Durs Grünbein, Georg Büchner-Preisträger von 1995 und damit einer der jüngsten Lyriker im poetischen Olymp, darüber hinaus Verfasser diverser Aufsätze und reflektierender Texte, mag in Kenner- und Kritikerkreisen umstritten, dem einen „Götterliebling“ , dem anderen „ein bedeutendes Talent, das sich von Zeit zu Zeit verschwendet“ sein, davon unberührt bleibt jedoch die Tatsache, dass er mit Leib und – nun ja – Leib Dichter ist, dessen Leben sich nun einmal um die kleine, abgesteckte Welt von „Poesie, dem geliebten Partner, [mittlerweile auch der Tochter], und durchaus dem Whisky“ dreht – wenngleich allein die Poesie Grünbeins thematisch durchaus unsere ganze Welt innerhalb der Dimensionen Raum und Zeit abtastet.
Wann genau die Lyrik ihre ersten Keime in Grünbein legte, weiß er selbst nicht genau zu sagen. Vielleicht war „da ein Ansatz, irgendein Zeichen für eine Poetik des Ersten Augenblicks“ auf dem Vesuv seiner Kindheitserinnerung, jenem Müllberg – „ein Stillleben im zerbrochenen Rahmen“ – bei seiner Heimatstadt Dresden . Vielleicht waren es aber auch erst „Novalis’ Hymnen an die Nacht“ , die den damals Fünfzehnjährigen derartig prägten, dass „es nicht lange dauern“ konnte, bis auch er anfing zu schreiben. „Mit siebzehn“ folgten dann die ersten „Notizen […], kleine emphatische Schreiberein, die wie Gedichte aussahen und nur im engsten Kreis vorzeigbar waren“ (V 39). Denkbar, sie legten den ersten Grundstein für den „Versuch einer Poetik“ (V 39). Dem folgte die Berührung mit „Baudelaire“ und den „Cantos des Ezra Pound“, die den nun Achtzehnjährigen „jung und zitatengeil“ hinterließen. Für „jede literarische Einflüsterung offen“ hat ihn „unmerklich […] das Studium überkommen, seine erste recherche“ (E 63).
Sein geheimer Kontrakt mit der Zeit, durch frühe Lektüre geschlossen, ist mit einem Mal rechtskräftig geworden. Er marschiert durch die Hintergründe, liest sich durch Fußnoten und Bibliographien und entdeckt den Zauber der Anspielung im Nebensatz. Was er jetzt von sich gibt, sich großspurig herausnimmt, nennt er selbst, verführt von neusachlicher coolness, Versuche. Der Euphemismus Gedichte bleibt lange Tabu.
Inhaltsverzeichnis:
0 Einleitung
1 Autorpoetik
1.1 Begriffsklärung
1.2 Konzept
1.2.1 Dichtung und Körper
1.2.2 Dichtung und ›Ich‹
1.2.3 Gedicht und ›Ich‹ auf Sendung
1.2.4 Gedicht. Einschneidend
1.2.5 Autorpoetik. Kompakt
2 Poetisches Werk und Autorpoetik
2.1 ›Grauzone morgens‹
2.2 ›Schädelbasislektion‹
2.2.1 Lektionen des Körpers
2.2.1.1 Fünf „Lektionen im Auftrag der Ernüchterung“
2.2.1.2 ›Den Körper zerbrechen‹. Büchner als Verkörperung der Idee einer somatischen Poesie
2.2.2 Imagination und Wirklichkeit
2.2.2.1 ›Galilei vermisst Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen‹. Der reduktive Rationalismus Galileis vs. Dante als Verkörperung der Idee einer imagistischen Poesie
2.2.2.2 „Poetik der Präsenz“
2.2.2.3 ›Inframince‹. Von Eigenwelten und Missverständnissen
2.2.2.4 ›Niemands Land Stimmen‹. Von den Schwierigkeiten, die heutige Wirklichkeit im Sinne der an Dante entwickelten Poetik in Anschauung zu verwandeln
2.2.2.5 Vergegenwärtigung des Todes. Ausblick auf die Epitaphe ›Den Teuren Toten‹
2.3 ›Nach den Satiren‹
2.3.1 Vier ›Postsatiren‹. Unterwegs im Ich
2.3.1.1 ›Postsatire I‹. Im Dickicht der Großstadt
2.3.1.2 ›Postsatire II‹. Fazit im dreißigsten Jahr
2.3.1.3 ›Postsatire III‹. Baustelle Berlin
2.3.1.4 ›Postsatire IV‹. Zwiegespräch
2.3.2 Grünbein und die Antike
3 Resümee
Literaturverzeichnis:
Ehrenwörtliche Erklärung
0 Einleitung
Durs Grünbein, Georg Büchner-Preisträger von 1995 und damit einer der jüngsten Lyriker im poetischen Olymp, darüber hinaus Verfasser diverser Aufsätze und reflektierender Texte, mag in Kenner- und Kritikerkreisen umstritten, dem einen „Götterliebling“[1], dem anderen „ein bedeutendes Talent, das sich von Zeit zu Zeit verschwendet“[2] sein, davon unberührt bleibt jedoch die Tatsache, dass er mit Leib und – nun ja – Leib Dichter ist, dessen Leben sich nun einmal um die kleine, abgesteckte Welt von „Poesie, dem geliebten Partner, [mittlerweile auch der Tochter], und durchaus dem Whisky“[3] dreht – wenngleich allein die Poesie Grünbeins thematisch durchaus unsere ganze Welt innerhalb der Dimensionen Raum und Zeit abtastet.
Wann genau die Lyrik ihre ersten Keime in Grünbein legte, weiß er selbst nicht genau zu sagen. Vielleicht war „da ein Ansatz, irgendein Zeichen für eine Poetik des Ersten Augenblicks“ auf dem Vesuv seiner Kindheitserinnerung, jenem Müllberg – „ein Stillleben im zerbrochenen Rahmen“ – bei seiner Heimatstadt Dresden[4]. Vielleicht waren es aber auch erst „Novalis’ Hymnen an die Nacht“[5], die den damals Fünfzehnjährigen derartig prägten, dass „es nicht lange dauern“ konnte, bis auch er anfing zu schreiben. „Mit siebzehn“ folgten dann die ersten „Notizen […], kleine emphatische Schreiberein, die wie Gedichte aussahen und nur im engsten Kreis vorzeigbar waren“ (V 39). Denkbar, sie legten den ersten Grundstein für den „Versuch einer Poetik“ (V 39). Dem folgte die Berührung mit „Baudelaire“ und den „Cantos des Ezra Pound“, die den nun Achtzehnjährigen „jung und zitatengeil“ hinterließen. Für „jede literarische Einflüsterung offen“ hat ihn „unmerklich […] das Studium überkommen, seine erste recherche“ (E 63).
Sein geheimer Kontrakt mit der Zeit, durch frühe Lektüre geschlossen, ist mit einem Mal rechtskräftig geworden. Er marschiert durch die Hintergründe, liest sich durch Fußnoten und Bibliographien und entdeckt den Zauber der Anspielung im Nebensatz. Was er jetzt von sich gibt, sich großspurig herausnimmt, nennt er selbst, verführt von neusachlicher coolness, Versuche. Der Euphemismus Gedichte bleibt lange Tabu. (E 63)
In einem Gespräch mit Aris Fioretos fasst Grünbein noch einmal zusammen: „Pound zu entdecken kam einem Dammbruch gleich, einer totalen Öffnung. Alles Aufgestaute begann nun zu fließen.“[6] Überraschend und gleichermaßen faszinierend an Pounds Dichtung war der fragmentarische und intertextuelle Sprachen- und Zitatmix, der sich für Grünbein las wie „das Gedankenprotokoll eines dissoziierten Gehirns“. Das „ganze Jahrhundert“ schien ihm darin enthalten.
Am Ende ergab sich ein Tableau, das so anspielungsreich, so bis in alle Zeitentiefen hinein gestaffelt war, dass man sich in ihm verlieren konnte. Es war der gesamte Western and Eastern Canon, der dort vorüberzog. Hinzu kam die Verblüffung, dass eine Form in ihrer völligen Zerbrochenheit noch derart unmittelbare Bewusstseinschübe auslösen konnte. Was ich vor mir aufgeschlagen sah, war eine riesige Landkarte, viel zu groß für einen einzelnen Menschen, und doch hatte ein Dichter sie zu zeichnen versucht. (Z 487)
Fabian Lampart liest aus diesen Äußerungen ein Interesse Grünbeins „in zweierlei Hinsicht“, zum einen an den „Möglichkeiten textueller Organisation, die an Pounds heterogenste Anspielungs- und Zitatmassen organisierender Lyrik zu beobachten sind“[7] und im Weiteren an der Fähigkeit der Lyrik Bewusstseinschübe auszulösen. Lampart entsprechend formuliert Grünbein – mit dieser Feststellung einer spürbaren Beeinflussung des Körpers durch Dichtung – im Sinne einer rezeptionsästhetischen Leseweise „ein Kriterium der außerliterarischen, über eine rein intellektuelle Verarbeitung hinausgehenden, physisch fundierten Wahrnehmung von Lyrik“[8]. Anknüpfend an diese beiden Punkte entwickelt Lampart eine „zweistellige Grundfigur Grünbeinscher Poetik“:
Immer geht es sowohl um die textuelle Bewältigung einer als vielfältig und fragmentiert empfundenen Wirklichkeit als auch um die Fähigkeit der Lyrik, neben dem Bereich des Intellektuell-Rationalen eine unmittelbar-physische Sphäre zu stimulieren.[9]
Im Falle der Dichtung Pounds war das physische Moment das Erwecken oder zumindest das Bedienen einer Sehnsucht: „Die zerfallenden Weltbilder, ihre Auflösung in ungeheure geographische Räume, das war es, was [Grünbein] als einen Bewohner der Zone nach draußen rief.“ (Z 489) Denn Grünbeins Wirklichkeit war zuerst die der „Monotonie des Alltagslebens“ (Z 490), „in einer Gesellschaft, die auf der Stelle tritt“ (Z 489). Möglicherweise war es aber genau dieser Lebensraum, der Grünbeins Gespür für die physischen Aspekte der Dichtung überhaupt weckte.
Vielleicht war das Lesen hier […] ein Abenteuer, das anderswo längst verschwunden scheint: ein Beim-Wort-Nehmen der Körper, der Dinge und all der vielen Quälgeister, die einen von früh an umgaben. Vielleicht begünstigen Diktaturen die Selbstbeobachtung.[10]
Letztendlich ist es ganz natürlich, dass seine Werke, aber auch seine Poetik von sozialistischen Erziehungsmomenten geprägt sind. Denn aufgewachsen in der DDR, „einem System [...], in dem die Reduktion des Lebens auf Reflexe durchaus Methode war“ (D 47), erkennt sich Grünbein beinahe nüchtern als „moderne Zuchtvariante des Pawlowschen Hundes“ (D 48), konditioniert innerhalb einer „grausam einfältigen Gesellschaft“. Hier „war [der Mensch] die Summe seiner Pawlowschen Reflexe und fertig“ (D 47f.).
Grünbein, als Resultat seiner Reflexe und seiner so empfundenen Geschichte, reduziert demnach auch das Schreiben auf einen rein physischen Akt. Für ihn „geht alles wirksame Schreiben vom Körper aus“ (D 40) und es „ist nichts im wirksamen Schreiben, was nicht vorher in den Sinnen war“ (D 41). Und wie die Rezeption Grünbeins zeigt, haben sich seine Sinne seit jenem ersten lyrischen und gleichermaßen magischen Berührungsmoment „in einem fortwährenden Dialog mit der literarischen Tradition“[11] befunden.
Mit Blick auf Grünbeins Interesse an Pound und seine behavioristische Prägung durch das Leben im sozialistischen Staat lässt sich mit Fabian Lampart soweit zusammenfassen:
Durs Grünbein zielt auf eine dichterische Sprache, die einen Teil ihres Materials aus der Tradition bezieht, ihren Nullpunkt aber in der sinnlich-körperlichen Wahrnehmung konkreter Realitätssplitter hat und diese Berührung mit der Realität auch an den Leser weiterzuleiten vermag. Dieses poetologische Programm durchzieht Grünbeins verstreute Reflexionen über die Bedingungen des eigenen Schreibens ebenso wie seine Lyrik.[12]
Ziel dieser Arbeit ist es, erstens die hier grob umrissene Autorpoetik Grünbeins näher zu beleuchten und sie zweitens mit seinem poetischen Werk zu vergleichen, um festzustellen, inwieweit sich Grünbeins Konzept von Dichtung in seiner eigenen Arbeit sowohl thematisch als auch in ihrer Umsetzung widerspiegelt bzw. inwieweit seine Poetik mit der Erkenntnis der Verfasserin über das Funktionieren seiner Texte übereinstimmt.
Im ersten Teil der Arbeit wird daher versucht, die Grünbeinsche Autorpoetik aus verschiedenen nichtlyrischen Texten heraus zusammenzufassen und damit greifbar zu machen. Im zweiten Teil werden einige Texte seines poetischen Werkes mit Blick auf diese Poetik und gegebenenfalls auf ausgewählte poetologische Texte betrachtet, um mögliche Verbindungen aufzudecken, Vergleiche zu ziehen, die Bedeutung und Funktion der Texte füreinander zu beurteilen und die Autorpoetik gegebenenfalls zu ergänzen.
1 Autorpoetik
1.1 Begriffsklärung.
›Autorpoetik‹ wird dem Metzler-Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie entsprechend als Gattungsbegriff für „alle in sich abgeschlossenen Äußerungen von Autoren über ihre Schreibverfahren“ verstanden[13]. Dabei geht es im Besonderen um „die Poiesis der Texte, deren Konstruktionsverfahren und Entstehungsbedingungen“[14]. Die Autorpoetik kann sich im „biographischen Bericht“ oder in der „komplexen Selbstreflexion“ äußern, darüber hinaus können „Poetikvorlesung, poetologischer Essay und Preisrede sowie ›Werkstattgespräche‹“ dazugehören[15]. Natürlich sind auch immer „Grundfragen des Literatur“ Thema, doch entscheidend sind der „Bezug auf eigene Textherstellungsverfahren“ und die „selbstreflexive Kommentarstruktur“[16].
Darauf aufbauend begreift die Verfasserin Autorpoetik als dasjenige Konzept, das ein Autor von Literatur im Allgemeinen und von seinem eigenen Werk im Besonderen hat. Im Falle Grünbeins stellt sich also die Frage nach seinem Konzept von Dichtung/ Poesie. Ein solches Konzept Grünbeinscher Poetik lässt sich aus vielen seiner Essays, aus Presseinterviews und Gesprächen mit anderen Literaten sowie aus vielen seiner Gedichte erschließen. Dabei wird schnell deutlich, dass sich seine Poetik nicht allein in der Erklärung erschöpft, wie ein Gedicht entsteht. Vielmehr werden Fragen beantwortet wie: Was bedeutet in Grünbeins Augen Dichten/ „Gedichteschreiben“[17] ? Was ist Dichtung bzw. ein Gedicht? Wie, aber auch warum entsteht es? Welche Funktionen hat es? Wie wirkt es? Bedarf es der Form? etc. Aber auch: Was zeichnet einen Dichter aus? Welche Rolle kommt dem Leser zu?
Im Folgenden werden viele dieser Fragen beantwortet und es wird sich zeigen, wie komplex und durchdacht die Grünbeinsche Poetik ist.
1.2 Konzept.
1.2.1 Dichtung und Körper.
Dichten, gibt Grünbein zu, ist „in seiner intensivsten Form reine Introspektive“ (J 59). Es „beginnt als Schichtung zunächst ganz sinnloser Bewusstseinsstadien“[18]. Der Dichter hält „Trümmerschau“ „auf seinem Kriegsschauplatz Hirn“[19]. Mühsam, sprunghaft und ziellos, „ohne Rücksicht auf Kausalitäten oder Chronologien“, sammelt er die „Bruchstücke […], die sein unbekanntes Bewusstsein ihm überlässt“ (B 19). Das Gedicht, das er von seiner ›Reise ins Ich‹ mitbringt, ist das „Protokoll innerer Blicke“ (B 33). Das ist jedoch nicht so zu verstehen, dass für Grünbein das Gedicht immer eine Analyse des eigenen Ichs beinhaltet. Natürlich ist das Ich immer Teil des Gedichts, doch geht es neben dem ›Ich bin…‹ vielmehr um die Welt, wie sie sich dem Ich darstellt, und darum, wie das Ich sich in dieser Welt verortet.
Ich durch π, so könnte der primäre Teil der Ungleichung lauten, die zu Gedichtzeilen führt, mit einem π als gewaltsame Konstante (Temperament, Artverhalten, Vererbung, Gegenstände des Begehrens…) und einem biographischen Ich, dem alles Majestätische abhanden kam und das im ständigen Zweifel an seinen Erlebnissen lebt. (B 19f.)
Am Anfang aller Grünbeinschen Dichtung steht der Körper als ›Weltempfänger‹. Die Welt prägt sich ein. Jede Wahrnehmung, jedes Erfahren, jedes Erleben schneidet ein in den Körper, das Gehirn. Je intensiver, schöner, hässlicher, grausamer die Erfahrung, desto tiefer sind die Furchen, die sie hinterlässt. In sich hineinzuschauen und jenen „Gedächtnisspuren“ (B 21) in „engrammatischer“ Leseweise zu folgen[20], die einzelnen Fragmente und Scherben einzusammeln, sie immer neu zu verknüpfen, schafft einen Moment der Stille inmitten der Welt von Stimmen und Geräuschen und aus dem Körper heraus entsteht möglicher weise ein Gedicht.
Vielleicht werden die stärksten Gedichte, die rätselhaftesten Stücke ja aus Reizabwehr geschrieben, als ein kurzes Aufatmen des Gedächtnisses unter dem Dauerbeschuss täglicher Eindrücke. (B 21)
Hier deutet sich eine wichtige Voraussetzung für das Schreiben an, die Grünbein entsprechend ganz die Person des Dichters betrifft. Es ist seine „Geräuschempfindlichkeit“[21], die ihm den Schlaf raubt. Unter der Last der Wahrnehmung der Geräusche und Stimmen[22], die sich – weder an Zeit noch Ort gebunden – dem Dichter von überall her aufdrängen, gelingt es ihm – im Gegensatz zur „allgemeine[n] Seelenblindheit [der meisten Menschen], die den Gehirnen erlaubt, sich durchs Leben zu schlagen“ (J 79f.) – nicht, die Wahrheit zu ignorieren, „auf ganz verlorenem Posten zu stehen“(J 9). Diese Erkenntnis springt den Dichter von innen her als fremde Stimme aus den Abgründen des Unbewussten an und er ist ihr und anderen inneren Stimmen von nun an ausgeliefert. Sie konfrontieren ihn mit einer zweifachen Realität, die ihn zu zermalmen droht. Um dem zu entgehen, muss er „kontemplativen Abstand gewinnen“ (J 10), sich auf den Beobachter- und Horchposten zurückziehen und schreiben.
Dabei testet er „traditionelle Möglichkeiten lyrischen Sprechens, tastet sich entlang an den Stimmen bedeutender Vorbilder“[23], die er verinnerlicht und somit den eigenen fremden Stimmen hinzugefügt hat.
Und letztendlich ist ein Zitat noch der Abschied vom eigenen Sprechzwang, von der eigenen Stimme. Das Gedicht erhält mehr Perspektiven, kann sich selbst spiegeln, was eigentlich ein dramatisches Prinzip ist. Das fiktive Element kann durch das faktische nochmals gebrochen werden. Manchmal sehe ich mich als „multiple person“, die eigene Stimme sickert nur in Tropfen durch und auf ein allein sprechendes Ich kann ich gut verzichten.[24]
Hier formuliert sich deutlich sein „Konzept vom Schreiben am Schnittpunkt sehr vieler Stimmen“ (D 46). Doch sind das „nicht nur die Stimmen im Kopf, dieses Wispern und Flüstern, das an der Schädeldecke kratzt“, sondern es sind vor allem „auch die Stimmen draußen, ihr urbanes Gemurmel“, die Stimmen der Lebenden und Toten sowie „wiederkehrende, Geschichte machende oder gattungstypische“, sprich: (ein)prägende Stimmen, „die [ihm] am meisten zu schaffen machen“ (D 46).
Doch was hier noch nach Fluch klingt, ist für den Dichter gleichermaßen Segen. Das Schockhafte jeder einzelnen Erkenntnis, die die Stimmen ihm auftischen, durchbricht die Gleichförmigkeit seines Lebens und macht es ihm bewusst.
Schrecklich, wie schrecklich ist diese Ohnmacht, wenn nichts geschieht als das Immergleiche. Freude der Schocks, allegria di fallimenti... Dankbarkeit in den Momenten danach. Ich lebe, ich kann bankrott gehen. Den Körper gestalten die Risse. »There is a crack in everything / That’s how the light gets in«, singt Leonard Cohen. (J 23)
1.2.2 Dichtung und ›Ich‹.
Die Unfähigkeit des Dichters, über die Unvermeidlichkeiten des Lebens hinwegzusehen, mag ihn quälen, sie ist dennoch genau das, was er will. Es ist eine Leidensrolle, in der er sich gefällt, weil sie ihn von der Masse abhebt. Er ist nicht blind. Für ihn „steigt Dichtung zur letzten Erkenntnisform auf, indem sie die Kriterien der seelischen Regsamkeit wachhält“ (J 79f.). Also lauscht er „in das Stimmengewirr vieler Zeiten, in die Zitate und Sprachfetzen seiner Gegenwart, dass die markantesten sich in den innersten Ausläufern seines Gehörs fangen … Bis eine Zeile, ein Codewort die Zusage gibt: Hier stößt du endlich auf Grund“ (B 21).
Das Erreichen tiefer Hirnareale, die Markierung in Form einzigartiger Engramme, das ist sein Ziel, und insofern liegt in der Neurologie die Poetik der Zukunft versteckt. Auf der Jagd nach Gedächtnisspuren unterwirft er alle anderen Belange seines Lebens der fixen Idee, nur dafür da zu sein, ihn an das Kontinuum verdichteter Bilder anzuschließen, darin liegt das unheilbar manische seines Tuns. (B 20f.)
Doch zuallererst ist Dichtung etwas Fremdes, das einen blitzartig überkommt. Mag sie in der Plötzlichkeit und Intensität ihres Auftretens auch überwältigend sein, so ist sie doch ›nur‹ eine Form der Verarbeitung der Welt durch das Ich und somit „von Anfang an eine Funktion des Gedächtnisses“ (B 22). Sie ist Resultat und Ausdruck eines neuen (oder erneuten) Erkenntnisgewinns, willkürlich diktiert von der inneren Stimme „eines persönlichen Dämons vom Typ des Sokratischen, der immer warnt, niemals tröstet“, ausgelöst von einem Wort, einem Geräusch, einem Gedanken, einer scheinbar beliebigen Erregung, die die „Gehirnlandschaft“ (E 62) erhellt dank „der strahlenden Idiosynkrasie eines Menschen, der die Dinge nicht anders sehen kann, als er sie sieht, den die Dinge nicht anders ansehen als in dieser besonderen Anordnung“ (B 18) – in Grünbeins Falle offenbar die Anordnung einer fragmentierten und porösen Wirklichkeit[25].
Warum und wie eine Erregung die „Gehirnhelligkeit“ verursachet, die letztlich zum Schreiben führt, ist nicht ausreichend erklärbar und so „lässt jeder Schreibakt sich nur auf die Reizbarkeit eines einzelnen Irrläufers zurückzuführen, auf seine Symptome, die immer zum Vorschein drängen, sosehr sie auch Anschluss suchen an Philosopheme, politische Ansichten, technische Standards“ (B 18). Grünbeins Vorstellung entsprechend zeigt sich im Gedicht als „Folge zumeist wenig angenehmer Reflexe“ (B 18) das Bild einer fremden Innenwelt.
Irreduzibel, ist es zuletzt ein Vexierbild physiologischen Ursprungs, ähnlich dem Nervensystem, der Anatomie und dem Knochenbau. (B 18)
Es ist der „prosodische[] Charakter [der Poesie], der die Verbindung herstellt zwischen der einzelnen Stimme, die aus dem sterblichen Körper kommt, und den Geschichten der Gattung, die über den Wassern stehn und die Städte und Landschaften wie Straßen durchziehn“ (B 22). Dank der Besonderheit der poetischen Sprache, deren Worte schwerer wiegen (müssen) als die der Alltagssprache[26], dank ihrer „Fähigkeit, semantisch weit auszugreifen, das entfernt Auseinanderliegende möglichst rasch zu verknüpfen“ (J 232) werden im Gedicht diese „anekdotische[n] Momente von Gattungsleben und Icherleben in Anschauung verwandelt“ (B 18). Doch obwohl das Gedicht die Innenwelt des Dichters sichtbar macht, bleibt es doch rätselhaft, „steht der Leser unverhofft dem Idiotischen gegenüber“ (B 18). Zum einen offenbart es die „verworrene Erkenntnis“ (V 38) eines fremden Individuums, dem der Ort, von welchem sie stammt, selbst kaum bekannt ist. Zum anderen „tendiert das Gedicht zum Fragment“, verteilt sich seine „Ausdruckslast auf Bruchstücke“ (J 162), was zurückzuführen ist auf seine Entstehung, jenes von Grünbein beschriebene unkoordinierte Sammeln von Einzelteilen, das es zu einem unvollständigen Puzzle macht, zu „einem Mosaik, das im Grunde aus lauter Unbekannten besteht“ (J 232) oder vielmehr zum Fragment eines solchen Mosaiks.
Das Rätselhafte des Gedichts darf im Sinne Grünbeins aber nicht als Nachteil verstanden werden, sondern als Fakt und gewissermaßen auch als Bedingung, die es erfüllen muss, um gegen die bzw. in der Außenwelt zu bestehen. Denn das Eindeutige und Klare mag vielleicht schön sein, aber es ist auch langweilig. Das Rätselhafte hingegen ist spannend. Diese Einstellung zeigt sich insbesondere in Grünbeins Mathematikkonzept von Dichtung:
Gedichte sind mathematische Gleichungen. Nur dass statt Zahlen hier Worte, also Träger von Gedanken und Empfindungen, in Relation gesetzt werden. Die Relation ist der Stil, die mathematische Operation der Ausdruck, die Bedeutung ihr Resultat. Gedichte, wenn ein Formgesetz sie beherrscht, funktionieren exakt wie Brüche. Je mehr Faktoren man in die Rechenoperation einbezieht, umso weniger leicht lässt sich ihr Korpus reduzieren auf ein paar simple Standards. Mit der Anzahl der Unbekannten erhöht sich der Schwierigkeitsgrad, der hier Spannung heißt. (J 97)
Spannung muss das Gedicht aufbauen, um erinnerbar zu bleiben. Aber warum sollte es das?
Hier wie in einigen anderen bereits benannten Aspekten deutet sich an, dass Dichtung für Grünbein nicht nur eine besondere Entstehungsgeschichte hat, sondern dass sie darüber hinaus gewisse Funktionen erfüllt, die letztendlich auch Grund dafür sind, warum der Poet die ›Strapazen‹ des Dichtens nicht nur ›erträgt‹, sondern sogar versucht, den Schreibprozess künstlich hervorzurufen (J 231):
Die erste, bereits beschriebene Funktion, die sich im Schreiben selbst verwirklicht, ist demnach die Verarbeitung der Welt, die sich dem Dichter in zweierlei Form, einer als real vorgespiegelten und einer nur für den Dichter – „Einziger, der durch die Schatten sieht“[27] – erkennbaren Welt dahinter, darstellt.
In einer weiteren Funktion wirkt das Schreiben selbst dem Verlorenheitsgefühl des Dichters entgegen. Es verortet ihn in der Welt, gibt Halt[28] und verschafft ihm ein Lebendigkeitsgefühl:
Dichten, das ist die Offensive der Ohnmacht, Mobilmachung im Stil der kleinsten Größe, die Allmachtsphantasie in der Nussschale. Wer dichtet, ist nicht tot.
(J 79f.)
Eine dritte Funktion der Dichtung, die vor allem dem Dichter dient, aber zu ihrer Erfüllung der Wahrnehmung durch einen Leser bedarf, ist die Legitimation des eigenen Selbst, denn das Ich, das sich als Teil der Welt erkannt hat, ist eifersüchtig darauf bedacht, von seiner Umwelt „erhört“ zu werden (B 23).
Es gibt dich also nur, solange du schreibst? Nur was, und vor allem wie du es sagst, soll bestimmen, in welcher Form dein Bewusstsein für andere präsent ist? Du entscheidest, wieviel Licht in diese unbekannte Person fällt, von der es bis auf weiteres nur einen Namen gibt, der wie ein Schatten vorausfällt. Der Name ist dieses Undurchdringliche, das erst im Schreiben sich stückweise lichtet. (J 16)
Der Dichter erkennt sich als „das singende, klingende Nichts“ (J 163), als Unbekannte mit Namen Grünbein, von der Welt wahrgenommen als „pastose[s] Gespenst[]“ (J 34), dessen Knochen das Fleisch der eigenen Gedanken bedecken soll, auf dass der Welt ein erwünschtes Bild Grünbeins gegenwärtig wird und – hier erfüllt sich eine vierte Funktion der Dichtung – über seinen Tod hinaus erhalten bleibt.
Sein Geheimnis ist die Unmittelbarkeit, seine Magie die physische Präsenz eines Sprechers, der immer woanders oder lange schon tot ist. In den verschiedenen Rhythmen, den verdichteten Bildern wird die Vorstellung des einzelnen synchronisiert mit der Wahrnehmung aller – solange es Überlieferung gibt. (B 22)
Durch den Rezipienten verschafft sich der Autor auch noch nach seinem Tod einen Platz in Realität und Gegenwart, unter Umständen sogar über den Moment des Lesens hinaus, wenn es ihm gelingt, sich über den Transformator Gedicht in das Gehirn des Rezipienten einzuschreiben, selbst „Schock“ zu sein, den sein Schreiben ja galt auszutreiben.
Durch die fremde hindurch wird die eigene Stimme hörbar, der nahe Herzton […], der in Gestalt der schwarzen Krähe von den Toten zurückkehrt. (U 73)
Zurückkehren zu können ist ein Wunsch, der das Entkommen aus der Talsohle der eigenen Zeit ebenso einschließt wie das Vorübergleiten an jenem irreal gewordenen Gestern, von dem bald nur noch Ruinen zeugen. Mag sein, dass es einer der ältesten Dichterwünsche ist. (U 74)
Gleichwohl, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen, genügt es nicht, einfach nur zu schreiben. Der Sprecher muss über seine Sprache den Hörer an jenem tief vergrabenen Ort eines kollektiven Gedächtnisses erreichen, muss ihn dort berühren, wo eine nur ganz vage vorhandene Vertrautheit und in ihr ein Wiedererkennen schlummert.
1.2.3 Gedicht und ›Ich‹ auf Sendung.
Mag Poesie in den genannten Funktionen auch „zuallererst Selbstbegegnung“ (B 25) sein, hier zeigt sich ihre ganz besondere Eigenschaft.
[Ü]ber alle Stilepochen und Kunstideale hinweg hält das Gedichtwort Verbindung zu den Gedächtnisgründen, den im Erdreich versunkenen Zivilisationen, den allgegenwärtigen Toten. Woher sonst rühren alle die vielen Déjàvu-Momente, die endogenen Symbole und Leitmotive, die so etwas wie eine anthropologische Blickweise überhaupt erst ermöglichen? (B 22)
Die Dichtung, die wie von Grünbein beschrieben aus dem Körper kommt, von jenem dunklen für das Ich unüberschaubaren Ort Hirn, enthält Bilder, Gedanken, Ideen, die aus den Tiefen des Unbewussten stammen, welches uns allen gemeinsam ist, und die sich wohl darum in anderen wieder finden wollen. Gedichte wollen gelesen werden.
Hier liegt der Schwerpunkt der Poesie. Ihr Paradoxon ist, dass sie das Scheitern der Kommunikation zur Voraussetzung hat und doch nach sprachlichem Austausch verlangt. Ihre Spannung erwächst aus der widerstrebenden Suche nach dem unbekannten Adressaten, der beides wäre, fremder Gesprächspartner und alter ego zugleich. […] Poesie lebt davon, dass der andere die Herzsignale erwidert. (J 276)
Letztendlich kann sich die Botschaft des Körpers erst im anderen, im Leser entschlüsseln (B 25). Dem Gedicht wohnt demnach immer die Hoffnung auf einen Empfänger inne.
Mit seiner Bitte um Gehör, so Grünbein, ähnelt das Gedicht dem Gebet, das seinen Adressaten weder kennt, sieht, noch weiß, ob er existiert. Jedoch schafft das Gebet „momentweise Erleichterung“, im Gedicht aber fällt „das Wort auf den Sprecher zurück und lässt ihn mit seiner zweifelhaften Emphase allein“ (B 25). Dichtung ist somit nicht nur „Selbstbegegnung“ in freiwilliger Form, sie ist es andererseits auch gezwungener maßen. Am Treffpunkt Gedicht ist der Dichter immer viel früher da und wartet vergeblich. Wenn der Leser dann eintrifft, mag er „die physische Präsenz“ des anderen noch spüren, aber das ist ›nur‹ der Zauber der Poesie (B 22). Der andere ist fort, und der Leser findet nur noch bunt zusammen gewürfelte Schnipsel und Bilder, die der Autor von sich und der Welt, wie er sie sah, zurückließ. Aber welches bewusste oder unbewusste Bild der Dichter von sich und seiner Welt auch hinterließ – auch das meint „Scheitern der Kommunikation“ – im Rezipienten wird es zu einem ganz anderen werden. Es ist „die Vergeblichkeit selbst, die sich hier demonstriert, ein unmögliches Verlangen nach umfassender Verständigung“ (B 26), denn das Mehrdeutige der poetischen Sprache lässt eben viele Möglichkeiten zu, die sich mit jeder weiteren Unbekannten quadrieren. Grünbeins Schluss daraus:
Jeder in seiner Welt, so viele Welten … So muss sie wohl lauten, die Formel für den einsamen Zeugen, der immerfort in sein Einzelerlebnis eingesperrt bleibt. (H 89)
Damit nun „die Vorstellung vom Adressaten, der die Berichte aufnimmt und ihnen aufmerksam lauscht“ nicht „zumeist nur Theater, oft Illusion“ (H 89) bleibt, darf das Gedicht nicht im Raum alltäglicher Reize verloren gehen. Erschaffen aus einer Erregung muss es selbst zur Erregung werden, die die Wahrnehmung fesselt und sich möglichst tief einprägt.
Wie die Stimme im Telephonhörer […] dringt es real in den Körper ein und explodiert im Unbewussten mit seinen Klängen und Codes, im Idealfall gleich einem intensiven Traum. Noch bevor man begreift, was geschieht, hat es sich als Erinnerungsspur festgesetzt, und man ist fortan gezeichnet, stigmatisiert durch ein paar merkwürdig aufgeladene Worte. Im Bruchteil einer Sekunde (länger dauert es nicht) hat ein neuronales Gewitter, ein Synapsenblitz die ganze Gehirnlandsschaft verändert. (E 62)
Gelingt ihm das, werden Gedicht und mit ihm die Stimme des Autors überleben.
1.2.4 Gedicht. Einschneidend.
Wie sich gezeigt hat, geht bei Grünbein „alles wirksame Schreiben vom Körper aus, oder es bleibt bloße Literatur […] über dieses und jenes“ (D 40). Wirksam ist es aber nur, wenn „es zu einer Übertragung kommt“, „sich wie im magnetischen Feld Energien vermitteln“ (D 41).
Entweder spricht der Körper, über die weißen Seiten gebeugt, mit, oder das Gedicht geht spurlos an ihm vorbei direkt ins Leere … ohne Spannungsaufbau kein Magnetfeld. (E 62)
So wird es zur dringendsten Aufgabe des Gedichts, das nicht nur gelesen, sondern auch behalten werden will, „a) aus den innersten Labyrinthen heraus Worte zu fördern, die auch im Tageslicht noch bestehen, b) mit einem Minimum an Notiertem ein Maximum an Ausdruck zu erzielen und c) den Gedanken in sinnliche Anschauung zu verwandeln und umgekehrt. Für all das hat das Gedicht nur eine Grundbewegung: die bloße Drehung um die eigenen Achse“ (B 27).
Damit nun die komprimierte und verschlüsselte „Botschaft des Körpers“ in die „Empfangszonen“ des Lesers vordringen kann, muss „ihr Appell sich an alle Sinne“ richten und dies gelingt nur, in dem sie sich tarnt mit der Kunstfertigkeit poetischer Sprache (B 25). Denn nur der „Emphase der Dichtung“ gelingt es, aus der Vielfalt „von Emotion und Erkenntnis etwas Erinnerbares“ heraufzuholen (B 23).
Um gegen die Zeit zu bestehen – eine ihrer Formen ist das Vergessen – muss das Gedicht formale und inhaltliche Widerstände schaffen, was nicht zwangläufig bedeutet, den Widerstand zu thematisieren, sondern ihn vielmehr zu leben. Dichtung muss um jeden Preis auffallen, sie braucht Haken und Ösen, an denen sich die Gedanken der Leser aufhängen können. Dazu muss sie „das Realitätsprinzip (der Physik, des Verstandes, der phänomenalen Ordnung)“ gründlich auflösen, sei es durch „metrische Barrieren“ und/ oder „lexikalische Entfernungen“ (B 27).
Die Poesie lebt nach Grünbein „von unmöglichen Korrespondenzen“ (B 28). Nirgendwo lassen sich wie im Gedicht die unvereinbaren Dinge vereinbaren, lässt sich zeitliche, räumliche und sprachliche Logik so glaubhaft außer Kraft setzen, bleiben Gesetze der Syntax auf der Strecke. Keine andere Literatur mehr als das Gedicht kann „zum Temperatursturz [führen] (was die Stimmung betrifft)“ oder durch Brüche und Sprünge im Takt den Herzrhythmus irritieren. Und dank der Untrennbarkeit von Sprache und Ethik bricht sich ein Tabu nirgends so gut, so bildlich das Genick wie im Gedicht. (B 27)
Dichtung sollte laut Grünbein „absolut ätzend und unzitierbar [sein] für die Kulturhüter und Rhetorikzwerge an allen Auf- und Abbaufronten“, abrechnend mit den Konventionen „mit einem Scharfsinn und Sarkasmus, wie er nur über den dreckigsten Wellenwirbeln der Geschichte und Religionen aufleuchtet und tanzt“, „ein Wechselbalg aus Defätismus, frecher Einsicht, Aphasie und Ketzerei“, „[t]anzend auf feindlicher Lichtung“ (A 17), all das mit einem „Sprechen zurückgeführt an seine Grenzen“ (B 18) und „auf kleinstmöglichem Raum“ (B 19). Dichtung muss dabei ganz neue Wege gehen. Sie kann sich nur einprägen, wenn sie denkt, was zuvor noch niemand so gedacht hat, wenn sie fühlt, was zuvor noch niemand so gefühlt hat. Sie muss sich vorantasten „entlang der semantischen Wundränder“ (A 15) und den „Salto mortale ins Ungesagte“ (B 29) wagen, um gegen die Realität zu bestehen.
Die Elemente, deren das Gedicht sich dabei bedient, bildhaft gesprochen das Chirurgenbesteck (J 279), mit dem das Gedicht vordringt „in die rückwärtigen Räume des Gedächtnisses“, sind „die Bilder, die Worte, die Intonation und das Metrum“ (B 26).
Stoff der Dichtung ist die Erfahrung, alles was ausgegraben wird aus dem verschütteten Inneren (B 39).
Alles was mit den Sinnen gedacht wurde, sein ganzes Tagebuch von Farben, Gerüchen, Lauten, Ereignissen, seine ganze tägliche Zoologie, einschließlich des Intelligiblen selbst, kann nunmehr Gegenstand zerreißbarer Gedichte sein. (A 17)
Das Ausmaß kann dementsprechend oft überraschen, da zu Anfang selbst der Dichter selten weiß, „was das Gedicht bereithält“ (B 28).
Erst wenn das lyrische Thema zum Vorschein kommt, lässt die Balance sich ermessen, mit der es sich aufrecht hält zwischen Alpha und Omega, zwischen dem Hier des Impulses und dem Überall der verstehenden Einkehr. Auftauchend aus dem Gemurmel, stellt es die Verbindung her zu jenem ortlosen, unendlich ausgedehnten Gedächtnis, einer Sphäre jenseits von Biographie und Geographie. (B 28f.)
Die Technik, die das Gedicht heute aufgrund seines bruchstückhaften Charakters dabei anwendet, ist gemäß Grünbein die „des überbrückenden Sprechens, also eine Form der Gedächtnistäuschung“ allerdings als eine „weniger krankhafte Variante der Konfabulation“, sondern „mit der Absicht, jedes falsche Kontinuum zu durchlöchern auf ihren Wanderungen durchs kollektive Gedächtnis“, in dem sie Gedächtnislücken nicht mit Phantasmen füllt, sondern solche vielmehr als Phantasieprodukte entlarvt (B 26).
Was sich hier also einprägt, ist die „Art ungebetener Vertraulichkeit“, der Griff ins Unbewusste des Lesers, der Fragmente des Gedichts mit Bruchstücken im Inneren verknüpft und die eine oder andere Gedächtnislücke vielleicht nicht gleich schließt, aber durch neue Pfade verkleinert.
Die Form eines Gedichts ist sekundär. Es bedarf keiner bestimmten Form, denn in seinem „Innern sind immer Anziehung und Abstoßung am Werk“ (D 51), dennoch lebt oder stirbt Dichtung nicht durch Befreiung aus oder Fassung in eine Form. Nicht der Verzicht auf Form, sondern der Bruch der Form determiniert nach Grünbein das Gedicht, dank der Dimensionen, die es plötzlich zwischen zwei Punkten zu überwinden gilt, wenn man auf Form nicht mehr vertrauen kann (D 51).
[...]
[1] Gustav Seibt, Mit besseren Nerven als jedes Tier, in: FAZ, 15. 03. 1994.
[2] Sebastian Kiefer, Schock und klassisches Maß. Durs Grünbein flaniert durch die antike Moderne, in: neue deutsche literatur 47, 4. 1999, S. 138-142, hier: S. 142.
[3] Durs Grünbein, in: Figaros Fragen an: Durs Grünbein, in: MDR Figaro, URL: http://www.mdr.de/mdr-kultur/programm/276584-hintergrund-518265.html, Stand: 4.11.2003.
[4] Durs Grünbein, Vulkan und Gedicht, in: Durs Grünbein, Galilei vermisst Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen, S. 34-39, hier: S. 36f.; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben V plus Seitenzahl gekennzeichnet.
[5] Durs Grünbein, Reflex und Exegese, in: Durs Grünbein, Galilei vermisst Dantes Hölle, S. 61-66, hier: 62; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben E plus Seitenzahl gekennzeichnet.
[6] Aris Fioretos/ Durs Grünbein, Gespräch über die Zone, den Hund, und die Knochen, in: AKZENTE. 1996, Heft 6, S. 486-501, hier: S. 489; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben Z plus Seitenzahl gekennzeichnet.
[7] Fabian Lampart, »Jeder in seiner Welt, so viele Welten…«. Durs Grünbeins Dante, in: TEXT+KRITIK. 2000, Heft 153: Durs Grünbein, S. 49-59, hier: 50.
[8] Ebd.
[9] Ebd.
[10] Durs Grünbein, Drei Briefe, in: Durs Grünbein, Galilei vermisst Dantes Hölle, S. 40-54, hier: S. 49; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben D plus Seitenzahl gekennzeichnet.
[11] Fabian Lampart, »Jeder in seiner Welt, so viele Welten…«, S. 49.
[12] Ebd., S. 51.
[13] Matthias Bickenbach, Autorpoetik, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, S. 38f., hier: S. 38.
[14] Ebd.
[15] Ebd.
[16] Ebd., S. 38f.
[17] Durs Grünbein, Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, S. 79; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben J plus Seitenzahl gekennzeichnet.
[18] Durs Grünbein, Mein babylonisches Hirn, in: Durs Grünbein, Galilei vermisst Dantes Hölle, S. 18-33, hier: 19; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben B plus Seitenzahl gekennzeichnet.
[19] Durs Grünbein, Ameisenhafte Größe, in: Durs Grünbein, Galilei vermisst Dantes Hölle, S. 13-17, hier: 14; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben A plus Seitenzahl gekennzeichnet.
[20] Vgl. Durs Grünbein, Drei Briefe, S. 41.
[21] Durs Grünbein, Schlaflos in Rom. Versuch über den Satirendichter Juvenal, in: Vorträge aus dem Warburghaus, Bd. 5, Akademie: Berlin 2001, S. 1-37, hier: S. 4; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben R plus Seitenzahl gekennzeichnet.
[22] Vgl. ebd., S. 13; Durs Grünbein, Drei Briefe, S. 41.
[23] Fabian Lampart, »Jeder in seiner Welt, so viele Welten…«, S. 49.
[24] Durs Grünbein, Sezierer, Sprachspieler, Satiriker. Interview mit Durs Grünbein, in: GrauZone. 1995, Heft 3.
[25] Vgl. Ron Winkler, Dichtung zwischen Großstadt und Großhirn. Annährung an das lyrische Werk Durs Grünbeins, in: Schriftenreihe POETICA, Bd. 49, S. 7.
[26] Vgl. Durs Grünbein, Das erste Jahr, S. 18.
[27] Durs Grünbein, Galilei vermisst Dantes Hölle, in: Durs Grünbein, Galilei vermisst Dantes Hölle, S. 89-104, hier: 90; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben H plus Seitenzahl gekennzeichnet.
[28] Vgl. Durs Grünbein, Ameisenhafte Größe, S. 15; Durs Grünbein, Der verschwundene Dichter, in: Durs Grünbein, Galilei vermisst Dantes Hölle, S. 67-75, hier: 73; Zitate im Folgenden in Klammern mit dem Buchstaben U plus Seitenzahl gekennzeichnet.
- Citation du texte
- Monique Weinert (Auteur), 2004, Autorpoetik und das poetische Werk Durs Grünbeins, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36847
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