Die vorliegende Untersuchung nimmt einen Vergleich zweier historisch-kritischer Celan-Ausgaben am Beispiel des Gedichtes „Zürich, Zum Storchen“ vor: Die Tübinger Ausgabe und die Bonner Ausgabe.
Das Konzept der Tübinger Ausgabe besteht aus Nachvollziehbarkeit und Übersichtlichkeit für den Leser. Der Akzent liegt auf Anschaulichkeit und nicht auf „photographischer Objektivität“ , wobei die Art der Eingriffe im Vorwort erläutert wird.
Die Bände erschienen aufeinander folgend, allerdings sind sie nicht Celans Werkchronologie
entsprechend geordnet.
Die Reihenfolge der Bände entspricht im Fall der Bonner Ausgabe der Werkchronologie. Allerdings sind die Bände nicht ihrer Reihenfolge nach erschienen. Bislang liegt kein Band zur Büchner-Preis-Rede vor. Daher sind die Anforderungen an alle Bände in etwa dieselben.
Die diakritischen Zeichen der Tübinger Ausgabe sind eindeutiger, wenn auch sie ebenfalls nicht alle Zweideutigkeiten vermeiden können.
Die Darstellung der Bonner Ausgabe ist wissenschaftlich genauer und vollständiger als die der Tübinger Ausgabe. Allerdings sind die diakritischen Zeichen nicht immer eindeutig und in mancher Hinsicht muss der Leser ein Suchspiel veranstalten, um die eine oder andere Unklarheit zu beseitigen.
Ein „Pluspunkt“ der Tübinger Ausgabe ist die Beigabe von ausgewählten Faksimiles,
während die detaillierte Beschreibung von Zeugengruppen die Bonner Ausgabe positiv hervorhebt.
Inhaltsverzeichnis
1.) Zur Niemandsrose
2.) Celans Arbeitsweise
3.) Die Tübinger Celan-Ausgabe
4.) Die Bonner Celan-Ausgabe
5.) Vergleich
6.) Zürich, Zum Storchen
7.) Zusammenfassung
8.) Anhang
9.) Literaturliste
1.) Zur Niemandsrose:
Die Niemandsrose ist der Titel des Bandes, der das Gedicht „Zürich, Zum Storchen“ enthält.
Er wurde 1963 Im S. Fischer Verlag erstmals herausgegeben.
Die Gedichte aus diesem Band entstanden in den Jahren 1959 bis 1963.
Der Band ist vierteilig. Die Teile 1, 2 und 3 waren großteils schon 1961 fertig gestellt – allerdings noch mit an der Meridian-Rede[1] angelehnten Überschriften und Mottos z.B. von Shakespeare. (siehe Markierung in Abbildung 1)
Die Gedichte sind weitgehend in der Reihenfolge ihrer Entstehung angeordnet, wie man aus einer Aufstellung auf der S. 168 der Tübinger Ausgabe erkennen kann. (siehe Abbildung 2)
Der Band war ursprünglich umfangreicher konzipiert. Außerdem waren zwischenzeitlich 5 Teile vorgesehen. Für jene Gedichte, die ausgeschieden sind, aber bisher noch nicht publiziert wurden wird in der Tübinger Ausgabe auf eine eigene Leseausgabe verwiesen.[2]
In der 5-teiligen Konzeption sollte der 4. Teil aus der so genannten „Pariser/ Walliser Elegie“ bestehen. In den Jahren 1961 bis 1963 gab es Entwürfe unter diesen Titeln. Allerdings verfolgte Celan die Fertigstellung des Gedichts nicht, sondern „verwertete“ einzelne Entwürfe in anderen Gedichten, die ihrerseits teilweise Eingang in den Band „Die Niemandsrose“ fanden: „In eins“, „Hinausgekrönt“, „Hüttenfenster“, „Es ist alles anders“ und „In der Luft“[3].
2.) Celans Arbeitsweise:
Celans Gedichte und Entwürfe sind von ihm selbst sehr gut dokumentiert; meist sind sie datiert und auch oft selbst zugeordnet, was die Arbeit der Editoren erleichtert hat. Allerdings hat der Autor auch des Öfteren spätere Änderungen auf früher zu datierende Texträger übertragen oder er hat Durchschläge von Typoskripten mit unterschiedlichen Korrekturen versehen. Daraus kann man folgern, dass oft mehrere Fassungen gleichzeitig existierten, was die chronologische Aufzählung der Textstufen erschwert. Der Autor hat viel mit der Schreibmaschine gearbeitet, mit unter auch Erstentwürfe.[4]
Charakteristische Stilmittel sind das starke Arbeiten mit Zeilenumbruch, graphischer Anordnung der Worte am Blatt und Lehrstellen. Besonders auf diesen 3 Aspekten liegt das Schwergewicht vieler von seinen Korrekturen – oft mehr noch als auf der Änderung einzelner Worte.
Für die Editoren der Bonner Ausgabe ergab sich aus der Arbeitsweise Celans die Entscheidung zu „Die Niemandsrose“ auch einen Materialienband zu konzipieren. Denn der Autor hat für diesen Band besonders viele Textzeugen hinterlassen, deren Text zwar gleiche oder ähnliche Motive, allerdings eine andere Struktur und Gestalt aufweist.[5]
3.) Die Tübinger Celan Ausgabe:
Die Tübinger Ausgabe wurde von Heino Schmull unter der Mitarbeit von Michael Schwarzkopf an der Universität Tübingen ediert.
Als Textgrundlage der Endfassung wurde Beda Allemanns und Stefan Reicherts Edition von „Die Niemandsrose“ von 1983 herangezogen.[6]
Die Tübinger Ausgabe erschien 1996 zuerst in einer Lizenzausgabe im S. Fischer Verlag und im selben Jahr auch im Suhrkamp Verlag. Grundlage dieser Arbeit ist die Suhrkamp- Ausgabe.
3.1.) Die Bände
Die Tübinger Ausgabe besteht aus 8 Bänden, die chronologisch erschienen sind.
Damit ist gemeint, dass sie der Bandnummer nach erschienen sind und nicht nach der Erscheinungschronologie von Celans Gedichtbänden:
Band 1: Die Niemandsrose (Vorstufen – Textgenese – Endfassung), 1996
Band 2: Sprachgitter (Vorstufen – Textgenese – Endfassung), 1996
Band 3: Der Meridian (Endfassung – Vorstufen – Materialien), 1999
Band 4: Atemwende (Vorstufen – Textgenese – Endfassung), 2000
Band 5: Fadensonnen (Vorstufen – Textgenese – Endfassung), 2000
Band 6: Lichtzwang (Vorstufen – Textgenese – Endfassung), 2001
Band 7: Schneepart (Vorstufen – Textgenese – Reinschrift), 2002
Band 8: Von Schwelle zu Schwelle (Vorstufen – Textgenese – Endfassung), 2002
Im Fall von „Der Meridian“ wurde ein anderes Vorgehen im editorischen Prozess gewählt, weil dieser Text eine Sonderstellung in Celans Werk einnimmt:[7]
Da die Rede keine Genese im eigentlichen Sinn aufweist, sondern heterogene, breit-gefächerte Versuche Gedanken zur eigenen Dichtung zu Papier zu bringen vorliegen, entschieden sich die Editoren dafür, von der vollendeten Rede (und nicht von einem ersten Entwurf wie in den übrigen Bänden) auszugehen. Die Entwicklung wird also rückläufig dargestellt.
Außerdem wird bei den Textträgern zwischen „Entwürfen“, in denen der Wortlaut bereits präfiguriert wird, und „Materialien“, wozu z.B. Notizen gehören, unterschieden.
Bei „Schneepart“ ist die letzte Stufe der historisch-kritischen Ausgabe die Reinschrift, da die Gedichtsammlung postum erschienen ist. Da die Festlegung der zu beinhaltenden Gedichte und Zykluseinteilung nicht abgeschlossen wurde erschien es den Editoren als unangemessen die letzte Fassung als „Endfassung“ zu bezeichnen.[8]
3.2.) Das Ziel und die Quellen
Das Ziel der Ausgabe ist das Verdeutlichen des Schreibprozesses und „Schichten als poetische und geschichtliche Dokumente und Botschaften lesbar [zu] machen“.[9]
Die Materialgrundlage der Vorstufen wurde den Editoren vom deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar zur Verfügung gestellt und falls notwendig durch (nicht namentlich genannte) Zeugen ergänzt. Das Verzeichnis der verwendeten Blätter besteht lediglich aus einer Aufzählung der Signaturen ohne Beschreibung oder Standortnennung. So kann angenommen werden, dass bewusste andere Textzeugen in diesem Verzeichnis integriert sind, nachprüfen lässt es sich allerdings nicht so einfach.
Doubleten, unveränderte Reinschriften und geringfügig variierende Blätter wurden von vornherein vernachlässigt.[10] Was man sich genau unter geringfügig variiert vorzustellen hat wird allerdings nicht erläutert.
Für eine vollständige Übersicht wird auf eine parallel erscheinende historisch-kritische Ausgabe verwiesen, deren bibliographische Angaben allerdings nicht gegeben werden.[11] Man kann annehmen, dass es sich dabei um die Bonner Ausgabe handelt.
3.3) Der Aufbau
Die Editoren der Tübinger Ausgabe erachten den diplomatischen Abdruck von drei Vorstufen und der Endfassung bei den meisten Gedichten Celans als ausreichend, um die Genese der Texte zu veranschaulichen. Nur in einzelnen Fällen wurden diese 4 Stufen erweitert.
Die 4 Stufen sind auf einer Doppelseite abgedruckt und von links nach rechts zu lesen. Sollte der Platz nicht ausreichen wird mit ANFANG, FORTSETZUNG bzw. SCHLUSS am oberen und unteren Rand der betreffenden Seiten angezeigt, dass der Seitenumbruch keine Vorgabe Celans, sondern ein „Platzproblem“ ist. (siehe Markierung in Abbildung 1)
Das Ende jedes diplomatischen Abdrucks wird mit einem geraden dicken Strich angezeigt. Darunter befinden sich Signaturen und jeweilige Anmerkungen. Anmerkungen können aus Worterklärungen, Korrekturschichten, Eigenheiten der Textzeugen und Hinweisen auf Vorabdrucke sein. Keinesfalls sollte der Leser sie als Anleitung zur Dechiffrierung der Gedichte ansehen. Außerdem erheben die Editoren keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Anmerkungen.[12]
[...]
[1] „Der Meridian“ ist die Rede, die Celan bei der Verleihung des Büchner-Preises an ihn im Jahr 1960 hielt.
[2] Jürgen Wertheimer (Hrsg.) bearbeitet von Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf: Paul
Celan. Die Niemandsrose. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Tübinger Ausgabe. –Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag 1996. (= Bd. 1). S VIII.
[3] Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Tübinger Ausgabe (= Bd. 1). S. IX.
[4] Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Tübinger Ausgabe (= Bd. 1). S. IX.
[5] Axel Gellhaus, (Hrsg.) unter Mitarbeit von Holger Gehle und Andreas Lohr in Verbindung mit Rolf Bücher:
PAUL CELAN. DIE NIEMANDSROSE. HISTORISCH-KRITISCHE AUSGABE (6. Bd., 2. Teil). S. 11.
[6] Paul Celan, Gesammelte Werke. Erster Band. Gedichte I. – Frankfurt a. Main: o.V. 1983.
(zitiert nach: Wertheimer, Jürgen (Hrsg.): Tübinger Ausgabe . S. VII.)
[7] Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Tübinger Ausgabe. (Bd. 3). S. VIIf.
[8] Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Tübinger Ausgabe (= Bd. 7). S. VII.
[9] Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Tübinger Ausgabe (= Bd. 1). S. VII.
[10] Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Tübinger Ausgabe (= Bd. 1). S. IX.
[11] Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Tübinger Ausgabe (= Bd. 1). S. IX.
[12] Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Tübinger Ausgabe (= Bd. 1). S. XII.
- Citar trabajo
- Sonja Loidl (Autor), 2005, Historisch-kritische Celan-Ausgaben am Beispiel von „Zürich, Zum Storchen“, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36677
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