"Ich persönlich habe immer Therapien abgelehnt. (...) Sie bringen absolut nichts. Und zwar weil es nur der Kopf ist ... der [Therapeut] kann mir ja gar nicht helfen, denn vom Verstand her weiß ich so viel wie der, also ohne angeben zu wollen. Der kann mir auch nichts anderes sagen, als leben sie im Jetzt oder im Hier und Heute und machen sie das Wichtigste zuerst, also alles, was ich in den Gruppen auch höre."
(Interviewpartner A, 61 Jahre alt, seit 27 Jahren trocken)
Deutschland gehört zu den Ländern mit dem höchsten Alkoholkonsum in der Welt. Pro Jahr sterben daran schätzungsweise 70 000 Menschen (Lindenmeyer 2001, S. 36). 2,65 Millionen Menschen sind in Deutschland nach Angaben der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e.V. (DHS) alkoholkrank. Zwei Drittel davon sind Männer, ein Drittel Frauen und 250 000 Jugendliche und junge Erwachsene. Das sind 6,4 % der Bevölkerung ab 18 Jahren. Das Leid einer Suchterkrankung betrifft die gesamte Familie. Fünf bis sieben Millionen Angehörige sind in Deutschland lt. DHS durch die Alkoholabhängigkeit eines Familienmitgliedes betroffen.
Somit kennt fast jeder einen Menschen, der zu viel trinkt. Er ist meist hilflos, wenn es darum geht, den Alkoholkranken zur Einschränkung des Alkoholkonsums bzw. zur Abstinenz motivieren zu wollen. Ich nutzte meine Praxisphase im Studium für die intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema Sucht im Allgemeinen und Alkoholismus im Besonderen. Für die beiden Praxissemester suchte ich mir gezielt Stellen in der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb und im Beratungs- und Behandlungszentrum für Suchterkrankungen der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart e.V., einer Einrichtung der Diakonie in Stuttgart.
In beiden Praktikastellen hatte ich die Möglichkeit, Alkoholabhängige jeden Alters nä-her kennenzulernen und mich mit ihren Bemühungen, abstinent zu werden, zu beschäftigen.
Inhaltsverzeichnis
0 EINLEITUNG
I VORÜBERLEGUNGEN
1. Diagnostik und Deskription der Alkoholkrankheit
1.1 Die fünf Typen des Alkoholismus nach Jellinek
1.2 Die Phasen des Alkoholismus nach Jellinek
2. Alkoholismus als multifaktorieller Prozess
2.1 Individuelle Faktoren
2.2 Alkoholismus und Familie
3. Alkohol und Gesellschaft
3.1 Epidemiologie
3.2 Alkoholpolitik in Deutschland
3.3 Alkoholpolitik in den USA
3.4 Alkopops – der neue Einstieg zum Alkoholkonsum im Jugendalter
II VERSORGUNGSSTRUKTUREN
1. Therapeutische Versorgung von Alkoholikern
1.1 Traditionelle Suchtkrankenhilfe
1.2 Psychosoziale/psychiatrische Basisversorgung
1.3 Medizinische Primärversorgung
1.4 Behandlungsrealität
2. Behandlungsergebnisse
2.1 Prävention
2.2 Rückfall und Rückfallprophylaxe
2.3 Genesungsverlauf
3. Ressourcennutzung
3.1 Motivierung
3.2 Selbsthilfegruppen-Bewegung
III SUCHT UND SELBSTHILFE
1. Alkoholiker-Selbsthilfegruppen
1.1 Geschichte
1.2 Bedeutung
2. Anonyme Alkoholiker (AA)
2.1 Entstehung der AA
2.2 AA-Gruppen in Deutschland
2.3 Persönliche Genesung (12 Schritte)
2.4 Genesung durch die Gruppe (12 Traditionen)
2.5 Genesungsverlauf
IV EMPIRISCHE ERHEBUNG
1. Ausarbeitung der Fragestellung
1.1 Willensstärke versus Kapitulation
1.2 Kontrolliertes Trinken versus Abstinenz
1.3 Heilung versus Stillstand der Sucht
1.4 Expertenwissen versus Spiritualität
1.5 Kernfragen
2. Befragung
2.1 Qualitatives Interview (Leitfadeninterview)
2.1.1 Vorgehen im Interview
2.1.2 Interviewteilnehmer
2.2 Thesen
2.3 Ergebnis der Befragung
2.4 Auswertung des Interviews
2.4.1 These 1: Willensstärke versus Kapitulation
2.4.2 These 2: Kontrolliertes Trinken versus Abstinenz
2.4.3 These 3: Heilung versus Stillstand der Sucht
2.4.4 These 4: Expertenwissen versus Spiritualität
2.5 Stellungnahme
2.6 Fazit
V SCHLUSSBETRACHTUNG
LITERATUR
0 EINLEITUNG
"Ich persönlich habe immer Therapien abgelehnt. (...) Sie bringen absolut nichts. Und zwar weil es nur der Kopf ist ... der [Therapeut] kann mir ja gar nicht helfen, denn vom Verstand her weiß ich so viel wie der, also ohne angeben zu wollen. Der kann mir auch nichts anderes sagen, als leben sie im Jetzt oder im Hier und Heute und machen sie das Wichtigste zuerst, also alles, was ich in den Gruppen auch höre."
(Interviewpartner A, 61 Jahre alt, seit 27 Jahren trocken)
Deutschland gehört zu den Ländern mit dem höchsten Alkoholkonsum in der Welt. Pro Jahr sterben daran schätzungsweise 70 000 Menschen (Lindenmeyer 2001, S. 36). 2,65 Millionen Menschen sind in Deutschland nach Angaben der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e.V. (DHS) alkoholkrank. Zwei Drittel davon sind Männer, ein Drittel Frauen und 250 000 Jugendliche und junge Erwachsene. Das sind 6,4 % der Bevölkerung ab 18 Jahren (DHS 2001, S. 49). Das Leid einer Suchterkrankung betrifft die gesamte Familie. Fünf bis sieben Millionen Angehörige sind in Deutschland lt. DHS durch die Alkoholabhängigkeit eines Familienmitgliedes betroffen (DHS 2001, S. 1 ff.).
Somit kennt fast jeder einen Menschen, der zu viel trinkt. Er ist meist hilflos, wenn es darum geht, den Alkoholkranken zur Einschränkung des Alkoholkonsums bzw. zur Abstinenz motivieren zu wollen. Ich nutzte meine Praxisphase im Studium für die intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema Sucht im Allgemeinen und Alkoholismus im Besonderen. Für die beiden Praxissemester suchte ich mir gezielt Stellen in der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb und im Beratungs- und Behandlungszentrum für Suchterkrankungen der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart e.V., einer Einrichtung der Diakonie in Stuttgart.
In beiden Praktikastellen hatte ich die Möglichkeit, Alkoholabhängige jeden Alters näher kennenzulernen und mich mit ihren Bemühungen, abstinent zu werden, zu beschäftigen.
Mir wurde deutlich, dass die soziale Umgebung mit ihren formellen und informellen Kontrollen, ihren Sanktionen und ihrem Einfluss heute prägend ist und z. B. über Medien und Werbung den Konsum von Alkohol beeinflusst. Das kann beispielhaft am Einfluss von Gleichaltrigen auf den Alkoholkonsum von Jugendlichen, aktuell bei den Alkopops, aufgezeigt werden (Kapitel I, 3.4). Mein Erkenntnisinteresse war: Welche Strukturen bietet unser Gesundheitssystem zur Behandlung von Alkoholkranken und welche Rolle spielen dabei die Selbsthilfegruppen. Eine Gruppe der betreuten Patienten in der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb hat mich in ihrem Bemühen, von Alkoholismus zu genesen, besonders beeindruckt. Es waren Mitglieder der Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker (AA)[1]. Sie hatten ihre eigene Vorstellungen vom Weg aus der Sucht. Sie unterschied sich in einigen Punkten von der der in der Suchtkrankenhilfe tätigen Experten. Dieser Beobachtung wollte ich nachgehen und herausfinden, wie die Selbsthilfegruppen und im Besonderen die der Anonymen Alkoholiker bei der Genesung von Alkoholismus arbeiten. Mit den gewonnenen Erkenntnissen möchte ich prüfen, wie das professionelle Suchtkrankenhilfesystem und insbesondere die Sozialarbeit von dem Vorgehen der AA profitieren kann.
Bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen ging ich folgendermaßen vor:
In Kapitel I wird der Umgang von Fachleuten und der Gesellschaft mit der Alkoholkrankheit beschrieben. Dazu stelle ich zunächst den Unterschied von Alkoholmissbrauch und –abhängigkeit dar. Danach beschreibe ich das bekannteste Klassifikationssystem des Alkoholismus nach Jellinek. Es schließen sich Betrachtungen über die Entstehungsfaktoren von Alkoholismus an. Zur Problematik des Umgangs der Gesellschaft mit Alkohol stelle ich historische und soziokulturelle Hintergründe von Trunksucht dar und verdeutliche das an einem Exkurs über die aktuelle Problematik des Alkopop-Konsums von Jugendlichen.
Wie die Gesellschaft heutzutage mit ihren Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens und den von ihr angebotenen Behandlungsmöglichkeiten, -realitäten und -erfolgen in Deutschland auf den Alkoholismus reagiert, beschreibe ich in Kapitel II. Dabei soll der Focus der Analyse insbesondere darauf gelegt werden, welche Ressourcen die Selbsthilfegruppen-Bewegung für die Versorgung von Suchtkranken bereitstellen.
In einem weiteren Schritt wird dann in Kapitel III konkret untersucht, in welcher Form und welchem Ausmaß sich die betroffenen Alkoholiker, Angehörige und engagierte Bürger an der Prävention, Information und Versorgung von Suchtkranken beteiligen. Dabei werde ich nach der Vorstellung der Geschichte und der Bedeutung von Selbsthilfegruppen speziell auf das Konzept der AA eingehen. Anhand der Analyse formuliere ich Kernaussagen zum Genesungskonzept der AA in Abgrenzung von Expertenmeinungen. Dabei wird die Terminologie der AA ("Freunde", "Genesung", "Höhere Macht", "Inventur", "Meeting", "Nur für Heute", "Sponsor", "Tiefpunkt", "12 Schritte", "12 Traditionen", "24 Stunden", etc.) in dieser Arbeit übernommen und in einer Fußnote erläutert, sofern dies nicht schon im Text geschieht.
Die Kernaussagen führen weiter zu Thesen, die in Kapitel IV, dem empirischen Teil der Arbeit, durch Interviews mit AA-Mitgliedern überprüft werden. Dabei kommt die Methode des qualitativen Interviews zur Anwendung. Aus den Ergebnissen werden Schlussfolgerungen für eine bessere Versorgung und für die Hilfe zur Selbsthilfe bei Alkoholkranken gewonnen.
Die Schlussbetrachtung, Kapitel V, gibt einen Ausblick darüber, wie die Arbeit von Alkoholiker-Selbsthilfegruppen, und im Besonderen die der Anonymen Alkoholiker, neue Impulse für die Genesung von Alkoholismus geben kann.
Du weißt meistens, was genug ist,
bis du weißt, was mehr als genug ist.
William Blake
I VORÜBERLEGUNGEN
Wenn man sich mit dem Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Selbsthilfegruppen beschäftigt, kommt man nicht umhin, einen Blick auf die gesellschaftlichen und soziokulturellen Hintergründe des Umgangs mit Alkohol zu werfen. Soziale Gegebenheiten beeinflussen den Alkoholkonsum ebenso wie die Versuche, wieder abstinent leben zu können. In diesem Zusammenhang sind folgende Fragen wichtig: Wie wird die Alkoholkrankheit von Fachleuten definiert? Wie ist sie in der Gesellschaft verbreitet und welche Auswirkungen hat sie auf Volkswirtschaft und Volksgesundheit?
Auf den Aspekt, was von Fachleuten unter Alkoholkrankheit verstanden wird, gehe ich zuerst ein. Durch Definition von Alkoholmissbrauch und –abhängigkeit und Vorstellung der bekanntesten Typologien und des Phasenverlaufes des Alkoholismus nach Jellinek wird die Krankheit beschrieben. Es schließt sich eine Schilderung von Alkoholismus als multifaktorieller Prozess, mit individuellen und familiären Ursachen und Folgen an. Über das Ausmaß der Folgen von Alkoholismus für die Volksgesundheit und Volkswirtschaft geben die epidemiologischen Daten Auskunft.
1. Diagnostik und Deskription der Alkoholkrankheit
Über die Merkmale der Alkoholabhängigkeit besteht heutzutage international Konsens (z. B. ICD-10[2], DSM IV[3] ). Die Missbrauchskriterien sind jedoch noch nicht einheitlich festgelegt. Im ICD-10 wird statt von Missbrauch von schädlichem Gebrauch ausgegangen, was zur Folge hat, dass doppelt so viele Personen diagnostiziert werden können, wie nach den Missbrauchskriterien des DSM IV (Gölz 1999, S. C 2.2.1–7). Die in der Alkoholismusdiagnostik verwendeten Screeningverfahren (u.a. Fragebogenverfahren, Laborindikatoren, körperliche Merkmale) für gefährliches Trinken, schädliches Trinken (AM 1+2), Alkoholmissbrauch (AM-1) und Alkoholabhängige (AA) sind in nachfolgendem Schaubild wiedergegeben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Trennpunkte von Screeningtests in der Alkoholismusdiagnostik
(Gölz 1999, S. C 2.2.1-7).
Die Diagnose Alkoholabhängigkeit wird gestellt, wenn während des letzten Jahres mindestens drei der nachfolgenden acht Kriterien vorhanden sind:
- Starker Wunsch bzw. Zwang, Alkohol zu konsumieren
- Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Alkoholkonsums
- Alkoholgebrauch mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern
- Körperliches Entzugssyndrom
- Nachweis einer Toleranz
- Eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit Alkohol, wie z. B. die Tendenz, Alkohol an Werktagen wie an Wochenenden zu trinken und die Regeln eines gesellschaftlich üblichen Trinkverhaltens außer Acht zu lassen
- Fortschreitende Vernachlässigung von Interessen zugunsten des Alkoholkonsums
- Anhaltender Alkoholkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen
(Dilling u.a. 1991, S. 84-86).
Für die medizinische Grundbetreuung ist die Unterscheidung bedeutsam, ob es sich um einen Vieltrinker (gefährliches Trinken, Männer durchschnittlich 40g/Tag, Frauen ab 20g/Tag) handelt oder um einen Normaltrinker, ob zudem Alkohol-Intoxikationsfolgen mit einem überhöhten oder riskanten Alkoholkonsum zusammenhängen oder nicht (Gölz 1999, S. C.2.2.1-3).
1.1 Die fünf Typen des Alkoholismus nach Jellinek
Aus der Reihe von Typologien des Alkoholismus, die im Laufe der Jahrzehnte aufgestellt worden sind, ist die von Jellinek die bekannteste. Er unterscheidet die alkoholkranken Menschen in Alpha-, Beta-, Gamma-, Delta- und Epsilontrinker, wobei Alpha- und Beta-Alkoholiker nicht abhängige Alkoholiker sind, die Gamma-, Delta- und Epsilontrinker eindeutig als alkoholabhängig einzustufen sind.
Der Alpha- Alkoholiker trinkt in Situationen starker Belastung, deshalb wird er auch Konflikt-, Wirkungs- und Erleichterungstrinker genannt. Der Alkohol wird für den Betroffenen zum Seelentröster. Diese positive Alkoholerfahrung verleitet jedoch, in Belastungssituationen erneut auf Alkohol zurückzugreifen. Bei diesem Typ handelt es sich um eine psychische Abhängigkeit, bei der allerdings kein Kontrollverlust stattfindet. Die Progressivität ist gering und der Betroffene kann jederzeit mit dem Trinken aufhören. Alphatrinker sind nicht alkoholkrank, aber gefährdet.
Der Beta- Alkoholiker, auch Gelegenheitstrinker genannt, ist weder psychisch noch physisch abhängig, aber gefährdet. Er bleibt oft ein Leben lang unauffällig. Bei diesem Typ wird das Trinkverhalten oft von seinem sozialen Umfeld beeinflusst. Es besteht ein unregelmäßiger Alkoholmissbrauch ohne Abhängigkeit und ohne Kontrollverlust.
Der Gamma- Alkoholiker kann als süchtiger Alkoholiker mit einer seelischen und körperlichen Abhängigkeit bezeichnet werden. Es kommt zu Kontrollverlust, wobei es auch immer wieder Phasen der Abstinenz geben kann, die jedoch nicht durchgehalten werden können. Etwa 90 % aller Alkoholkranker in der Bundesrepublik Deutschland sind Gamma-Alkoholiker. Sie entwickeln ein Krankheitsbild, dessen Symptomfolge Jellinek in Phasen zusammengefasst hat und die ich im Anschluss an die Typologie beschreibe.
Der Delta- Alkoholiker wird auch als "Spiegeltrinker" bezeichnet und bleibt lange Zeit sozial unauffällig, weil er selten erkennbar betrunken ist. Der Betroffene sorgt stets für einen entsprechenden Blutalkoholspiegel, um Entzugserscheinungen zu vermeiden. Beim Delta-Alkoholiker finden sich keine oder lange Zeit keine Kontrollverluste und somit weniger soziale Belastung. Hier steht die physische Abhängigkeit im Vordergrund; die psychische Abhängigkeit entwickelt sich erst später.
Der Epsilon- Alkoholiker trinkt episodisch, weshalb er auch als "Quartalssäufer" bezeichnet wird. Betroffene haben oft über Wochen keinen Bezug zu Alkohol. Der Kontrollverlust mit mehrtägigem exzessiven Alkoholmissbrauch stellt sich nach Trinkbeginn ein. Beim Epsilon-Alkoholiker sollte stets an eine Grundstörung, z. B. aus dem manisch-depressiven Formenkreis gedacht und eine psychiatrische Erkrankung ausgeschlossen werden.
Diese Typologie stellt für die Betroffenen ein plausibles Erklärungsmodell dar, an dem sie begreifen, dass Alkoholismus eine Krankheit ist. Viele Alkoholiker können sich mit den verschiedenen Trinkertypen identifizieren. Die Typologie bietet einen stabilen Orientierungsrahmen für Diagnostiker (Schmidt 1986, S. 32 ff.).
1.2 Die Phasen des Alkoholismus nach Jellinek
Jellinek hat nach klinischen Beobachtungen eine Phasenabfolge der Krankheitsentwicklung beschrieben. Die Phasenabfolge bezieht sich auf den Gamma-Alkoholismus. Die Betroffenen entwickeln ein Krankheitsbild, dessen Symptomfolge Jellinek in vier Phasen unterteilt hat:
- die voralkoholische, symptomatische Phase
- die Anfangsphase (Prodromalphase)
- die kritische Phase
- die chronische Phase.
Die voralkoholische, symptomatische Phase kann mit dem Alpha-Alkoholiker verglichen werden und lässt sich zunächst von diesem nicht abgrenzen. Alkohol wird zum Entspannen und Vergessen eingesetzt.
In der Prodromalphase, der Phase des Vorstadiums, weisen erstmals Anzeichen für ein Ausbrechen der Krankheit hin, und zwar durch plötzlich auftretende Erinnerungslücken oder Amnesien. Die Betroffenen werden sich ihres "anderen" Trinkverhaltens bewusst und beginnen heimlich zu trinken. Auch legen sie Verstecke an, um den Alkohol jederzeit zur Verfügung zu haben.
Die kritische Phase ist durch den Kontrollverlust gekennzeichnet. Der Betroffene kann nicht mehr aufhören zu trinken. Dem sozialen Umfeld wird erstmals die Abhängigkeit deutlich und sie beginnt, sich vom Alkoholkranken zu distanzieren.
In der chronischen Phase beginnt der Alkoholiker mit regelmäßigem morgendlichen Trinken. Sinkt der Blutalkoholspiegel, bekommt der Betroffene Entzugserscheinungen wie Zittern, Schweißausbrüche, nervöse Spannungen, innere Unruhe, Übererregbarkeit, Übelkeit, Angstzustände. Diese Symptome lassen nach, sobald der Süchtige Alkohol trinkt (Schmidt 1997, S. 32 ff.).
Dem fortschreitenden Jellinekschen Krankheitsprozess wurde spiegelbildlich ein Genesungsprozess entgegengesetzt. So wie der Krankheitsprozess infolge der Gehirn-Intoxikation zu immer mehr Ausfällen führt, kann der Genesungsprozess nur erfolgreich sein, wenn man diesen Ausfällen gerecht wird. In der Fachliteratur wurde der abwärts verlaufende Verfall und die aufwärts verlaufende Rekonvaleszenz als Talsohlenmetapher bekannt (Feuerlein 1981 in Petry 1996, S. 228). Auf der Grundlage dieser Vorstellungen (siehe Abb. 2) wurde eine Phasenlehre der Behandlungs- und Veränderungsmotivation bei Alkoholikern ausgearbeitet. Dabei werden sechs Zwischenziele definiert, die schrittweise bei der Behandlung anzustreben sind:
- Das Erkennen einer Änderungsnotwendigkeit
- die Anerkennung der Hilfsbedürftigkeit
- Akzeptierung der angebotenen Hilfe
- Anerkennung der Alkoholkrankheit
- Annahme des Abstinenzzieles und
- die Anerkennung der Notwendigkeit allgemeiner Lebensveränderungen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Der Entwicklungs- und Genesungsprozess der Alkoholabhängigkeit
(Feuerlein 1981 in Petry 1996, S. 228).
2. Alkoholismus als multifaktorieller Prozess
Dieses Kapitel beschäftigt sich näher damit, welche Vorstellungen Fachleute über das Zusammenwirken von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beim Alkoholismus haben.
2.1 Individuelle Faktoren
Alkoholismus ist ein komplexes bio-psycho-soziales Geschehen. Es trifft nicht zu, dass Abhängige besonders labile, willensschwache oder unbeherrschte Personen sind. Lindenmeyer betont, dass eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen immer wieder ergeben haben, dass es keine typischen Persönlichkeitsprofile bei Abhängigen gibt. Es sei vielmehr so, dass es unter Abhängigen genauso viele unterschiedliche Menschen und Typen gebe wie unter Nichtabhängigen.
Untersuchungen von Familien-, Zwillings- und Hoch-Risiko-Gruppen belegen eine genetisch verankerte Disposition zur Alkoholabhängigkeit. Diese Analysen sprechen bei männlichen Alkoholikern von ca. 50 % und bei weiblichen von ca. 25 % für eine solche Disposition (Gölz 1999, S. B.2.11-1).
Ein Vergleich von Lebensläufen von Abhängigen und Nichtabhängigen erbrachte keine Unterschiede. Die weit verbreitete Meinung, Abhängigkeit entstehe plötzlich aufgrund einer bestimmten Ursache, etwa Tod eines geliebten Menschen, Verlust des Arbeitsplatzes etc. lässt sich bei Berücksichtigung der Studien zur genetischen Disposition und den biographischen Anlagen nicht halten (Lindenmeyer 2001, S. 77 ff.).
Am Ende einer biologisch erklärbaren Abhängigkeit über Toleranzentwicklung, z. B. durch Stimulierung des mesolimbischen Belohnungssystems des Gehirns, kommt es auf der psychologischen Seite zu einer zwanghaften und stereotypen Einnahme des Alkohols. Auf der Verhaltensebene wird dies als Kontrollverlust erlebt. Das Trinkverhalten kann lerntheoretisch als Wegfall des als aversiv empfundenen körperlichen und seelischen Unbehagens erklärt werden. Für die Aufrechterhaltung von chronisch zwanghaftem Trinken spielt deshalb als negative Verstärkung das Entzugssyndrom die wichtigste Rolle. Die Symptome des Entzugs können so schlimm sein, dass durch erneuten Alkoholkonsum das Entzugssyndrom entweder vermieden oder verkürzt wird (Gölz 1999, S. B.2.11-2).
In sozialen Kontexten führen oft Neugier und die Nachahmung von Modellpersonen zur ersten Begegnung mit Alkohol. Als Belohnungseffekt von Alkoholkonsum erlebt man in schwierigen Situationen Erleichterung und Entspannung. Mit der Zeit entwickelt sich eine feste Gewohnheit, immer dann Alkohol zu trinken, wenn man z. B. Angst und Unsicherheit verlieren oder besser kommunizieren möchte. Die bio-psycho-sozialen Bedingungsfaktoren beeinflussen sich als Regelkreise gegenseitig, meist im Sinne einer Verstärkung nach Art eines "Teufelskreises".
2.2 Alkoholismus und Familie
Das Leid einer Suchterkrankung betrifft die gesamte Familie. Fünf bis sieben Millionen Angehörige sind durch die Alkoholabhängigkeit eines Familienmitglieds betroffen (DHS 2001, S. 1 ff.). Wie das System Familie im weiteren Lebensvollzug mit Alkoholikern umgeht, entscheidet auch über den mehr oder weniger günstigen Ausgang der Krankheit und über mehr oder weniger Leid der Angehörigen.
Jede Familie, in der es einen Alkoholkranken gibt, ist äußerst labil. Beobachtungen von Alkoholikerfamilien haben ergeben, dass es dort eine hohe Rate von Scheidungen, Trennungen und Ehekrisen sowie Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern gibt. Erfahrungsgemäß existiert in jeder Familie eine Person, die besonders im Zusammenleben mit einem suchtkranken Menschen leidet und ganz spezifisch darauf reagiert, und zwar mit Verhaltensweisen, die den Konsum und die Entwicklung von Abhängigkeit erst recht stabilisieren oder sogar fördern.
"Millionen von Familien sind vom Alkohol gekennzeichnet und zerstört. Über dies 'Familiengeheimnis' wird aber nicht gesprochen, und so werden auch andere Familienmitglieder unweigerlich mit in die Probleme des Suchtkranken hineingezogen. Sein häufiges Betrunkensein, das Nachlassen seiner Arbeitskraft, seine Blackouts und all die anderen Gedächtnisstörungen, sein sich verschlechternder Gesundheitszustand und seine Rückzugstendenzen erschüttern das Familienleben und beeinflussen nachhaltig das persönliche Leben jedes einzelnen Angehörigen." (Satir in Wegscheider 1988, S. 14)
Im Zusammenhang von Suchterkrankungen wird beim mitbetroffenen Partner von Co-Abhängigkeit gesprochen:
"Co-Abhängigkeit ist durch Persönlichkeitsauffälligkeiten gekennzeichnet: Verlust des Selbstbildes, Selbstverständnisses, Wettmachen dieses Mangels durch blinde Aufopferung für andere, Selbstaufwertung durch das Defizit des anderen, dabei Gefahr, sich selbst total zu vernachlässigen und zu verlieren. Die Co-Abhängigkeit ist die Zerrform einer dem Menschen eigenen lebenserhaltenden Interdependenz und der Ausdruck mangelnden Erwachsenseins." (Lechler 1997, S. 187-188)
Inzwischen weiß man, dass co-abhängiges Verhalten nicht nur in Suchtfamilien entstehen kann, sondern auch in anderen Familien mit "dysfunktionalen"[4] Regeln. Durch diese Regeln werden die Familienmitglieder in ihrer Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung beeinträchtigt (Rennert 1990, S. 167).
Wegscheider verwendet anstelle des Co-Abhängigkeitskonzepts den Begriff "chief-enabler"[5]. Enabler sind Personen, die sich zunehmend daran gewöhnen (oder sich schon früher in ihrer Biographie daran gewöhnt haben) und es schließlich als selbstverständlich empfinden, Verantwortung für andere zu übernehmen. Im Verlauf ihrer Bemühungen konzentrieren sich co-abhängige Personen immer mehr auf das süchtige Familienmitglied und kümmern sich immer weniger um die eigenen Belange. Trotz ihrer Bemühungen, ihrer übermäßigen Verantwortlichkeit und Tüchtigkeit erlebt sie auch noch einen Misserfolg nach dem anderen, denn der süchtige Mensch hat unter diesen Bedingungen keinen Grund, sein Verhalten zu ändern (Wegscheider 1988, S. 96 ff.).
So kann Alkoholismus als eine permanente Familienkrise gesehen werden, die in sieben Phasen verläuft:
In der ersten Phase wird das Problem sowohl von der Familie als auch vom Kranken selbst verleugnet.
In der zweiten Phase ist die Krankheit nicht mehr zu übersehen, obwohl Versuche unternommen werden, das Problem zu beseitigen. Die Familie erwartet vom Abhängigen, dass er mit dem Trinken aufhört. Er verspricht es zwar, kann sein Versprechen aber nicht halten. Es kommt zu Vorwürfen, die den Betroffenen noch weiter in die Sucht treiben.
Das Stadium der familiären Desorganisation wird als dritte Phase bezeichnet. Die Alkoholkrankheit lässt sich nicht mehr verheimlichen und die Familie gerät dadurch in eine soziale Isolation. Ihr wird klar, dass sie gegen die Abhängigkeit des Kranken machtlos ist.
Die vierte Phase beinhaltet den Versuch, die Familie neu zu organisieren. Beim alkoholkranken Mann z. B. übernimmt die Frau die Führungsrolle. Er verliert seine Rolle als Ehemann und Vater und wird als Kind behandelt.
In der fünften Phase versucht die Familie, dem Problem zu entrinnen. Meist taucht der Gedanke an Scheidung auf. In der Regel bleibt es jedoch bei der Androhung.
Die sechste Phase beschäftigt sich mit der Reorganisation der Familie ohne den Kranken. Das bedeutet, dass sich die Frau mit den Kindern eine neue Wohnung sucht und wieder in ihren Beruf einsteigt. Sie macht sich vom Kranken unabhängig.
Die siebte Phase wird als die Genesungsphase des Kranken gesehen. Die Familie stellt sich auf die veränderte Situation ein. Der Abhängige soll, wenn er sich zu einer fortdauernden von Alkohol abstinenten Lebensführung entschlossen hat, wieder seine alten Rechte und Rollen in der Familie bekommen (Harsch 1976, S. 46 ff.).
Hat es der Alkoholabhängige geschafft, abstinent zu leben, findet in der Familie automatisch ein Veränderungsprozess statt. Es gilt, die familiäre Balance wieder herzustellen, die durch die Alkoholkrankheit eines Familienmitgliedes außer Kraft gesetzt wurde. Das erneute Trinken stellt den meist unbewussten Versuch dar, dem realen oder vermeintlichen Auseinanderbrechen der Familie entgegenzuwirken. Deshalb ist es wichtig, dass Familienangehörige selbst Hilfe suchen, um gesunde Grenzen zu ziehen und das Gleichgewicht innerhalb der Familie wieder herstellen zu können.
Kinder, die mit einem alkoholkranken Elternteil aufwuchsen, haben später oft Probleme in ihren Partnerschaften. Trennung und Scheidung erleben sie dreimal häufiger als Menschen aus einem suchtfreien Elternhaus. Das Leben mit einem Alkoholiker hat nicht nur Einfluss auf das Selbstwertgefühl eines Kindes, es bekommt auch eine negative Sicht der Ehe. Je schlimmer die Alkoholkrankheit eines Elternteils war, desto pessimistischer fiel die Einstellung zu Ehe und Partnerschaft aus. In allem was passiert, sehen sie ihre negativen Erwartungen bestätigt, solange bis diese in einer Art "selbst erfüllender Prophezeiung" wirklich wahr werden. Es hilft schon, wenn die betroffenen Erwachsenen einen Zusammenhang zwischen ihrem negativen Partnerschaftsbild und der Erfahrung aus ihrer Herkunftsfamilie mit einem alkoholkranken Elternteil sehen lernen (Kruse u.a. 2001, S. 287 ff.).
3. Alkohol und Gesellschaft
Der gesellschaftliche Umgang mit Trunksucht und die politischen Rahmenbedingungen stecken den Kontext ab, ob Alkoholismus geächtet oder akzeptiert wird und welche Folgen das für die Menschen hat. Mäßigungsbewegungen können gleichsam als erste Selbsthilfebewegung von engagierten Menschen zur Bekämpfung des Alkoholismus betrachtet werden. Sie führten in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts zur Gründung der Alkoholiker-Selbsthilfegruppen wie des Blauen Kreuzes und des Kreuzbundes und in den USA im 19. Jahrhundert zur Guttempler-Bewegung und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Gründung der AA. Sie sind Reaktion auf gesellschaftliche Alkoholexzesse, die infolge gesellschaftlicher Entwicklungen wie der Industriellen Revolution, der Prohibition oder dem Wohlstand nach dem 2. Weltkrieg in Westeuropa entstanden.
3.1 Epidemiologie
Nach den strengen Maßstäben des DSM-IV sind im 12-Monats-Rückblick 5,0 % der Deutschen (8,1 % der Männer, 1,9 % der Frauen, insgesamt 2,4 Millionen bzw. 2,7 Millionen Menschen bei Hochrechnung auf die Altersgruppe der 18 bis 69-Jährigen) als Alkoholmissbraucher und 3,0 % als Alkoholabhängige (4,9 % der Männer und 1,1 % der Frauen, insgesamt 1,5 Millionen Menschen unter den 18 bis 69-Jährigen) einzustufen. Der CAGE-Test[6] kommt, ebenfalls bezogen auf die letzten 12 Monate, zu vergleichbaren Ergebnissen (8,7 % bzw. 4,2 Millionen der Bevölkerung mit Alkoholmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit; Männer: 12,9 %, Frauen: 4,5 %).
Die Zahlen für Risikokonsumenten (Alkoholgefährdung) belaufen sich nach Geschlechtern betrachtet, auf 15,2 % der Männer (das entspricht 3,8 Millionen) und 8,4 % der Frauen (das entspricht 2,0 Millionen).
Bereits 27 % der 12 bis 17-Jährigen geben an, schon mindestens einen Alkoholrausch gehabt zu haben. Dabei muss allerdings noch kein verfestigtes Konsummuster vorliegen, sondern es kann sich auch um einen passageren, "experimentellen (Über-) Konsum" als Teil der Adoleszenzkrise handeln. Der massive Alkoholkonsum (Männer >60g/Tag, Frauen >40g/Tag) nimmt bei beiden Geschlechtern ab dem Alter von 21 Jahren zu, wenn auch nicht linear (Kruse u.a. 2001, S. 87 ff.).
Dass individuelle Suchterfahrung überwiegend mit Alkohol gemacht wird, wird häufig ausgeblendet, weil Alkohol eine gesellschaftlich sanktionierte Droge ist, an der der Staat kräftig mitverdient. Die Anerkennung von Alkoholismus als Krankheit durch das Bundessozialgericht (BSG) Kassel vom 18. Juni 1968 hatte sozialpolitisch positive Impulse. Für viele Betroffene war es eine Entlastung zu hören, dass Alkoholismus als Krankheit anerkannt wird, die behandelbar ist (Knischewski 1997, S. 14).
Einige Zahlen über die gravierenden Folgen, die der rasante Anstieg von Alkoholproblemen mit sich bringt:
- Deutschland gehört zu den Ländern mit dem höchsten Alkoholkonsum in der Welt. Pro Jahr sterben daran ungefähr 70 000 Menschen.
- Man vermutet, dass jeder fünfte tödliche Arbeitsunfall alkoholbedingt ist.
- Unter Alkoholeinfluss werden pro Jahr etwa 238 000 Straftaten verübt.
- Ferner wird vermutet, dass etwa 47 % aller Toten bei Haus- oder Wohnungsbränden stark alkoholisiert waren.
- Im Straßenverkehr lassen ca. 1 500 Menschen pro Jahr durch Alkohol ihr Leben.
- Ein Alkoholkranker fehlt an seinem Arbeitsplatz durchschnittlich 28 Tage im Jahr, das ist dreimal so häufig wie ein Nichtalkoholiker (Lindenmeyer 2001, S. 36).
Eine weitere Statistik weist auf volkswirtschaftliche Folgen und das die Volksgesundheit beeinträchtigende Phänomen des Alkoholismus hin. Entsprechend der Krankenhausdiagnosestatistik, welche die Hauptdiagnosen ihrer vollstationär behandelten Patienten erfasst, wurden 1996 ca. 170 000 Personen (ca. 132 000 Männer und 38 000 Frauen) als alkoholabhängig diagnostiziert, bei ca. 65 000 eine Lebererkrankung behandelt und bei ca. 31 000 eine Alkoholpsychose festgestellt.
Über die Hauptdiagnosen hinaus sind es aber wesentlich mehr Menschen mit Alkoholproblemen, die tagtäglich mit dem Gesundheitssystem in Berührung kommen. Etwa 70 % der Menschen mit Alkoholproblemen suchen mindestens einmal pro Jahr einen niedergelassenen Arzt auf, ca. 24 % ein Allgemeinkrankenhaus. Die Alkoholdiagnosen in Kliniken variieren stations- und krankheitsgruppenspezifisch erheblich. So weisen etwa 25 % bis 30 % der Krankenhauspatienten eine Verdachtsdiagnose auf, die mit erhöhtem Alkoholkonsum einhergeht (überwiegend Abhängigkeit, teilweise Missbrauch). Im Einzelnen ist das jeder Dritte, der wegen einer Erkrankung der Atmungsorgane oder wegen Verletzungen und Vergiftungen behandelt wird, sowie jeder vierte Patient mit infektiöser/parasitärer Problematik oder eine Erkrankung des Kreislaufsystems bzw. der Verdauungsorgane (Kruse u.a. 2001, S. 87-90). Aufgrund dieser Daten wird geschätzt, dass die volkswirtschaftlichen Kosten/Folgekosten von Alkohol zwischen 20 und 40 Milliarden Euro im Jahr betragen (Lindenmeyer 2001, S. 36 und www.sicherheitsNet.de/sicherheitsnet/news/12884/ index.php).
3.2 Alkoholpolitik in Deutschland
Erste Selbsthilfeinitiativen zur Bekämpfung von Alkoholismus waren Mäßigungsbewegungen. Um dem Alkoholmissbrauch infolge der Industriellen Revolution Herr zu werden, wurde z. B. in Deutschland 1845 auf Antrag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. die sogenannte "Mäßigungsbewegung" auf den Weg gebracht. Zur gleichen Zeit, als die Diakonie ab Mitte des 19. Jahrhunderts im medizinischen und sozialen Feld gesellschaftlichen Randgruppen in Krankheit und Not half, konnte sich die vom König verordnete Mäßigungsbewegung nicht durchsetzen. Ein Grund war, dass im Umfeld der deutschen Revolution von 1848 alles obrigkeitsstaatliche Verordnete, so auch die Mäßigungsbewegung, als rückständig und die Freiheit einschränkend angesehen wurde.
Als mit der Sozialgesetzgebung ab 1883 (Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Alterssicherung) Absicherung gegen Krankheit und Verelendung für weite Teile der Bevölkerung geschaffen wurde, konnten sich die Selbsthilfeinitiativen zur Bekämpfung des Verelendungsalkoholismus etablieren: 1885 wurden in Deutschland das Blaue Kreuz und 1896 der Kreuzbund gegründet. Sie wurde von der Diakonie (Blaues Kreuz) und von der Caritas (Kreuzbund) mitgetragen. Ziel dieser Selbsthilfeinitiativen war, Alkoholkranke nicht mehr moralisch zu verurteilen und in Arbeitshäuser einzusperren, sondern ihnen und ihren Familien wirksam zu helfen, vom Alkohol zu genesen (Müller 2001, S. 6-9).
Einen Rückschlag für die Selbsthilfegruppen für Alkoholiker gab es mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Im Jahre 1933 erließen die Nationalsozialisten das Gesetz "zur Verhütung erbkranken Nachwuchses." Dort wurde ausgeführt, dass Alkoholismus erblich sei. In Paragraph 1 Absatz 3 dieses Gesetzes hieß es, dass "wer an schwerem Alkoholismus leidet, sterilisiert werden kann." Es bestand für alle Gesundheitsberufe eine Anzeigepflicht von Alkoholikern. Bis heute ist nicht bekannt, wie groß die Zahl derjenigen war, die damals wegen Alkoholismus sterilisiert oder in Konzentrationslager interniert wurden. In der Zeit des Nationalsozialismus lebten auch von Expertenseite alte Vorurteile gegenüber Alkoholikern wieder auf. So schrieb der Psychiater Hans Bürger-Prinz 1938:
"Die Alkoholiker sind sehr häufig erregbare, zu Tobsuchtsanfällen oder Misshandlungen neigende, willensschwache, haltlose, triebhafte, einsichtslose, lügnerische, kriminelle Persönlichkeiten." (Lindenmeyer 2001, S. 33)
Bei einer solchen Expertenmeinung mussten sich die damals in Deutschland aktiven Alkoholiker-Selbsthilfegruppen wie eine Selbstschutzeinrichtung gegen eine feindliche Umwelt vorkommen, wenn nicht sogar wie ein Teil der Widerstands-Bewegung. Denn die Nationalsozialisten begannen die Alkoholiker-Selbsthilfegruppen der Guttempler, des Kreuzbundes und des Blauen Kreuzes zu unterwandern und verboten sie schließlich 1943 ganz (Lindenmeyer 2001, S. 31-33).
Von der Ächtung der Alkoholkrankheit in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts war es in Deutschland noch ein weiter Weg bis ins Jahr 1968, als Alkoholismus als Krankheit anerkannt wurde. Durch diesen Meilenstein hat sich auch in Deutschland die Sicht auf den Alkoholismus gewandelt. Wegen des Verbots während der Zeit des Nationalsozialismus hatten es die in Deutschland etablierten Alkoholiker-Selbsthilfegruppen schwerer, nach dem 2. Weltkrieg Fuß zu fassen.
3.3 Alkoholpolitik in den USA
In den USA brach nach dem Unabhängigkeitskrieg, der Industriellen Revolution und dem Verschieben der Siedlungsgrenze nach Westen eine Epoche der Alkoholexzesse an. Die raue, alkoholgetränkte Welt der Pioniere stand im strikten Gegensatz zu den Grundsätzen, die die Engländer, die sich überwiegend an der Ostküste ansiedelten, mitgebracht hatten. Die Engländer waren meist "Puritaner", legten strengen Wert auf ein enthaltsames Leben und lehnten in ihrer Mehrheit Alkohol, Rauchen sowie Kartenspielen und Tanzen strikt ab. Sie wehrten sich gegen den Verfall der "Sitten", u.a. durch Alkoholexzesse und organisierten sich in "Temperenzvereinen"[7]. 1851 kam es an der Ostküste der USA zur Gründung der IOGT (International Organization of Good Templars). In Deutschland nennen sie sich heute Guttempler und sind eine Gemeinschaft von bewusst alkoholfrei lebenden Menschen, die für die Gleichberechtigung und für ein friedliches Miteinander aller Menschen eintreten (Müller 2001, S. 8).
Angesichts der Zunahme von Alkoholismus im 19. Jahrhundert bildete sich in den USA eine Mäßigungsbewegung, die so einflussreich war, dass sich in einzelnen Städten und Gemeinden ein totales Alkoholverbot durchsetzen konnte. Es waren vor allem Frauen, die die sogenannte "Anti-Saloon-Liga" bildeten. Aufgrund ihrer riesigen Mitgliederzahl hatten die Frauen starken Einfluss auf Politiker. Sie wurden außerdem von der Geschäftswelt mit erheblichen Geldsummen unterstützt. Schließlich konnten sie 1919 ein allgemeines Alkoholverbot in den gesamten USA erzwingen, die sogenannte "Prohibition". Die Mehrheit der Bevölkerung trank tatsächlich keinen Alkohol mehr, die Probleme durch Alkohol gingen zurück. Allerdings etablierten sich viele sogenannte "Flüsterkneipen", in denen illegal Alkohol ausgeschenkt wurde. Zum Leidwesen der amerikanischen Getränkehersteller machte nun die Mafia ein Riesengeschäft mit dem Schmuggel von Alkohol.
Als 1928 die Weltwirtschaftskrise hereinbrach, drängte die amerikanische Geschäftswelt auf die Wiedereinführung von hochbesteuerten Alkoholika. Sie unterstützte nun eine entsprechende Bürgerbewegung gegen die Prohibition, die im Jahre 1933 dann auch zu Fall kam. Ein rasanter Anstieg des Alkoholkonsums war die Folge und eine neue Phase der Alkoholexzesse folgte (Lindenmeyer 2001, S. 34). In dieser Zeit entstanden als Gegenbewegung zum vermehrten Trinken die Selbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker. Sie entwickelten sich aus einer Gemeinschaft der meist an der Ostküste der USA angesiedelten puritanischen Einwanderern aus England (white anglo saxon protestants, im folgenden WASPs genannt), die sich in sogenannten Oxford-Gruppen organisierten.
Die Oxford-Bewegung wurde 1921 von Frank Buchmann, einem lutheranischen Geistlichen in New York, gegründet. Deren Mitglieder waren zumeist WASPs, die spirituelle Erneuerung dadurch zu erlangen suchten, dass sie sich durch gründliche Selbstprüfung Gott auslieferten. Sie gestanden einem anderen Menschen gegenüber ihre Charakterfehler ein, machten den Schaden, den sie anderen zugefügt hatten, wieder gut und gaben, ohne etwas dafür zu erwarten (ihr Motto war: "Keine Bezahlung für Seelenbehandlung"). Sie nahmen jedoch Spenden entgegen. Besonderer Wert wurde auf das Gebet und auf das Erbitten von Gottes Führung in allen Angelegenheiten gelegt. Die Bewegung beschäftigte sich intensiv mit der Heiligen Schrift und hatte auch eigene Literatur. Die Oxford-Bewegung der WASPs war jedoch keine Mäßigungs- oder Anti-Alkohol-Vereinigung. Die Oxford-Bewegung fand schon im Alten Testament Hinweise auf ein Heilverfahren, das ihrer Ideologie gleicht: Personen, die sich fehlverhalten hatten, bekannten sich öffentlich zu ihrer Schuld, wurden gesund und wieder in die Gruppe bzw. Gemeinschaft aufgenommen. Reduziert man das Oxford-Gruppenkonzept auf eine einfache Aussage, so kann davon ausgegangen werden, dass Menschen Sünder sind, sich aber durch Zugeben ihrer Sünde ändern können. Und diejenigen, die sich in einer Gruppendiskussion zu ihrer Sünde bekannt und in ihrer Persönlichkeit zu mehr Glauben hin geändert hatten, bekamen dann von der Gruppe den Auftrag, andere noch Ungläubige zu bekehren (Moeller 1978, S. 54).
Die bei den WASPs häufig anzutreffende Selfmademan-Ideologie ("vom Tellerwäscher zum Millionär") hatte ein klares demokratisches Konzept. Die negative Seite dieser Ideologie ist u.a. eine große Orientierung am Profit. Wie ökonomisches Interesse Suchtentwicklung bei Jugendlichen mitbestimmt, kann aktuell an der rasanten Verbreitung der Alkopop-Getränke beobachtet werden.
3.4 Alkopops – der neue Einstieg zum Alkoholkonsum im Jugendalter
Der rasante Anstieg des Konsums sogenannter Alkopops entwickelt sich als gefährlicher, neuer Einstieg in den Alkoholismus von Jugendlichen. Glaubt man den Jugendlichen, so gehört zu einem gelungenen Discoabend der schnelle Rausch (Brandt/Krüger 2004, S. 7). Hierfür bieten sich Alkopops geradezu an, denn sie verführen die Jugendlichen, übermäßig viel zu trinken. Der Alkoholkonsum von Jugendlichen in Deutschland war 2003 bereits fünf bis sechs Mal so hoch wie 1998 (Associated Press 2004, S. 17).
Durch ihren süss-fruchtig-limonadigen Geschmack verdecken die Alkopops ihren Alkoholgehalt. Wegen des hohen Zuckergehalts wird der Alkohol noch schneller vom Körper aufgenommen. Der Alkoholgehalt kann von Marke zu Marke variieren, liegt jedoch meist bei 5 bis 6 % vol. Damit enthält ein Alkopop (275 ml) mehr Alkohol als ein 0,2 l Glas Bier oder ein 0,1 l Glas Wein und auch mehr als zwei Schnapsgläser Korn. Einzelne Alkopops haben einen Alkoholgehalt von mehr als 10 %.
Eine Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) aus dem Jahr 2003 hat deutlich belegt, dass gerade junge Jugendliche, die bisher wenig Alkohol getrunken haben, durch Alkopops zum Alkoholkonsum verführt werden. Konzipiert wurden Alkopops speziell für den Geschmack junger Frauen. Geworben wird für die gesüßten Mischgetränke mit Coolness und Lässigkeit. Mit einer auf die Zielgruppe der Jugendlichen zugeschnittenen Werbestrategie wird suggeriert, dass gerade in diesen Flaschen "das richtige Leben" verborgen sei. Laut BZgA liegen hier die wesentlichen Gefahren des Alkoholkonsums für Jugendliche, denn je früher das Einstiegsalter mit Suchtmitteln ist, desto größer sei die Gefahr, abhängig zu werden (Associated Press 2004, S. 17).
Angesichts der gesundheitlichen Gefahren von jugendlichem Alkoholkonsum, haben die Koalitionsfraktionen von SPD und Bündnis90/Die Grünen ein Gesetz zum Schutz junger Menschen vor Gefahren des Alkohol- und Tabakkonsums in den Deutschen Bundestag eingebracht. Dieses Gesetz wurde am 06. Mai 2004 beschlossen und trat am 01. August 2004 in Kraft (dpa 2004, S. 2). Es sieht, bezogen auf Alkopops, zwei Regelungen vor:
- "Für spirituosenhaltige Alkopops mit einem Alkoholgehalt unter 10 % vol. wird eine Sondersteuer eingeführt. Durch diese Verteuerung sollen Jugendliche vom Kauf der Getränke abgehalten werden. Frankreich hat damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Netto-Mehreinnahmen aus dieser Sondersteuer sollen den Gesetzlichen Krankenkassen zur Finanzierung von Maßnahmen zur Suchtprävention zur Verfügung gestellt werden.
- Wegen des Gesamtalkoholgehalts von ca. 5,5 % vol. werden Alkopops häufig nicht als spirituosenhaltige Getränke eingestuft und im Handel meist nicht bei Spirituosen platziert, sondern bei Fruchtsäften, Bier und Partybedarf. Um dem entgegenzuwirken, sollen Alkopops zukünftig deutlich sichtbar mit dem Hinweis 'Abgabe an Jugendliche unter 18 Jahren verboten, § 9 Jugendschutzgesetz' gekennzeichnet werden." (http://www.verbraucher ministerium.de/index 000297FF175910898DF26521C0A8D816.html)
Mit dem Gesetz soll den Auswüchsen zunehmenden Konsums von Alkopops bei Jugendlichen entgegengewirkt werden. Wichtig ist neben den gesetzgeberischen Maßnahmen aber auch die Aufklärung der Jugendlichen, wie es z. B. von der BZgA betrieben wird (http.//www.bist-du-staerker-als-alkohol/daten/info.htm).
[...]
[1] der begrifflichen Eindeutigkeit halber wird im weiteren Verlauf der Arbeit die Abkürzung "AA" für die Beschreibung der Organisation und der Begriff "Anonyme Alkoholiker" für die einzelnen Gruppenmitglieder verwendet.
[2] Internationale Klassifikation psychischer Störungen
[3] Diagnostic and statistical manual of mental disorders (Klassifikationssystem der American Psychiatric Association)
[4] Das kann z. B. eine Familie mit einem psychisch kranken Kind sein
[5] Für den zentralen Begriff "enabler" (=Ermöglicher; derjenige, der einem etwas ermöglicht) gibt es im Deutschen keine direkte Entsprechung. Wegscheider gebraucht hierfür auch das Wort "Zuhelfer" (Wegscheider 1988, S. 89)
[6] Die Bezeichnung CAGE ist von den Anfangsbuchstaben wichtiger Worte der nur vier CAGE-Fragen abgeleitet. Der CAGE-Test stellt die kürzeste Version eines Alkoholismus-Screeningtests dar
[7] Das amerikanische Wort "Temperence" kann mit Enthaltsamkeit, Abstinenz übersetzt werden (Gläß/Biel 1979, S. 7 f.)
- Citation du texte
- Rita Knoll (Auteur), 2005, Alkoholismus und Selbsthilfegruppen, dem Erfolg der Anonymen Alkoholiker (AA) auf der Spur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36920
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