"Waldeinsamkeit" ist die letzte Novelle eines bedeutenden Romantikers, die philosophische Standpunkte von Erkenntnismöglichkeit und Subjektivismus genauso verhandelt, wie sie im Grunde die Erzählung eines Verbrechens ist. Dieser Vielschichtigkeit des Textes will diese Arbeit, gerade im Gegensatz zu frühen Darstellungen Rechnung tragen.
Mühl führt in ihrer Untersuchung zur Romantiktradition und Frührealismus auf, dass in der früheren Forschung die letzte Novelle Tiecks nicht sehr viel Beachtung fand und wenn, meist als ironisierte Auseinandersetzung mit seinem Frühwerk und eine Absage an die Epoche der Romantik. Mühl macht als erstes auch den nicht zu unterschätzenden gesellschaftskritischen Aspekt der Novelle deutlich.
Auch in der neuen Literatur wird vornehmlich die Novelle als "Abschied von der Romantik" beziehungsweise ihr Verhältnis und ihre Positionierung zu und zwischen Realismus und Romantik verhandelt. Und auch dieser Frage soll ein Kapitel der Untersuchung gewidmet werden, genauso wie auch beleuchtet werden soll, dass die Novelle ebenso mit den "unromantisch" gewordenen Zeitumständen kritisch abrechnet.
Besonders interessant ist der Umstand, dass das Konzept von Jugend durchaus von der Forschung schon als wichtiger Gegenstand der Novelle identifiziert wurde, etwa von Brüggemann , aber auch Lukas beschäftigt sich damit und auch Brecht sieht am Ende der Novelle Ferdinand in der typischen Position eines Romantikers im Alter angekommen.
Diese Arbeit will nun einen Schritt weitergehen und fragen, ob man die Novelle nicht auch als Geschichte einer Initiation, den Bericht eines Erwachsenwerdens, also eben eine Coming-of-Age-Story lesen kann? Zuletzt soll der spannende Punkt behandelt werden, inwiefern die Erzählung auch für den Leser in pädagogischer Absicht eine "Kur" darstellt, beziehungsweise wie sie versucht auch den Leser durch die Lektüre zu neuen Einsichten zu bringen, genauso wie Ferdinand sie in der Waldeinsamkeit gewinnt. Waldeinsamkeit erscheint so als Raum der Entwicklung für Ferdinand und den Leser, kommentiert zudem kritisch gesellschaftliche Entwicklungen und verweist auch auf eine entwickelte Form der Romantik.
Inhalt
1. Einleitung
2. Waldeinsamkeit als Raum der mehrfachen Entwicklung
2.1 Gesellschaftskritik
2.2 Waldeinsamkeit: Beißender Spot oder evolutionäres Testament der Romantik?
2.2.1 Totale Abkehr von romantischen Ideen vs. bloße Entlarvung von Missverständnissen
2.2.1 Totale Abkehr von romantischen Ideen vs. bloße Entlarvung von Missverständnissen
2.2.2 Aufenthalt in der Waldeinsamkeit als Heilung oder Transformation: Eine Coming-of-Age-Story?
2.3 Verhandlung von Perspektiven: Was kann Subjektivismus leisten und wohin er führt
2.4 Waldeinsamkeit: Eine Kur und Reifungsprozess auch für den Leser?
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Waldeinsamkeit ist die letzte Novelle eines bedeutenden Romantikers, die philosophische Standpunkte von Erkenntnismöglichkeit und Subjektivismus genauso verhandelt, wie sie im Grunde die Erzählung eines Verbrechens ist. Dieser Vielschichtigkeit des Textes will diese Arbeit, gerade im Gegensatz zu frühen Darstellungen Rechnung tragen.
Mühl führt in ihrer Untersuchung zur Romantiktradition und Frührealismus auf, dass in der früheren Forschung die letzte Novelle Tiecks nicht sehr viel Beachtung fand und wenn, meist als ironisierte Auseinandersetzung mit seinem Frühwerk und eine Absage an die Epoche der Romantik. Mühl macht als erstes auch den nicht zu unterschätzenden gesellschaftskritischen Aspekt der Novelle deutlich.[1]
Auch in der neuen Literatur wird vornehmlich die Novelle als „Abschied von der Romantik“[2] beziehungsweise ihr Verhältnis und ihre Positionierung zu und zwischen Realismus und Romantik verhandelt.[3] Und auch dieser Frage soll ein Kapitel der Untersuchung gewidmet werden, genauso wie auch beleuchtet werden soll, dass die Novelle ebenso mit den „unromantisch“ gewordenen Zeitumständen kritisch abrechnet.
Besonders interessant ist der Umstand, dass das Konzept von Jugend durchaus von der Forschung schon als wichtiger Gegenstand der Novelle identifiziert wurde, etwa von Brüggemann[4], aber auch Lukas beschäftigt sich damit und auch Brecht[5] sieht am Ende der Novelle Ferdinand in der typischen Position eines Romantikers im Alter angekommen. Diese Arbeit will nun einen Schritt weitergehen und fragen, ob man die Novelle nicht auch als Geschichte einer Initiation, den Bericht eines Erwachsenwerdens, also eben eine Coming-of-Age-Story lesen kann? Zuletzt soll der spannende Punkt behandelt werden, inwiefern die Erzählung auch für den Leser in pädagogischer Absicht eine „Kur“ darstellt, beziehungsweise wie sie versucht auch den Leser durch die Lektüre zu neuen Einsichten zu bringen, genauso wie Ferdinand sie in der Waldeinsamkeit gewinnt. Waldeinsamkeit erscheint so als Raum der Entwicklung für Ferdinand und den Leser, kommentiert zudem kritisch gesellschaftliche Entwicklungen und verweist auch auf eine entwickelte Form der Romantik.
2. Waldeinsamkeit als Raum der mehrfachen Entwicklung
2.1 Gesellschaftskritik
1841 ist die Novelle an einer Grenze zwischen Spätromantik und Frührealismus veröffentlicht worden, was man auch der Novelle anmerkt. Gerade die Zeit zwischen 1835 und 1840 kann als eine letzte Blüte der Romantik oder zumindest romantisierender Texte gelten. „Waldeinsamkeit“ ist sicher nicht nur eine Auseinandersetzung Tieks mit seinem Frühwerk, sondern auch mit den neuen Zeitumständen. Interessant ist, dass der "Eckebert" in „Waldeinsamkeit“ vom Erzähler als Tiecks "jugendliches Märchen" und zeitgleich eines seiner "ältesten Werke" oder "frühesten" (S. 858) bezeichnet wird. Dies macht nicht nur einen biographischen Bezug deutlich, sondern auch einen kritischen Bezug zur altklugen Jugend, denen sich Tieck überlegen fühlt, der das eigentlich junge und damit neuere geliefert habe.[6]
Das Detail, dass es Baron von Wangen ist, der das Werk als „jugendliches Märchen“ bezeichnet, spiegelt wohl dessen Nähe zum Autoren Tieck und dessen Perspektive wider und mit Sicherheit lässt sich der Baron als eine Art Stellvertreterfigur für den Autor bezeichnen. Der Baron spricht von Tieck bezeichnenderweise ja auch als „Freun[d]“ (S.858).
Gleich zu Beginn werden die älteren Männer positiv gegenüber den jungen konnotiert. Die jungen Personen streiten sich über das Tagesgeschehen und bleiben dabei in solcher Weise uneinig, dass eine weitere Diskussion für Sie unmöglich wird. Notgedrungen heißt es, müssen Sie ihr Gespräch einstellen und „auf die Rede der bejahrten Männer“ (S.857) hören! Dieses Verhalten wird durch eine Aussage des Baron von Wangen kontrastiert. Dieser hatte, nach eigener Aussage, in seiner Jugend nicht den Mut unter „verständigen Männern“ (S. 859) zu sprechen, und dass er einer war, „der lieber lernte als lehrte“ (S. 859).[7]
Weiter lautet der Text kritisch, oft verwerfe die Jugend einfach frühere Erkenntnisse und Darstellungen, vergesse aber „daß sie dadurch das Verständnis der Gegenwart erschwert und den Blick in die Zukunft verdunkelt“ (S. 857). Zudem kann der Baron sich auch ganz unschuldig über Sprachwandel im Fall der Zeitungsannonce amüsieren, während Helmfried gleich etwas „Boshaftes“ (S. 857) vermutet und auch seine schlechte Natur nicht verbergen kann, sein „etwas hämische[s] Lächeln“ erscheint „fast immer … wider seinen Willen auf seinen Lippen“ (S. 858) und bevor er die Gesellschaft verlässt, lacht er auf „unangenehme Weise“ (S.860). So ist insgesamt sicher Hillenbrand recht zu geben, dass Baron von Wangen vom Erzähler möglichst in ein positives Licht gerückt wird und weniger Brügemann, der dem Baron eine Sucht nach Realität unterstellen möchte, zumal er Helmfried mit demselben Adjektiv brandmarkt und eine Ähnlichkeit der beiden Charaktere sicher nicht vorliegt. Allerdings ist durchaus bemerkenswert, dass der Baron den Eintritt Ferdinands in den Beruf in militärischer Manier mit folgendem Wortlaut betitelt: „als Rat künftig einrücken kann“ (S. 860).[8]
Dies lässt schon erahnen, warum Ferdinand sich in eine der Gesellschaft ferne Waldeinsamkeit träumt, so wird das Ergreifen eines Berufs tatsächlich mehrmals in der Novelle thematisiert und mag in solchem Duktus sicher nicht anziehend auf den jungen Schwärmer wirken.
Außerdem ist das fehlende Verständnis der Historizität von Begriffen und ehemals Revolutionärem bei der Jugend in der Novelle zu konstatieren. Hauptstoßrichtung sei laut Hillenbrand hier wie auch sonst bei Tieck eine Kritik am „jungen Deutschland“, welches in naiver Hybris und Engstirnigkeit das jetzige für das immerwährende halte. Zudem erkennen die jungen Gäste gar nicht mehr die damalige Sprengkraft und Innovativität von heute Bekanntem! Der Baron hingegen führt richtig aus, allein mit dem Eingang des Wortes in den Alltagswortschatz müsse weder die Leistung der Erfindung des Wortes „Waldeinsamkeit“ noch die ihm innewohnende romantische Bedeutungswelt ihren Wert verlieren.[9]
Überhaupt stellt ja die Verwicklung fast sämtlicher im Text vorkommender jüngerer Charaktere in das Komplett gegen Ferdinand die junge Generation schon in ein bezeichnendes Licht. Sie scheint laut Novelle von Materialismus, Werteverfall und Habgier beherrscht.2 Selbst der Wirt Ferdinands nach dessen Einkerkerung, der ihn zunächst für einen Landstreicher hält, wird als er von der Zahlungskräftigkeit des jungen Adligen erfährt „durch tiefe Vebeugung und Schmeichelei ebenso ekelhaft …, als vorher sein Argwohn beleidigend“ (S. 919) war. Bezeichnenderweise weiß der Kandidat der Theologie der Ferdinand angeblich zur Stadt zurück führen will, von seiner späteren Pfarrei, die ihm Baron anders verschafft hat, vor allem vom Fest zur möglichen Einsetzung zu sprechen und begreift die Gemeinde als „Versorgung“ (S. 927).
2.2 Waldeinsamkeit: Beißender Spot oder evolutionäres Testament der Romantik?
2.2.1 Totale Abkehr von romantischen Ideen vs. bloße Entlarvung von Missverständnissen
Zunächst ist wohl ein Blick darauf wichtig, wo der Begriff „Waldeinsamkeit“ herkommt und wie er sich zu dem in der letzten Novelle Tiecks unterscheidet. „Der Blonde Eckbert“ ist der Urtext einer eher unheimlichen Atmosphäre der „Waldeinsamkeit“, der diesen Begriff auch erstmals verwendet. Tieck hat also das Wort wie den folgenden romantischen Topos begründet. Auch die Waldeinsamkeit, welche Bertha bei einer alten Frau, ihrem Hund und einem Zaubervogel vorfindet, entspricht nicht dem gängigen romantischen Klischee oder der träumerischen Umgebung, in welche sich Ferdinand wünscht, sondern das Mädchen ist gerade in der Zeit, wo die Alte sie einsam zurücklässt, völlig eigenverantwortlich für Haushalt und Tiere. Mühl hat auf den Fakt verwiesen, dass die Alte im Eckbert noch fähig zu fluchen und zu predigen war und so ein außergesellschaftliches Phänomen war, während die neue Alte als taubstumm nur mehr ein ohnmächtiges Werkzeug der Gesellschaft ist. Im früheren Märchen ist es ein verzauberter Vogel, welcher das Lied von der Waldeinsamkeit zum Besten gibt. Eine Gemeinsamkeit ist aber durchaus, dass Bertha und Ferdinand durch Texte in ihrem Willen zur Flucht bestärkt werden. Eine weitere Ähnlichkeit von Märchen und Novelle liegt darin, dass vor Beginn ihrer Transformation in der Waldeinsamkeit beide verträumte, schlecht in gesellschaftliche Strukturen integrierbare Charaktere sind, die in dem Sinne positiv verändert in die Gesellschaft zurückkehren, dass ihnen danach ein der Gesellschaft zugewandteres Leben und eine realistischere Einschätzung ihrer Situation möglich ist. Allerdings werden Berthas Träume nach Reisen zur Obsession und sie verfällt ihren fixen Ideen, die auch Ferdinand fürchtet, ihnen allerdings entfliehen kann.[10]
Laut Hillenbrand ist die Novelle eine auktoriale Korrektur und wie Tieks gesamtes Spätwerk eine Positionsbestimmung zwischen dem eigenen romantischen Werk und einer von der Romantik abgekommenen Gegenwart, wobei sich im Werk eine Art poetischer Realismus oder eine „wirklichkeitsbezogene Romantik“[11] auftue. Laut Hillenbrand werde die Romantik vom krankhaften Subjektiven, was in Wahnsinn münden müsse, zu einer letztlich gesunden und gesellschaftlich integrierten Haltung verwandelt. Allerdings ist die Darstellungsweise im Werk noch nicht wirklich realistisch, Handlungen und Figuren bleiben Bedeutungsträger und Repräsentanten bestimmter Lebenshaltungen. Also ist die Ästhetik romantisch: Alles Geschehen hat Bedeutung. So trete Ferdinand durch die Rezitation des Gedichts als romantischer Tieck Experte auf, der später in seinem Wunschtraum angekommen, schnell genug von der Waldeinsamkeit habe. Dass die Frühromantik keine Gesellschaft von freudlosen, hypersensiblen Eremiten war, Ferdinand also eine ganz falsche Vorstellung hat, zeigt schon die Anekdote des Barons, die Helmfried freilich in böser Absicht zum Besten gibt. Die damaligen Freunde „neckten sich oft geistreich und witzig, und niemals empfand einer den Einfall des andern übel oder erwiderte mit Bitterkeit“ (S. 858) im Gegensatz zu Ferdinand, der „jedes Wort mit Empfindlichkeit“ (S.865) aufnimmt.[12]
Dies zeige schon das erste Missverstehen der Romantik durch Ferdinand, der den Aspekt Einsamkeit überidealisiere. Die Novelle sei daher mehr Kritik und Korrektur als ein Ablehnen der Romantik an sich. Zumindest stellt Tieck genau die Extreme der Romantik, welche der Frührealismus zu kritisieren pflegte, als ein solches Missverstehen und gerade nicht Teil der echten Romantik dar. Ferdinand müsse im Laufe der Novelle lernen, dass dem Subjektiven der Bezug zur Außenwelt nicht fehlen darf! Es komme auf die richtige Mischung an, wie Tieck in der Novelle seinen Vertrauten den Korrekturbogen vorlese, aber in letzter Instanz einsam entscheide und an seinem Neologismus festhalte. Ferdinand und Helmfried verkennen also die echte „Waldeinsamkeit“, ersterer überhöht einen Einzelaspekt, letzterer sieht in ihr nur noch eine wertlose Floskel, die gerade noch für Immobilienanzeigen taugt.[13]
Sicher ist auch Brüggemann Recht zu geben, der eine gewisse Karnevalisierung des Begriffes ausmacht, aber ebenfalls die Frage in den Raum wirft, ob der Text einfach nur eine Abkehr von romantischen Phrasen und Denkmustern sei. Es sei jedenfalls so, dass der Text sich an Bildern und Requisiten der Romantik abarbeite und Ferdinand an einen Punkt führe, wo seine poetischen Wahrnehmungsmuster sich erschöpfen und er seine Waldeinsamkeit als bloßes Gefängnis erkennen müsse. Genauso wie er äußerlich gefangen sei, führe die Novelle aber auch seine Verfangenheit in romantischen Wahrnehmungsmustern vor. Tieck führe an einer innerlichen Reise eine Entwicklung Ferdinands hin zur Befreiung und Selbsterkenntnis vor, die sich durch Lektüre eines Reiseberichts und des Textes des Wahnsinnigen vollziehe, wie durch die Rückerinnerung an Ferdinands Kindheit. Insgesamt weist Brügemann also durchaus in eine Hillenbrand nicht unähnliche Richtung, eine Entwicklung Ferdinands als zentrales Moment der Erzählung zu begreifen. Zudem führt er an, Tieck zeige hier die Entwertung und Aushöhlung romantischer Wahrnehmungsformen und Ästhetik, die in einer ökonomisierten und rationalen Moderne keine Wirkmächtigkeit mehr hätten und auch nicht zur Darstellung von Lebensverhältnissen taugen würden.[14]
Am Ende, so Hillenbrand, werde nicht der weltfremde Einzelgänger Ferdinand bestätigt, aber auch nicht der in vollen Zügen am Leben teilnehmende Egoist Helmfried, sondern der, wie der Germanist sagt, „vernünftig romantische Alte.“ Tiecks Position befinde sich dabei zwischen Onkel und Neffe, weder sei eine romantische Lebenshaltung per se „Krankheit“ oder „Gesundheit“ (861). So ist der Einwand des Onkels gegenüber Ferdinand zwar durchaus berechtigt, es gebe zwar höhere Gewalt, die eigenen Gefühle seien aber nicht der absolute Herr aller Entscheidungen. Hingegen behält das Gefühl Ferdinands im Bezug auf Sidonie gegenüber den Einwänden des Onkels und auch seinen eigenen Zweifeln recht, die für den Leser aufgrund Sidonies Koketterie durchaus plausibel scheinen müssen. Verstärkt wird der Zweifel noch durch die sichtliche Einigkeit Sidonies und Helmfrieds bei der zweiten Zitation der Waldeinsamkeit (S. 864).[15]
Im Text erscheint mit dem Rat Elsen nochmals eine Figur der Vernunft, die Ferdinand warnt „durch Grillen oder Verwöhnungen“ (S. 863) sein Leben zu versäumen. Ganz Ähnliches rät ihm auch Sidonie auf seine hitzige Kritik der profanen Gesellschaft hin, er solle „nüchtern“ und „mäßig“ (S. 867) sein. Es ließe sich durchaus behaupten, dass Sidonie eine vom Ende her betrachtet ebenso positive Gestalt wie der Onkel Ferdinand ist. Alle Bedenken und Verdachtsmomente gegen sie lösen sich auf, sie erscheint als treue Seele, die Ferdinand ebenfalls deutlich zu Vernunft und Mäßigung rät. Einzig als negativ bleibt bestehen, dass sie tatsächlich an die Heirat Ferdinands mit einer unbekannten Gräfin zu glauben scheint, was man ihr aber kaum verübeln kann, angesichts Helmfrieds geschickter Intrige.
In seiner Gefangenschaft dann erscheint Ferdinand zwar bis zu einem gewissen Grad fasziniert vom Manuskript des Wahnsinnigen, kann aber rechtzeitig die Gefahr in solchem Denken erkennen und sich abwenden. Gerade durch die Lektüre bestärkt, fasst er laut Hillenbrand den Entschluss, sich ganz unromantisch seiner „Vernunft“ (S. 895) zu besinnen und seine Flucht vorzubereiten. Der Verfasser der Manuskripte erscheint als irre gewordener Hyperromantiker, der der fixen Idee anhängt, die Verdauung sei ein preisenswertes Gottesgeschenk und auch ihre Produkte verdienten höchste Beachtung. Dabei sei bemerkenswert, dass sein Wahnsinn dem Leser nicht völlig absurd erscheine, sondern eher ein Hinausgehen über plausible Standpunkte sei. So bestehe zwar eine Gewisse Ähnlichkeit aus dem Düngen von Speisen und dem Verzehr von Exkrementen, vergleichbar sind beide Tätigkeiten aber keineswegs. Hier findet sich eine Teilwahrheit in vollkommener Absolutierung. Die Gedanken stellen eine völlige Überzeichnung dar und so kann auch Ferdinand, der selbst mit Kritik an einer ignoranten Gesellschaft nicht gespart hatte, laut lachen über die Schriften.[16]
Der Wahnsinnige stellt, so ließe sich sagen, die mögliche Fortentwicklung Ferdinands dar, denn beide neigen zu ein und demselben Fehler, sie verabsolutieren Teilaspekte und Wahrheiten. So wie Exkremente zum Düngen von Früchten verwendet werden, so stellt auch Einsamkeit einen wesentlichen Topos der Romantik dar. Genauso wie aber der Verzehr von Exkrementen viel zu weit über das Düngen hinausgeht, so tut es auch Ferdinands Wunsch nach totaler Einsamkeit. Zudem lässt sich in Ferdinands Fixierung auf die Waldeinsamkeit durchaus der Beginn der Ausbildung einer fixen Idee vermuten. Glücklicherweise erkennt Ferdinand allerdings früh genug seinen Irrtum, wird sich seiner Lage bewusst, kann seine Perspektive ändern und durch tatkräftigen Mut zur Gesellschaft zurückkehren, physisch wie psychisch. Er glaubt ja auch selbst, beim Lesen der wahnsinnigen Schrift, „dass er auf demselben Wege, durch dieselben Grübeleien wohl seinen Verstand verlieren könne“ (905). Es ist sicher kein Zufall, dass hier für innerpersonale Vorgänge von einem Weg die Rede ist.
Hillenbrand hat im Bezug auf Ferdinand schon richtig erkannt, dass wenn dieser von der Waldeinsamkeit, die ihn zugrunde gerichtet habe, spricht, nicht nur eine Begebenheit im Außen meint, sondern auch eine innere Haltung extremer Gesellschaftsabgewandtheit und Naturschwärmerei und der Aufenthalt somit einen stark metaphorischen Charakter habe. Dies zeige sich etwa am Wunsch Ferdinands, der sich bei seiner Flucht wünscht auf Menschen zu treffen, welche ihn „zurechtweisen können“ (901). Klar ist der Begriff doppeldeutig besetzt, zumal er sich kurz zuvor seiner „seltsame[n] Lage“ (S.900) klar geworden ist, was man leicht neben Ferdinands körperlicher Gefangenschafft auch auf seine innere Einstellung beziehen könne. Der Perspektivwechsel, den Ferdinand durch seine Flucht in seinem inneren vollzogen hat, wird auch in dem Moment deutlich, wo er nun außen vor seinem Gefängnis steht. Durch die „ihm wohl bekannte bewegliche Fensterscheibe“ blickt er zurück in eine „enge Höhle, die er hinter sich gelassen hat und so dem „Wege“ (S. 905) in den Wahnsinn entflohen ist.[17]
2.2.2 Aufenthalt in der Waldeinsamkeit als Heilung oder Transformation: Eine Coming-of-Age-Story?
Hillenbrand hat die Symbolik von Ferdinands Flucht als eine sehr deutliche für den allgemeinen menschlichen Lebensweg beschrieben, der immer eine „Wanderung ins Ungewisse“[18] sei. Und diese Arbeit stimmt ihm absolut zu, dass der Aufenthalt in der Waldeinsamkeit und die Flucht als Metapher für den Lebensweg stehen oder besser für eine bestimmte Wende darin und einen Veränderungsprozess. Es geht aber nicht nur um die Abwendung von hyper- oder falschverstandenen romantischen Denkweisen, sondern ebenso von einer jugendlichen bis kindischen Haltung des Protagonisten.
Brügemann hat schon darauf hingewiesen, dass gleich zu Beginn eine gewisse Opposition von Wirklichkeit und Träumerei aufgebaut wird, wenn Ferdinand vom Baron auf sein Examen angesprochen wird und damit seinen Eintritt in eine von Anforderungen der Gesellschaft bestimmten Welt. Ferdinand reagiert auf die Zurechtweisung des Onkels mit dem Fallen in einen Traum von der Waldeinsamkeit, denn er antwortet „aus seinen Träumereien heraus“ (S. 860), wie er sie bezeichnender Weise in seiner Knabenzeit erlebt hat. Diese stelle laut Brügemann eine durchaus reale Utopie oder auch Heterotopie dar, fern aller gesellschaftlichen Zwänge und Kultur. Waldeinsamkeit sei damit eine Gegenposition zur Gesellschaft allgemein.[19] 2
Zum einen zeigt die Szene, dass Ferdinand nichts hören möchte von seiner beruflichen Zukunft, lieber vor sich hinträumt und den Reden des Onkels von Examen und Beruf nur mit halbem Ohr folgt. Es ist weiter sicher kein Zufall, dass eine positiv erinnerte Waldeinsamkeit in gerade Ferdinands Kindheit liegt. Denn gerade Kindheit ist seit der Neuzeit immer mehr zu einem unbeschwerten Raum, jenseits von Anforderungen und Verpflichtungen geworden und gerade das Freimachen von solchen ist mit dem Vergessen von „Schule“ und dem „elterlichen Haus“ angesprochen (861). Zumindest in Ferdinands Erinnerung scheint dieses Verhalten halbwegs toleriert worden zu sein, ist doch in keiner Weise die Rede von Strafen oder sonstigen Konsequenzen und es erscheint auch plausibel, dass ein etwas ausgedehntes Umherwandern bei Kindern durchaus akzeptabel schien.
Plausibel macht Brüggemann deutlich, dass die Benennung solchen Denkens vom Onkel als „Krankheit“ (S. 861) darauf hinweise, dass aus dieser jugendlichen Schwärmerei ein Anspruch erwachse nach dauerhafter Umgehung der Gesellschaft und dem Ausweichen ihrer Anforderungen.[20]
Nun ließe sich der simple aber gleichsam plausible Schluss ziehen, hier werde einfach folgendes ausgesagt. Ein träumerisches Umherschweifen und Ausbrechen aus gesellschaftlichen Regeln ist in der Logik des Textes für Kinder in Ordnung, wenn solches infantile Verhalten aber bis ins frühe Erwachsenenalter andauere, müsse man darin pathologisches Verhalten erblicken! Nicht der Anspruch aus der Gesellschaft ausbrechen zu wollen wird also per se kritisiert, sondern sein Fortbestand über das Jugendalter hinaus, wo er keine Berechtigung mehr hat und nicht realisiert werden kann ohne hohe Kollateralschäden zu verursachen. Der „schwermütig[e]“ (S. 858) Ferdinand ist ein gutes Beispiel für die Lebensuntauglichkeit, die durch solche Wünsche erwächst.[21]
[...]
[1] Vgl. Mühl, Beate: Romantiktradition und früher Realismus. Zum Verhältnis von Gattungspoetik und literarischer Praxis in der Restaurationsepoche (Tieck-Immermann). Frankfurt am Main 1983. S. 168.
[2] Lukas, Wolfgang: ABSCHIED VON DER ROMANTIK. Inszenierung des Epochenwandels bei Tieck, Eichendorf und Büchner. In: Recherches Germaniques. Au Sommaire Du Numero 31. Hrsg. von: Christine Maillard. Strasbourg 2001. S. 49-84.
[3] Hillenbrand, Rainer: Realistische Romantik in Tiecks letzter Novelle Waldeinsamkeit. In: Realism and Romanticism in German Literature. Hrsg. von Dirk Göttsche u. Nicholas Saul. Bielefeld 2013. S. 33-74.
[4] Brüggemann, Heinz: Entzauberte Frühe? Jugend als Medium literarischer Selbstreferenz in Ludwig Tiecks Novelle Waldeinsamkeit. In: Romantik und Moderne. Moden des Zeitalters und buntscheckige Schreibart. Aufsätze. S. 241-264. Würzburg 2009.
[5] Brecht, Christoph: Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks. Tübingen 1993
[6] Vgl. Hillenbrand: S. 33-34. Lukas hat auf die erhöhte Produktion traditionell romantischer Dichter in dieser Zeit hingewiesen und die These aufgestellt, die vermehrte Beschwörung romantischer Topoi und Begriffe sei als letzte Auseinandersetzung und als Abschied zu werten. Vgl. Lukas: S. 49-50.
[7] Hillenbrand bemerkt dazu, dass auch der Autor Tieck gerne der damaligen Jugend den Vorwurf machte, vorschnell unausgegorene Theorien und Gedanken zum Besten zu geben. Und vgl. Mühl: S. 14. Sie macht deutlich, dass auch Tieck sich mehr in der Rolle einen Lernenden als Lehrenden sah, an der Auseinandersetzung mit Brentano, der Tieck als Lehrenden gewinnen wollte, macht sie dessen Unbehagen an der Teilnahme an einem, seiner Meinung nach, auf Gewinnerzielung ausgerichtetem Universitätsbetrieb deutlich. Vgl. Hillenbrand: S. 40.
[8] Vgl. Brüggemann: S. 242, 244. U. Vgl. Hillenbrand: S. 36, 40. Mühl hat ebenfalls bereits darauf hingewiesen, dass Ferdinands Melancholie und Träumerei nicht zuletzt Fluchtreaktionen vor seiner Abschlussprüfung sein mögen. Vgl. Mühl: S. 168.
[9] Vgl. Hillenbrand: S. 37-38.
[10] Kimek bemerkt weiterführend, der Wald erscheint allerdings auf Berthas anfänglichem Irrweg durchaus bedrohlich mit seinen fremden Geräuschen und seiner orientierungsverhindernden Dunkelheit. Dies erinnert sehr an Tiecks sehr frühe Schauerschriften. Zudem betrügt Bertha ebenfalls ihre Gastgeberin, nimmt aber, was in der Forschung nicht untersucht worden ist, wissentlich den Vogel als Gegenstand aus der Sphäre des Waldes mit, nicht wie Ferdinand, unwissentlich das Buch des inhaftierten Geisteskranken. Vgl. weiterführend Kimek, Sonja: Waldeinsamkeit - Literarische Landschaft als transitorischer Ort bei Tieck, Stifter, Storm und Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 53. Hrsg. von Rolf von Paar u. Julia Bertschik. Tübingen 2012. S. 99-126. S. 102-103. Vgl. auch Mühl: S. 171.
[11] Hillenbrand: S. 53.
[12] Brecht führt passend dazu an, dass sich kein Hinweis darauf zeigt, dass Tieck als Novellist habe brechen wollen mit seiner romantischen Vergangenheit. In seiner letzten Novelle habe er explizit auf sich als den Erfinder des Wortes „Waldeinsamkeit“ verwiesen. Vgl. Brecht, Christoph: S. 119. U. vgl. Hillenbrand: S. 40, 46.
[13] Überzeugend kann Hillenbrand deutlich machen, dass die Novelle einen Mittelweg aus Realismus und Romantik anstrebt. Er führt etwa die Begeisterung des Romantikers Ferdinand für einen realistischen Reisebericht an, den Ferdinand mit den Begriffen eines realistischen Literaturideals zu preisen weiß. Überzeugend für die These spricht auch Ferdinands Betrachtung der gegenüberhängenden Gemälde in seinem Gefängnis, die damit mit ihrem Gehalt auch in metaphorische Opposition treten. So wünscht sich Ferdinand, der sich sehnlichst die Einsamkeit gewünscht hatte, beim Betrachten des hochromantischen Gemäldes der heiligen Genoveva, er hätte zumindest auch Gesellschaft wie diese. Hingegen beim Anblick des Gemäldes vom „verlorenen Sohn“ fühlt sich Ferdinand an das sinnlose Besäufnis seines letzten Abends in Freiheit mit Ekel erinnert. Bezeichnenderweise hat ihn die rein materialistische Sinnlichkeit in sein Gefängnis geführt, welches ihm die hyperromantische Einsamkeit verleidet und in der er erkennt, dass er eben kein romantischer Dichter ist. Vgl. dazu Hillenbrand: S. 34-36, 38-39, 52-54.
[14] Brüggemann glaubt, die Reisebeschreibung des Orlearius sei ein Verweis auf Tiecks frühe orientalistische Erzählmomente wie in „Almansur“. Vgl. Brüggemann: S. 255-257, 262-263. U. vgl. Haupt: Die ebenfalls den Tendenzen in der Forschung Recht gibt, die Novelle sei viel eher Korrektur einer von Tieck als verfehlt angesehenen Rezeption der Frühromantik, als eine Abkehr von seinem Frühwerk. Vgl. Haupt, Sabine: „Es kehret alles wieder“. Zur Poetik literarischer Wiederholungen in der deutschen Romantik und Restaurationszeit: Tieck, Hoffmann, Eichendorff. Würzburg 2002. S. 438.
[15] Vgl. Hillenbrand: S. 42-43, 45.
[16] Vgl. Brüggemann: S. 258-259. U. vgl. weiterführend Hillenbrand, der noch genauer auf die satirischen Aspekte der Schrift eingeht. Etwa die Anerkennung von Till Eulenspiegel, der zu jeder Zeit sein Geschäft verrichten konnte, die eine Parodie des Wunsches nach Überlegenheit darstelle, welches der größenwahnsinnige Melancholiker zu hegen pflegte. Vgl. Hillenbrand: S. 56-59. Lukas hat herausgestellt, dass mit dem Manuskript des Wahnsinnigen ein spektakulärer Entwurf einer geistigen Erkrankung vorliege, welche dem Text sogar eine singuläre Position im 19. Jahrhundert sichern solle. Hier ist aber gleich zu bedenken zu geben, dass Georg Büchner im „Lenz“ schon zuvor eine mindestens ebenso spektakuläre, treffende und deutlich ausführlichere Darstellung einer psychischen Pathologie gelungen ist! Vgl. Lukas: S. 64.
[17] Vgl. Hillenbrand: S.58, 64, 71. Mühl stellt überzeugend dar, dass mit Ferdinand und dem Wahnsinnigen die Novelle auch darauf verweist, dass romantische Topoi an Relevanz verloren haben. So zeigt sich, dass zur Bewältigung der Realität weder Isolation im Falle Ferdinands, noch ununterbrochenes Fußreisen, taugliche Mittel sind. Vgl. Mühl: S. 170.
[18] Hillenbrand: S. 64.
[19] Vgl. Brüggemann: S. 243.
[20] Vgl. Brüggemann: S. 244. U. vgl. auch Mühl: S. 17. Diese macht deutlich, dass die Novelle zwar einen plausiblen Grund für den romantischen Fluchtwillen nenne, die Verrohung und Schlechtigkeit, vor allem bei Adel und Klerus, aber durchaus die Flucht nicht als richtiges Mittel zum Umgang mit gesellschaftlichen Problemen legitimiere.
[21] In Bezug auf andere Werke Tiecks ergibt sich laut Brüggemann ein ganz ähnliches Bild. Es zeige sich, dass das romantische Jugendkonzept und seine Vorstellungswelt nur in metaphorischer Rede dauerhaften Bestand haben könnten, aber nicht in der Realität. Hier erscheine ein andauerndes jugendliches Aufbegehren als verstörend oder gar als Wahn. Für die Waldeinsamkeit stellt Brüggemann ebenfalls fest, sie sei eine Verquickung von Kindheit als Heterochronie und der Heterotopie der Natur. Vgl. Brüggemann: S. 247-248, 251.
- Arbeit zitieren
- Christian Maier (Autor:in), 2016, Ludwig Tiecks "Waldeinsamkeit". Raum zur Entwicklung für Leser, Protagonist und Genre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/366720
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