Aus einer gewissen Perspektive war die Philosophie schon immer für Denkfehler zuständig. Schliesslich hat sie mit Erkenntnis zu tun, und damit auch mit ihren Schattenseiten. Andererseits hat sie zu Theorien über die Fehlbarkeit des Denkens ein ambivalentes Verhältnis, wird doch ihr ureigenstes Werkzeug, das Denken selbst, und damit seine Ergebnisse, dadurch in Frage gestellt. Eine Sache ist es nachzuweisen, dass der Verstand fehleranfällig ist; Fehler können schliesslich jedem passieren; eine andere, im einzelnen experimentell bzw. naturwissenschaftlich aufzuzeigen, warum und wo die Fehler auftreten, und dass sie systematischer Natur sind.
Dieser Aufsatz wird im Folgenden einen kurzen und unvollständigen Abriss der Behandlung von Denkfehlern in der Geschichte der Philosophie nachziehen, vor allem in den Worten des Philosophen Gilles Deleuze. Bei seinem Denken, das sich jedem Versuch einer Einordnung bislang entziehen konnte, wird zu zeigen versucht, wie es lebenslang, angestoßen unter anderem von Nietzsche, um das Thema der Denkfehler und philosophischer Irrtümer, kreiste. Weniger soll hier das verwandte Gebiet der Sprachphilosophie, des (De-)Konstruktivismus oder allgemein der sogenannten Postmoderne behandelt werden. Diese wichtigen Beiträge zur Kritik des hergekommenen Verständnisses von Subjekt, Identität, Sprache, Wissenschaft und Geschlecht sind unersetzlich, stellen aber eher allgemeine Theorien darüber auf, warum das Denken deliriert, und beschäftigen sich nicht detailliert mit den Ergebnissen der evolutionären Psychologie.
Wir werden im Gegenzug, bei Deleuze abspringend, die Fülle des positiven Materials über Denkfehler, der ins unüberschaubare angewachsenen Listen der Psychologen, Wirtschaftler und anderer überfliegen um einige Beispiele besonders prominenter Exponenten dieser leidigen Geschichte zu explizieren. Dabei wird der Versuch einer methodologischen Kritik gewisser Richtungen der Philosophie ein hoffentlich spannendes Ergebnis in Hinblick auf die Stichhaltigkeit der gesamten Argumentation zeitigen. Im einzelnen soll der aus dem deutschen Idealismus hervorgegangene dialektische Materialismus hinsichtlich der vorher besprochene Reihe von Denkfehlern untersucht werden, so etwa dem sogenannten Story Bias und auf die nach wie vor schwellende Situation rund um die Kausalität. Abschliessend wird die Philosophie des Geistes und die Theorien zu Artifizieller Intelligenz im Lichte der Symbolic Fallacy besprochen.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. Hauptfehler
2.1. Der Moby Dick von Gilles Deleuze
2.1.1. Klassisches Bild des Denkens
2.1.2. Aufklärung
2.1.2.1. Die Psychologie Humes
2.1.2.1.1. Kausalität
2.1.2.1.2. Relationen
2.1.2.2. Kants Interregnum
2.1.3. (Post-) Moderne
2.2. Evolutionäre Erkenntnistheorie
2.3. Status Quo
2.3.1. 60 Jahre Forschung später
2.3.1.1. Begriffe
2.3.1.2. Das Zwillingsgestirn
2.3.1.2.1. Deleuze revisited
2.3.1.2.2. Vergleich Körper - Geist
2.3.1.3. Strukturextrapolation
2.3.2. Liste einiger Denkfehler
2.3.2.1. Die Causa Kausalität
2.3.2.1.1. Linear vs Exponential
2.3.2.1.2. Die falsche Kausalität
2.3.2.1.3. Pattern recognition
2.3.2.1.4. Allgemeinbegriffe
2.3.2.1.5. Überschreitung
2.3.2.2. Das grosse Drama
2.3.2.2.1. Drama hoch Drei
2.3.2.2.2. Wissenschaft
2.3.2.3. Availability Bias
2.3.2.3.1. Momentanextrapolation
2.3.2.3.2. Strukturinversion
2.3.2.4. Die Unsichtbaren Ursachen
2.3.2.5. Metaphern
2.4. Status Update
2.4.1. Ursachen revisited
2.4.2. Die nächste grosse Erzählung
2.5. Beispiele in der Philosophie
2.5.1. Der Dialektische Materialismus
2.5.1.1. Story Bias
2.5.1.2. Das Drama der Dialektik
2.5.1.3. Die Triaden
2.5.1.4. Die Kausalität
2.5.2. Ghost in the Shell
3. Nachwort
4. Bibliografie
Für meine Mutter Teresa. Die diese Forschung angelegt hat.
“ Eine Menge Leute verfolgen ihr eigenes Interesse mit der Behauptung, daßjedermann “ dies ” wisse, daßjedermann dies anerkenne, daßniemand das abstreiten könne. ” (Deleuze 1968, p 171)
“ Am Anfang des Denkens steht der Einbruch, die Gewalt, der Feind, und nichts setzt die Philosophie voraus, alles beginnt mit einer Misosophie. ” (Deleuze 1968, p 181)
“ Die unangenehmsten Ereignisse werden durch Erzählung schön, mitteilbar, uminterpretiert, gefälscht. Deswegen gibt es nicht nur Facts, sondern Fakes. Das ist eine Notwendigkeit. Behauptet einer, er könne mit Fakten umgehen, ohne sich etwas dazuzudenken, ohne zu fälschen, dem glaube ich nicht. ” (Kluge 2003, p 59)
“ Wer versucht, im Hinblick auf die eigenen Interpretationen ein echter Skeptiker zu sein, wird im Handumdrehen ans Ende seiner Kraft gelangen. ” (Taleb 2008, p 90)
“ Aus Fehlern lernen? Das muss nicht sein! / Es kommt sogar vor, dass Menschen falsche Annahmenüber ein System mehr lieben als richtige und dass sie sich mit Händen und Füssen dagegen sträuben, erweislich falsche Hypothesen fallen zu lassen. ” (Dörner 1992, p 266 / 66)
“ So gibt es sicher keine verhinderten Genies, aber Genies der Verhinderung. ” (Sloterdijk 1983, p 694)
“ Ich zücke meine Liste der Denkfehler und gehe sie durch, einen um den anderen, wie ein Pilot eine Checkliste benutzt. ” (Dobelli 2014, p 220)
“ The world does not play fair. Instead of providing us with clear information that would enable us to “ know ” better, it presents us with messy data that are random, incomplete, unrepresentative, ambiguous, inconsistent, unpalatable, or secondhand. As we shall see, it is often our flawed attempts to cope with precisely these difficulties that lay bare our inferential shortcomings and produce facts we know that just ain ’ t so. ” (Gilovich 1991, p 3)
“ Ein System, das keine Fehler macht, ist nicht intelligent. ” (Gigerenzer 2013, p 92)
Aus Das Wörterbuch der Gemeinplätze von Gustave Flaubert, ca. 1881:
“ Darwin. Stammt vom Affen ab.
Dummköpfe. Alle, die nicht so denken wie wir.
Eigentum. Eine der Grundlagen der Gesellschaft. - Heiliger als die Religion.
Emigranten. Verdienten ihr Brot damit, daßsie Gitarrenunterricht gaben und den Salat anrichteten. Engländer. Alle reich.
Epoche (die unsere). Man wettere dagegen. - Man beklage sich, daßsie so prosaisch ist. Man nenne sie “ eine Zeit der Ü bergangs. Der Dekadenz ” .
Erschießung. Einziges Mittel, die Pariser zum Schweigen zu bringen.
Etymologie. Nichts leichter als das, mit Latein und ein bißchen Ü berlegen. Fastenzeit. Im Grunde nur eine hygienische Maßnahme.
Feudalismus. Man braucht keine genaue Vorstellung davon zu haben, aber man wettere dagegen. Fortschritt. Immer mißverstanden undübereilt.
Fortsetzungsromane. Ursache des Sittenverfalls. Frage. Sie stellen heißt sie beantworten.
Gedächtnis. Man klageüber das seine und rühme sich sogar, keines zu haben; aber man brülle los, wenn einem das Urteilsvermögen abgesprochen wird.
Gelassenheit. Macht sich gut, wirkt außerdem sehr britisch. - Immer “ unerschütterlich ” . Gelehrsamkeit. Man verachte sie als Kennzeichen eines beschränkten Geistes. Grammatiker. Alles Pedanten.
Hingabe. Man beklage sich darüber, daßsie den anderen abgeht. - “ In dieser Hinsicht sind wir dem Hund weitüberlegen ” .
Hypothese. Oft “ waghalsig ” , immer “ kühn ” .
Inquisition. Man hat ihre Verbrechen starkübertrieben. Infinitesimal. Man weißnicht, was das ist. Instinkt. Wiegt Intelligenz auf.
Kaffee. Nur gut, wenn er aus Le Havre kommt. Kompilation. Kann jeder zusammenschustern.
Mädchen. Alle Mädchen sind “ bla ß” und “ zerbrechlich ” . Immer “ rein ” . - Man halte sie fern von jeder Art von Büchern, Museen, Theatern sowie vor allem dem Jardin des Plantes, Abteilung Affen. Mathematik. Tötet das Gefühl ab.
Medizinstudenten. Schlafen und essen neben Leichen. Metapher. Verdirbt den Stil.
Methode. Ist zu nichts nütze.
Neologismus. Untergang der französischen Sprache.
Numismatik. Hat etwas mit Infinitesimalrechnung zu tun.
Olivenöl. Immer schlecht. - Man mußeinen Freund in Marseille haben, der einem ein F äß chen besorgt. Optimist. Soviel wie ein Dummkopf.
Originell. Alles, was originell ist, verlachen, hassen, verhöhnen und ausrotten, wenn man kann. Paris. Die große Hure. - Für Frauen das Paradies, für Pferde die Hölle.
Pflanze. Heilt immer den menschlichen Körperteil, dem sieähnelt. Philosophie. Kichern.
Republikaner. Nicht alle Republikaner sind Diebe, aber alle Diebe Republikaner.
Romane. Verderben die Massen. - In Fortsetzungen sind sie weniger unmoralisch als in Buchform. - Einzig historische Romane darf man tolerieren, da sie die Geschichte vermitteln, z.B. Die drei Musketiere. Spielzeug. Sollte immer pädagigisch wertvoll sein.
Spiritualismus. Das einzige philosophische System. Tölpel. Besser ein Schuft als ein Tölpel.
Wissenschaft. “ Ein wenig Wissenschaft entfernt uns von der Religion. Viel Wissenschaft bringt uns zu ihr zurück. ”
Wut. Gut für den Blutdruck; gesund, bisweilen in solche zu geraten. ”
1. Vorwort
Woher stammt der Titel Evolutionäre Philosophie?
Als ich das Material zu Denkfehlern zu sichtigen begann, wurde mir bald bewußt, dass, wer heute von den Fallstricken der menschlichen Erkenntnis sprechen will, über die Evolutionstheorie nicht schweigen kann.
Damit soll weniger gesagt sein, dass die Philosophie eine neue Begründung braucht, einen Anfang oder eine Matrix, von dem aus sie theoretisieren kann. Vielmehr verdankt sich dieser Umstand vor allem der Tatsache, dass Denkfehler heute hauptsächlich von der Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften (Fehler kosten Geld) untersucht werden, und die den relevanten Experimenten zugrundeliegenden Theorien sind nun einmal von der Evolutionstheorie angestossen.
Will man also ihre Ergebnisse verwenden, wird man von selbst auf dieses Paradigma gestossen, dazumal es heute in aller Munde ist: die Evolutionstheorie ist konkurrenzlos geworden, wie schon Popper bedauernd festgestellt hatte.
Weiters gibt es in Form der evolutionären Erkenntnistheorie in der Philosophie selbst schon einen gemeinsamen, fundierenden Boden mit den anderen Wissenschaften, deren Anliegen es ist, die Fehlbarkeit des menschlichen Denkens nicht nur festzustellen und zu begründen, sondern auch genauer zu erkunden.
Aus einer gewissen Perspektive war die Philosophie schon immer für Denkfehler zuständig. Schliesslich hat sie mit Erkenntnis zu tun, und damit auch mit ihren Schattenseiten. Andererseits hat sie zu Theorien über die Fehlbarkeit des Denkens ein ambivalentes Verhältnis, wird doch ihr ureigenstes Werkzeug, das Denken selbst, und damit seine Ergebnisse, dadurch in Frage gestellt.
Eine Sache ist es nachzuweisen, dass der Verstand fehleranfällig ist; Fehler können schliesslich jedem passieren; eine andere, im einzelnen experimentell bzw. naturwissenschaftlich aufzuzeigen, warum und wo die Fehler auftreten, und dass sie systematischer Natur sind.
Dieser Aufsatz wird im Folgenden einen kurzen und unvollständigen Abriss der Behandlung von Denkfehlern in der Geschichte der Philosophie nachziehen, vor allem in den Worten des kürzlich verstorbenen Philosophen Gilles Deleuze. Bei seinem Denken, das sich jedem Versuch einer Einordnung bislang entziehen konnte, wird zu zeigen versucht, wie es lebenslang, angestoßen unter anderem von Nietzsche, um das Thema der Denkfehler und philosophischer Irrtümer kreiste.
Weniger soll hier das verwandte Gebiet der Sprachphilosophie, des (De-)Konstruktivismus oder allgemein der sogenannten Postmoderne behandelt werden. Diese wichtigen Beiträge zur Kritik des hergekommenen Verständnisses von Subjekt, Identität, Sprache, Wissenschaft und Geschlecht sind unersätzlich, stellen aber eher allgemeine Theorien darüber auf, warum das Denken deliriert, und beschäftigen sich nicht detailliert mit den Ergebnissen der evolutionären Psychologie.
Wir werden im Gegenzug, bei Deleuze abspringend, die Fülle des positiven Materials über Denkfehler, der ins unüberschaubare angewachsenen Listen der Psychologen, Wirtschaftler und anderer überfliegen um einige Beispiele besonders prominenter Exponenten dieser leidigen Geschichte zu explizieren.
Dabei wird der Versuch einer methodologischen Kritik gewisser Richtungen der Philosophie ein hoffentlich spannendes Ergebnis in Hinblick auf die Stichhaltigkeit der gesamten Argumentation zeitigen.
Im einzelnen soll der aus dem deutschen Idealismus hervorgegangene dialektische Materialismus hinsichtlich der vorher besprochene Reihe von Denkfehlern untersucht werden, so etwa dem sogenannten Story Bias und auf die nach wie vor schwellende Situation rund um die Kausalität.
Abschliessend wird die Philosophie des Geistes und die Theorien zu Artifizieller Intelligenz im Lichte der Symbolic Fallacy besprochen: mit welcher Hoffnung auf Erfüllung haben wir 50 Jahre lang von rationalen, logischen Denkmaschinen geträumt?
2. Hauptfehler
2.1. Der Moby Dick von Gilles Deleuze
Gilles Deleuze war Zeit seines Schaffens den Denkfehlern auf der Spur wie kein anderer. Das zeigt sich an seiner Maxime, dass Philosophieren bedeutet, der Dummheit Schaden zu tun (vgl. Deleuze 1968, 195 -208). Was diese scheinbar einfache Formulierung bedeutet, wird herauszufinden sein. Eines ist von vornherein ausgeschlossen: “Die Dummheit ist nicht das Wesen des Tiers. Dem Tier verbürgen spezifische Formen eine Absicherung gegen das Dumm-Sein.” (Deleuze 1968, 195)
Die beste Literatur, jede Philosophie musst sich auf ihre Weise zu dieser ihrer Bestimmung positionieren: “Wie ist Dummheit (und nicht der Irrtum) möglich? Sie ist möglich dank des Bands, das zwischen Denken und Individuation besteht.” (Deleuze 1968, 196)
Zumindest der philosophischen Illusionen hat er mehrmals versucht ansichtig zu werden. Für ihn sind sie “nicht jeweils abstrakter Widersinn noch Zwänge von außen, sondern Täuschungen des Denkens. Erklären sie sich durch die Schwerfälligkeit unseres Gehirns, durch die vorgefertigte Bahnung herrschender Meinungen [...]?” (Deleuze/Guattari 1991, 57)
2.1.1. Klassisches Bild des Denkens
Bis zur Neuzeit und vor allem der Aufklärung hatte man die Hoffnung, das Denken allein sei hinreichend die Welt zu verstehen, sozusagen vom Couchsessel aus, oder wandelnd zwischen Säulen, je nach Schule. Bis auf einige logische und mathematische Paradoxien waren Erkenntnisfehler eher korrigierbare Mängel in der Unterscheidung, der Art, wie Deleuze scherzt: Guten Tag, Theodoros zu sagen, wenn Theaitetos vorübergeht, also Probleme, die eher Schulkinder betreffen, denn ernste philosophische Angelegenheiten (vgl. Deleuze 1968, 181/193). Aber dann wieder, wird nicht die Antike als “Kinderstube” der Menschheit angesehen, zumindest von den Marxisten?: “Kann man von einem Bild des sogenannten klassischen Denkens sprechen, das von Platon bis Descartes reichte?” (Deleuze/Guattari 1991, 59)
Es herrschte eine lange Zeit ein gewisses Bild des Denkens, demnach die Wahrheit der Rationalität, sozusagen dem reinen Denken, zugänglich ist. Hingegen sind Sinnestäuschungen möglich, sogar häufig, und die Sinneserfahrung, die Empirie, ist deshalb unzuverlässig. Doch mit Hilfe des Verstandes lässt sich die Welt erkennen, weil das Denken, “das Wahre will”: “Im klassischen Bild drückt der Irrtum von Rechts wegen nicht aus, was dem Denken an Schlimmsten passieren kann, ohne daß sich das Denken nicht selbst als das Wahre “wollend”, aufs Wahre hin ausgerichtet, zum Wahren gewendet präsentiert“ (Deleuze/Guattari 1991, 62)
Trotz der Hinwendung zum Wahren ist Denken niemals als leicht angesehen worden, und erfordert Disziplin, bei den richtigen Themen zu bleiben, die man vielleicht als Wurzel der Erziehung und des Schulwesens sehen kann (vgl. Deleuze 1968, 198), denn ständig muss das Denken davon abgehalten werden, in “irrelevante” Gebiete abzuschweifen:
“Kein Bild des Denkens kann sich mit der Auswahl ruhiger Bestimmungen zufriedengeben, und allesamt stoßen sie auf etwas [...] Abscheuliches, sei es der Irrtum, dem das Denken unablässig verfällt, sei es die Illusion, in der es sich immerzu suhlt, sei es das Delirium, in dem es sich unaufhörlich von sich selbst oder einem Gott abwendet. Schon das griechische Bild des Denkens machte den Wahnsinn der doppelten Abwendung geltend, der das Denken eher in das unendliche Umherirren als in den Irrtum stieß.” (Deleuze/Guattari 1991, 63)
Und so diagnostiziert Deleuze der Klassik bis Descartes auf den Irrtum fixiert zu sein, einen Irrtum, der lediglich dann entsteht, wenn das Denken sich täuscht:
“So macht Descartes aus dem Irrtum das Merkmal oder die Richtung, die von Rechts wegen das Negative des Denkens ausdrückt. Er ist damit nicht der erste, und man kann den “Irrtum” als eines der Hauptmerkmale des klassischen Denkens ansehen.
Man verkennt in einem derartigen Bild nicht, daß es eine Menge anderer Dinge gibt, die das Denken bedrohen: die Dummheit, die Amnesie, die Aphasie, das Delirium, der Wahnsinn …; aber all diese Bestimmungen werden als Fakten betrachtet werden, die nur eine einzige rechtmäßige, dem Denken immanente Wirkung haben, nämlich den Irrtum und noch einmal den Irrtum. [...] Kann man dieses Merkmal bis auf Sokrates zurückverfolgen, für den der (de facto) Bösartige de jure jemand ist, der sich “täuscht”?” (Deleuze/Guattari 1991, 61)
Die Pointe ist dabei, unbewusst Naivität zu heucheln, als ob von vornherein klar wäre, was das Richtige ist und was der Irrtum, indem man das vorraussetzungslose Denken des Privatmanns, des Idioten praktiziert. Aber kein Denken ist voraussetzungslos, es gibt keinen Anfang, kein privates Denken (vgl. Deleuze 1968, 170ff).
2.1.2. Aufklärung
Zwei, drei Jahrhunderte auf See, die Welt zu umrunden, zu entdecken: eine europäische Erfahrung, dessen Tragweite kaum zu unterschätzen ist; eine gewisse Entfaltung der Wissenschaften, als sie im arabischen wie asiatischen Raum zu stagnieren begann: wir werden wohl keine einzelnen Ursachen, die letztlich zur sogenannten Aufklärung geführt haben isolieren können, doch weist Deleuze darauf hin, dass zweimal eine Wende im Denken ausgerechnet durch Inselbewohner stattgefunden hat: die Griechen und die Philosophie, die Engländer und der Empirismus. Ist nicht auch Moby Dick, als ein philosophischer Roman, eine Hommage an die bewusstseinsbildenden Kräfte des Unbekannten auf See?: “ ... das Geheimnis des Empirismus. Der Empirismus ist keinesfalls eine Reaktion gegen die Begriffe oder ein bloßer Appell an die gelebte Erfahrung. Er bewerkstelligt vielmehr die verrücktesten Begriffsschöpfungen, die man je gesehen oder gehört hat. ” (Deleuze 1968, 13).
Können wir dem Kampf des etablierten Bildes des Denkens gegen den Empirismus eine weitere Facette entlocken, wenn wir in Betracht nehmen, dass in seinem Fahrtwasser die Entdeckung der Denkfehler an Zugkraft gewann?
“Demgegenüber wird die Wandlung des Lichts im 18.Jahrhundert, die Wandlung vom “natürlichen Licht” zur “Aufklärung” mit der Ersetzung der Erkenntnis durch den Glauben zum Ausdruck gebracht [,was] ein anderes Bild des Denkens impliziert: Es handelt sich nicht mehr um eine Wendung zu, sondern eher um das Verfolgen der Spur, es handelt sich eher um Schlußfolgerung als um Begreifen und Begriffenwerden. Unter welchen Bedingungen ist eine Schlußfogerung legitim? Unter welchen Bedingungen kann ein profanierter Glauben legitim sein? Diese Frage wird ihre Antworten nur mit der Schöpfung großer empirischer Begriffe finden (Assoziation, Relation, Gewohnheit, Wahrscheinlichkeit, Konvention...)” (Deleuze/Guattari 1991, 62)
Jedenfalls gewann das Hinterfragen der Wirklichkeit eine neue, systematische Dimension im großen Stil, die schon von dem Aufstieg der Naturwissenschaften kündigt. Glauben, allerdings ein profaner, Hypothesen, vorläufige Konstrukte anstatt ewiger Wahrheiten, dass diese Strategien viel eher zum Erkenntniserfolg führen, daran muss auch in unserer Zeit immer von neuem erinnert werden.
“Es ist eine große Veränderung nicht nur in den Begriffen, sondern auch im Bild des Denkens, wenn das Unwissen und der Aberglauben den Irrtum und das Vorurteil ersetzen werden, um von Rechts wegen das Negative des Denkens auszudrücken [...] Mehr noch, wenn Kant vermerken wird, daß das Denken nicht so sehr durch den Irrtum, sondern durch unvermeidliche Illusionen bedroht wird, die dem Inneren der Vernunft entstammen [...] so wird eben eine Neuorientierung des gesamten Denkens nötig.” (Deleuze/Guattari 1991, 61f)
2.1.2.1. Die Psychologie Humes
Deleuze’ erste Monografie aus dem Jahr 1952 behandelte David Hume, den Empiriker und Skeptiker, dessen ab 1748 erscheinendes Werk An Enquiry Concerning Human Understanding nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat. Bekannt ist sein Zweifel an der Gültigkeit der Kausalität und wie das Kant angeregt hatte.
Deleuze versucht dabei herauszuschälen, wie Hume die Vermögen der Menschen mit dem jeweiligen Nutzen, sei dieser gesellschaftlicher oder persönlicher Natur zu verbinden trachtet. Der Verstand wird zum Erreichen ganz konkreter Ziele eingesetzt, eine recht moderne Ansicht eigentlich, die schon auf eine evolutionäre Sichtweise vorbereitet. Von Anfang an betont Deleuze also, dass man das gesamte Spektrum der menschlichen, der gesellschaftlichen Tatsachen im Auge behalten muss, will man Erklärungen für das Funktionieren der Psyche finden: “Kurz, den Blickwinkel des Psychologen zu wählen drückt sich kurioserweise dadurch aus, daß man - bevor und damit man Psychologe sein kann - Moralist, Soziologe und Historiker sein muß. (Deleuze 1953, 8)
David Hume, der Historiker und Philosoph war, wurde also Psychologe, bevor es diese Berufung gab. Und heute, wo die Erforschung von Denkfehlern Sache derselben ist, muss man da nicht, um den Blickwinkel der Philosophie einzunehmen - Psychologe werden, oder, wie Nietzsche es empfohlen hatte: Physiologe?
“Anderenteils ist die Psychologie der menschlichen Natur eine Psychologie der Neigungen, eigentlich fast mehr eine Anthropologie, eine Wissenschaft der Praxis, zumal der Moral, der Politik und der Geschichte, letztlich also geradezu eine Kritik der Psychologie, da sie die Wirklichkeit ihres Gegenstandes in allen Bestimmungen gegeben sieht, die nicht in einer Vorstellung liegen, in allen Qualitäten, die den Geist übersteigen.” (Deleuze 1953, 15f)
Und hier stossen wir auf einen Hinweis, der für alles spätere wichtig werden wird: Indem wir uns unserer Vermögen bedienen und mit der Welt interagieren, bilden wir unser Subjekt heraus, d.h. wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen, durch welche psychologischen Filter, und welche Erfahrungen wir dabei machen liegt im Zentrum unserer Identität, welche nicht ein ab ovo Phänomen ist, sondern sich im Laufe unserer Laufbahn herausbildet: “Das Eigentümliche von Selbstwahrnehmungen oder inneren Eindrücken liegt [...] darin, den Geist auf unterschiedliche Weise als Subjekt auszubilden.” (Deleuze 1953, 20)
Interessant ist das in unserem Zusammenhang, weil damit auch die Illusionen und Denkfehler, als unvermeidlicher Teil des Denkens, konstitutiv für die Ich-Bildung werden: “Geist ist ja in der Tat nicht Vernunft, sondern vernünftig zu sein ist eine Affektion des Geistes. Insofern kann er von der Vernunft auch sagen, sie sein Instinkt, Gewohnheit oder auch Natur.” (Deleuze 1953, 21)
So gesehen sind wir unseres Denkvermögens nicht wirklich mächtig, sondern es hat im Gegenteil uns im Griff, ist also eine unwillkürliche Funktion, ähnlich wie das Atmen, das ja auch nur bis zu einem gewissen Grad steuerbar ist. Es bereitet sich hier eine Theorie des Unbewußten vor.
Bei all dem stehen wir in komplexer Beziehung mit der Gesamtheit der menschlichen Welt. Das wird komischer Weise hartnäckig vergessen, und es wird oft so getan, als ob wir alleine auf der Welt wären und quasi solipsistisch denken könnten, oder besser noch, als ein Gehirn in einem Glas, dieser Topos der Philosophen des Geistes. Deleuze insistiert auf die Gesellschaftlichkeit (vgl. Deleuze 1963, 150): “Der eigentliche Zweck des Verstandes liegt darin, die Leidenschaften gesellschaftlich akzeptabel zu machen und ein Interesse sozial zu artikulieren. Der Verstand spiegelt das Interesse.” (Deleuze 1953, 8)
Denn die Beziehungen zur Umwelt und ihre Ausgestaltungen sind das Interessante, weit interessanter als zum Beispiel eine Gewissheit inmitten eines Sees aus Ungewissheit, wie das descartsche Cogito, welches sich sofort anschickt, neue hypothetische Gedankengebäude mit den selben, unerforschten Geisteswerkzeugen aufzutürmen.
Die menschlichen Interessen zu kanalisieren bedeutet auch, die Anfälligkeit für Fehler entweder zu übersehen oder auszunutzen, indem man beispielsweise die Phantasie anregt und die Illusionen befördert. Beide Wege sind oft gegangen worden, doch dass eine Aufklärung funktionieren kann, daran wollte Deleuze immer wieder erinnern.
Deswegen kann er auch sagen: “Humes Philosophie ist eine zugespitzte Kritik der Repräsentationen.” (Deleuze 1953, 20)
Unsere Vorstellungen nehmen zu oft nicht in Betracht, warum sie so sind wie sie sind; welche Mechanismen, welche Zwecke dahinter stehen, und durch welche Illusionen sie verursacht werden.
Auch vorwissenschaftliche Psychologie kann mehr bedeutet, als die Gesamtausgabe der griechischen Mythen zur Grundlage des Unbewussten zu nehmen. Der Psychoanalyse beispielsweise ist es wie Kant ergangen: da wird das Unbewusste plötzlich begrifflich, doch was macht man daraus - ein Theater:
“Weshalb ist der mythischen und tragischen Repräsentation ein solch unsinniges Privileg zuerkannt worden? Warum sind expressive Formen, ein ganzes Theater dort aufgerichtet worden, wo Felder, Werkstätten, Fabriken, Einheiten der Produktion einst standen? Der Analytiker errichtet seinen Zirkus im verdutzten Unbewußten” (Deleuze/Guattari 1972, 384).
Im folgenden wird sich hoffentlich weisen, wie sowas passieren kann.
2.1.2.1.1. Kausalität
Die Gedanken zur Kausalität sind dasjenige Vermächtnis von Hume, das nicht zu Unrecht die größte Berühmtheit erlangt hat. Dabei schaut Anfangs alles so einfach aus. Wir können zwischen zwei aufeinander folgenden Ereignissen keine Kraft ausmachen, die eine Relation zwischen ihnen zwingend notwendig macht, etwa wenn eine Billardkugel eine andere anstößt, obwohl die Wirkung nicht geleugnet werden kann. Man kann sie voraussagen. Genauso wenig können wir eigentlich von einem Ereignis schliessen, dass es sich zwingend erneut ereignen wird, der nächste Sonnenaufgang etwa, obwohl natürlich niemand daran zweifeln würde.
Lustigerweise sind beide Beispiele nur annährend richtig: die Quantentheorie besagt, dass wenn man nur genug Billardkugeln zusammenprallen lässt, irgendwann die eine die andere nicht anstossen, sondern durch sie hindurch gehen wird, und astronomisch gesehen wird es irgendwann keinen Sonnenaufgang mehr geben.
Die Lösung für das Dilemma der fehlenden Relation hat nicht lange darauf Kant geliefert: Unser Verstand ist es, der diese Relation in die Dinge “hineinsieht”. Damit wäre der Fall eigentlich abgeschlossen. Wer würde schon daran zweifeln, dass die Sonne am nächsten Tag aufgeht? Dazu wäre nach heutigem Stand der Erkenntnis eine astronomische Anomalität notwendig, die wir höchstwahrscheinlich nicht überleben würden. Für das Alltagsverständnis ist der Sonnenaufgang unbezweifelbar, und jede Aktion hat eine Gegenreaktion, auch das ist sonnenklar. - wäre die Sache nur so einfach!
Doch hier beginnt es für den Psychologen erst interessant zu werden:
2.1.2.1.2. Relationen
“[Die Phantasie] wird immer neue Relationen geltend machen, sich in den Anschein von Natürlichkeit hüllen und allgemeine Regeln aufstellen, die das begrenzte Feld rechtmäßigen Erkennens überschreiten und die Erkenntnis über ihre eigenen Grenzen hinaustreiben. Sie wird ihre Erdichtungen und Vorurteile befördern: “Ein Irländer kann keinen Witz und ein Franzose kein gesetztes Wesen haben.” [...] Um den Effekt dieser ausgreifenden Regeln zunichte zu machen, um die Erkenntnis auf sich zurückzubiegen, wird es notwendig sein, andere Regeln anzuwenden, die solche Fehler wieder zurechtrücken. Die Einbildungskraft wird, sofern sie der Phantasie nur ein wenig die Zügel schleifen läßt, unweigerlich jede Relation, der sie ansichtig wird, durch andere verstärken und verdoppeln und ihr selbst solche hinzudichten, die hier gar nicht hingehören.” (Deleuze 1953, 14)
Die Überschreitung des Gegebenen, notwendig für jede Schlussfolgerung, schießt wie von selbst über das Ziel hinaus. Mühelos schliesst das Denken vom Sonnenlauf auf den Kutscher der Sonne, der diese den Tag über von Osten nach Westen kutschiert. Die Phantasie bedient sich der Kausalität auf die unmöglichsten Weisen. Das ist der Kern der Kritik Humes, die von Kant weitergeführt, aber auch in gewissem Sinne neutralisiert wurde.
“... die Eindrücke begnügen sich nicht damit, die Beziehungen zu erzwingen, sie fingieren sie, sie fabrizieren sie in ihrem Aufeinandertreffen. So steht es um das Subjekt, das bedrängt, von Trugbildern gequält und von der Phantasie angestachelt wird. Seine jeweiligen Affekte und Dispositionen führen es darüberhinaus dazu, Fiktionen zu begünstigen. [...] Tatsache ist, daß es unrechtmäßige Gaubensinhalte, absurde Allgemeinvorstellungen gibt.162
Das Spannende dabei ist, dass diese Teil der Identitätskonstruktion werden, wie wir oben gesehen haben, und eine Korrektur der Einbildung deshalb als identitätsbedrohend wahrgenommen werden kann.
So setzt sich im Ich oder vielmehr im Subjekt selbst der große Widerstreit zwischen Subjekt und Phantasie fort, zwischen den Prinzipien der menschlichen Natur und der Lebhaftigkeit der Einbildungskraft, zwischen den Prinzipien und den Fiktionen.
Wir wissen, daß für jeden Erkenntnisgegenstand die Fiktion wirksam korrigiert werden kann, auch wenn sie mit dem nächsten Gegenstand ohne weiteres erneut entstehen kann. Wir wissen jedoch auch, wie sich in der Welt im allgemeinen, in der jeder Gegenstand erkannt wird, die Fiktion der Prinzipien bemächtigt und sie radikal in ihren Dienst stellt.” (Deleuze 1953, 162f)
Wir sind also von Haus aus dazu verurteilt, unser Subjekt über Fiktionen zu definieren. Und dieses Kontingent der Phantasmen zu kritisieren, sei es durch uns selbst oder andere, gerät zu einer Kritik an unserer Subjektivität selbst. Die Erklärung, warum wir das Gegebene so phantasievoll überschreiten, mutet sehr modern an:
“Man spricht bei Hume häufig von einer Kritik der Relationen und stellt dabei die Theorie des Verstandes als eine Kritik der Relationen dar. In Wirklichkeit wird nicht die Relation einer Kritik unterworfen, sondern die Repräsentation, von der uns Hume zeigt, daß sie kein Kriterium für die Relationen selbst sein kann. Relationen sind nicht Gegenstand einer Repräsentation, sondern Mittel einer Aktivität. Die gleiche Kritik die die Relation der Repräsentation entzieht, schlägt sie der Praxis zu. Was angeprangert und kritisiert wird, ist die Vorstellung, das Subjekt könne ein erkennendes Subjekt sein. [...]
Das heisst, unsere (irrigen) Vorstellungen dienen nicht einer theoretischen Welterkenntnis, sie wären dazu ja auch völlig ungeeignet, sondern einem gewinnbringenden, kurzfristigen Handeln, etwa uns zu beruhigen oder andere von etwas zu überzeugen:
Die Assoziation der Vorstellungen definiert kein Erkenntnissubjekt. Sondern im Gegenteil einen Komplex von möglichen Mitteln für ein praktisches Subjekt, dessen wirkliche Ziele allesamt affektiver, moralischer, politischer und ökonomischer Natur sind.” (Deleuze 1953, 152f)
Wir verfolgen Zwecke, die nicht erkenntnistheoretischer, sondern praktischer, lebensweltlicher Natur sind. Die Sonne, oder ihren Kutscher zu anthropomorphisieren dient nicht der Wahrheit, sondern mitunter, uns in einer Erklärung zu beherbergen.
“Dem auf die Erkenntnis abzielenden Text Humes, demzufolge die Regeln des Verstandes in letzter Instanz auf der Einbildungskraft beruhen, antwortet nunmehr ein anderer Text, demzufolge die Regeln des Affekts in letzter Instanz auch auf der Einbildungskraft beruhen. [...] In beiden Fällen beteiligt sich die Phantasie an der Gründung einer Welt, der Welt der Kultur und der Welt der unterschiedenen und kontinuierlichen Existenz.” (Deleuze 1953, 165)
Wir phantasieren uns also durchwegs unsere Existenz zusammen, und unserer Vorstellung kann jeder Wirklichkeitsgehalt abgehen, solange wir nur handlungsfähig bleiben. Auf der anderen Seite scheinen aber jedwelche Vorstellungen notwendig zu sein, damit wir handeln können.
2.1.2.2. Kants Interregnum
Die Einsicht Humes, wir brauchen unsere Verstandestätigkeit nicht wirklich zum Erkennen, sondern zum Leben, wird bei Kant eingeschränkt. Incipit Deutscher Idealismus. Aus populärer Sicht wollte er eine Versöhnung zwischen Empirismus und Rationalismus vornehmen. Die Erkenntnis ist ...
“... eines der grundlegensten Themen der Kritik der reinen Vernunft. In verschiedener Hinsicht sind der Verstand und die Vernunft zutiefst durch den Ehrgeiz bewegt, uns die Dinge an sich erkennen zu lassen. Daß es innere Illusionen und unrechtmäßigen Gebrauch der Vermögen gibt, an diese These wird beständig von Kant erinnert. Es kommt vor, daß die Einbildungskraft träumt anstatt zu schematisieren.” (Deleuze 1963, 61)
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Jetzt wird zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Gebrauch des Denkens unterschieden. Es ist die Rettung der Rationalität, wenn auch unter schweren Opfern. Der Weg wäre frei für eine gründliche Erforschung der Denkfehler, und Kant tut sein möglichstes:
“Eben in diesem Sinne verdient die Kritik der reinen Vernunft ihren Titel: Kant prangert die spekulativen Ideen der Vernunft, die falschen Probleme, in die sie uns verstrickt, die Seele, die Welt und Gott betreffend, an. Den traditionellen Begriff des Irrtums (Irrtum als geistiges Produkt eines äußeren Determinismus) ersetzt Kant durch den der Scheinprobleme und inneren Illusionen. Diese Illusionen werden unvermeidlich genannt und sind sogar aus der Natur der Vernunft entsprungen.” (Deleuze 1963, 62)
Dabei können wir nicht annehmen, dass der sogenannte Rationalismus die Problemstellung, die sich Empiristen stellen nicht sieht, es scheint sich eher um eine moralische Entscheidung, was wichtig ist, zu handeln: “Der Wille zur Aussonderung der Trugbilder oder Phantasiegebilde ist einzig moralisch motiviert. [...] Später wird die Welt der Repräsentation ihren moralischen Ursprung, ihre moralischen Voraussetzungen mehr oder weniger vergessen können.” (Deleuze 1968, 332f). Die Ordnung, sei sie auch vorläufig, d.h. ein Bild des Denkens das bekannt ist, oder aber das Chaos, in dem jeder mitwirken kann.
Jedenfalls wäre der Weg durch Kants vorsichtige Operation frei gewesen, mit einer umfassenden Revision des Denkens zu beginnen, doch es will nicht so recht vom Fleck. Zu gross ist die Versuchung sich über die Scheinprobleme zu erheben und munter im Spiel der Begriffe weiter die Welt, wie sie zu sein hat, zu erfassen (vgl. Deleuze 1968, 87f).
“Es genügt nicht, die Illusionen oder Perversionen auf einen Naturzustand zurückzuführen und die gesunde Verfassung auf den gesellschaftlichen Zustand oder das das Naturgesetz. Denn die Illusionen bestehen fort unter dem Naturgesetz, im gesellschaftlichen und kritischen Zustand der Vernunft (selbst wenn sie nicht mehr die Macht haben uns zu täuschen).” (Deleuze 1963, 65)
Auf ihren Platz verwiesen, auf den Begriff gebracht, können selbst die Illusionen des Denkens demselben nichts anhaben: “Selbst die Illusion bekommt eine positive und begründete Bedeutung in dem Moment, in dem sie aufhört, uns zu täuschen; sie drückt auf ihre Weise die Unterordnung des spekulativen Interesses in einem System der Zwecke aus.” (Deleuze 1963, 66)
Doch ist Vorsicht geboten. Man braucht einfach die Philosophen: “Wenn die philosophische Reflexion notwendig ist, dann deshalb, weil die Vermögen trotz ihrer guten Natur die Illusionen erzeugen, denen zu verfallen sie nicht vermeiden können”. (Deleuze 1963, 81)
Es ist also ein Schlupfloch entstanden: warum sich um die Illusionen kümmern, wenn man sie durch einen richtigen Gebrauch vermeiden kann. Gegeben, dass sie schon in einer ausreichenden Schärfe erkannt worden sind, ein Projekt, dass ein Mensch allein kaum für sich beanspruchen kann.
“Aber die Geschichte, so wie sie in der sinnlichen Natur (des Menschen) erscheint, zeigt uns das Gegenteil: reine Kräfteverhältnisse, Antagonismen der Bestrebungen, die ein Gewebe von Wahn und kindischer Eitelkeit bilden. [...] Durch den Mechanismus der Kräfte und den Streit der Bestrebungen (vgl. Ungesellige Geselligkeit) steht die sinnliche Natur des Menschen selbst der Einrichtung einer Gesellschaft vor, das einzige Milieu, in dem der letzte Zweck historisch verwirklicht werden kann. So kann das, was unter dem Gesichtspunkt der Absichten einer persönlichen Vernunft a priori als Nicht-Sinn erscheint, eine “Naturabsicht” sein, um empirisch die Vernunftentwicklung im Rahmen der menschlichen Gattung zu sichern. Die Geschichte muß vom Gesichtspunkt der Gattung, und nicht von dem der persönlichen Vernunft aus, beurteilt werden.” (Deleuze 1963, 150)
2.1.3. (Post-) Moderne
“Es gehört zu den Merkmalen moderner Philosophie, daß sie die Alternativen zeitlich/zeitlos, historisch/ewig, besonders/allgemein hinter sich lässt. Im Gefolge Nietzsches entdecken wir, daß das Unzeitgemäße tiefer reicht als Zeit und Ewigkeit: Die Philosophie ist weder Philosophie der Geschichte noch Philosophie des Ewigen, sondern unzeitgemäß, immer und einzig unzeitgemäß, und das heißt, gegen die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit gewendet.” (Deleuze 1968, 13)
Und so hängt die genauere Bestimmung der Denkfehler in der Luft. Der Empirismus wühlt im Untergrund, der deutsche Idealismus verkehrt letztlich sogar die Philosophie auf den Kopf, doch für unsere Sache hilft es nichts, und so werden andere die Fahne aufgreifen, in einem Prozess der schliesslich das 20te Jahrhundert beherrschen wird:
“Tatsächlich zeigt sich bei näherer Betrachtung der Philosophie Hegels, daß sie sich im Hinblick auf das Ziel der Bemächtigung der Dinge durch die Wissenschaften nicht als Alternative zur neuzeitlichen Wissenschaft versteht, sondern als Realisierung dieses Ziels. Nach diesem großartigen Versuch Hegels setzt mit Schopenhauer und Nietzsche auch eine Kritik der Ziele ein. Die Wissenschaft wird als Bemächtigungssystem mit unkontrollierten Folgen in Frage gestellt. Mit Nietzsches “Gott ist tot” beginnt die Postmoderne avant de lettre, deren Kennzeichen wäre, daß sie den Versuch aufgibt, eine mit der Säkularisrung verlorengegangene Einheit wiederherzustellen, um die Defizite der neuzeitlichen Wissenschaft zu beheben. Die Postmoderne, so könnte man sagen, versucht nicht mehr, vormoderne Ansprüche an die Begründung ihrer Verfahren zu erfüllen. Ihre Arbeit besteht seit Nietzsche darin, unter bewußter und gewollter Ausklammerung Gottes die Welt und die Position des Denkens und Sprechens in ihr neu zu bestimmen.” (Engelmann 1998, 51-52)
Ausgehend von Nietzsche, dem Existenzialismus und Wittgenstein, wird die Sprachphilosophie, der Strukturalismus und der Denkonstruktivismus am Thron des überkommenen Bildes des Denkens sägen, sich heillos verzetteln, und die Unabschliessbarkeit der Erkenntnis, oder auch die autoritären und moralischen Keime des alten Denkens, aufdecken.
“Niemals war das Verhältnis des Denkens zum Wahren eine einfache Sache [...] Vergeblich beruft man sich deshalb auf ein derartiges Verhältnis, um die Philosophie zu definieren. Das erste Charakteristikum des modernen Bildes des Denkens besteht vielleicht im völligen Verzicht auf diesen Bezug, um zu bedenken, daß die Wahrheit nur das vom Denken Erschaffene ist [...] Denken ist Schöpfung, nicht Wille zur Wahrheit, wie Nietzsche deutlich zu machen wußte.” (Deleuze/Guattari 1991, 63)
Das ist eine schwerwiegende, doch subtile Einsicht, die Erschaffenheit, und nicht die Ursprünglichkeit der Gedanken und Begriffe. Der Verstand bewegt sich in einer prädefinierten Zone und “denkt” deswegen meist noch nicht, sondern übt nur seine Funktion aus in der Welt zu bestehen.
Und deswegen fragen noch am Ende des “deleuzianischen” Jahrhunderts (ein Begriff Michel Foucaults) Deleuze und Guattari, wo denn die Liste der Denkfehler nun sei, der Fehler, die dieses instinktsichere Gebrauchen des Denkens nun mal nach sich zieht: “Man müsste die Liste dieser Illusionen erstellen, sie abmessen, wie Nietzsche nach Spinoza die Liste der “vier großen Irrtümer” erstellte. Aber die Liste ist unendlich.” (Deleuze/Guattari 1991, 58)
Betrachten wir zunächst besagte Liste von Friedrich Nietzsche, der das deleuzianische Zeitalter eingeleitet hat:
“Die vier grossen Irrtümer
1. Irrtum der Verwechslung von Ursache und Folge.39
2. Irrtum einer falschen Ursächlichkeit41
3. Irrtum der imaginären Ursachen43
4. Irrtum vom freien Willen47 ”
(Nietzsche 1889, 39-49)
Prominent an erster bis dritter Stelle findet sich erneut die Kausalität, also das kardinale Problem von Hume, hundertdreissig Jahre später. Das scheint weniger dem Umstand geschuldet, dass sich in dieser Zeit nichts in der Philosophie bewegt hätte, sondern eher, dass es sich um ein hartnäckiges Problem handelt, das sich in fast jede menschliche Unternehmung hineinmogelt.
Auch Deleuze selbst versucht sich mehrmals an einer Liste, die letzte davon fällt relativ kompakt aus:
“Es gibt zunächst die Transzendenzillusion, die womöglich allen anderen vorangeht [...] Sodann die Illusion der Universalien [...] Man glaubt, das Universale expliziere, während es doch selbst expliziert werden muß, und man verfällt einer dreifachen Illusion, nämlich der Kontemplation, oder der Reflexion, oder der Kommunikation. Dann noch die Illusion des Ewigen, wenn man vergißt, daß Begriffe erschaffen werden müssen. Dann die Illusion der Diskursivität, wenn man die Propositionen mit den Begriffen verwechselt.” (Deleuze/Guattari 1991, 58)
Es reicht der Platz an dieser Stelle nicht, genauer auf diese provisorischen Listen einzugehen, da dazu zu tief in die Geschichte der Philosophie ausgeholt werden müsste, was nicht der Zweck dieses Essays ist, doch werden einige Punkte im weiteren Verlauf hoffentlich erhellt werden können.
Jedenfalls wissen wir um die Bedeutung des Transzendentalismus: Herman Melville scherzt in Moby Dick, dass wenn ein an der Bordwand zur weiteren Verarbeitung festgezurrter Walkopf das Walfangschiff in Schräglage gebracht hat, und man es nur durch das Fangen eines zweiten Wals und das Befestigen seines Kopfes auf der anderen Seite wieder Gleichgewicht zu bringen vermag, es ist als ob der Empirismus von John Locke erst wieder durch die Transzendentalphilosophie Kants sein Gegengewicht findet. Im Laufe der Ausführung wird klarer werden, was hingegen der Transzendentale Empirismus von Gilles Deleuze bedeutet. Ist es der Kopf des Weißen Wals?
2.2. Evolutionäre Erkenntnistheorie
Zeitgleich mit Gilles Deleuze versuchte die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die mit Namen wie der Zoologen und Verhaltensforscher Konrad Lorenz und Rupert Riedl verbunden ist, eine auf den ersten Blick seltsame interdisziplinäre Forschung zu betreiben, indem Kants Transzendentalphilosophie “biologisiert” wurde, und deren ein Hauptaugenmerk auf den Denkfehlern in evolutionärer Perspektive lag.
Erinnert soll in diesem Zusammenhang auch an die Bemühungen von Karl Popper werden, diesem “unorthodoxen” Kantianer (vgl. Markl 1987, 37), der, wo andere nach Bestätigungen suchten, vorschlug, man solle doch eher nach Widerlegungen fanden.
So nahe geriet die Philosophie noch nie zur Naturwissenschaft. Es ist dies ihre Stärke, aber auch ein Hindernis, denn wie jedes Kind zweier Welten, wurde die neue Theorie von beiden Seiten missträuisch beäugt:
“Biologen, die nur zu oft in Versuchung sind, alles, was ihnen sinnreich erscheint, als eine Anpassung zu sehen, durchstreifen eilig die philosophischen Territorien als Besitzer einer Lösung auf der Suche nach einem weiteren Problem. Irritierte Philosophen raffen sich dazu auf, zwischendurch schnell einmal ein Buch über Evolutionstheorie durchzublättern. Die Probleme des anderen verstehen beide nicht.” (Markl 1987, 45)
Dabei ist das Unterfangen, Immanuel Kants Postulat der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, ermöglicht durch einen vor jeder Erfahrung, also a priori, liegenden Erkenntnisapparat des Menschen, sprich: angeborenen, in evolutionärer Perspektive zu besprechen, heute jedem Kind geläufig: Unser Erkennen, unser Denken, musste sich laut Evolutionstheorie genauso allmählich entwickelt haben wie unser Körper, und in Auseinandersetzung mit der Umwelt wie auch den Erfordernissen des Organismus; mit einem Wort: das stammesgeschichtliche a posteriori des ontogenetischen a priori zu bestimmen.
“Der entscheidende Schritt ist es gewesen, den Blick auf die Kontinuität der kenntnisgewinnenden Prozesse zu weiten; die Vorbedingungen der Vorbedingungen zu sehen. Damit entsteht tatsächlich eine neue Erkenntnistheorie. Es entsteht ein vertieftes Menschenbild, mit Einsichten in die Grenzen unserer Ausstattung und Möglichkeiten.” (Riedl 1987, 57)
So wie der Huf an die Grassteppe angepasst ist, ihr aber um nichts gleicht, so ist auch das Denken an die Jagdgründe der Menschen angepasst, ohne deswegen nur ein einfaches Abbild von ihnen im Kopf wiederzuspiegeln.
Damit ist ein naturwissenschaftlich abgesicherter Weg beschrieben, sich näher mit etwaigen gedanklichen Kurzschlüssen zu beschäftigen:
“Steckt hinter unseren Alternativen rationaler versus empirischer, kausaler versus finaler, monistischer versus dualistischer Lösungen nicht doch ein Prinzip der Natur, oder nur eine Ineffizienz unseres Denkens? Oder, anders gefragt: warum hat die Erfahrung jener Widersprüche nicht zu einer nicht mehr widersprüchlichen Adaptierung unseres Denkens an die Phänomene der außersubjektiven Wirklichkeit geführt? Müssen wir von Haus aus mit Kanalisierungen (heute sagt man: “constraints”) unseres Denkens und Erlebens rechnen? [...]
Mit anderen Worten: ist alles Produkt der Anpassung, sind wir an diese Welt darum auch in einer maximalen Weise angepaßt, oder ist mit Restriktionen und Anpassungsgrenzen zu rechnen?” (Riedl 1987, 79)
Mit einem Seitenhieb auf die ewigen Einteilungen der Disziplinen, mit denen seine Theorie wie oben erwähnt besonders zu kämpfen hatte, stellt Rupert Riedl damit die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Denkfehlern, um sie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen:
“Es ist meine Hauptthese hinsichtlich der Evolutionstheorie, daß es diese Restriktionen gibt und daß die wiedererkennbare oder prognostizierbare Ordnung, die wir innerhalb der Organisation der Organismen und ihrer Zugehörigkeit zu ganz bestimmten Gruppen des hierarchischen Systems wahrnehmen, ganz überwiegend aus diesen constraints und Kanalisierungen zu verstehen ist.” (Riedl 1987, 79)
Die Erforschung gewisser Anpassungsresultate, seien sie Denk- oder Handlungsfehler, Biase oder Constraints zu betonen setzte die Theorie auch von dem viel breiteren Spektrum der Evolutionstheorie ab: “Ich behaupte, daß [die Adaptionsmängel] sich überall dort nachweisen lassen, wo wir mit Hilfe der durch sie suggerierten Prognostik regelmäßig an der Erfahrung scheitern; und daß die Abweichung der Prognose von der möglichen Erfahrung Aufschluß geben muß über die Art ihrer Struktur.” (Riedl 1987, 81)
Das Arbeitsprogramm ist damit klar umrissen: wenn wir um Handeln zu können vor allem Prognosen im Voraus erstellen, also das Gegebene überschreiten, dann entscheidet die Übereinstimmung der Vorausschau mit dem tatsächlichen Ergebnis über die jeweilige Wirksamkeit unseres Erkenntnisapparates von Fall zu Fall.
Und tatsächlich ist das genau die Methode, mittles welcher Psychologen Mitte des 20ten Jahrhunderts begannen, systematische Untersuchungen über die Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmung und Prognosefähigkeit einzuleiten.
Ihre Ergebnisse flossen wieder in die Betrachtungen zur Evolutionären Erkenntnistheorie ein, wie etwa die des von Riedl zitierten Dietrich Dörner, von dem wir später noch ausführlich hören werden.
“Wir erwarten nun, daß derlei Mängel auch hinsichtlich unserer Anschauung von Wahrscheinlichkeit, Vergleichbarkeit, Kausalität und Finalität [d.h. Übereinstimmung mit der Wirklichkeit] aufzudecken sind; und daß diese - wie schon erwähnt -, weil dimensionslos [d.h. z.B. nicht die reale, “einsteinsche” Raumzeit verrechen können], uns auch in unserer irdischen Lebenswelt irreleiten und plagen.” (Riedl 1987, 82)
Die Relativitätstheorie konnte dabei, so konterintuitiv es klingt, als besonders anschauliches Beispiel dienen. Waren Kant die Anschauungsformen von Raum und Zeit noch unbestreitbar, stellte sich, auf diesem scheinbar so unwidersprüchlichen Feld unserer Alltagswahrnehmung heraus, dass diese mitnichten dem physikalischen Modell nahekommen.
So konnte auch der Unfehlbarkeitsanspruch unserer Denkgesetze korrigiert werden, der Kant eine Fehlersuche erschwert hatte, und wurde als logischer “Schnitzer” des richtungsgebenden Philosophen behandelt: “Nach der darwinschen Theorie ist dieser Schnitzer vollkommen erklärlich. Nur das was sicher war, hat sich vererbt. Was unrichtig war, ist abgestoßen worden.
So erhielten diese Denkgesetze einen derartigen Anschein von Unfehlbarkeit, daß man sogar die Erfahrung von ihren Richterstuhl stellen zu dürfen glaubte.” (Flamm 1987, 30) Wie es noch in der Aufklärung beinahe natürlich war, auf Unfehlbarkeit in diesem Bereich zu pochen, wendet sich das Blatt in der Moderne fast von selbst:
“Die Quelle dieser Art Logik [der philosophischen] ist das übermäßige Vertrauen in die sog. Denk-Gesetze. [...]
Allein, nichts scheint mir weniger motiviert, als ein Schluß von Apriorität in diesem Sinne auf absolute Sicherheit, auf Unfehlbarkeit.” (Flamm 1987, 31)
Und hier kommen wir der schwierigen Situation, in die man sich begibt, wenn man über Denkfehler handelt, noch einen Schritt näher. Rekapitulieren wir:
1. Bei der Besprechung Humes durch Deleuze haben wir gesehen, dass die Anwendung, d.h. aber auch der Missbrauch unseres Erkenntnisapparates unser Ich herausbildet, und damit jede Kritik des “geistigen” Rüstzeugs und seiner Anschauungen wie eine Kritik an dem bestimmten Menschen selbst wahrgenommen wird.
2. Nun sehen wir, dass durch die evolutionäre “Glättung der Kanten” uns das Denken so natürlich erscheint, dass jeder Zweifel ausgeschlossen scheint.
Es scheint ein Widerspruch zu sein, dass es Denkfehler geben soll, wenn nur Richtiges vererbt wird. Doch ist richtig in den meisten Fällen nur “richtig genug”, und was für einfache Situationen richtig sein mag, kann sich in komplizierteren fatal auswirken:
“Im Verlauf der Entwicklung der Menschheit wurde alles Unzweckmäßige abgestreift, und so entstand eine Einheitlichkeit und Vollendung, welche leicht Unfehlbarkeit vortäuschen kann. So erregt ja auch die Vollkommenheit des Auges, des Ohres, der Einrichtung des Herzens, unsere Bewunderung, ohne daß jedoch die absolute Vollkommenheit dieser Organe behauptet werden kann. Ebensowenig dürfen die Denk-Gesetze als absolut unfehlbar betrachtet werden; ja, gerade sie haben sich behufs Erfassung des zum Lebensunterhalt Notwendigen, des praktisch Nützlichen, herausgebildet. Mit diesem zeigen die Resultate experimenteller Forschung weit mehr Verwandtschaft, als die Prüfung des Werkzeugs des Denkens. Es kann uns daher nicht wunder nehmen, daß die zur Gewohnheit gewordenen Denkformen den abstrakten, dem Praktischen so fernliegenden Problemen der Philosophie nicht ganz angepaßt sind” (Flamm 1987, 31)
[...]
- Quote paper
- Janus Zudnik (Author), 2016, Evolutionäre Philosophie. Geschichte und Abriss einiger Denkfehler, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/368388
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