Was ist eine Novelle? Die Suche nach einer adäquaten Definition erweist sich in der deutschen Literatur als schwierig. Zahlreiche namhafte Dichter haben sich daran versucht, die Merkmale und Besonderheiten dieser Erzählform herauszuarbeiten.
Im Essay sollen die drei wichtige Novellentheorien betrachtet werden: Die von Christoph Martin Wieland, Johann Wolfang von Goethe und schließlich die „Falkentheorie“ von Paul Heyse.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Definition und Ursprung
2. Goethes Novellentheorie
2.1. „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“
2.2. „Die Novelle“
3. Wieland und Das Hexameron von Rosenhain
4. Heyse und die „Falkentheorie“
5. Fazit
1. Einleitung: Definition und Ursprung
Was ist eine Novelle? Die Suche nach einer adäquaten Definition erweist sich in der deutschen Literatur als schwierig. Zahlreiche namhafte Dichter haben sich daran versucht, die Merkmale und Besonderheiten dieser Erzählform herauszuarbeiten. Und dennoch lassen sich in der Geschichte der Gattung der Novelle, besonders seit dem 18. Jahrhundert, viele Höhen und Tiefen verzeichnen. Grund dafür ist, dass der Vielzahl an Ansätzen in der Novellentheorie ebenfalls eine Vielzahl an novellistischen Texten und .Produktionen' gegenüber steht. Um dieses Verhältnis und den umfangreichen Textkorpus näher bestimmen zu können, zeichneten sich im Verlauf der Zeit unterschiedliche Definitionsansätze und Theorien zur Novelle ab (vgl. Garrido Miñambres 2009: 13). Heutzutage liefert der DUDEN folgende, kurze Definition: „Erzählung kürzeren oder mittleren Umfangs, die von einem einzelnen Ereignis handelt und deren gradliniger Handlungsablauf auf ein Ziel hinführt“ (Auberle 2003: 1148). Somit wird die Novelle auf ihren Umfang und den Handlungsablauf reduziert, ihre vielseitigen Facetten allerdings nicht beleuchtet. Daher sollen im Folgenden drei wichtige Novellentheorien dezidiert betrachtet werden: Die von Christoph Martin Wieland, Johann Wolfang von Goethe und schließlich die „Falkentheorie“ von Paul Heyse.
Als Ursprung und Grundlage für die deutsche Novelle gilt Giovanni Boccaccios „Decameron“ welches vermutlich in den Jahren 1348 bis 1353 entstanden ist. Der Titel kommt aus dem Griechischen und bedeutet in etwa „Zehn-Tage-Werk“. Somit verweist er bereits auf die Rahmenhandlung: Zehn junge Menschen entfliehen der Pest in Florenz auf ein entferntes Landgut. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sie sich an zehn Tagen jeweils zehn Geschichten, die unter einem bestimmten Leitmotto stehen. Zuletzt ist Folgendes für Boccaccios „Decameron“ bezeichnend:
Boccaccios Novellen lassen sich dadurch bestimmen, dass jede demonstrative Zielgerichtetheit aufgebrochen und Eindeutigkeiten vermieden werden: Doppelpoligkeit statt Einpoligkeit in der Personengestaltung, Komplizierung traditioneller Handlungsschemata, durch besondere Umstände, Relativierung absoluter Normen und Formen des Widerspruchs, die unerhörte Begebenheit statt des Regelfalles, die Ersetzung der göttlichen Gnade durch den menschlichen Witz, offene statt gelöster Fragen (Neuschäfer 1969: 7).
2. Goethes Novellentheorie
2.1. „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts findet die Novelle nach romanistischem Vorbild auch in der deutschen Literatur Beachtung. Goethe rückt in seinem Werk „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ den Aspekt des novellistischen Erzählens in den Vordergrund, ohne den Begriff „Novelle“ konkret zu verwenden (vgl. Meier 2014: 49). Es lassen sich deutliche Parallelen zum „Decameron“ ausmachen: Auch bei Goethe flieht die Gesellschaft in der Rahmenhandlung vor einer Katastrophe, nämlich vor den Ausbrüchen der Französischen Revolution. Allerdings gelingt es den Figuren - im Gegensatz zu Boccaccio - nicht, sich von den Ereignissen abzulenken, vielmehr beziehen sie die Thematik der politischen Situation in die Erzählungen ein (vgl. ebd: 50f.).
In einem Gespräch über das menschliche Grundbedürfnis nach „Neuheit“ stellt ein Geistlicher implizit Überlegungen zur Novelle an, ohne den Begriff konkret zu nennen:
[...] was gibt einer Begebenheit ihren Reiz? Nicht ihre Wichtigkeit, nicht der Einfluß [sic!], den sie hat, sondern die Neuheit. Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsere Einbildungskraft in Bewegung setzt [...] (Goethe 1963: 141).
Aus dem Zitat des Geistlichen lässt sich entnehmen, dass für Goethe also das Neue einer Begebenheit erst ihren Reiz verleiht und beim Leser Neugier erweckt und Spannung erzeugt. Im Rahmengespräch zur „Prokurator-Novelle“ erläutert die Baronesse dem Geistlichen, welche Geschichte sie gern hören würde. Dabei betont sie, dass Erzählungen wie aus „Tausendundeine Nacht“, die ineinander verschachtelt sind, ihr keine Freude bereiten. Außerdem spiele der Inhalt keine Rolle, die Gegenstände der Erzählung seien frei, aber die Form der Erzählung sei relevant:
Geben Sie uns zum Anfang eine Geschichte mit wenig Personen und Begebenheiten, die gut erfunden und gedacht ist, wahr, natürlich und nicht gemein, soviel Handlung als unentbehrlich und soviel Gesinnung als nötig, [...] Ihre Geschichte sei unterhaltend, solange wir sie hören, befriedigend, wenn sie zu Ende ist, und hinterlasse einen stillen Reiz, weiter nachzudenken (ebd.: 166).
Es wird also deutlich, dass die Novelle vor hohen Erwartungen steht. Sie soll die Leser mit wenig Handlung und Personal unterhalten, so dass die Erzählung leicht nachzuvollziehen ist und dennoch zum Nachdenken anregt. Außerdem soll sie amüsierend und belehrend zugleich sein.
Hugo Aust (2006) sieht in Goethes Werk den Auftakt der deutschen Novellengeschichte. Zwar seien die Rahmenbedingungen dem italienischen Vorbild sehr ähnlich, vielmehr stehen die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ allerdings für eine „Exemplarisierung“ des „Decameron“. Außerdem werde der Novellenbegriff bei Goethe noch nicht thematisiert, sondern der Begriff der „moralischen Erzählung“ (vgl. Aust 2006: 71f.).
2.2 „Die Novelle“
Erst etwa 30 Jahre später setzt Goethe sich erneut mit der Begrifflichkeit der „Novelle“ auseinander. In Gesprächen mit Johann Peter Eck ermann im Jahr 1827 legt Goethe laut Aust den „Grundstein jedes Novellenbegriffs“ (Aust 2006: 9). In einer Diskussion darüber, welchen Titel Goethe seiner jüngst geschriebenen Geschichte geben könnte, fällt folgende, kennzeichnende Aussage: „Wissen Sie was [...] wir wollen es die Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit.“ (Eckermann 1948: 222). Damit ist nicht nur der Titel für die Erzählung gefunden, sondern auch das bekannte Kriterium der „unerhörten Begebenheit“, welche in jeder guten Novelle vorzufinden sein sollte. Die Begebenheit impliziert, was jemandem widerfährt und sich gut erzählen lässt, also einen realistischen Charakter trägt. Dabei soll diese Begebenheit unerhört sein, was mehrdeutig aufzufassen ist: Zum einen kann „unerhört“ meinen, dass dem Leser bzw. Zuhörer die Erzählung neu und unbekannt ist, zum anderen kann es etwas Außerordentliches, einen Normbruch beinhalten, (vgl. Aust 2006: 9f.).
3. Wieland und Das Hexameron von Rosenhain
ln Christoph Martin Wielands „Hexameron von Rosenhain“ leitet Herr M. die Unterhaltung der Gesellschaft damit ein, sich nichts von seinem Beitrag zu versprechen, da er „weder ein Geistermährchen [sic!], noch ein Milesisches Mährchen [sic!], noch irgend eine andre Gattung von aufstellbaren Mährchen [sic!] in seinem Vermögen hätte“ (Wieland 1805: 173) und die Anwesenden daher „mit einer kleinen Novelle vorlieb nehmen müssen“ (ebd.). Weiterhin hebt Herr M. in seinem Vortrag hervor, dass sich eine Novelle,, [...] in unserer wirklichen Welt begeben habe, wo alles natürlich und begreiflich zugeht, und die Begebenheiten zwar nicht alltäglich sind, aber doch, unter denselben Umständen, alle Tage allenthalben zutragen könnten“ (ebd.). Es wird also deutlich, dass eine Erzählung, die weit in der Ferne handelt, den Leser bzw. Zuhörer eher in den Bann zieht und Spannung verspricht, als eine Erzählung mit Wirklichkeitsbezug:
Es sey [sic!] also von einer Novelle nicht zu erwarten, daß [sic!] sie (wenn auch alles übrige gleich wäre) den Zuhörern eben denselben Grad von Anmuthung [sic!] und Vergnügen gewähren könnte, den man aus glücklich gefundenen oder sinnreich erfundenen und lebhaft erzählten Mährchen [sic!] zu schöpfen pflege (ebd.).
Somit deutet Wieland vor allem auf die Gegensätzlichkeit zu Märchen hin, da diese in einer fiktionalen Welt spielen, die Novelle hingegen in der „wirklichen Welt“ handelt. Zunächst bleibt unklar, ob Wieland durch den Vortrag des Herrn M. die Novelle als Gattung herabwürdigt, da er ihr einen Mangel an Poetizität unterstellt, oder dadurch erst die besondere Eigenart der Novellen deutlich wird und sie trotz dieses .Mangels' Leselust bereiten. Relevant ist allerdings die Rahmung der eigentlichen Erzählung, die gleich dem Vorbild des „Decameron“ vorgenommen wird (vgl. Meier 2014: 11).
Bereits zuvor, im Jahre 1772, versucht sich Wieland in einer Neuauflage seines Romans „Der Sieg der Natur über die Schwärmerei oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“ an einer Definition der Gattung Novelle:
Novellen werden vorzüglich eine Art von Erzählungen genannt, welche sich von den großen Romanen durch die Simplicität des Plans und den kleinen Umfang der Fabel unterscheiden [...]. Die Spanier und die Italiener haben deren eine unendliche Menge (Pollheim, in Meier 2014: 35).
Auch in diesem Versuch den Begriff näher zu bestimmen, wird eine Abgrenzung zu „größeren“, also umfangreicheren, Gattungen geschaffen und die Einfachheit der Novelle betont. Darüber hinaus stellt Wieland heraus, dass die Gattung in der Romanistik bereits durchaus geläufiger ist (vgl. Meier 2014: 35).
4. Paul Heyse: Die Falkentheorie
Für die Entwicklung und Definition der Novelle spielt die „Falkentheorie“ von Paul Heyse eine beachtliche Rolle. Laut Heyse beinhaltet die Novelle ein bedeutsames Menschenschicksal und einen seelischen, geistlichen oder sittlichen Konflikt.
Auch Heyse nimmt, wie Goethe und Wieland, Rückbezug auf Boccaccios „DecameronDie neunte Geschichte des fünften Tages steht im Hinblick auf seine Theorie im Fokus: Die Falkennovelle.
Die Geschichte erzählt von dem Ritter Federigo, der unsterblich in die edle Dame Giovanna verliebt ist. Um ihre Liebe für sich zu gewinnen, macht er ihr teure Geschenke und verliert somit sein ganzes Hab und Gut. Zuletzt bleiben ihm nur noch sein Haus und sein wertvoller Falke, welchen er zur Jagd mitnimmt. Nachdem der Gatte der Giovanna stirbt, zieht sie mit ihrem jungen Sohn auf ein Landgut in der Nachbarschaft des Ritters. Der Sohn findet schnell Gefallen an dem Falken und als das Kind schließlich schwer krank wird, bittet es seine Mutter Frederigo zu fragen, ob es den Falken haben dürfe, um schnell wieder gesund zu werden. Giovanna lässt sich aus diesem Grund bei Frederigo zum Mittagessen einladen. Dieser ist über die Idee sehr erfreut und damit er der edlen Dame standesgemäß etwas zu essen anbieten kann, tötet er seinen Falken und serviert ihn. Nach dem Essen erklärt Giovanna den eigentlichen Grund für ihr kommen und erbittet die Hilfe des Ritters, welcher allerdings in Tränen ausbricht und eingesteht, dass sie beide soeben den Falken verspeist haben. Kurze Zeit später stirbt der Sohn doch die Damen beschließt Frederigo zu heiraten, da er bereit war ihr seinen wertvollsten Besitz zu opfern (vgl. Boccaccio 1973: 505f.)
Rückbeziehend auf diese Geschichte verwendet Heyse in seiner Novellentheorie die Begriffe „Falke“ und „Silhouette“. Damit ist gemeint, dass jede Novelle solch ein Grundmotiv besitzen soll, welches im Gedächtnis bleibt, wenn man die Geschichte nacherzählt bzw. zusammenfasst (vgl. Garrido Miñambres 2009: 116). Der Falke sei demnach das Spezifische, das die Erzählung von anderen unterscheidet, ihr also den Sinn gibt. Daher benötigt jede Novelle solch einen „Falken“, der an wichtigen Stellen in der Erzählung immer wieder aufgenommen wird und den zentralen Konflikt der Novelle ausmacht (vgl. Freund 2009: 34).
Außerdem schließt sich Paul Heyse auch der Meinung Goethes an, dass jede Novelle eine unerhörte Begebenheit enthalten solle. Des Weiteren müsse sie ein begrenztes Thema und einen klaren Aufbau haben und auch der Stoff, so wie Wieland es fordert, aus der wirklichen Welt stammen oder zumindest so realitätsnah, wie möglich sein (vgl. ebd.: 9).
5. Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Versuch einer Definition der Novelle bzw. das Herausstellen relevanter Merkmale eine hohe Formvielfalt erkennen lässt. Während Goethe seinerzeit die „unerhörte Begebenheit“ als eine wichtige Konstituente für eine gelungene Novelle ansieht und somit die Novellentheorie „ins Rollen bringt“, wurde deutlich, dass zuvor auch Christoph Martin Wieland mit seinen Überlegungen zentrale Aspekte festhielt: Die Länge und die Nähe zur Realität. Zum einen liegt der Umfang einer Novelle zwischen den Gattungen Roman und Fabel und zum anderen sei im Unterschied zum Märchen deutlich zu erkennen, dass die Handlung der Novelle in der wahren Welt spiele. Letztlich zeigt auch die jüngere Novellentheorie von Paul Heyse, dass immer wieder neue Gesichtspunkte der Novelle betont werden. Heyse hebt in Anlehnung an das italienische Vorbild des „Decameron“ hervor, dass sie Novelle stets einen „Falken“ enthalten solle, also ein Grundmotiv, welches sinngemäß für die gesamte Handlung steht und immer wieder in der Erzählung auftaucht. In diesem Rahmen steht ebenfalls der Begriff der „Silhouette“.
Daher bleibt abschließend festzuhalten, dass die Novelle als Gattung damals wie heute hinsichtlich zahlreicher Aspekte eine facettenreiche Form in der Literatur darstellt.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Boccaccio, Giovanni (1973): Dekameron. Luzern, Freudenstadt: Kunstkreis.
von Goethe, Johann Wolfgang (1963): Unterhaltungen deutscher
Ausgewanderten. Hamburger Ausgabe Bd. 6, 5. Auflage.
Wieland, Christoph Martin (1805): Das Hexameron von Rosenhain, 1. Auflage, Leipzig: Georg Joachim Göschen.
Sekundärliteratur
Auberle, Anette (Hg.) (2003): Duden - Deutsches Universalwörterbuch.
Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG Mannheim. 5. überarbeitete Auflage. Mannheim: Dudenverlag.
Aust, Hugo (2006): Novelle. 4., aktualisierte und erw. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler (Sammlung Metzler, Bd. 256).
Eckermann, Johann Peter (1948): Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, (Hg.): Ernst Beutler, Artemis Gedenk-Ausgabe Bd. 24, Zürich: Artemis Verlag.
Freund, Winfried (2009): Novelle, erweiterte und bibliographisch ergänzte
Ausgabe, Stuttgart: Reclam.
Garrido Miñambres, Germán (2009): Die Novelle im Spiegel der Gattungstheorie. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Meier, Albert (2014): Novelle. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt.
Neuschäfer, Hans-Jörg (1969): Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. Habil.- Schrift, Gießen. München: W. Fink.
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- Quote paper
- Anja Kempny (Author), 2016, Novellentheorien zu Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" und "Die Novelle", Wielands "Das Hexameron von Rosenhain" und Heyses "Falkentheorie", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/369623
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