Bis zum Jahr 2015 hielt sich die türkische Regierung aus dem Syrien-Konflikt militärisch zurück. Erst dann entschied sich Ankara für einen militärischen Einsatz im Nachbarland und öffnete auch die Militärbasis Inçirlik für die internationale Anti-IS-Allianz, dessen Bereitstellung die Regierung lange Zeit verweigert hatte. Diese Entscheidung stellt einen Wandel der türkischen Syrien-Politik dar. In der politikwissenschaftlichen Literatur, lassen sich verschiedene Argumente und Annahmen für diese Entscheidung zur Intervention finden. Populär ist dabei die These, dass der Einsatz aufgrund der gestiegenen Autonomie der Kurden erfolgte und die Türkei dies als eine Bedrohung für die eigene Kurdenfrage ansah. Ein anderes Argument sagt, dass Staatspräsident Erdogan eine Gefährdung der innerstaatlichen Sicherheitslage herbeiführen wollte, um Wählerstimmen zurück zu gewinnen, nachdem die AKP (Adalet ve Kalkinma Partisis. dt. Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) bei der Parlamentswahl 2015 ihre absolute Mehrheit nach 12 Jahren verloren hatte. Eine theoretische Erklärung für den Einsatz ist, bei diesen Beiträgen, noch nicht hinzugezogen worden. Deswegen besteht hier ein Forschungsbedarf.
Eine Theorie, welche sich für die Untersuchung anbietet, ist die Prospect Theory. Dieser psychologische Ansatz, möchte Entscheidungen unter Risiko erklären. Dabei vertritt die Theorie die These, dass wenn ein Akteur sich in einem Gewinnbereich (domain of gains) befindet, er sich risikoavers verhalten müsste. Befindet er sich hingegen in einem Verlustbereich (domain of losses), so müsste der Entscheidungsträger dazu geneigt sein Risiken einzugehen. Indizien für eine domain of losses lassen sich beim ausgesuchten Fall finden. Somit könnte der Wahlausgang der Parlamentswahl 2015 ein loss gewesen sein. Die Regierungspartei AKP verlor zum ersten Mal nach 12 Jahren die absolute Mehrheit. Auch auf außenpolitischer Ebene lassen sich Indizien für Verluste finden. Der türkischen Regierung wurde vorgeworfen, ein Transitland für Dschihadisten zu sein. Dies sind objektive Hinweise für eine domain of losses. Da dies nur Annahmen sind und bei der Prospect Theory die subjektive Sichtweise des Entscheidungsträgers relevant ist, bedarf es einer Überprüfung. Hieraus resultiert die Forschungsfrage der Masterarbeit: „Inwiefern erklärt die Prospect Theory die Entscheidung der Türkei zur militärischen Intervention in Syrien im Jahr 2015?“
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsstand
3. Theoretische Basis: die Prospect Theory
3.1 Die Grundannahmen der Prospect Theory
3.2 Grenzen & Defizite der Prospect Theory
4. Hypothesen
5. Vorstellung des Forschungsdesigns
5.1 Begründung der Fallauswahl
5.2 Methodisches Vorgehen: qualitative Inhaltsanalyse
5.3 Untersuchungszeitraum und Quellen
5.4 Operationalisierung
6. Türkisch-syrische Beziehungen & die Bedeutung des Syrien-Konfliktes
6.1 Türkisch-syrische Beziehungen vor der AKP-Regierung
6.2 Entwicklung der türkisch-syrischen Beziehungen seit der AKP-Regierung
6.3 Beginn des Syrien Konfliktes und die Position der Türkei
6.4 Bedeutung des Konfliktes für die Türkei
6.5 Analysefokus: Entscheidung zum Militär-Einsatz im Jahr
7. Analysekapitel
7.1. Analyse des Monats Mai
7.1.1 Bestimmung des Referenzpunktes
7.1.2 Bestimmung der domain
7.1.3 Zwischenfazit für den Monat Mai
7.2 Analyse des Monats Juni
7.2.1 Bestimmung des Referenzpunktes
7.2.2 Bestimmung der domain
7.2.3 Zwischenfazit für den Monat Juni
7.3 Analyse des Monats Juli
7.3.1 Bestimmung des Referenzpunktes
7.3.2 Bestimmung der domain
7.3.3 Zwischenfazit für den Monat Juli
7.4 Ergebnissicherung der Analyse
8. Forschungsausblick
9. Fazit: domain of losses führt zu Risikoaffinität
10. Literaturverzeichnis
10.1 Primärliteratur
10.2 Sekundärliteratur
Anhang I: Kodierungstabelle
Anhang II: Quellenverzeichnis
Anhang III: Leitfaden für die Transkription
Anhang IV: Schaubilder MAXQDA
Anhang V: Übersetzungen der Reden
1. Einleitung
Bis zum Jahr 2015 hielt sich die türkische Regierung aus dem Syrien-Konflikt militärisch zurück. Erst dann entschied sich Ankara für einen militärischen Einsatz im Nachbarland und öffnete auch die Militärbasis Inçirlik für die internationale Anti-IS-Allianz, dessen Bereitstellung die Regierung lange Zeit verweigert hatte. Diese Entscheidung stellt einen Wandel der türkischen Syrien-Politik dar. In der politikwissenschaftlichen Literatur, lassen sich verschiedene Argumente und Annahmen für diese Entscheidung zur Intervention finden. Populär ist dabei die These, dass der Einsatz aufgrund der gestiegenen Autonomie der Kurden erfolgte und die Türkei dies als eine Bedrohung für die eigene Kurdenfrage ansah (vgl. Gürbey 2015: 6). Ein anderes Argument sagt, dass Staatspräsident Erdogan eine Gefährdung der innerstaatlichen Sicherheitslage herbeiführen wollte, um Wählerstimmen zurück zu gewinnen, nachdem die AKP (Adalet ve Kalkinma Partisis. dt. Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) bei der Parlamentswahl 2015 ihre absolute Mehrheit nach 12 Jahren verloren hatte (Balta 2015: 1). Durch den Angriff kurdischer Gebiete, könnte die PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê, dt. Arbeiterpartei Kurdistans) sich angegriffen fühlen und aktiv werden. Dies wiederum könnte HDP-Wähler dazu bewegen, bei einer Neuwahl, für die AKP zu stimmen (ebd.).
Eine theoretische Erklärung für den Einsatz ist, bei diesen Beiträgen, noch nicht hinzugezogen worden. Deswegen besteht hier ein Forschungsbedarf. Eine Theorie, welche sich für die Untersuchung anbietet, ist die Prospect Theory . Dieser psychologische Ansatz, möchte Entscheidungen unter Risiko erklären. Dabei vertritt die Theorie die These, dass wenn ein Akteur sich in einem Gewinnbereich ( domain of gains ) befindet, er sich risikoavers verhalten müsste. Befindet er sich hingegen in einem Verlustbereich ( domain of losses ), so müsste der Entscheidungsträger dazu geneigt sein Risiken einzugehen. Indizien für eine domain of losses lassen sich beim ausgesuchten Fall finden. Somit könnte der Wahlausgang der Parlamentswahl 2015 ein loss gewesen sein. Die Regierungspartei AKP verlor zum ersten Mal nach 12 Jahren die absolute Mehrheit. Sie erhielt 40,9 % und verlor 9 % der Stimmen (Dürkop 2015: 1). Damit wurde der Plan der AKP und des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, eine präsidiale Demokratie einzurichten, zunächst auf Eis gelegt (ebd.). Die MHP (Milliyetçi Hareket Partisi dt. Partei der Nationalistischen Bewegung) und die pro-kurdische HDP (Halkların Demokratik Partisi, dt. Demokratische Partei der Völker) konnten ihre Stimmenanteile deutlich erhöhen. Zweitstärkste Partei wurde die kemalistische Volkspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, dt. Republikanische Volkspartei) (ebd.). Berichten zu Folge, haben einige AKP-Wähler ihre Stimmen der MHP und der HDP gegeben (Dürkop 2015: 2). Das Wahlergebnis dürfte im Sinne der Theorie für den Staatspräsidenten ein loss darstellen. Auch auf außenpolitischer Ebene lassen sich Indizien für Verluste finden. Der türkischen Regierung wurde vorgeworfen, ein Transitland für Dschihadisten zu sein (Kirchner 2015: 4). Das Verhältnis zu den USA war angespannt, da die Türkei sich in den Augen der USA nur ungenügend im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat1 (IS) einsetzte und die Nutzung der Militärbasis Inçirlik verweigerte (Özel 2015: 54). Die „Nullproblempolitik“2 der Türkei galt bei den syrischen Beziehungen als gescheitert (Yilmaz 2013: 69). Die Beziehung zum Assad-Regime verschlimmerten sich im Laufe des Konfliktes kontinuierlich. Weitere, mögliche Verluste könnte die sich verschlechternde Wirtschaftslage des Jahres 2015 gewesen sein oder der Bau des 1000-Zimmer Palastes in Ankara, welche auf Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung stieß (Mulayim 2015: 42). Dies sind objektive Hinweise für eine domain of losses . Da dies nur Annahmen sind und bei der Prospect Theory die subjektive Sichtweise des Entscheidungsträgers relevant ist, bedarf es einer Überprüfung. Hieraus resultiert die Forschungsfrage der Masterarbeit:
„Inwiefern erklärt die Prospect Theory die Entscheidung der Türkei zur militärischen Intervention in Syrien im Jahr 2015?“
Um die Analyse durchführen zu können, wird nach der Vorstellung des Forschungsstandes, die theoretische Grundlage der Untersuchung vorgestellt: die Prospect Theory. Darauf folgt die Vorstellung der Hypothesen. Das Forschungsdesign wird präsentiert, in dem die Auswahl des Falls begründet wird. Des Weiteren wird die zu Grunde liegende Methode erklärt, die wesentlichen Elemente der Theorie operationalisiert, der Untersuchungszeitraum, sowie die verwendeten Quellen präsentiert. Im folgenden Abschnitt werden die türkisch-syrischen Beziehungen vorgestellt, sowie die Veränderung dieser Beziehung während des Syrien- Konfliktes. Die Entscheidung zum Militäreinsatz im Jahr 2015 wird kurz präsentiert, da sie die zentrale Entscheidung ist, welche in der Masterarbeit untersucht werden soll. Im Analysekapitel werden der Referenzpunkt sowie die domain des Entscheidungsträgers Erdogan ermittelt, um damit die Entscheidung zur militärischen Intervention zu erklären. Dort werden auch die Hypothesen überprüft. Zusätzlich wird noch ein Forschungsausblick gezeigt, bevor im Fazit die Erkenntnisse zusammengefasst werden.
2. Forschungsstand
In diesem Kapitel wird ein Überblick über bisherige Arbeiten zu den türkisch-syrischen Beziehungen und der Prospect Theory, in der Politikwissenschaft gegeben. Die Masterarbeit soll zu dieser Forschungslandschaft einen Beitrag leisten, weswegen eine Vorstellung ähnlicher Arbeiten von Nutzen ist.
Der empirische Teil der Masterarbeit beschäftigt sich mit den türkisch-syrischen Beziehungen und dem Syrien-Konflikt. Dazu gibt es schon eine Vielzahl an Untersuchungen. Hierbei lassen sich sowohl ältere Arbeiten zu der Beziehung vor der AKP-Regierung finden, als auch Untersuchungen zu den Beziehungen seit der AKP-Regierung. Ein klassischer Beitrag, welcher einen Überblick über die bisherige Entwicklung des Verhältnisses beider Länder gibt, stammt von Salam Kawakibi. Er beschäftigt sich auch mit den Streitthemen beider Länder, wie die Kurdenfrage oder über den Konflikt um die Flüssen Euphrat und Tigris (vgl Kawakibi 2011: 181-187). Sein Beitrag endet mit der Beschreibung der Annäherung beider Staaten seit 2000 (Kawakibi 2011: 185 ff.). Eine andere Untersuchung der türkisch-syrischen Beziehungen macht Nuh Yilmaz (vgl. Yilmaz 2013). Er analysiert das Ende der Nullproblempolitik des damaligen türkischen Außenministers Ahmet Davutoğlu, in Bezug auf die Syrien-Politik der Türkei. Dieser Beitrag ist deskriptiver und schildert die Lage zwischen der Türkei und Syrien im Jahr 2013 (vgl. Yilmaz 2013: 67 ff.).
Es gibt aber auch Aufsätze über die aktuelle Lage, wie der von Gülistan Gürbey (vgl. Gürbey 2013). Gürbey veranschaulicht die Veränderungen der türkisch-syrischen Beziehungen seit Ausbruch des Bürgerkrieges. Sie arbeitet die Sichtweise der Regierung auf den Konflikt aus. Die türkische Regierung beurteile die Lage vor allem aus einer „Kurdenperspektive“ heraus. Ankara befürchte ein autonomes Kurdistan und einen Einflusszuwachs der PKK und der syrischen PYD (Partiya Yekitîya Demokrat, dt. Partei der Demokratischen Union), ein Ableger der PKK (Gürbey 2013: 41-51). Sie kommt zu dem Schluss, dass die Einflussmöglichkeiten der Türkei auf den Konflikt begrenzt seien. Eine schnelle Beilegung des Konfliktes müsste im Interesse der Türkei sein, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen und aufgrund des Kurdenkonfliktes. Aus diesem Grunde sind Forschungslücken bei der Beschreibung der Beziehungssituation der Nachbarstaaten nicht zu finden. Eine Theorie ist nicht Grundlage des Aufsatzes, um das Handeln des türkischen Staates zu erklären. Die Kurden werden auch im Aufsatz von Oliver Ernst in den Fokus gerückt. Die Türkei stehe der Autonomie der irakischen Kurden argwöhnisch gegenüber (Ernst 2016: 1 ff.). Die türkische Republik sähe die wachsende Selbstständigkeit der syrischen und irakischen Kurden, sowie die transnationale Ausrichtung der PKK kritisch. In seinem Ausblick empfiehlt er eine Zusammenarbeit zwischen der Türkei und den Kurden, um die Lage in Syrien zu stabilisieren. Dies würde sich wiederum positiv auf den innerstaatlichen Kurden-Konflikt auswirken (Ernst 2016: 5). Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt auch Günter Seufert (Seufert 2015: 77-84). Er beschreibt, dass das Zusammenbrechen der Nationalstaaten im Nahen Osten, zu einem neuen Aufblühen der Kurden geführt hat und damit zu einer Wiederkehr der Kurden-Frage.
Die Rolle der Türkei im Nahen und Mittleren Osten analysiert Savas Genç (Genç 2013). Hierin bespricht er auch die Beziehung zum Nachbarland Syrien, welches auch im Fokus dieser Arbeit ist. Er schlussfolgert, dass die Türkei in Syrien gescheitert ist, da sie Assad nicht zu Zugeständnissen an die Opposition bewegen konnte. Dies sei ein doppelter Verlust für das Land, da es nun zum einen mit den negativen Folgen des Konfliktes zu kämpfen hat und zum anderen die neuen, guten Beziehungen zu Syrien zerstört worden seien (Genç 2013: 42 ff.). Einen weiteren Beitrag zum Syrien-Konflikt liefert Souad Ahmadoun. Er beleuchtet den Konflikt vor allem aus einer humanitären Perspektive. Ahmadoun schildert die Bedeutung der Flüchtlinge für die Türkei und die Maßnahmen, welche der türkische Staat für die Versorgung der Flüchtlinge unternommen hat (Ahmadoun 2014: 1-4). Er beendet seinen Aufsatz, indem er an die internationale Gemeinschaft appelliert, der Türkei mehr Unterstützung zukommen zu lassen. Auch diese Beiträge beschäftigen sich mit der aktuellen Lage. Sie haben aber keine theoretische Herangehensweise.
Ein aktueller Aufsatz beschäftigt sich mit dem Fall, der auch der Masterarbeit zu Grunde liegt. Kanat und Ustun untersuchen die Entscheidung zum militärischen Einsatz aus dem Jahr 2015. Allerdings wird hierbei nicht die Prospect Theory verwendet. Ihr Aufsatz beschreibt die aktuelle Lage und geht auf mögliche Intentionen der Türkei und der USA in Syrien ein (Kanat und Ustun 2015: 88-97). Auch hier wird die Rolle der Kurden betont.
Wie sich zeigt sind die meisten Aufsätze deskriptiver Art. Eine systematische Analyse mit Hilfe einer politikwissenschaftlichen Theorie findet nicht statt. Die Prospect Theory wurde in den genannten Studien bei der Analyse für die Entscheidung zum militärischen Eingriff in Syrien nicht verwendet. Auch wurde sie bei anderen Fällen und Situationen der türkisch-syrischen Beziehungen nicht genutzt. Insofern ist hier eine Forschungslücke gegeben und die Verwendung der Prospect Theory kann einen Beitrag zu einem theoretischen Verständnis der syrisch-türkischen Beziehungen, speziell zum militärischen Eingriff in Syrien leisten. Da die Entscheidung für den Militäreinsatz im Jahr 2015 fiel und die Thematik noch sehr aktuell ist, gibt es hierzu noch nicht viele Untersuchungen.
Die Prospect Theory wurde allerdings in anderen Beiträgen verwendet, um risikohafte Entscheidungen zu erklären. Innerhalb der Politikwissenschaft findet der Ansatz hauptsächlich im Bereich der Internationalen Beziehungen Verwendung (Mercer 2005: 2). In anderen politikwissenschaftlichen Forschungsbereichen erhielt die Theorie geringe Aufmerksamkeit, wie z.B. in den Vergleichenden Politikwissenschaften (ebd.). Auch Politökonomen haben bisher kein Interesse an der Theorie gezeigt (ebd.). Bekannt und häufig zitiert ist das Buch Risk- Taking in International Politics von Rose McDermott aus dem Jahr 1998. Sie operationalisiert Hauptelemente der Prospect Theory und macht sie so für die Politikwissenschaft nutzbar. Zudem zeigt sie anhand ihrer Fallbeispiele, dass die Prospect Theory anwendbar ist. Ihr populärstes Fallbeispiel ist die riskante Entscheidung des US-Präsidenten Carter, die Geiselnahme im Iran militärisch zu lösen (McDermott 1998). In ihrem Buch finden sich noch vier weitere Analysen von Entscheidungen unter Risiko, u.a. die Suez-Krise von 1956. Eine ähnliche Untersuchung macht auch Barbara Farnham. Sie analysiert die Entscheidungen von Präsident Roosevelt in der München-Krise aus dem Jahr 1938 (Farnham 1992). Hierbei vergleicht sie die Erklärungskraft der Prospect Theory für die Entscheidung mit der Erklärungskraft der Rational-Choice-Theorie (vgl. Farnham 1992: 221-232). Sie stellt dar, dass die Prospect Theory sich in diesem Fall besser eignet (ebd.). Neben der Anwendung des Ansatzes auf reale Entscheidungen, wurde auch die generelle Anwendbarkeit des Ansatzes in den Internationalen Beziehungen diskutiert und ihre Defizite besprochen (Levy 1992 oder McDermott 2004). Mercer stellt Lösungsvorschläge für die Nachteile der Prospect Theory vor und erörtert diese. Im Mittelpunkt steht die Problematik der Festlegung des Referenzpunktes und der domain (vgl. Mercer 2005). Auf die Defizite der Theorie wird noch später eingegangen. Zuerst folgt die Vorstellung der Grundannahmen der Prospect Theory .
3. Theoretische Basis: die Prospect Theory
Die Prospect Theory (dt. neue Erwartungstheorie) erklärt das Verhalten von Akteuren bei Entscheidungen unter Risiko. Die Theorie beschreibt, in welchen Situationen Entscheidungsträger risikobereiter sind und in welchen nicht. Die Hauptvertreter sind Daniel Kahneman und Amos Tversky. Sie haben den Ansatz durch Laborexperimente entwickelt (He 2009: 504). Die Prospect Theory ist eine deskriptive Theorie, welche menschliches Verhalten beschreibt. Folgendes Kapitel stellt den Ursprung der Theorie und ihre Grundannahmen vor. Anschließend folgt die Präsentation der Kritik.
3.1 Die Grundannahmen der Prospect Theory
Die Prospect Theory wurde 1979 im Bereich der Verhaltensökonomik geschaffen. In den 1990er Jahren begann die Verwendung für die Außenpolitikforschung (Brummer und Oppermann 2014: 139). Kahneman und Tversky haben die Theorie in Abgrenzung zur Expected Utility Theory (EUT, dt. Erwartungsnutzentheorie) entwickelt. Die EUT beruht auf den Annahmen des Rational-Choice -Ansatzes. Nach Annahme der EUT bewerten Individuen, bei Entscheidungen unter Risiko, den individuellen Nutzen einer Option hinsichtlich ihrer jeweiligen Wahrscheinlichkeit und wählen dann die Option mit der höchsten gewichteten Wahrscheinlichkeit aus (Levy 1992a: 173).
„Die Annahme der Theorie lautet, dass Akteure die Kosten und Nutzen abwägen, die mit einzelnen Handlungsoptionen verbunden sind. Das Ziel lautet, den größten „Nettogewinn“ ( net gain ) bei einem gleichzeitig akzeptablen Risiko zu erhalten.“ (Brummer und Oppermann 2014: 136)
Die Prospect Theory zweifelt vor allem die Annahme über das Denken in Nettogewinnen an (Levy 1992a: 173). Diese seien für den Entscheidungsträger weniger wichtig (ebd.). Die Theorie vertritt eine andere These, um das Entscheidungsverhalten unter Risiko von Akteuren zu erklären. Die Hauptannahme des Ansatzes ist, dass nicht nur rationale Faktoren die Entscheidungsfindung beeinflussen, sondern dass der Situationskontext des Entscheiders eine einflussreiche Bedeutung hat (ebd.). Laut der Theorie kann sich der Akteur in zwei „Stadien“ befinden. Diese werden als domain of losses (Verlustbereich/ -domäne) oder domain of gains (Gewinnbereich/-domäne) bezeichnet (Brummer und Oppermann 2015: 140-142). Je nach Status des Akteurs, verhält dieser sich risikoaffiner oder risikoaverser. Folgendes Zitat veranschaulicht diese zentrale Annahme der Prospect Theory .
„In short, prospect theory predicts that individuals tend to be risk averse in a domain of gains, or when things are going well, and relatively risk seeking in a domain of losses, as when a leader is in the midst of a crisis.“ (McDermott 1998: 18)
Folglich hat der Hintergrund oder Status des Individuums einen Einfluss auf sein Entscheidungsverhalten in risikohaften Situationen. Die Erwartungen des Akteurs stehen im Mittelpunkt der Theorie. Erwartet der Akteur positive Veränderungen bzw. Aussichten und befindet sich in einem Gewinnbereich, so wird er nicht bereit sein Risiken einzugehen, um seinen Status nicht zu gefährden (Brummer und Oppermann 2014: 142). Stehen die Aussichten schlecht und der Akteur befindet sich in einem Verlustbereich, so wird er dazu geneigt sein Risiken in Kauf zu nehmen (ebd.). Ob der Akteur sich in einer domain of gains oder einer domain of losses befindet entscheidet er selbst. Dies geschieht unbewusst anhand eines Referenzpunktes. Das subjektive Empfinden ist wesentlich für die Prospect Theory .
Gewinne oder Verluste haben für den Entscheidungsträger eine unterschiedlich starke Bedeutung. Die Prospect Theory besagt, dass „Verluste schwerer wiegen als Gewinne“ (Brummer und Oppermann 2014: 141). Das heißt, dass ein loss vom Entscheidungsträger als gravierender wahrgenommen wird, als ein Gewinn. Als Beispiel führt McDermott hier den Verlust von Geld an. So schmerzt es mehr zehn Dollar zu verlieren als 10 Dollar zu finden glücklich macht (McDermott 1998: 29). Verluste würden mehr schmerzen als vergleichbare Gewinne glücklich machen würden (ebd.). Dies wird in der Prospect Theory auch als Verlustaversion bzw. loss aversion bezeichnet (ebd.).
Gleichzeitig gibt es auch eine risk aversion . Hiermit ist die verringerte Bereitschaft des Akteurs gemeint Risiken einzugehen, wenn er in einer domain of gains ist. Der Entscheidungsträger wird in der Gewinndomäne versuchen seine gute Position nicht zu gefährden und risikohafte Optionen meiden (Brummer und Oppermann 2014: 142). In der domain of losses gibt es zudem den endowment effect , welcher davon ausgeht, dass der Besitz höher bewertet wird, als Dinge die nicht besessen werden (Brummer und Oppermann 2014: 141).
„Mit anderen Worten, etwas zu erhalten oder zu gewinnen und dann zu verlieren, wird stärker bewertet, als es nie gehabt zu haben. Hinzu kommt, dass solche Gewinne sofort verbucht werden anders als Verluste, die über einen deutlich längeren Zeitraum normalisiert werden.“ (Giersch 2009: 92)
Für die internationale Politik bedeutet dies, dass wenn ein Staat, z.B. ein Gebiet erobert hat, es sofort seinen eigenen Status zuweist. Rückforderungen an dieses Gebiet werden als ein Verlust gewertet (Giersch 2009: 93). Eine weitere Annahme der Prospect Theory ist, dass sich die Entscheidungsträger schneller „an Gewinne gewöhnen als an Verluste“ (Brummer und Oppermann 2014: 141). Dies wird als accomodation effect bezeichnet (ebd.).
Ein weiterer Faktor, der für die Einordnung durch den Entscheidungsträger wichtig ist, ist das framing . Es stellt die subjektive Wahrnehmung der Realität des Entscheidungsträgers dar. Es beeinflusst die Akteure bezogen auf den Entscheidungskontext, aber auch die Handlungsoptionen werden „geframed“. Das framing bezieht sich ebenfalls auf die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Ergebnisse (ebd.). Durch das framing hat der Akteur eine bestimmte Sichtweise auf seine Umwelt und die Wahlmöglichkeiten die ihm geboten werden. Da das framing von subjektiven Vorstellungen und Sichtweisen geprägt ist, ist z.B. nicht jedes loss für jeden Akteur ein Verlust.
Kahneman und Tversky haben nachgewiesen, dass die Art wie eine Option „geframed“ wird, ausschlaggebend für die Entscheidung für eine Option ist (Kahneman und Tversky 1984: 343). Dies haben sie durch Laborexperimente nachgewiesen. In diesen Versuchen wurden die Probanden vor gleiche Wahlmöglichkeiten gestellt, die aber unterschiedlich dargestellt worden sind.
„Imagine that the U.S. is preparing for the outbreak of an unusual Asian disease, which is expected to kill 600 people. Two alternative programs to combat the disease have been proposed. Assume that the exact scientific estimates of the consequences of the programs are as follows:
If Program A is adopted, 200 people will be saved. (72%)
If Program B is adopted, there is a one-third probability that 600 people will be saved and a two-thirds probability that no people will be saved. (28%)
Which of the two programs would you favor?“(Kahneman und Tversky 1984: 343)
Die Optionen werden bei dieser Fragestellung als ein Gewinn bzw. gain präsentiert. Der Referenzpunkt ist die Sachlage, dass 600 Menschen sterben werden. Die Mehrzahl der Probanden hat die Option A gewählt. Sie präferierten 200 Leben sicher zu retten mehr, als das Wagnis einzugehen, welches Option B beinhaltete (ebd.). Dies ist die sogenannte risk aversion . In einem zweiten Schritt wurden dieselben Optionen nochmals zur Wahl gestellt, nur mit dem Unterschied, dass sie als Verluste bzw. losses präsentiert wurden (ebd.).
„If Program C is adopted, 400 people will die. (22%)
If Program D is adopted, there is a one-third probability that nobody will die and a two-thirds probability that 600 people will die (78%).” (ebd.)
In dieser zweiten Version der Optionen ist der Referenzpunkt der Tod von keiner Person. Der Großteil der Probanden hat sich für Option D entschieden, weil es hier die Chance gibt, dass niemand stirbt, obwohl gleichzeitig das Risiko besteht, dass 600 sterben. Da die Optionen als Verluste dargestellt und von den Probanden auch so gewertet werden, sind sie bei dieser Entscheidung risikofreudiger bzw. risk seeking (Kahneman und Tversky 1984: 343). Mit diesen Laborexperimenten zeigen Kahneman und Tversky, dass die Darstellung einer Option bzw. die Wahrnehmung durch den Akteur maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung haben, obwohl der Inhalt der Optionen derselbe ist. Hierbei wird deutlich, dass die Illustration der Sachlage einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung hat. Andere Akteure können durch das framing Optionen aus einer bestimmten Sichtweise darstellen und damit den Blickwinkel des Entscheidungsträgers „manipulieren“.
„In this way, framing becomes a powerful mechanism by which influential advisors can structure the choices, and thus influence the decisions, of decision makers.“ (McDermott 1998: 25)
Entscheidungsträger nehmen das framing nicht bewusst wahr. Es ist ein automatischer, unbeabsichtigter Prozess (McDermott 1998: 24). McDermott beschreibt dies auch als eine „cognitive constraint“, dem die Akteure ausgesetzt sind. Framing sei ein Teil der psychischen Prozesse bei der Wahl zwischen Optionen (McDermott 1998: 26). Für die Akteure ist es unmöglich die rationalen Gegebenheiten heraus zu filtern (MCDermott 1998: 21).
„Decision makers frequently remain unaware of these framing effects and resort to intuitive assessments of predetermined options because it is often impossible for them to recognize the way in which more rational procedures are being violated in the original determination of these preframed options.” (McDermott 1998: 21).
Der Prozess des framings findet statt, auch wenn sich die Entscheidungsträger wünschen, „that their decision should not be affected by simply changing the frame of the decision problem, they are manipulated by framing effects nonetheless “(McDemott 1998: 26). Framing dient auch der Selektion von Optionen. Potentielle Wahlmöglichkeiten werden ausgewählt, während andere Optionen ausgeschlossen werden (McDermott 1998: 25). Meistens ist die gesamte Bandbreite der Wahlmöglichkeiten unklar oder sie liegen dem Entscheider nicht gänzlich vor. Sie müssen erst erarbeitet werden (McDermott 1998: 21).
Die Prospect Theory kann nur Aussagen über die Entscheidungen von Einzelpersonen treffen (McDermott 2004: 305). Kollektive Entscheidungen sind nicht Teil der Theorie (ebd.). Eine einzelne Person steht folglich im Mittelpunkt der Analyse (ebd.). Zudem ist das Entscheidungsumfeld bei der Prospect Theory relevant und nicht die Persönlichkeit eines Akteurs.
„Prospect Theory is not a traditional personality theory; that is, an analyst need not know much about the individual character or history of a particular leader in order to explain or predict behavior. Rather it is a theory concerned with the importance and impact of the environment on the person. ” (McDermott 2004: 293; eigene Hervorhebung)
Insofern ist es nicht notwendig den Charakter des Entscheidungsträgers zu studieren, sondern das Entscheidungsumfeld und das framing des Akteurs. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Informationsaufnahme durch den Akteur entscheidend ist, also folglich seine subjektive Sichtweise auf die Gegebenheiten und nicht der reale Sachverhalt an sich.
“People make decisions according to how their brains process and understand information and not solely on the basis on the inherent utility that a certain option possesses for a decision maker.” (McDermott 1998: 18; eigene Hervorhebung)
Das framing ist in der ersten Phase der Prospect Theory angesiedelt. Generell werden innerhalb der Theorie zwei Phasen unterschieden, welche den Entscheidungsprozess unterteilen (Kahneman und Tversky 1979: 274). Die erste Phase wird als Bearbeitungphase oder auch als editing phase bezeichnet. Sie beinhaltet mehrere Vorgänge, wie die Identifikation der vorhandenen Optionen und die möglichen Outcomes bzw. Effekte, welche die Optionen mit sich bringen (Levy 1992: 179). In der Bearbeitungsphase werden die vorhandenen Wahlmöglichkeiten identifiziert und bearbeitet (Kahneman und Tversky 1979: 274). Die editing phase zeichnet sich durch fünf verschiedene Prozeduren aus: acceptance, seggregation, combination, coding, cancellation (McDermott 1998: 22). Das coding ist ein schon bekannter Sachverhalt. Hier wird die Einordung in eine der zwei domains vorgenommen (McDermott 1998: 23). Mit acceptance ist die Eigenschaft des Entscheidungsträgers gemeint, die Darstellung eines Problems so zu akzeptieren wie es ist. Zur Illustration wird ein Zitat von McDermott herangezogen:
„In other words, a decision maker is most likely to accept whatever framing of options is presented as the most appropriate formulation of the given decision and not be prone to second-guess the presentation of choices.” (McDermott 1998: 22)
Eine weitere Prozedur des framings ist die segregation . Hiermit ist die Neigung der Akteure gemeint, nur die relevantesten Aspekte einer Option zu erkennen.
„ (…) they tend to focus on the factors at hand that seem most relevant to the immediate problem, decision makers do not tend to adequately account for related factors that may have an actual impact on the outcome but do not appear to be directly relevant to the specific choice at hand.” (McDermott 1998: 23)
Als Beispiel nennt McDermott das Grippe-Experiment von Kahneman und Tversky. Entscheidungsträger würden hierbei nicht nach den Eintrittswahrscheinlichkeiten der Grippe im ganzen Land fragen, sondern nach Mitteln, um die Gesundheit möglichst vieler Personen zu schützen (McDermott 1998: 23). Mit der cancellation werden identische Aspekte aller Optionen gestrichen (Brummer und Oppermann 2014: 145). McDermott (1998: 23) formuliert dies folgendermaßen: „If one part of an option is the same across choice sets, that aspect tends to be ignored in evaluating prospects.” Als Beispiel nennt sie hier die Gefahren von zwei verschiedenen Wegen nach Hause. Auf dem ersten Weg gibt es eine Chance von 1% in einem Autounfall zu sterben und eine Chance von 10% durch einen bewaffneten Kriminellen zu sterben. Auf dem zweiten Weg gibt es ebenfalls dieselbe Chance von 10% durch den bewaffneten Kriminellen zu sterben und eine Wahrscheinlichkeit von 20% durch einen Überfall zu sterben (ebd.). Die Wahrscheinlichkeit durch den Bewaffneten getötet zu werden wird dann vom Akteur ignoriert, da sie bei beiden Optionen vorhanden ist. Die Entscheidung wird dann anhand der verbliebenen Aspekte gefällt. Der Akteur wird sich für den ersten Weg nach Hause entscheiden, da hier nur eine Wahrscheinlichkeit von 1% besteht durch einen Autounfall zu sterben (ebd.). Die combination besagt, dass die Entscheidungsträger dazu neigen, die Wahrscheinlichkeiten von Wahlmöglichkeiten zusammenzufassen, welche ein identisches Ergebnis versprechen (ebd.).
Die zweite Phase der Prospect Theory wird als Evaluations-Phase oder evaluation phase bezeichnet. Hier werden die bearbeiteten Optionen ausgewertet, bevor die beste Wahlmöglichkeit, die mit dem höchsten value , ausgewählt wird (Levy 1992: 180). Die Unterteilung in zwei Phasen, aber auch andere Aspekte der Prospect Theory sind nicht unumstritten, wie das nächste Kapitel zeigt.
3.2 Grenzen & Defizite der Prospect Theory
In diesem Kapitel wird die Kritik der Prospect Theory präsentiert. Die Theorie ist vielfältig kritisiert worden, dennoch findet sie in der Politikwissenschaft als auch in anderen Disziplinen Verwendung (Mercer 2005: 2). Ein erster Punkt bemängelt die starke Betonung der Evaluationsphase. Die Bearbeitungsphase würde in der Prospect Theory vernachlässigt werden (Brummer und Oppermann 2014: 146).
„In der Tat grenzten Kahneman und Tversky (1979: 275) die Bearbeitungsphase insofern ein, als dass sie sich auf Entscheidungssituationen konzentrieren, in denen die Option erst gar nicht weiterbearbeitet werden konnten oder in denen es zumindest eindeutig war, wie die Bearbeitung aussehen würde. Wie Optionen hingegen in - für die Außenpolitik typischen - komplexen Entscheidungssituationen tatsächlich bearbeitet werden, bleibt weitgehend offen.“ (Brummer und Oppermann 2014: 146)
So machen Kahneman und Tversky auch nur wenige Angaben zur Bearbeitungsphase und den Prozessen, welcher darin ablaufen. Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf ungenaue Definition des Referenzpunktes (ebd.). Generell soll der Referenzpunkt der Status quo sein. Es können aber auch andere Aspekte als Referenzpunkt dienen. Diese Offenheit sei laut Brummer und Oppermann problematisch, weil sich aus der Theorie keine Vorgaben ableiten lassen, wann der Status quo der Referenzpunkt ist und wann nicht (ebd.). Aufgrund der ungenauen Angaben bei der Bestimmung des Referenzpunktes beschreibt Levy die Prospect Theory , auch als: “ (…) reference-dependent theory without a theory of the reference-point“ (Levy 1997:100). Die Festlegung des Referenzpunktes bleibt dem Wissenschaftler überlassen (ebd.).
Ungenaue Angaben gibt es auch bei der Festlegung der domain. Strittig ist hierbei, ob die domain anhand objektiver Kriterien, wie Meinungsumfragen oder wirtschaftliche Daten wie Arbeitslosenzahlen bestimmt werden soll oder anhand subjektiver Kriterien, wie Interviews, Denkschriften oder Kurzbiographien (McDermott 1998: 37-38). Außerdem stellt sich die Frage, ob die innerstaatliche Ebene oder die internationale Ebene relevant für den Akteur ist. McDermott schlägt hierzu vor, diejenige Ebene zu betrachten, welche für die Untersuchung relevant ist. Allerdings kann es auch hier zu Vermengungen kommen (Brummer und Oppermann 2014: 147). Zusätzlich sollte geklärt werden, welche Bereiche auf der jeweiligen Ebene entscheidend sind, wie das Militär oder die Wirtschaft (ebd.). Auch diese Entscheidungen obliegt letzten Endes dem Analysten (ebd.). Schlussendlich ist die Bestimmung der domain , als auch die Wahl der Ebene willkürlich, sodass der Wissenschaftler selbst bestimmen muss, was als relevant erscheint und zur Theorie passt.
Als vierten Kritikpunkt wird die Bestimmung von riskanten Entscheidungen genannt. Die Gefahr Tautologie-Schlüsse zu ziehen sei gegeben (ebd.). Allerdings gäbe es in der Literatur, laut Brummer und Oppermann, dafür bisher keine Lösung (ebd.). Ebenso gäbe es keine Definition von Risiko in der Prospect Theory (Mercer 2005: 13-14). McDermott bietet einen Lösungsvorschlag an. Je größer die Varianz des Ergebnisses einer Option ist, desto risikoreicher ist die Option, im Vergleich zu anderen Optionen (McDermott 1998: 39).
„ (…) risk will be analyzed in terms of relative variance in outcome. A choice is relatively risk seeking if it has a greater outcome variance in promoted values than alternative options.” (ebd.)
Zudem kritisiert McDermott dass es keine Theorie zum framing gibt (McDermott 2004: 304). Der Wissenschaftler muss sich auch hier eine eigene Vorgehensweise erarbeiten.
Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Problematik, dass die Entscheidungen von kollektiven Akteuren nicht beachtet werden können. Zentrale Fragen hierzu lauten u.a. wie mit unterschiedlichen Referenzpunkten der Mitglieder umgegangen werden soll oder wenn sich die Mitglieder in unterschiedlichen domains befinden (Brummer und Oppermann 2014: 148). Außerdem trafen die Aussagen der Prospect Theory bei Experimenten nicht auf alle Individuen zu. Lediglich zwei Drittel der Teilnehmer der Laborexperimente verhalten sich entsprechend der Risikoneigung, d.h. dass nicht jeder sich risikobereiter verhält in einer domain of losses oder risikoscheuer in einer domain of gains (Brummer und Oppermann 2014: 147). Als problematisch gesehen wird in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung der Theorie im Labor. Dadurch würde die Übertragbarkeit auf das „Feld“ erschwert (Mercer 2005: 3).
„(..) studying choices between gambles in the lab is different from studying complex political decisions in the field, where precise measurement of domain, risk, and the influence of other factors is impossible.” (ebd.)
Außenpolitische Entscheidungen seien komplexer als die im Labor geprüften Entscheidungen. Bei einer realen Entscheidung in der Außenpolitik, muss der Akteur mit Reaktionen der internationalen Ebene, als auch mit innerstaatlichen Folgen rechnen (Giersch 2009: 86). Die Eintrittswahrscheinlichkeiten sind ungewiss und werden vom Entscheidungsträger bestimmt (ebd.). Zudem werden außenpolitische Entscheidungen durch Gruppenprozesse bestimmt und sind selten das Produkt von einer Einzelperson (ebd.). Hinzu kommt, dass alle Aspekte der Theorie, wie der Referenzpunkt, die möglichen Optionen, die Werte, die Wahrscheinlichkeiten der Ergebnisse und die Anwendung der Wahrscheinlichkeits-Gewichtungs-Funktion auf reale Entscheidung schwierig anwendbar sind für den Forscher (Levy 1992b: 296). Generell findet in der Wissenschaft eine Vereinfachung der Theorie statt (Brummer und Oppermann 2014: 148). Nur einzelne Aspekte der Theorie werden verwendet. Die Unterteilung in einen zweistufigen Prozess fällt fast vollkommen weg (ebd.). Hauptsächlich wird die Prospect Theory in qualitativen Studien verwendet (ebd.).
4. Hypothesen
Auf Basis der Grundannahmen der Prospect Theory , zum Risikoverhalten von Akteuren, wurden folgende Hypothesen aufgestellt:
Hypothese 1: Sieht sich der Akteur in einem Gewinnbereich, wird er riskante Entscheidungen eher vermeiden. Die Entscheidung zu einer riskanten militärischen Intervention ist demensprechend unwahrscheinlicher.
Hypothese 2: Sieht sich der Akteur in einem Verlustbereich, wird er zu risikoaffinen Entscheidungen neigen. Eine militärische Intervention wird wahrscheinlicher.
Hypothese 3: Der Wandel von einer zurückhaltenden Syrienpolitik zum militärischen Einsatz, müsste somit durch eine Änderung der domains zurückzuführen sein.
Diese Hypothesen werden nach der Analyse, rückblickend auf die zentralen Erkenntnisse hin, überprüft. Auf welcher Quellengrundlage und mit welcher Methodik die Analyse durchgeführt wird, beschreibt das nächste Kapitel.
5. Vorstellung des Forschungsdesigns
Folgendes Kapitel stellt das Forschungsdesign vor. Die Fallauswahl wird als erstes begründet. Danach folgt die Ausführung der methodischen Vorgehensweise. Die verwendeten Quellen werden vorgestellt und der Untersuchungszeitraum wird angegeben. Das Kapitel schließt mit der Operationalisierung der zentralen Elemente der Prospect Theory , dazu gehören der Referenzpunkt und die domains. Außerdem wird Risiko definiert, da die Theorie dazu nur mangelhafte Hinweise enthält.
5.1 Begründung der Fallauswahl
Die Entscheidung der Türkei zur militärischen Intervention in Syrien ist ausgewählt worden, da sie einen Wandel der türkischen Syrien-Politik darstellt, seit Beginn des Konfliktes. Die Türkei hatte sich bis dahin mit militärischen Aktionen zurückgehalten (Özel 2015: 53-54). Zuvor gab es schon gewalthafte Zwischenfälle, wie z.B. der Abschuss eines türkischen Flugzeuges durch Assads Truppen (Gürbey 2013: 45 und FAZ 2012: 1). Auch hier drohte Erdogan mit einem Krieg, jedoch kam es nicht dazu (Spiegel Online 2012a: 1). Ein anderer Grund für die türkische Regierung in Syrien militärisch aktiv zu werden, hätte die generelle Verschlechterung der Sicherheitslage an der Grenze sein können (Gürbey 2013: 45 und Kirchner 2015: 4). Auch die Flüchtlingsströme und die dadurch verursachte innenpolitische Belastung, hätte ein Anlass zur schnellen Beilegung des Konfliktes im Nachbarland gewesen sein können (Kirchner 2015: 4). Die Türkei hielt dem Druck der USA lange stand und trat der Anti-IS-Allianz erst spät bei (Bahadir 2015: 281). Stattdessen stützte Ankara sich im Verlauf des Bürgerkrieges auf andere Maßnahmen und Mittel, um Einfluss auf den Konflikt zu nehmen. Die risikoreiche Option einer militärischen Intervention ist sie meistens umgangen.3 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, weshalb die Türkei im Jahr 2015 intervenierte, obwohl es zuvor schon Anlässe dazu gegeben hat. Ziel der Masterarbeit ist es zu überprüfen, ob die Thesen der Prospect Theory Aufschluss über diesen Wandel der türkischen Syrien-Politik geben kann. Die Theorie beinhaltet die Annahme, dass der Akteur die risikoreichste Option, bei einer Entscheidung unter Risiko wählt, wenn er sich in einer Verlustdomäne befindet. Ist das Gegenteil der Fall und der Akteur lokalisiert sich in einer domain of gains bzw. einem Gewinnbereich, so versucht er Risiken bei Entscheidungen zu vermeiden. Somit gilt es zu überprüfen, ob der zentrale Akteur, sich in einer domain of losses befunden hat, als die Entscheidung gefällt wurde. Eine Anwendung der Theorie scheint hier interessant zu sein. Zum einen um den Fall zu erklären und zum anderen um die Prämissen des psychologischen Ansatzes zu überprüfen.
Hierzu wird die qualitative Inhaltsanalyse verwendet, um den Referenzpunkt oder die domain des Entscheidungsträger Erdogan zu ermitteln und damit die Sichtweise des Akteurs darstellen zu können.
5.2 Methodisches Vorgehen: qualitative Inhaltsanalyse
Die qualitative Inhaltsanalyse bietet sich als Methode an, da sie eine regelgeleitete, systematische Analyse und Interpretation von Kommunikationsmaterial ermöglicht (Ramsenthaler 2013: 23). Eine qualitative Inhaltsanalyse analysiert „Material, das aus irgendeiner Art von Kommunikation stammt“ (Mayring 2010: 11). Da für die Prospect Theory Reden analysiert werden, um die subjektive Sichtweise des Akteurs zu ermitteln, bietet sich die Methode an. Für die Masterarbeit wird eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring durchgeführt (Ramsenthaler 2010). Mayring nennt vier Charakteristika die zentral für diese Vorgehensweise seien, dazu gehören die Einordnung in ein Kommunikationsmodell, die Regelgeleitheit, die Gütekriterien (Nachvollziehbarkeit, Triangulation und Reliabilität) und auch die Bildung von Kategorien (Mayring 2010: 48 ff.).
Neben diesen Charakteristika der qualitativen Inhaltsanalyse unterscheidet Mayring zwei Vorgehensweisen, zum einen die induktive Kategorienbildung und zum anderen die deduktive Kategorienbildung (Ramsenthaler 2013: 29-30). Für die Masterarbeit wurde die induktive Kategorienbildung gewählt, da diese im Zusammenhang mit der Prospect Theory angemessener erschien. Zentral bei der Prospect Theory ist das framing des Akteurs. Es ist subjektiv und kann mit der Sichtweise des Analysten inkongruent sein (McDermott 1998: 36). Deswegen sollen die Kategorien aus dem Material heraus entwickelt werden und nicht zuvor aus der Theorie abgeleitet werden, wie es bei der deduktiven Vorgehensweise verlangt wird. Die induktive Vorgehensweise ist dennoch nicht vollkommen losgelöst von der Theorie, wie es etwa der die Vorgehensweise der Grounded Theory wäre. Diese induktive Art der Kodierung war für die zu behandelnde Forschungsfrage unangemessen, da die Grounded Theory vor allem der Theoriegenerierung dient, während das Ziel dieser Arbeit die Anwendung einer bestehenden Theorie ist.
Bei der qualitativen Inhaltsanalyse unterscheidet Mayring drei Techniken: Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung. Da die Kategorien induktiv gewonnen werden, bietet sich die Zusammenfassung an, da diese der induktiven Vorgehensweise entspricht (Ramsenthaler 2013: 30). Die zusammenfassende Inhaltsanalyse wurde gewählt, da sie besonders für Forschungsarbeiten geeignet ist, die der Exploration dienen (Kuckartz 2010: 96). Diese Art der Inhaltsanalyse strebt eine kontinuierliche Reduzierung des Materials an. Dies wird durch mehrere Reduktionschritte erreicht. Hierfür können theoretische Vorannahmen einbezogen werden (Mayring 2010: 69). Dies wurde zum einen gemacht, um das Material in seinem Umfang zu vermindern und um zum anderen die Kodierungen auf die Theorie anzupassen. Es wurden 239 Paraphrasen formuliert, welche durch Bündelung, Streichung und der Hinzunahme der Theorie gekürzt und abschließend zu Codes formuliert wurden.
Bei dieser qualitativen Inhaltsanalyse ist die Kodier-Einheit, ein ganzer Satz. Die Kontexteinheit umfasst einen Abschnitt der Rede. Die Analyse der Reden beginnt mit der ersten Rede des Monats Mai und wird chronologisch fortgesetzt. Die Reden werden systematisch von Anfang zum Ende der Reden kodiert. Die hier vorgenommene qualitative Inhaltsanalyse enthält Elemente der zusammenfassenden, als auch der strukturierenden Inhaltsanalyse, da für die Erklärung bestimmter Passagen, Sekundärliteratur hinzugezogen worden ist.
Das folgende Kapitel zeigt auf, welche Quellen mit der qualitativen Inhaltsanalyse untersucht worden sind. In diesem Zusammenhang wird auch der Untersuchungszeitraum vorgestellt.
5.3 Untersuchungszeitraum und Quellen
Für die Untersuchung wurden die drei Monate, vor der Entscheidung zur militärischen Intervention in Syrien, gewählt. Der Grund für die Begrenzung des Untersuchungszeitraums, ist der zeitliche Bearbeitungsrahmen der Masterarbeit. Eine Untersuchung eines größeren Zeitraumes, war nicht möglich, da die Reden alle übersetzt und zum Teil auch transkribiert werden mussten. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Entscheidung kurzfristig gefällt wurde und dies müsste sich anhand einer Analyse der drei vorhergehenden Monate bestätigen lassen.
Für die Monate Mai und Juni sind jeweils drei Reden des Staatspräsidenten analysiert worden. Für den Monat Juli wurden vier Stück analysiert, da diese vom Umfang geringer waren. Insgesamt sind zehn Reden untersucht worden. Es wurde jeweils eine Rede zu Beginn des Monats, eine zur Mitte und eine am Ende des Monats ausgewählt, um den ganzen Monat systematisch abbilden zu können. Ein weiteres Auswahlkriterium für die Reden, war inhaltlicher Art. Da die Reden zum Teil sehr lang sind und eine Übersetzung zeitintensiv ist, wurden nur die Teile der Rede übersetzt, die einen politischen Bezug haben. Dazu wurden die Reden zunächst durchgelesen und mit Hilfe bestimmter Stichwörter wie z.B. „Suriye“ (Syrien), „terör (Terror), „secim“ (Wahl), „müdahale“ (Intervention) oder „daes“ (Erdogans Bezeichnung für IS) durchsucht.
Die Reden von Mai und Juni stammen von der Homepage des Staatspräsidenten und sind von der türkischen Sprache in die deutsche Sprache übersetzt worden. Da es für den Juli 2015 kaum Reden auf der Homepage des Staatspräsidenten gab, sind Reden des Staatspräsidenten von seinem Youtube-Kanal hinzugezogen worden. Diese mussten zunächst transkribiert und anschließend übersetzt werden. Der Leitfaden für die Transkription befindet sich in Anhang III. Die Reden haben eine Dauer von 30-60 Minuten bzw. eine Länge von einer halben bis fünf Seiten. Eine ausführliche Übersicht und Links zu den Reden findet sich in Anhang II.
Da als Methode die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring gewählt worden ist, ist es notwendig, die Reden in ihre Entstehungssituation einzuordnen. Die Reden wurden an unterschiedlichen Orten in der gesamten Türkei und im Ausland zu verschiedenen Veranstaltungen gehalten. Staatspräsident Erdogan hielt die Reden aus gesellschaftlichen Anlässen und fügte dabei seine Meinung zu aktuellen, politischen Themen hinzu. So redet er im Rahmen eines offiziellen Fastenbrechen-Abendessens über die Religion und das Fasten. In derselben Rede schwenkt er dann zu anderen Themen, wie den Flüchtlingen und der Krise in Syrien, um.
5.4 Operationalisierung
Wie in Kapitel 3.2 gezeigt worden ist, haben die Begründer der Prospect Theory zentrale Elemente nicht genau definiert bzw. haben keine Angaben zur Operationalisierung gemacht. Generell schlägt McDermott vor, diese Elemente der Prospect Theory „case-by-case and actorby-actor“ zu bestimmen (McDermott 1998: 38). Für die Analyse zu operationalisierende Merkmale sind folgende Punkte.
Die Prospect Theory soll Entscheidungen unter Risiko erklären (Brummer und Oppermann 2014: 139-140). Doch was genau unter Risiko zu verstehen ist, wird von den Begründern der Theorie nicht genannt. Um dieses Defizit zu beseitigen wird hier die Definition von Christopher Daase herangezogen (Daase 2002).
Risikodefinition nach Daase
Nach Daase ist Risiko „die Wahrscheinlichkeit eines durch gegenwärtiges Handeln beeinflussbaren zukünftigen Schadens“ (Daase 2002: 12). Über das Auftreten eines Schadens herrscht Ungewissheit. Durch eigenes Handeln kann der Schaden minimiert oder verhindert werden. Zur Verdeutlichung der Definition grenzt Daase den Begriff des Risikos von anderen Begrifflichkeiten wie Schicksal, Sicherheit und Gefahr ab (ebd.). Als Schicksal wird ein Schaden bezeichnet, der gewiss ist, wie z.B. der Tod. Ist kein Schaden gegeben so spricht man von Sicherheit. Wenn ein Schaden vorhanden oder zu erwarten ist, dieser aber durch das eigene Handeln nicht beeinflusst werden kann, so wird dies als Gefahr bezeichnet (ebd.). Ein Risiko ist folglich ein Schaden, der wahrscheinlich ist und durch das eigene Handeln beeinflusst werden kann. Ein Beispiel wäre hier der vorzeitige Tod, durch das Rauchen von Zigaretten (ebd.). Entscheidend bei Risiko ist, ob die Ungewissheit über den Schaden mit den eigenen Handlungsoptionen in Verbindung gebracht wird. Risiken sind inhärent subjektiv und kulturell determiniert (Daase 2002: 13). Diese Ansicht wird vor allem in psychologischen und konstruktivistischen Ansätzen vertreten, denen die Prospect Theory angehört (Daase 2002: 25). Hieraus folgt, dass der Syrien-Konflikt für die Türkei insofern ein Risiko darstellt dadurch, dass die Schäden, die möglicherweise eintreten können, ungewiss sind. Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Schäden kann durch die Handlungen der Türkei beeinflusst werden.
Bestimmung des Referenzpunktes
Die Determination des Referenzpunktes ist ein kritischer Punkt der Theorie (Levy 1992a: 176). Es gibt mehrere Möglichkeiten für dessen Bestimmung. Meistens wird der Status quo als Referenzpunkt herangezogen (Brummer und Oppermann 2014: 140-141 oder Mercer 2005: 4). Ist der Akteur zufrieden mit dem Status quo, so befindet er sich in einer domain of gains . Zeichnet er sich durch Unzufriedenheit aus, so ist er in einer domain of losses (ebd.). Auch bei Kahneman und Tversky ist der Referenzpunkt entweder der Status quo „or ones current assets“ (Kahneman und Tversky 1979: 286). Mercer schlägt zudem noch aspirations , also Ziele und Bestrebungen der Entscheidungsträger als Referenzpunkt, vor (Mercer 2005: 5-7). Diese Empfehlungen für die Bestimmung des Referenzpunktes werden für die Masterarbeit übernommen. Hierbei wird überprüft, ob für den Staatspräsidenten Erdogan der Status quo oder eine Aspiration der Referenzpunkt ist. Diese Vorgehensweise folgt dem Vorschlag Mercers zur Bestimmung des Referenzpunktes (ebd.). Zu beachten ist, dass der Referenzpunkt mit der Zeit geändert werden kann (McDermott 1998: 41). McDermott weist zudem daraufhin, dass die meisten Akteure ein bestimmtes Gebiet oder Themenfeld haben, welches für sie relevanter als andere ist. So wäre für einige Präsidenten die innerstaatliche, nationale Stimmung wichtiger als die internationale, öffentliche Meinung (McDermott 1998: 37).
Bestimmung der domain
Aus dem Referenzpunkt lässt sich die domain ableiten. Ist der Referenzpunkt der Status quo, so ist der Akteur in einer domain of gains , wenn er zufrieden mit dem derzeitigen Status quo ist. Wenn der Akteur hingegen unzufrieden mit dem Status quo ist, so befindet er sich in einer domain of losses (Mercer 2005: 4). Insofern müssen die Situation, die Ziele und auch die Motivation des Entscheidungsträgers herausgearbeitet werden und auf Zufriedenheit oder Unzufriedenheit überprüft werden (ebd.). McDermott schlägt vor die domain anhand subjektiver (Reden, Interviews, Autobiographien) oder objektiver Kriterien (Umfragewerte, Wirtschaftslage) zu bestimmen. Objektive Kriterien sind dabei weniger aussagekräftig als subjektive Kriterien, da die subjektive Sichtweise des Entscheidungsträgers letztlich ausschlaggebend ist (Brummer und Oppermann 2014: 143).
„In most cases a decison makers behaviour (words) offers the best evidence for perceived domain, however an actor assessment of domain is often subjective, or surpressed for political reasons, and this constrain must simply be admitted.” (McDermott 1998: 36)
Zu beachten hierbei ist der retrospective bias , nachdem sich die Akteure selbst nur in einem guten Licht darstellen und nicht die Wahrheit vermitteln werden (McDermott 1998: 38). Innerhalb dieser Masterarbeit wird sich auf die subjektiven Kriterien gestützt, da die Prospect Theory in besonderem Maße die subjektive Sichtweise des Akteurs betont (McDermott 1998: 36). Zudem müssen die objektiven Kriterien bzw. die Einschätzung der domain durch den Analysten nicht die Ansicht des Akteurs widerspiegeln (Boettcher 2004: 342). Die Nicht- Erreichung der Ziele wird hierbei als loss kodiert, während die Erreichung des Ziels als ein gain verstanden wird.
Eine weitere theoretische Herausforderung bei der Bestimmung der domain ist die Ebene, welche untersucht wird. Es wird vorgeschlagen, „ auf diejenige Ebene zu achten, in der sich auch der zu behandelnde Sachverhalt befindet “ (Brummer und Oppermann 2014: 147). Da bei dieser Untersuchung eine außenpolitische Handlung analysiert wird, müsste folglich der außenpolitische Kontext für die Bestimmung der domain herangezogen werden. Für diese Untersuchung wurden beide Ebenen in den Blick genommen, da unklar ist auf welcher Ebene der Referenzpunkt und damit auch die Einordnung in einer domain liegt. Es gibt objektiv gesehen Anhaltspunkte, dass der Referenzpunkt sich auf innenpolitischer Ebene befunden hat, z.B. durch die Parlamentswahl oder auf außenpolitischer Ebene, z.B. durch die Flüchtlingskrise. Dies ist theoretisch gesehen auch möglich, da die Prospect Theory keine genauen Angaben macht, in welcher Situation auf welche Ebene geachtet werden muss (ebd.). Dies hat zudem den Vorteil einen selection bias vorzubeugen.
Definition Risikohaftigkeit der Entscheidung
Ein weiteres Element der Prospect Theory welches einer Operationalisierung bedarf, ist die Risikohaftigkeit der Entscheidung. Auch hierfür bietet McDermott eine Lösung an. Sie schlägt vor, die Risikohaftigkeit einer Option anhand der Varianz des Outcomes zu bemessen (McDermott 1998: 39). Folglich ist eine Wahl “relatively risk-seeking if it has greater outcome variance in promoted values than alternative options” (McDermott 1998: 39). Hierzu gibt sie ein Beispiel, welches kurz dargestellt wird. Der Entscheidungsträger steht vor zwei Wahlmöglichkeiten, der Option A und der Option B (ebd.). Wenn Option A funktioniert, dann bringt sie das beste Ergebnis hervor und gleichzeitig das Schlechteste, wenn es nicht funktioniert. Das Ergebnis von Option B ist weniger gut, als das von A. Dafür sind die Effekte, welche B mit sich bringt, wenn es nicht funktioniert, nicht so schlimm wie bei Option A (ebd.). Daraus zeigt sich, dass A die risikoreichere Option ist als B, weil die Varianz beim Ergebnis größer ist (ebd.). Die Ergebnisse lassen sich in einer Hierarchie aufstellen.
Best-A
Best-B
Worst-B
Worst-A
Anhand dieser Vorgehensweise lässt sich bestimmen, ob eine Entscheidung risikoreich war oder nicht. Hierbei stellt sich heraus, dass dies für den hier zu untersuchenden Fall schwierig ist. Anhand dieser Definition kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht bestimmt werden, ob es die risikoreichste Option war, da die Gesamtheit der möglichen Optionen nicht vorliegt.
Um im Vorhinein dennoch eine Einschätzung vornehmen zu können, wird eine weitere Annahme von Daase hinzugezogen. Seit dem Kalten Krieg ist eine proaktive Sicherheitspolitik notwendig, das heißt die Staaten versuchen mögliche Schäden schon im Vorfeld zu verringern oder zu vermeiden (Daase 2002: 18). Hierbei unterscheidet Daase vier Strategien. Eine davon ist die Intervention, zu der auch militärische Interventionen zählen (Daase 2002: 18-19). Nutzen und Kosten dieser Aktionen sind laut Daase ungewiss (Daase 2002: 20). Außerdem bergen militärische Interventionen hohe Risiken, da diese scheitern oder hohe Verluste mit sich bringen können. Zum Teil bringen militärische Eingriffe langfristige, unabsehbare Folgewirkungen mit sich (ebd.). Anhand dieser Definition lässt sich sagen, dass die Entscheidung zur militärischen Intervention risikoreich war. Ob es die risikoreichste Option war, lässt sich trotzdem jetzt noch nicht feststellen, da kein Vergleich zwischen Optionen zum jetzigen Zeitpunkt gemacht werden kann.
Bestimmung des Entscheidungsträgers
Im Mittelpunkt steht nur eine Person, da die Prospect Theory für die Analyse kollektiver Entscheidungen nicht ausgelegt ist (McDermott 2004: 305). Für die Analyse steht Staatspräsident Erdogan im Fokus. Er wurde als Entscheidungsträger identifiziert. Als Staatspräsident hat Erdogan den Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei und ist damit maßgeblich verantwortlich für die militärischen Einsätze. Der Staatspräsident ist, laut der Verfassung, verantwortlich für die Entsendung türkischer Truppen. Außerdem kann er stellvertretend für das Parlament in bestimmten Ausnahmen den Oberbefehl über die Streitkräfte des türkischen Staates ausüben und damit über Krieg und Frieden entscheiden (Henrich 2014: 1). Somit ist der Staatspräsident die Schlüsselfigur bei militärischen Einsätzen und zentraler Entscheidungsträger. Bevor im Hauptteil die Inhaltsanalyse erfolgt, sollen die türkisch-syrischen Beziehungen dargestellt werden. Dies soll zu einem besseren Verständnis der Thematik im Allgemeinen beitragen und helfen die Reden in ihren Kontext einzuordnen.
6. Türkisch-syrische Beziehungen & die Bedeutung des Syrien-Konfliktes
Die türkisch-syrischen Beziehungen lassen sich in Phasen der Konfrontation und Kooperation unterteilen. Vor der AKP-Regierung war die Beziehung der beiden Staaten vor allem durch Konfrontation gezeichnet. Seit der AKP-Regierung verbesserte sich die Beziehung kontinuierlich, was sich besonders durch die steigende Anzahl bilateraler Abkommen auszeichnete. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien ist die Beziehung zwischen der Türkei und ihrem Nachbarland wieder belastet. Dieses Kapitel soll den Verlauf und die Entwicklung der türkisch-syrischen Beziehungen vor der AKP-Regierung, aber besonders seit der AKP- Regierung beschreiben. Die Zeit vor der AKP-Regierung ist relevant, da es in dieser Phase zu Streitigkeiten und Auseinandersetzungen kam, die heute immer noch von Bedeutung sind. Die Zeit seit der AKP-Regierung ist von Interesse, da sie zum Verständnis der aktuellen Lage beiträgt. Im letzten Kapitel dieses Abschnitts werden die politischen Implikationen des Syrien- Konfliktes für die Türkei dargestellt. Das Kapitel hat das Ziel einen Eindruck über die Situation und mögliche Konfliktpunkte bzw. Interessen der Türkei im Bereich des Syrien-Konfliktes zu geben und damit zu einem besseren Verständnis des Syrien-Konfliktes beizutragen.
6.1 Türkisch-syrische Beziehungen vor der AKP-Regierung
Lange Zeit war die Beziehung der Türkei und Syrien durch Konflikte gezeichnet (Gürbey 2013: 42). Bis 1998 bestimmten drei Konflikthemen das Verhältnis der Länder (Deep Islam 2013: 199). Zu den umstrittenen Themen gehörten die Territorialansprüche um die Hatay-Provinz in der Türkei, der Wasserkonflikt und die Kurdenfrage.
Der Streit um die Provinz Hatay besteht bis heute. Das Gebiet wurde durch eine Abstimmung der französischen Mandatsmacht nach dem ersten Weltkrieg an die Türkei abgetreten (ebd.). Syrien hat den Verlust dieses Territoriums aber nie akzeptiert. In offiziellen syrischen Landkarten wird die Provinz immer noch zu syrischen Staatsgebiet gezählt (Gürbey 2013: 42). Die Türkei fühlt sich durch den Anspruch, den Syrien auf das Gebiet erhebt, bedroht. Syrien galt deshalb als feindlich gesinnter Staat (ebd.).
Das zweite Konfliktthema hat seinen Ursprung in den 1980er Jahren (Deep Islam 2013: 199). Umkämpft wurden die Verteilungsansprüche auf die Flüsse Euphrat und Tigris, deren Ursprung auf türkischem Staatsgebiet liegt (ebd.). Für Syrien und den Irak stellen die Flüsse internationale Wasserressourcen dar, auf denen schon immer ein Anrecht zur Nutzung bestand (Gürbey 2013: 42-43). Sie fordern eine gerechte Verteilung der Wassermenge zwischen den drei Ländern. Die Türkei sieht dies anders und beansprucht eine freie Verfügungsgewalt für sich (ebd.). Seit den 1980er fördert die Türkei das Südostanatolien-Projekt, welches den Bau von 22 Staudämmen und 19 Wasserkraftwerken vorsieht (Deep Islam 2013: 199). Hierdurch entstand Wassermangel im flussabwärts gelegenen Syrien (ebd.).
Um ein Druckmittel gegen die türkische Regierung in der Hand zu haben unterstützte die syrische Regierung die PKK, was wiederum der Türkei missfiel (Deep Islam 2013: 199-200). Dies ist der dritte Konfliktpunkt. PKK-Ausbildungslager befinden sich auf syrischem Staatsgebiet und der PKK-Führer Abdullah Öcalan lebte lange Zeit im Exil in Damaskus (Gürbey 2013: 43). Die PKK erhielt von der syrischen Regierung zusätzlich auch technische und finanzielle Hilfe (Deep Islam 2013: 200). Syrien verfolgte mit der Unterstützung der Kurden zwei Ziele. Erstens wollte Syrien der Türkei damit schaden (Kawakibi 2011: 192). Die Kurden stellten ein geeignetes Druckmittel dar, vor allem im Bereich des Wasserkonfliktes (Kawakini 2011: 192-193). Zweitens wirkte sich die Unterstützung positiv auf die eigene Kurdenfrage im Land aus. So hielten sich die syrischen Kurden mit Forderungen an die syrische Regierung zurück, da diese eine prokurdische Position vertrat (ebd.).
Der Kurden-Konflikt zwischen der Türkei und Syrien eskalierte im Jahr 1998. Hierbei kam es beinahe zu einem Krieg zwischen beiden Staaten. Die Türkei zwang die Regierung in Damaskus die PKK nicht mehr zu unterstützen, durch militärischen Druck. Syrien reagierte darauf und kam der Türkei entgegen. Dr PKK-Führer Abdullah Öcalan wurde 1999 der Türkei übergeben (Gürbey 2013: 43). Außerdem beendete die syrische Regierung die finanzielle und
[...]
1 Der Islamische Staat ist eine islamistische Terrororganisation. Die Mitglieder befürworten eine radikale Auslegung des sunnitischen Islam. Die Terrorgruppe kontrolliert aktuell Teile des Iraks und Syriens. Es wird eine Ausweitung der Territorien auf die Länder Jordanien, Libanon, Israel, Palästina angestrebt. Der IS verübte weltweit Terroranschläge (LPB 2016: 1).
2 Die Nullproblempolitik ist eine von dem damaligen, türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu ins Leben gerufene ideologische Richtlinie für die Außenpolitik der Türkei. Die Beziehungen zu den Nachbarländern sollte durch Kooperation, Diplomatie und durch wirtschaftliche Verflechtungen gezeichnet sein (Davutoglu 2010: 1).
3 Im Jahr 2012 gab es einen Vergeltungsschlag seitens der Türkei in Syrien. Zuvor wurden türkische Zivilisten durch den Beschuss syrischer Militärs getötet (Zeit online 2012:1).
- Arbeit zitieren
- Katharina Genç (Autor:in), 2016, Die Türkei im Syrien-Konflikt. Eine Analyse der Entscheidung zur militärischen Intervention anhand der Prospect Theory, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/367636
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