Mit dem politischen Ende der SED-Diktatur im Herbst 1989 traten Geister aus Ost und West zutage, die aus dem abgewirtschafteten Staat zwischen Ostsee und Erzgebirge ein Musterland jenseits von Kapitalismus und Sozialismus gestalten wollten. Doch welche Zukunft, welche Existenzberechtigung hätte eine marktwirtschaftlich orientierte DDR neben einer kapitalistischen BRD gehabt? „Natürlich keine!“, wie Professor Dr. Otto Reinhold, Mitglied des Zentralkomitees der SED, es am 1. September 1989 in der „Zeit“ formulierte. Und dennoch gab es beiderseits der innerdeutschen Grenze seit jeher Kräfte, die eine bessere, demokratische, entstalinisierte DDR und damit ein wirkliches Alternativmodell zur Bundesrepublik errichten wollten. Die vorliegende Arbeit soll dahingehend die Frage beantworten, ob ein "Dritter Weg" angesichts des "Sturmes" im Herbst 1989 überhaupt ein realistisches Modell gewesen wäre, oder ob es sich dabei nicht lediglich um idealistische Hirngespinste handelte.
Inhalt
1. Einleitung
1.1. Problemstellung
1.2. Aufbau und Vorgehensweise
1.3. Quellenlage und Forschungsstand
2. Die Chancen eines Dritten Weges - Die DDR 1989/90
2.1. Der Zusammenbruch
2.2. Der Wille zur Einheit
2.3. Keine Zwischenlösungen mehr!
2.4. Die DDR-Identität - Propaganda oder Wirklichkeit?
2.5. Die Jugend geht ihren eigenen Weg
2.6. Die wirtschaftliche Situation der DDR am Ende der achtziger Jahr
2.7. Die Rolle der Intelligenz während des Vereinigungsprozesses
3. Schlußbetrachtung
4. Bibliographie
1. Einleitung
1.1. Problemstellung
Mit dem politischen Ende der SED-Diktatur im Herbst 1989 traten Geister aus Ost und West zu Tage, die aus dem abgewirtschafteten Staat zwischen Ostsee und Erzgebirge ein Muster-land jenseits von Kapitalismus und Sozialismus gestalten wollten. Doch welche Zukunft, welche Existenzberechtigung hätte eine marktwirtschaftlich orientierte DDR neben einer kapitalistischen BRD gehabt? „Natürlich keine!“, wie Professor Dr. Otto Reinhold, Mitglied des Zentralkomitees der SED, es am 1. September 1989 in der „Zeit“ formulierte.[1] Und dennoch gab es beiderseits der innerdeutschen Grenze seit jeher Kräfte, die eine bessere, demokratische, entstalinisierte DDR und damit ein wirkliches Alternativmodell zur Bundes-republik errichten wollten. Nicht selten wurde der antiradikal anmutende Terminus vom „Dritten Weg“, im Munde seiner Wortführer, zum Mittel semantischer Begriffsverwirrung, denn allzu häufig waren deren Visionen abstrakte Hirngespinste, bisweilen ideologisch, nicht selten utopisch und fern von jeglichem ökonomischen Verständnis. Trotz alledem entwickelte sich gerade in der DDR ein Gespür für die Notwendigkeit von Reformen, wenngleich die Mahner dort allzu oft mundtot gemacht wurden. Ihnen bot die Untergrundliteratur der acht-ziger Jahre den kreativen Raum, den ihr die Lakaien der marxistischen Orthodoxie verwehr-ten. 1989, nach Jahren der Stagnation, war endlich die Stunde für Veränderungen gekommen. Mit dem jahrelang ertragenen und nun öffentlich zur Schau gestellten Frust wollten die Menschen die kleinbürgerliche Enge durchbrechen.
Was bewegte die Bürger der DDR? Welche Veränderungen wollten sie mit ihrem Protest erreichen? Wieviel Reform konnte der Staat, die Partei, das System überhaupt ertra-gen? Zunächst soll die Frage beantwortet werden, in welchem Maße die Bürger im emotional aufgeheizten Deutschen Herbst den Ideen eines Dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus zugeneigt waren? Wie veränderte sich diese Haltung mit Fortschreiten des Erosionsprozesses des alten Systems? Ein Dritter Weg wäre ein neuerliches Experiment gewesen, das keinen Erfolgsautomatismus garantieren konnte. Niemand kannte die zu erwartenden Unwägbarkeiten. Aber waren die Menschen überhaupt noch bereit, reform-sozialistische Experimente zu erdulden, deren Ausgang nur mehr neue Ungewißheiten bot? Welchen zukünftigen Handlungsspielraum eröffnete die desolate Wirtschaftslage des Staates? Wie verhielt sich die Jugend, der Zukunftsträger des Staates, dem realexistierenden Sozialismus gegenüber? Die Beantwortung dieser Fragen soll den realen Verwirklichungs-spielraum, der sich den Anhängern eines Dritten Weges am Ende der achtziger Jahre bot, aufzeigen.
1.2. Aufbau und Vorgehensweise
Die vorliegende Arbeit ist sowohl als deskriptive als auch als analytische Studie konzipiert. Sie versucht nicht nur die Atmosphäre am Vorabend der politischen Wende und den Monaten des deutschen Einigungsprozesses 1989/90 einzufangen, sondern auch die Ursachen der Resignation und allgemeinen Unzufriedenheit, deren Konsequenzen zu Wandel und Abbruch des gesamten Systems führten, zu ergründen. Die Exposition des zweiten Kapitels befaßt sich mit der Ausgangssituation der DDR, der politischen Stabilität und der gesellschaftlichen Akzeptanz des Systems. Die Abschnitte 2.1. bis 2.3. sind der gefühlsdominierten Atmosphäre der Endphase der deutschen Teilung gewidmet. Neben dem Zusammenbruch der DDR wer-den das wachsende Verlangen der Menschen nach einer Wiedervereinigung beider deutscher Staaten sowie die Absage der Bürger an politische Experimente und Zwischenlösungen Berücksichtigung finden. In diesem Zusammenhang greift Abschnitt 2.4. die ungelöste nationale Frage auf, die das Entstehen einer eigenen DDR-Identität zeitlebens und nachhaltig beeinflußte. Zwar basierten kommunistische Strategien stets auf Methoden, die unterschied-liche Wege und Vorgehensweisen zur Erreichung der Pläne zuließen, in ihrer Quintessenz durften diese jedoch niemals Zweifel an der moralischen Überlegenheit des Sozialismus auf-kommen lassen. Abschnitt 2.5. ist daher der Rolle der DDR-Jugend gewidmet, die im Gefolge des Entspannungsprozesses der siebziger Jahre ein Eigenleben entwickelte, das negativ auf die Stabilität des Staatsgefüges zurückstrahlte und deren gewachsene Strukturen vor neue, scheinbar unlösbare Herausforderungen stellte. Punkt 2.6., der sich mit der wirtschaftlichen Situation der DDR in der Spätphase der Achtziger befaßt, soll den Fokus auf die ökonomische Realität richten und die Frage beantworten, welche Chancen sich der Umsetzung eines Dritten Weges in einer eigenständigen DDR überhaupt darboten. Abschnitt 2.7. ist der Rolle der DDR-Intelligenz gewidmet, die offensiv als Avantgarde politisch-wirtschaftlicher Dritter-Wegs-Konzeptionen in Erscheinung trat und ebenso häufig die Eigenständigkeit einer ent-stalinisierten Deutschen Demokratischen Republik forderte. Kapitel 3. wird den Themen-komplex und die gewonnenen Erkenntnisse resümieren und die Frage beantworten, warum der Kampf für einen Dritten Weg, trotz zeitweiliger Sympathien, zum Scheitern verurteilt war. Eine Auswahlbibliographie in Kapitel 4. rundet diese Arbeit ab.
1.3. Quellenlage und Forschungsstand
Die schiere Menge wissenschaftlicher Publikationen über die politischen Ereignisse der Jahre 1989/90 ermöglichen einen umfassenden Einblick in die Thematik. Publikationen wie Stefan Wolles „Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989“, Alexander von Platos „Die Wiedervereinigung Deutschlands - ein weltpolitisches Machtspiel“ und Manfred Görtemakers „Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ seien stellvertretend für die Vielzahl detaillierter Betrachtungen genannt. Zur Masse politisch-historischer Werke gesellt sich eine vergleichbar hohe Anzahl an Schriftstücken, die sich der sozio-ökonomischen Situation der DDR und den Ursachen der `89er Revolution widmet. Das noch vor der politischen Wende in Ostdeutschland verfaßte Werk „Realer Sozialismus. Anspruch und Wirklichkeit“ von Heinz Kallabis bietet dabei eine ebenso realistische Einschätzung über die Notwendigkeit von Reformen, wie das 1987 in der Bundesrepublik erschienene Buch „Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000“ von Hermann von Berg, Frank Loeser und Wolfgang Seiffert. Doch erst der nach Überwindung der Teilung ermöglichte Zugang zu bis dato verschlossenen Archiven erlaubte eine umfassende empirische Analyse des ökonomischen Desasters und des politischen Bankrotts der DDR. Alexandra Nepit hat mit „Die SED unter dem Druck der Reformen Gorbatschows. Der Versuch der Parteiführung, das SED-Regime durch konservatives Systemmanagement zu stabilisieren“ eine solch umfang-reiche Studie zur Thematik beigesteuert. Patrik von zur Mühlens Arbeit, „Aufbruch und Umbruch in der DDR. Bürgerbewegungen, kritische Öffentlichkeit und Niedergang der SED-Herrschaft“, ist ein Überblick über Zielsetzungen verschiedenster Bürgerrechtsgruppierungen der achtziger Jahre und zugleich eine Synthese sozio-ökonomischer Fakten und politisch-historischen Hintergründe.
Auch die Anzahl an Publikationen von direkt am Transformationsprozeß beteiligter Politiker, Schriftsteller und Widerständler erreicht eine unüberschaubare Dimension. Dabei ermöglicht Manfred Stolpes Buch „Schwieriger Aufbruch“ gleichermaßen eine Einsicht auf individuelle Systemerfahrungen und Vorstellungen, wie Günter Schabowskis „Abschied von der Utopie“ oder Friedrich Schorlemmers Werk „Bis alle Mauern fallen“. Die in Eckhard Jesses „Eine Revolution und ihre Folgen. 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz“ retrospektiv zu Wort gekommenen ehemaligen Dissidenten vermitteln ihrerseits nicht nur neue, differenzierte Einsichten, sondern auch ihre alte Meinungsheterogenität gegenüber dem Prozeß der Deutschen Wiedervereinigung. Über diese DDR-Opposition hat der Theologe und Wissenschaftler Erhart Neubert, mit dem Buch „Geschichte der Opposition 1949-1989“, Informationen zu 40 Jahren Widerstand gesammelt und zu einem umfangreichen Kompendium verarbeitet. Eine spezielle Sicht auf Gedankengänge und Dritte-Wegs-Konzeptionen von DDR-Widerständlern ermöglicht auch das von Ilko-Sascha Kowalczuk herausgegebene Sammelsurium politischer und zeitgenössischer Dokumente, „Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989“. Mittlerweile existiert eine Vielzahl an Publikation zum Zeitgeschehen, die aufgrund des engen formalen Rahmens jedoch unbenannt bleiben muß. Und dennoch bieten unerforschte Dokumente und Akten des MfS, auch im Zusammenhang mit der Operation „Rosenholz“, breiten Raum für weitere Aufklärungs- und Forschungsarbeit. Die für die vorliegende Arbeit verwendete Literatur kann nicht annähernd das Spektrum des vorhandenen Schrifttums wiedergeben, wobei für die getroffene Auswahl keine weitere Wertung vorgenommen werden soll.
„Wir wären von allen guten Geistern verlassen, wenn über den Umweg der Deutschlandpolitik sozialistische Vorstellungen eingebracht würden.“[2]
(Theo Waigel, 1989)
2. Die Chancen eines Dritten Weges - Die DDR 1989/90
2.1. Der Zusammenbruch
1989 waren Ost und West gleichermaßen unvorbereitet mit dem rasanten politischen Umbruch konfrontiert worden. Die Krisenerscheinungen des gesamten Ostblocks markierten jedoch nur den Endpunkt einer langen, dahinschleichenden Entwicklung stetig zunehmender Unzufriedenheit, deren Quintessenz nun eine Kettenreaktion war, die aufgrund fehlender struktureller Steuerungsinstrumentarien zum völligen Zusammenbruch des Systems führte.[3] In vier Jahrzehnten der Trennung hatten die Deutschen beiderseits der Grenze gelernt, sich auf bescheidene Ziele einzurichten. Es ging im wesentlichen nur mehr darum, den Menschen, denen politische Gestaltungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht gleichermaßen versagt blieben, das Leben zu erleichtern.[4] Bei den meisten Bürgern der Bundesrepublik war die Einsicht gewachsen, daß es zur Kooperation mit der DDR, auf Grundlage eines sich gegenseitigen Anerkennens, keine Alternative gab.[5] Während bundesdeutsche Politiker in den Jahren nach der Staatsgründung ernstgemeinte - im Gegensatz zur SED - Wiedervereini-gungspolitik betrieben, setzte der 1969 ins Amt gewählte Kanzler, Willy Brandt, mit einer amtlichen Neuausrichtung der offiziellen Regierungspolitik neue Akzente. Seine Deutschlandpolitik orientierte sich an dem Ziel, die Substanz der Nation in der Teilung zu erhalten, neue Verbindungen zu schaffen und alte Bindungen aufrechtzuerhalten. Diese Politik des „Wandel[s] durch Annäherung“ setzte grundsätzlich die Bereitschaft voraus, mit der Führungsriege in Pankow politische Kontakte aufzunehmen, Verträge abzuschließen und die DDR faktisch als zweiten deutschen Staat zu akzeptieren.[6]
In deren Folge hielt die SPD enge Kontakte zu den politisch Verantwortlichen in Ost-berlin, denn ein Wandel in der DDR sollte von den Machthabern selbst ausgehen. Und wäh-rend sich die CDU/CSU-Opposition anfangs heftig gegen die neue Maxime verwehrte, kam sie doch nicht umhin, diese nach der Regierungsübernahme 1982 selbst fortzusetzen. Um die Substanz der Nation zu erhalten war es vonnöten, aktive Beziehungen zur DDR zu suchen, deren Konstitution nicht durch eine zu harsche Wiedervereinigungsrhetorik gefährdet werden durfte. Um den Genossen keine verbale Steilvorlage für ihre antiimperialistische Agitation zu liefern, lag die Einheit der Nation bis ins Schicksalsjahr 1989 vorerst auf Eis.[7] Während dieser Zeit hatte auch Bundeskanzler Kohl keine aktive Politik zur Destabilisierung der Deutschen Demokratischen Republik betrieben.[8] Als der Lauf der Geschichte eine Einheit nun doch in greifbare Nähe rücken ließ, erschien das Festhalten der Bundesregierung an den Vorgaben der Grundgesetzpräambel als um so bemerkenswerter.[9] In der CDU war die politische Wende und die Aussicht auf Wiedervereinigung von Anfang an begrüßt worden,[10] während sich einige Amts- und Würdenträger der Sozialdemokratie, darunter auch Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder, zunächst verhalten bis ablehnend äußerten. Selbst SPD-Ikone Willy Brandt hatte die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten noch 1988 als „die Lebenslüge der Bonner Republik“ bezeichnet. Und dennoch unterschätzten Parteien jedweder Couleur die Rasanz, mit der sich der Verfallsprozeß der DDR fortsetzte. In den politischen Debatten zwischen No-vember bis Anfang Dezember 1989 setzte man weder in der BRD, noch in der DDR auf eine rasche Reunion, wenngleich der Druck der Straße, durch Parolen wie „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland einig Vaterland“, nach der Grenzöffnung zunehmend stärker wurde.[11]
Kohls Politik hatte Anfang November 1989 dazu beigetragen, daß die Opposition in der DDR offiziell zugelassen werden mußte. Seit 1984 hatte sich die Opposition, die sich fortan verstärkt Menschenrechtsfragen widmete, im Fahrwasser des Samisdat und unter der Ägide der evangelischen Kirche formiert.[12] Zu dieser Zeit hatte der Widerstand bereits ein Niveau erreicht, in dem verbale Attacken und Widerspruchshandlungen gegen das Regime, allein schon aufgrund ihrer schieren Menge, längst nicht mehr alle strafrechtlich verfolgt werden konnten.[13] Ein Novum der DDR-Geschichte gab es dann 1989. Bei den Kommunalwahlen vom 7. Mai konnten Bürgerrechtsgruppen den Machthabern Wahlfälschung nachweisen, wo-durch die in Selbstdisziplin unterdrückte Unzufriedenheit weiter Bevölkerungskreise zusätz-lichen Auftrieb erhielt. Schon im Vorfeld der Wahl war die Legitimität der SED zunehmend hinterfragt worden. Auch ihre demonstrative Unterstützung für die Niederschlagung der chi-nesischen Demokratiebewegung auf dem Tian’an men im Juni signalisierte der Bevölkerung, daß die SED zum eigenen Machterhalt entschlossen war. Ihr Ansehen schwand weiter.[14]
Seit Ende Juli 1989 begann ein Formierungsprozeß der Opposition, die sich der sich anbahnenden Krise der DDR bediente, mehr Öffentlichkeit anstrebte, sich programmatisch profilierte und die SED direkt herausforderte.[15] Das Zusammenspiel zwischen Opposition, Ausreisewelle und Demonstrationsbewegung bewirkte Anfang Oktober, daß die Partei ur-sprünglichen Absichten zur gewaltsamen Niederschlagung aufgeben mußte. Als im November 1989 der Demokratisierungsprozeß irreversibel und die deutsche Frage zum beherrschenden Thema wurde, waren alle politischen Kräfte bemüht, sich innerhalb der veränderten politischen Lage neu zu orientieren.[16]
Die Bundesregierung hatte sich zwar kurzfristig bereit gezeigt, Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung der DDR einzuleiten, doch war Kohl im Gegensatz zur SPD nicht gewillt, die Deutsche Demokratische Republik dauerhaft ohne grundlegenden Systemwechsel zu stabili-sieren.[17] Am 28. November verkündete der Kanzler einen 10-Punkte-Plan, der als Übergangs-stadium zur Bildung einer Konföderation beider deutscher Staaten gedacht war. Dieser Vor-stoß handelte ihm viel Ärger ein und auch die Regierung des am 13. November 1989 neu gewählten Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow, reagierte abwehrend und be-zeichnete den Plan als „Mißachtung der Realitäten“.[18] Modrow wollte die Deutsche Demo-kratische Republik im Machtbereich der Sowjetunion halten, während Bonn im Rahmen einer Konföderation lediglich helfen sollte, den Staat politisch zu stabilisieren und die marode staatseigene Wirtschaft zu sanieren. Modrows Modell einer „Vertragsgemeinschaft“ ging ebenso wie Helmut Kohls 10-Punkte-Plan von einer längeren Übergangszeit aus, in der sich die DDR politisch und ökonomisch konsolidieren sollte, um sich dann irgendwann auf Basis völkerrechtlicher Gleichberechtigung zur Wiedervereinigung einzufinden.[19] Zwar ging auch Gorbatschow noch Anfang 1990 davon aus, daß die DDR weiter bestehen und ein Alliierter der Sowjetunion bleiben würde, doch diktierten mittlerweile die Massen auf den Straßen das offizielle Geschehen und die Berufspolitiker beider Lager waren gleichermaßen bestrebt, die keineswegs ungefährliche emotionale Spannung des Volkes aufzufangen.[20]
2.2. Der Wille zur Einheit
Bundesfinanzminister Waigel (CSU) hatte sich frühzeitig für erhebliche finanzielle Transfers ausgesprochen, diese jedoch an die Bedingung marktwirtschaftlicher Reformen gekoppelt. Bundeskanzler Kohl bot der neuen DDR-Führung in seinem Bericht zu Lage der Nation am 8. November an, ihr bei der Umsetzung der Reformen zu helfen. Er sagte: „Wenn es einen wirklichen Reformprozeß gebe, werde man sogar „eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung“ für die DDR erwägen.“[21] Eine Sanierung der DDR-Ökonomie konnte jedoch nur auf Grundlage einer umfassenden Öffnung für privates Kapital geschehen. Für dieses Ansinnen sollte sich die Partnersuche der CDU im Osten zunächst noch schwierig gestalten, da diese Strategie wenig Kongruenz zu den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der öst-lichen Opposition aufwies.[22]
[...]
[1] Hervorhebungen im Original; Vgl. Schorlemmer, Friedrich: Bis alle Mauern fallen. Texte aus einem verschwundenen Land, Berlin 1991, S. 10.
[2] Zitiert nach: Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 899.
[3] Vgl. Grunenberg, Antonia: „Ich finde mich überhaupt nicht mehr zurecht...“. Thesen zur Krise in der DDR-Gesellschaft, in: Blanke, Thomas/ Erd, Rainer (Hrsg.): DDR - Ein Staat vergeht, Frankfurt am Main 1990, S. 171-182, S. 172.
[4] Vgl. Stolpe, Manfred: Schwieriger Aufbruch, Berlin 1992, S. 177.
[5] Vgl. Korte, Karl-Rudolf: Das vereinte Deutschland. 1989/90-2001, Erfurt 2002, S. 6.
[6] Vgl. Stolpe, Manfred: a. a. O., S. 177.
[7] Ebd., S. 178.
[8] Vgl. Korte, Karl-Rudolf: a. a. O., S. 6.
[9] Ebd.
[10] Vgl. Neubert, Erhart: a. a. O., S. 899.
[11] Vgl. Blanke, Thomas: Einleitung, in: Blanke, Thomas/ Erd, Rainer (Hrsg.): a. a. O., S. 7-22, S. 15.
[12] Vgl. Neubert, Erhart: a. a. O., S. 499.
[13] Ebd., S. 501-502.
[14] Vgl. Korte, Karl-Rudolf: a. a. O., S. 6.
[15] Etwa seit Anfang November 1989 organisierten sich Oppositionelle in Bürgerbewegungen wie dem „Neuen Forum“ oder „Demokratie jetzt“, in politischen Vereinigungen wie dem „Demokratischen Aufbruch“, der „Vereinigten Linken“ oder in der „Sozialdemokratischen Partei“, die nun allesamt aus dem Schatten kirchlicher Obhut ins Licht der Öffentlichkeit drängten. Vgl. Neubert, Erhart: a. a. O., S. 825.
[16] Ebd., S. 825-826.
[17] Ebd., S. 899.
[18] Hervorhebung im Original; Vgl. Lindner, Bernd: Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, Bonn 1998, S. 129-130.
[19] Vgl. Blanke, Thomas: a. a. O., S. 15.
[20] Vgl. Stolpe, Manfred: a. a. O., S. 181-182.
[21] Hervorhebung im Original; Zitiert nach: Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2002, S. 354.
[22] Vgl. Neubert, Ehrhart: a. a. O., S. 899-900.
- Arbeit zitieren
- Michael Vollmer (Autor:in), 2004, Wiedervereinigung oder Dritter Weg? - Die DDR 1989/90, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36658
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