Ein sarkastischer Essay über den Umgang mit dem Medium Bild in unserer modernen medial überbelichteten Welt. Es sollen erst anhand eines fiktiven, übertriebenen Beispiels dem Leser unterbewusst Anomalien der heutigen Like-Gesellschaft aufgezeigt und anschließend genauer analysiert werden. Trotz des unterhaltenden Charakters will diese Arbeit wachrütteln.
Von Santa Claus und Nacktbildern - eine Weihnachtsgeschichte
Statt etwa in schneeverwehten Wäldchen oder kuschlig-warmen Stuben beginnt dieses etwas andere Wintermärchen auf dem verdreckten Lokus eines mittelklassigen Restaurants. Während eines Geschäftsessens. Ein Geschäftsessen mit einem nuschelnden, überfetteten, nach einer Mischung aus Schweiß und Chips riechenden Vertreter einer namenhaften Firma für die Herstellung von Detox-Diät-Smoothies. Er heißt Gert. Glaube ich zumindest. Ich habe mich auf die Toilette verzogen, um mich um andere, große und kleine geschäftliche Angelegenheiten zu kümmern und mir einen Moment alleine zu gönnen. Beim Öffnen der kleinen beengenden Kabine bemerke ich eine dunkle Substanz auf den kalten Fliesen, wahrscheinlich einer von Gerts Smoothies. Ich lasse mich auf meinen Thron nieder und fange an, vor und hinter mich hin zu sinnieren. Nach zwei Minuten wird mir langweilig, deshalb zücke ich mein Handy, tippe meinen Sicherheitscode in das Tastenfeld auf dem Sperrbildschirm, den ein Foto meiner Frau in Unterwäsche ziert, und fange an mich selbst zu googeln. Neben haufenweise Namensvettern - darunter ein paar Anwälte, Lehrer und ein mietbarer Weihnachtsmann, der in obszöner Weise vor einem individuell gestalteten, gelb-schwarz-roten Nissan Micra posiert und - Zitat - „mehr, als nur Süßigkeiten im Sack hat“, finde ich tatsächlich einen kleinen Link zu einem Facebook-Post meines Cousins. Das Bild zeigt mich, wie ich als kleiner Junge in der Badewanne sitze und mir einen Bart aus Schaum ans Kinn klebe. Passend zur christlichen Jahreszeit kommentiere ich „Ho Ho Ho, LOL“, füge ein sich freuendes Emoticon hinzu und freue mich. 247 Leute haben das weihnachtliche Kunstwerk bereits geliked, darunter meine Exfrau, mein Chef und der Weihnachtsmann höchstpersönlich, zumindest dem Profilfoto nach. Zu meinem Erstaunen handelt es sich um exakt dieselbe ominöse weihnachtliche Witzfigur, die schon vor dem Bienchen-farbenen Nissan ein solches Feuer an Erotik entfacht. Mein Interesse ist geweckt. Eine Viertel Stunde sitze ich nun schon hier und der Smoothie ist inzwischen getrocknet (war wohl doch kein Smoothie), aber ich will mehr über diesen Weihnachtsmann erfahren. Ich ignoriere das Geschrei und Geklopfe der Wartenden an meine Kabinentür und schicke meinem Kollegen am Restaurant-Tisch über Snapchat ein Foto meiner heruntergelassenen Hose, zusammen mit der Mitteilung, dass es wohl eine längere Sitzung werden würde - Magendarm.
Einigen Lesern mag bis hierher vielleicht ein Schmunzeln über die Lippen gehuscht oder gar recht warm ums Herz geworden sein. Anderen twittert - pardon - zwitschert vielleicht eine kleine Stimme im Kopf den Rat zu, den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte anzuzweifeln. Die Art und Weise, wie hier mit dem Medium Bild, besonders dem versendbaren Bild umgegangen wird, dürfte jedoch leider die wenigsten schockieren. Ein kleiner Exkurs durch die inspirierenden Landschaften der sozialen Netzwerke sollte sehr schnell klar machen, dass sich das intellektuelle Gedankengut und Niveau eines Großteils der geposteten und versendeten Fotos leicht von dem unterscheidet, was geniale Köpfe wie Christopher Nolan oder Damien Chazelle mit einer Kamera und ein paar Motiven erschaffen können. Betrachtet man Schnappschüsse von Sauf-Orgien, möchtegern Pornodarstellerinnen und Bizeps-Prahlereien, fragt man sich ernsthaft, ob vor den endgültigen, Unheil bringenden „Send“-Button nicht doch eine „würden sie dieses Bild auch ihrer Großmutter schicken?“-Sicherheitsfrage eingeführt werden sollte. Abhilfe für Fremdschäm-Momente und Aggressivitätsanfälle verschaffen diverse Künstler, die die Naivität so mancher Personen, wirklich Alles zu teilen, in heldenhafter Selbstjustiz bestrafen. Heraus kommen peinliche Bilder von noch peinlicheren Personen in teilweise wirklich unangebrachten Posen und Kontexten, die weltweit unter dem Hashtag #retards #cringe oder einfach nur dem guten alten #LOL verbreitet werden. Hilfsmittel für derartige Gerechtigkeitsschläge sind wahlweise Photoshop oder einfach jede andere beliebige, frei erhältliche, beängstigend leicht zu bedienende, kostenlose, weit verbreitete, proffessionelle App, die dem Nutzer volle Macht über das Bild verleiht. Puhh, mir kann das zum Glück bestimmt nicht passieren. Immerhin gibt es ja den Datenschutz und die Privatsphäre-Einstellungen bei Facebook. Zum Glück kann ich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass ich keine solch entstellten Bilder von mir im Internet finden werde. Und selbst wenn, dann lösche ich sie halt wieder. Unsere Bereitschaft, der Öffentlichkeit private Momente mitzuteilen rührt vor allem daher, dass die Hemmungen vor einem unsichtbaren und unbekannten Publikum wesentlich geringer sind, als vor tatschächlich anwesenden Personen. Wie unangenehm es werden kann, dass durch Zufall die „falsche“ Person Zugriff auf unsere Bilder erhält, ist jedem, der schon einmal in der Kontaktliste „Boss“ und „Babe“ vertauscht hat, klar. Also bitte: Think before you post, denn wie ein solches Dilemma weitergeht, können sie sich denken. Weitergehen wird es nun auch mit unserer Erzählung, immerhin handelt es sich hierbei ja um eine Weihnachtsgeschichte, also lehnt euch zurück, macht es euch bequem und lasst euch von der weihnachtliche Stimmung einlullen.
Ich bin gerade damit fertig, das Essen der letzten Stunden mental und körperlich hinter mir zu lassen. Ein kleines bisschen Stolz bin ich schon, als ich mein in Wasser gebettetes Vermächtnis betrachte. Kurz überlege ich, ob ich meinem Kollegen auch davon ein Bild sende, entscheide mich jedoch dagegen. Mein Akku wurde bei der Weihnachtsmann-Recherche ziemlich in Mitleidenschaft gezogen und Mann muss ja wirklich nicht jeden Scheiß gleich versenden. Ich ziehe meine Hose wieder hoch, spüle und bahne mir meinen Weg durch die wartenden Schlangen vor dem Klo zurück zum Restaurant-Tisch. Mein Kollege und Detox-Gert sind bereits fertig mit ihrer Schweinshaxe. Mein Teller ist auch leer. Erst wundere ich mich, dann bemerke ich aber den eindeutig zuzuordnenden Capaccio-Fleck auf Gerts Hemd. Keiner von beiden kommentiert den Zeitraum, den ich auf der Toilette verbracht habe, denn mein Kollege hat meinen Magendarm-Snap an Gert weitergereicht. Gut gelaunt verlassen wir das Restaurant, nachdem wir noch schnell die leeren Teller fotographiert und auf Instagram gestellt haben. Mein Kollege und ich verabschieden Gert. Er steigt in seinen Nissan Micra und winkt uns, während er in den Sonnenuntergang fährt. Ein schwarz-gelb-rotes Pixel am Panorama des Horizonts.
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- Arbeit zitieren
- Matthias Schmidt (Autor:in), 2016, Über den modernen Umgang mit dem Medium Bild, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370019