik ausdrücken (vgl. hierzu Ziegler, 2008, ร.15). Im Zuge des Fehlschlusses können schlechte Leistungen im Deutschunterricht, speziell im Lesen oder Schreiben oder im Mathematikunterricht daher leicht als Ausdruck von Lese-, Rechtschreib- bzw. Rechenstörungen (fehl- )interpretiert werden (Salmon, 1983).
Im Rahmen entwicklungs- oder schulpsychologischer Diagnostik werden üblicherweise psychometrische und Diskrepanzdefinitionen verwendet, also solche Definitionen, die eine Schwäche oder Störung gemäß der Ergebnisse identifiziert, die ein Kind im Rahmen eines standardisierten Tests im Vergleich mit anderen Kindern, gewöhnlich Klassenkameraden oder Gleichaltrigen, erzielt. Als Entwicklimgssiövungcn treten Lese-/Rechtschreibung- und Rechenstörungen im Kindesalter auf und verweisen gemäß der Beschreibung der Weltgesundheitsorganisation darauf, dass die „[...] normalen Muster der Fertigkeitserwerbs von frühen Entwicklungsstadien an beeinträchtigt sind" (WHO, 2016, F8T-). Laut dieser Beschreibung sind die Entwicklungsbeschränkungen oder -Verzögerungen „[...] nicht [...] [als] Folge[n] eines Mangels an Gelegenheit zu lemen [und] auch nicht allein als Folge[n] einer Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Himschädigung oder -krankheit aufzufassen“ (WHO/DIMDI, 2016, F8L-).
Damit werden in der ICD-10 die Symptomatik und die Ursachen von umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten miteinander vemiischt, um sie zu definieren. Dies ist wenig empfehlenswert, weil in der Praxis Lese- und Rechenstörungen aufgrund bestimmter Symptome beobachtet werden[2] und Kinder mit diesen Anzeichen als Kandidaten für bestinmite Fördermaßnahmen identifiziert werden, ohne dass schon eine Prüfung ihrer neurologischen Funktionen, ihrer Intelligenz, ihrer sensorischen Fähigkeiten oder aller möglichen Faktoren in der Umwelt der Kinder stattgefunden hätte. So schreibt zum Beispiel Hudson in ihrem an Lehrpersonen in Schulen gerichteten Buch über "Specific Learning Difficulties":
"Dyslexia is often discovered because of a discrepancy between a student's good oral ability and their mediocre to poor performance on paper. Look out for a student who makes sensible and intelligent contributions in class but consistently comes out with test exam results which are lower than expected, despite hard work" (Hudson, 2016, ร.28).
In der schulischen Realität wird also gewöhnlich eine Perfomianzdefinition von Rechtschreib- oder Lese-Rechtschreibstörung zugmnde gelegt, und kann Anlass dazu sein, nach den Ursachen der Störung beim betroffenen Kind zu forschen. Das Kind kann dann mit Hilfe eines Eltemfragebogens oder eines standardisierten psychometrischen Tests einer psychopathologischen Untersuchung unterzogen werden, ebenso wie einer körperlichen Untersuchung, die Seh- oder Hörstörungen ausschließen soll (Schulte- Köme, 2010). Je nachdem, was gegebenenfalls diese Nachforschungen ergeben, gilt die Lese- oder Rechenstörung gemäß der ICD-10 als (man könnte sagen: „eigentliche") Lese- oder Rechenstörung. Mit Bezug auf die Praxis bleibt die Lese- und Rechenstörung aber die Symptomatik, während die Ursachenforschung für die beobachtete Symptomatik darüber Aufschluss geben können, ob und inwieweit und auf welche Weise eine Intervention im Fall eines bestimmten Kindes erfolgversprechend ist oder nicht.
Mit der Vermischung von Symptomatik und บrsache/n bei der Definition von Erkrankungen oder Störungen steigt die Gefahr - wie oben bereits bemerkt - , dass eine bestimmte Symptomatik sozusagen gewohnheitsmäßig mit ganz bestimmten ihr häufig zugrundeliegenden Funktionsstörungen assoziiert wird, obwohl ihr tatsächlich auch andere Funktionsstörungen zugrunde liegen können. Schließlich wird es mit der mangelnden Trennung von Symptomatik und Ursachen schwierig zu unterscheiden, welche Größen die Symptomatik verschlimmern, aber nicht ihre Ursachen im Sinne von Auslösern der Störung sind, und welche tatsächlich als Ursachen in diesem Sinn gelten können. Beispielsweise wird allgemein davon ausgegangen, dass das fortschreitende Sterben von Gehirnzellen die Ursache von Alzheimer bzw. Demenz ist, und in allen Fällen von Alzheimer werden Ablagerungen von Proteinen zwischen den sterbenden Gehirnzellen beobachtet. Es ist aber unklar, ob diese Ablagerungen die Ursache für diese Krankheit sind oder ob es sich dabei um ein Symptom neben anderen Symptomen oder in Verbindung mit anderen Symptom - wie der Schrumpfung der Gehimgröße und dem Abbau von Nervenzellen und ihren Verbindungen im Gehimgewebe - handelt, denen wiederum vielleicht ein gemeinsame Ursache zugrundliegt (McGill, 2016).
Es empfiehlt sich daher, Lese-Rechtschreibstörungen und Rechenschwächen (im Plural auf der Beobachtungsebene) zunächst als Symptome aufzufassen, deren nicht direkt beobachtbare Ursachen gesucht und möglichst gefunden werden müssen, damit eine erfolgversprechende Intervention möglich ist. Betrachtet werden soll deshalb zunächst, was die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf der deskriptiven Ebene bzw. der Ebene der Symptomatik zu Lese- und Rechtschreibstörung sowie zu Rechenstörung zu sagen hat:
Als Kategorien „[น]mschriebene[r] Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten" gelten in der ICD-10 „Lese- und Rechtschreibungsstörung", ,,[i]solierte Rechschreibstörung" und „Rechenstörung" neben ,,[k]ombinierte [ท] Störungen schulischer Fertigkeiten", „[ร]onstige[n] Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten" und „Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, als nicht näher bezeichnet" (WHO/DIMDI, 2016, F81.0-F81.3; F81.8-F81.9).
Die Symptomatik von Lese- und Rechtschreibstörung wird wie folgt beschrieben:
„Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wieder zu erkennen, vorzulesen und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden. Umschriebenen Entwicklungsstörungen des Lesens gehen Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache voraus [...]" (WHO/DIMDI2016, F81.0).
Bei der ,,[i]solierte[n] Rechtschreibstörung [...] handelt es sich um eine Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung" (WHO/DIMDI 2016, F 81.1). Das Defizit, das eine Rechenstörung kennzeichnet, „[...] betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differenzial- und Integralrechnung benötigt werden" (WHO/DIMDI 2016, F81.2).
Bei der ,,[i]solierte[n] Rechtschreibstörung [...] handelt es sich um eine Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung" (WHO/DIMDI 2016, F 81.1). Das Defizit, das eine Rechenstörung kennzeichnet, „[...] betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differenzial- und Integralrechnung benötigt werden" (WHO/DIMDI 2016, F81.2).
Dies sind recht vage Definitionen, und tatsächlich halten auch von Aster und Lorenz mit Bezug auf Rechenstörungen fest: "Rechenstörungen stellen kein einheitliches Phänomen dar, sondern können sehr verschiedenartig in Erscheinung treten. Deshalb gibt es auch keine einfachen, immer zutreffenden Erklärungen und Konzepte" (von Aster & Lorenz, 2013, ร.7). Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, nicht nur die Klassifizierung der Krankheiten im ICD-10 zu betrachten, sondern auch die diagnostischen Richtlinien in der "ICD-10 Classification of Mental and Behavioural Disorders" der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahre 1993.
Dort heißt es:
"There are several basic requirements for the diagnosis of any of the specific developmental disorders of scholastic skills. First, there must be a clinically significant degree of impairment in the specified scholastic skill. This may be judged on the basis of severity as defined in scholastic terms (i.e. a degree that may be expected to occur in less than 3% of schoolchildren); on developmental precursors (i.e. the scholastic difficulties were preceded by developmental delays or deviance - most often in speech or language - in the preschool years); on associated problems (such as inattention, overactivity, emotional disturbance, or conduct difficulties); on pattern (i.e. the presence of qualitative abnormalities that are not usually part of normal development); and on response (i.e. the scholastic difficulties do not rapidly and readily remit with increased help at home and/or at school)" (WHO 1993, ร. 190).
Die im Zitat genannten drei Prozent als Grenzwert zur Bestimmung einer umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten geht auf das Diskrepanzmodell zurück, das Rutter, Graham und Yule (1970) entwickelt haben, um eine Lemstörung statistisch zu bestinmien. Sie liegt dann vor, wenn von der beobachteten Leistung in einem Bereich - dem Lesen, der Rechtschreibung, dem Rechnen - die erwartete Leistung subtrahiert wird und der Wert, der sich dadurch ergibt, mehr als zwei Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegt. Der Wert errechnet sich aus den Abweichungen zwischen beobachteten und erwarteten Leistungswerten in der Population der betrachteten Kinder, bzw. wenn die gemessene Fähigkeit eines Kindes in einem bestinmiten Alter im Lesen, in der Rechtschreibung oder im Rechnen unterhalb derer von etwa 97,5 Prozent der Kinder im selben Alter liegt (Selikowitz, 2012).
Die erwartete Leistung wird ihrerseits aufgrund der beobachteten Zusammenhänge zwischen Leseleistung, Intelligenzquotient und Lebensalter in der gesamten Bezugspopulation, zum Beispiel in der Population der Drittklässler, vorhergesagt. Dies bedeutet, dass die Feststellung einer Lemstörung unter Kontrolle von Intelligenzquotient und Lebensalter erfolgt (vgl. hierzu Schulte-Köme, 2010). Methodisch erfolgt die Feststellung einer Lemstömng gemäß des Diskrepanzmodells mittels multipler Regressionsanalysen. In der Literatur wird überwiegend dieses Diskrepanzmodell zur Definition von Lese- und Rechtschreibstömng und von Rechenstömng zugmnde gelegt.
Zur Identifizierung von Lese- und Rechtschreib- sowie Rechenstömng/en gibt es allein im deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe von Testverfahren. Im Jahr 2000 haben Hemminger et al. eine Übersicht über bis dahin entwickelte und in der Praxis verwendete deutschsprachige testdiagnostische Verfahren, zur Überprüfung der Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen, aufgmnd derer entsprechende Stömngen gemäß dem Diskrepanzmodell identifiziert werden können, vorgelegt. Nach Marx et al (2008) standen zur Erfassung von Rechtschreibleistungen bei Kindern und Jugendlichen 25 Tests zur Verfügung. Niebergall und Quaschner (2008, ร. 62-63, Tabelle 9.5) listen im selben Jahr in ihrer Übersicht zur Erfassung von Lese- und Rechtschreibstörungen 23 Tests auf. Zur Identifizierung von Rechenstörungen im Vor- und Grundschulalter existierten nach Werner (2009) 13 Tests. Im englischsprachigen Raum stehen noch weit mehr Tests zur Identifizierung von Lese- und Rechtschreibstörungen zur Verfügung wie die Übersicht zeigt, die von der Initiative Dyslexia Help an der University of Michigan bereitgestellt wird.[3]
Als Instrument zur Messung der Intelligenz eines Kindes wird im deutsch- und im englischsprachigen Raum häufig eine Variante des Wechsler-Intelligenztests für Kinder verwendet. Eine solche deutschsprachige Version ist zum Beispiel der HamburgWechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK-IV), „[...] der für Kinder ab dem 6. Lebensjahr bis zum 17. Lebensjahr normiert ist. Neben sprachlichen Fähigkeiten erfasst der Test logisches Denken, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Gedächtnisfahigkeiten" (Schulte-Köme, 2010, ร.721), obwohl auf dem Wechsler-Intelligenztest basierende Intelligenztests sich empirisch nicht immer oder nur unter bestimmten Bedingungen bewährt haben (Kavale & Fomess, 1984; Macmann & Barnett, 1997; Waldmann, 2008; Watkins, 2000; Watkins & Canivez, 2004; Watkins et al, 1997) und sprachfreie Intelligenztests wie der Heidelberger Intelligenztest (HIT) (Kratzmeier, 1994) existieren. Der HIT reduziert das methodische Problem, das sich besonders dann ergibt, wenn sprachliche Fähigkeiten im Rahmen eines Intelligenztests als Teil der Gesamtintelligenz gemessen werden, wie das beim HAWIK-Test der Fall ist, der unter anderem einen Wortschatz-Test enthält (vgl. hierzu Rauchfleisch, 2001, ร.61-63).
Deshalb halten Petermann und Daseking ausdrücklich fest:
„Für Intelligenztests, die im Rahmen der Leitliniendiagnostik zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen eingesetzt werden sollen, wird gefordert, dass sie nicht durch die problematische umschriebene Teilleistung beeinflusst sein sollen. Für die Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung bedeutet dies im Fall von sprachlichen Beeinträchtigungen des Kindes den Verzicht auf Intelligenztests mit hohen sprachlichen Anforderungen bzw. den Einsatz sprachfreier, also eindimensionaler Verfahren oder die isolierte Interpretation der sprachfreien Anteile eines mehrdimensionalen Intelligenztests (z.B. Index Wahmehmungsgebundenes Logisches Denken aus der WISC-IV). Der Verwendung eindimensionaler Tests [...] steht allerdings entgegen, dass diese Tests im Vergleich zu mehrdimensionalen Verfahren oft eine geringere Messgenauigkeit aufweisen [...]"(Petermann & Daseking, 2015, ร. 120). Umgekehrt gilt, dass zur Identifizierung von Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung spezifische Tests, die speziell zu diesem Zweck entwickelt wurden, oder allgemeine Tests der Lese-, Rechtschreib- oder Rechenleistung denjenigen vorzuziehen sind, die diese Leistungen im Rahmen von Intelligenztests erheben.
2,2 Kognitive Profile
Kognitive Profile beschreiben die Kombinationen von Leistungen, die Individuen im Rahmen eines standardisierten Tests auf verschiedenen kognitiven Dimensionen erbracht haben (Letteti, 1980, ร.195). Sie sind also das Ergebnis eines Testprofils, das sich wiederum als Zusanmienfassung von Ergebnissen aus mehreren eigenständigen Einzeltests mithilfe einer grafischen Darstellung ergibt oder aus der Zusammenfassung von Ergebnissen mehrerer Messskalen, die Teile eines Einzeltests sind (Geiser & Eid, 2006). Im Testprofil einer Person können unter anderem innerpersonale Stärken und Schwächen der Person erkennbar werden. Das Testprofil kann aber auch mit einem aus einer größeren Menge von Personen gewonnenen Durchschnittsprofil oder einem Norm- oder Idealprofil verglichen werden, um Stärken und Schwächen des Einzelnen im Vergleich mit anderen Personen zu identifizieren.
Beispielsweise kann ein Testprofil, das die Intelligenz abbilden soll, in einer Abbildung oder Tabelle darstellen, welche Punktzahlen die Person auf verschiedenen Subskalen zur Messung von Intelligenz erreicht hat, zum Beispiel auf den Subskalen, die logisches Denken, Kreativität und räumliches Vorstellungsvermögen messen. Das Testprofil wird dann auf verschiedene Eigenschaften hin betrachtet: Die Profilhöhe gibt an, wo das arithmetische Mittel der Testleistungen über alle in das Profil einfließenden Tests zusammen betrachtet liegt (Beauducel & Leue, 2014). Je höher die Profilhöhe ist, desto besser sind die Testleistungen einer Person insgesamt gesehen. Die Profilstreuung ist ein Maß dafür, wie stark die Testleistungen auf den einzelnen in das Profil einfließenden Tests vom arithmetischen Mittelwert abweichen, der sich über alle in das Profil einfließenden Testleistungen hinweg betrachtet errechnet (Beauducel et ah, 2014, ร.218-219). Eine niedrige Profilstreuung bedeutet, dass eine Person in den einzelnen in das Profil einfließenden Tests etwa gleich niedrige oder hohe Leistungswerte erreicht hat. Die Profilgestalt oder -form ergibt sich dadurch, dass die erreichten Testwerte für die einzelnen in das Profil einfheßenden Tests in absteigender Rangfolge angeordnet werden (Nunnally & Ator, 1972). Die Profilgestalt gibt also Aufschluss darüber, in welchen der in das Profil einfließenden Tests die Person besonders gut oder besonders schlecht abgeschnitten hat und zeigt insofern ihre innerpersonalen relativen Stärken und Schwächen an.
Testprofile, die relative Stärken und Schwächen einer Person identifizieren, werden als ipsative Tests oder ipsative Testprofile bezeichnet. Von ipsativen Tests werden normative Tests unterschieden, bei denen das Testprofil einer Person mit den durchschnittlichen Leistungen einer Kontrollgruppe verglichen werden (Jensen, 2006). Die in Kapitel 2.1 beschriebenen Diskrepanzmodelle sind daher den normativen Tests zuzuordnen.
Auch ein direkter Vergleich der Testprofile mehrerer Personen ist möglich (Cronbach & Gleser, 1953). Man könnte meinen, dass es durch einen solchen Vergleich prinzipiell möglich ist, relative Stärken und Schwächen einer Person im Vergleich mit einer anderen oder den anderen Personen, für die Testprofile erstellt wurden, zu identifizieren. Ob und wie die Ähnlichkeit zwischen Testprofilen zweier oder mehrerer Personen festgestellt und interpretiert werden kann, ist allerdings seit Langem umstritten (vgl. Cohen, 1969; Kenny, Kashy & Cook, 2006; McCrae, 2008; Paunonen, 1984). Jenseits elaborierter statistischer Erwägungen erklärt Hayes (2000, ร.225), warum der Vergleich von Testprofilen zweier oder mehrerer Personen nicht notwendigerweise sinnvoll oder aussagekräftig ist:
"For example, using an ipsative instead of a normative test for interpersonal comparisons could mean that someone who scored highly on, say, openness to experience would seem to be more open than someone with a low score on the same test. But that need not necessarily be the case. The high score might mean only that it was the strongest of a generally weak set of traits, and the person might actually be quite low on the trait by comparison with others".
Das kann jedoch nicht geprüft werden, wenn Testprofile nur für zwei oder wenige Personen vorhegen und nur diese wenigen Testprofile miteinander verglichen werden.
Wenn in Abbildung 1 gezeigt wird, wie ein Testprofil für zwei Personen, Person A und Person B, mit Bezug auf fünf verschiedene Subtests oder -skalen aussehen kann, geschieht dies dementsprechend, um einen Eindruck davon zu geben, wie Testprofile in graphischer Form zusammengefasst und dargestellt werden, nicht, weil der interpersonale Vergleich von ipsativen Testprofilen ein verlässliches oder empfehlenswertes Verfahren wäre.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 : Beispiel für die graphische Darstellung der kognitiven Profié zweier Personen (Geiser & Eid, 2006, S.319)
Kognitive Profile sind nicht notwendigerweise Intelligenztests. Als allgemeine kognitive Profile können sie auch die Dimensionen abbilden, die den kognitiven Stil oder Denkstil einer Person ausmachen. Darunter fallt das Ausmaß von Impulsivität versus Reflexivität, das Ausmaß von Feldunabhängigkeit versus Feldabhängigkeit und das Ausmaß kognitiver Strukturiertheit versus บทstrukturiertheit (vgl. hierzu Amelang et ab, 2006, ร.440-445). Der kognitive Stil einer Person bildet „relativ überdauernde und konsistente Fomien der individuellen Auffassung, Verarbeitung und Nutzung von Informationen bzw. Informationskategorien"[4] ab. Ob und wie kognitive Stile mit Intelligenz Zusammenhängen, ist eine empirische Frage. Beides, kognitiver Stil und Intelligenz, kann in einem kognitiven Profil einer Person abgebildet werden, je nachdem, welche Tests und Subtests verwendet wurden, um das kognitive Profil zu erstellen.
Kognitive Profile werden in neuerer Zeit aber eher selten als allgemeine oder globale kognitive Profile aufgefasst und gemessen. Viel häufiger und vor allem zu diagnostischen Zwecken werden kognitive Profile als spezifische kognitive Profile erstellt, also domänenspezifische kognitive Profile (Comish, Gray & Rinehart, 2010). Beispielsweise bilden sprachbezogene kognitive Profile Leistungen ab, die eine Person im Rahmen eines entsprechenden standardisierten Tests auf verschiedenen Dimensionen der Sprachfahigkeit oder des Spracherwerbs erbringt. So misst das
Salzburger Lese-Screening (SLS) „[...] basale Lesefertigkeiten in einer natürlichen Leseanforderung [d.h. durch die inhaltliche Beurteilung von Sätzen]. Es erfasst vor allem die Lesegeschwindigkeit. Die Lesegenauigkeit wird indirekt und mit geringerer Sensitivität mitgemessen" (Mayringer & Wimmer, O.J., ร.2). Die Lesegeschwindigkeit, die durch das SLS gemessen wird, kann als eine Teilleistung im Rahmen des Leistungsprofils „Lesefertigkeit" erhoben werden. Das Profil, das die Lesefertigkeit abbildet, kann wiederum als ein Teilleistangsprofil im Rahmen eines allgemeinen kognitiven Profils erhoben werden.
Aus dem in den Kapiteln 2.1 und 2.2 Dargestellten ist erkennbar geworden, dass die Aussagekraft und Zuverlässigkeit empirischer Befunde über die kognitiven Profile von Kindern mit Lese- und Rechtschreibstörung oder Rechenstörung im Vergleich zu Kindern ohne diese Störungen eine Funktion der Güte der Tests sind, anhand derer die kognitiven Profile der Kinder erstellt werden. Außerdem ist es eine Funktion der Entscheidungen, die ein Forscher darüber trifft, wie groß die Diskrepanz zwischen einer individuellen Leistung und der Nomi, an der sie gemessen wird, sein muss, um von einer Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung zu sprechen. Bei der Zusammenschau von Ergebnissen empirischer Stadien, die auf der Betrachtung kognitiver Profile basieren, ist daher wichtig zu beachten, welche kognitiven Fähigkeiten genau in den jeweiligen Studien betrachtet wurden und anhand welcher Messinstrumente sie erhoben wurden. Ebenso ob die Tests der kognitiven Leistungen als ipsative oder als nomiative Tests konzipiert waren und welcher "cut off'-Punkt gewählt wurde, das heißt wie groß die Diskrepanz zwischen einer individuellen Leistung und der Nomi ist, an der sie gemessen wird, ab der ein Forscher von einer Störung spricht.
3. Ursachen von LRS und Rechenstörung
Heine et al. (2012, ร.10) sagen aus, dass ,,[e]s [...] als unbestritten [gilt], dass die Lese-Rechtschreibstömng eine neurokognitiv bedingte Entwicklungsstömng genetischen บrspmngs ist, Auswirkungen auf die Sprachentwicklung hat und eine Reihe verschiedenster klinischer Manifestationen haben kann. Neben Unterschieden auf der Ebene möglicher Genkandidaten, betroffener Gehimstmkturen oder spezifischer Verhaltensäußemngen ist immer auch der sozio-kulturelle Kontext zu betrachten, der mit darüber entscheidet, ob die Stömng zu bedeutsamen Behindemngen oder [...] kaum merkbaren Problemen führt".
[...]
[1] Auf diese und die hier genannten Begriffe wird in Kapitel 2 näher eingegangen.
[2] Schulte-Köme (2010) benennt als Symptome der Lesestörung „[...] eine sehr deutliche Verlangsamung der Lesegeschwindigkeit [...] ", eine verlangsamte imd fehlerhafte „[...] Zuordnung einzelner Buchstaben zu den entsprechenden Lauten [...] " und die Tendenz, „[...] anstelle von Wörtern, die schwer zu lesen sind, inhaltlich verwandte Wörter zu lesen [...]". Symptome der Rechtschreibstörang sind nach Schulte- Köme (2010, ร.719) „[...] eine deutlich erhöhte Anzahl von Rechtschreibfehlern [...]" imd das Vermeiden „[...] von Wörtern [...], von denen die Kinder vermuten, dass sie sie nicht richtig schreiben können, was oft als fehlender Wortschatz oder mangelnde Sprachbegabung aufgefasst [wird]. Es handelt sich aber meist um eine Kompensationsstrategie, mit der Rechtschreibfehler vermieden werden sollen, die [...] häufig mit Rotstift und negativen Kommentaren durch Lehrkräfte korrigiert werden". Die wichtigsten Symptome der Rechenstömng sind „[...] konzeptionelle Defizite beim Anwenden bestimmter Regeln die korrekten Zählprozessen zugmnde liegen [sowie] Fehler auf der Ebene des Monitoring, also der kognitiven überwachimg des Zählprozesses [...], [z.B. dahingehend,] dass Kinder Abzählvorgänge, bei denen das erste Objekt zweimal gezählt wird, nicht als falsch identifizieren [können]" (Heine et ah, 2012, ร.46). Auch die Anwendung „[...] ineffizienter Rechenstrategien [...] eine[...] erhöhtet·..] Fehler- und Störanfälligkeit der Rechenprozesse und ein [...] fehlende[r] Rückgriff auf mathematisches Faktenwissen [...] " werden von Heine et al. (2012) als Symptome der Rechenstömng benannt.
[3] Diese Liste findet sich, gegliedert nach Alterskategorien, für die die Tests geeignet sind, unter der Internetadresse http://dyslexiahelp.umich.edu/dyslexics/leam-about-dyslexia/dyslexia-testing/tests.
[4] http ะ//พพพ. spektrum, de/lexikon/psychologie/kognitiv er-stil/7 915
- Quote paper
- Anonymous,, 2015, Kognitive Profile bei Lernstörungen in der Grundschule, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370438
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