EINLEITUNG
Unter Berufung auf Max Webers Rationalisierungstheorie hat der deutsche Historiker Gerhard Oestreich (1910 – 1978) in den späten 1960er Jahren die Frühe Neuzeit als eine Epoche der „Sozialdisziplinierung“ charakterisiert, an deren Ende die Lebensführung eines jeden Untertanen nahezu vollständig den rigorosen Normen der neuen territorialstaatlichen Policeygesetze unterworfen worden sei. Aus dem Arsenal der herrschaftlichen Implementierungsmaßnahmen habe wiederum besonders die verschärfte strafrechtliche Sanktionierung von abweichenden Verhaltensweisen dazu beigetragen, dass der sich ab dem 16. Jahrhundert herausbildende „Polizei- und Ordnungsstaat“ vorrangig die untersten Schichten der Bevölkerung dauerhaft zu einem gottesfürchtigen und obrigkeitskonformen Lebenswandel zu erziehen vermochte.1 Auf den folgenden Seiten soll nun erörtert werden, ob dieses lineare Disziplinierungskonzept auch einer kriminalitätsgeschichtlichen Überprüfung standhält.
Als ein Zweig der allgemeinen Sozialgeschichte befasst sich die historische Kriminalitätsforschung mit der Untersuchung devianten Verhaltens in der Vergangenheit, wobei ihre Aufmerksamkeit vor allem den Spannungen zwischen „Normen, Instanzen und Medien sozialer Kontrolle“ auf der einen und „gesellschaftlichen Handlungsdeterminanten und sozialen Lagen“ auf der anderen Seite gilt. Zugleich dient ihr das variable soziokulturelle Konstrukt „Kriminalität“ als ein wesentlicher Indikator zur Ermittlung von gesamtgesellschaftlichen Zuständen und geschichtlichem Wandel.
Angeregt durch entsprechende Arbeiten englischer bzw. französischer Sozialhistoriker hat seit Anfang der 1990er Jahre auch die deutsche Kriminalitätsgeschichtsforschung ihre einstige „Staatszentriertheit“ zunehmend abgestreift und sich stattdessen verstärkt kultur- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen zugewandt. Ihre bisher veröffentlichten, erstmals insbesondere auf der Auswertung von Gerichtsakten basierenden Studien über einzelne Regionen, Territorien, Städte oder Gemeinden gewähren mittlerweile immerhin einige exemplarische Einblicke in die Kriminalitätsgeschichte des Alten Reiches.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Grundprobleme staatlicher Normdurchsetzung vom 16. bis 18. Jahrhundert
- Justiznutzungen und Fahndungsalltag während der Frühen Neuzeit
- Gerichtspraxis und Strafvollzug im Alten Reich: Ein „Theater des Schreckens“?
- Ausgleich und Repression
- Vollstreckung der Sanktionen
- Strafen mit zweierlei Maß
- Schluss
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit zielt darauf ab, das Konzept der „Sozialdisziplinierung“ in der Frühen Neuzeit, wie es von Gerhard Oestreich geprägt wurde, anhand der Kriminalitätsgeschichte zu überprüfen. Im Fokus steht die Frage, ob die Verschärfung strafrechtlicher Sanktionen tatsächlich zu einer effektiven Untertanendiziplinierung geführt hat.
- Die strukturellen Schwächen frühneuzeitlicher Staatlichkeit und die Herausforderungen der Normdurchsetzung
- Die Praxis der Justiznutzung und Fahndung im Alltag der Frühen Neuzeit
- Die Gerichtspraxis und der Strafvollzug im Heiligen Römischen Reich im 16. bis 18. Jahrhundert
- Die Rolle von „Ausgleich“ und „Repression“ im Strafvollzug
- Die Bedeutung des „Theaters des Schreckens“ für die Untertanendiziplinierung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema „Untertanendiziplinierung“ und die historische Kriminalitätsforschung ein. Sie stellt Oestreichs These der „Sozialdisziplinierung“ vor und problematisiert deren Relevanz für die kriminalitätsgeschichtliche Forschung.
Das erste Kapitel befasst sich mit den grundlegenden Schwierigkeiten bei der Durchsetzung staatlicher Normen in der Frühen Neuzeit. Es werden die strukturellen Schwächen des Staates und die fehlenden Voraussetzungen für einen reibungslosen Vollzug staatlicher Policeyvorschriften erörtert.
Kapitel 2 beleuchtet den Fahndungsalltag und die Justiznutzung durch die Untertanen. Es wird auf die Komplexität des Verhältnisses zwischen Obrigkeit und Untertanen und die Bedeutung von „Suppliken“ eingegangen.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der Gerichtspraxis und dem Strafvollzug im Heiligen Römischen Reich. Es werden die unterschiedlichen Formen von Strafen und ihre Auswirkungen auf die Untertanen sowie die Bedeutung des „Theaters des Schreckens“ analysiert.
Schlüsselwörter
Die Arbeit behandelt zentrale Themen der frühneuzeitlichen Geschichte, insbesondere die Entwicklung des Staates, die Durchsetzung von Normen, die Kriminalitätsgeschichte und die Sozialdisziplinierung. Wesentliche Schlüsselbegriffe sind „Policey“, „Suppliken“, „Strafvollzug“, „Gerichtspraxis“, „Theater des Schreckens“, „Untertanendiziplinierung“ und „Kriminalitätsgeschichte“.
- Quote paper
- Arndt Schreiber (Author), 2005, Untertanendisziplinierung durch weltliche Strafjustiz? Zur Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36581