Wie brutal der Alltag sein kann, der gleichzeitig doch so normal ist, bringt „Böse Zellen" von Barbara Albert zum Ausdruck. “The people in Albert´s „Free Radicals“[...] must cope with boundless grief”, schreibt Sylviane Gold und dass der Film eben düster scheint – ob er es nun ist oder nur so wahrgenommen wird bleibt bis dahin noch ungeklärt - bringt selbst diese Kritik von Erwin Heberling zum Ausdruck: „Dass der Film nicht so düster ist, wie es scheinen mag, hat viel mit der Musik zu tun, der Barbara Albert viel Raum gewährt.“ „Böse Zellen“ ist ein sehr vielschichtiger Film, der in mehreren Kritiken auch als überladen bezeichnet wurde. Zwischenmenschliche Abhängigkeiten und Einsamkeit, Chaos und Ordnung, Religion und Jenseits, Todesangst, Schuld und Verantwortung und die Suche des Glücks in der Konsumgesellschaft gehören unter anderem zu den nebeneinander existierenden, zentralen Themen des Filmes.
Doch was verwundert und erschrickt ist die Wirkung, die „Böse Zellen“ hinterlässt. Ohne den Film einer vorschnellen Wertung oder Analyse unterziehen zu wollen, wird das Gefühl bestärkt, dass die „Grausamkeit“ der Realität im Film eigentlich die wirkliche Realität darstellt. Oder wie Peter Claus formuliert: „Die verschachtelten, kargen Momentaufnahmen ganz gewöhnlichen Lebens sind von einer Klarheit, die einen frösteln lässt.“ Das dumpfe, traurige Gefühl und der Eindruck, dass Grausamkeit der wirkliche Alltag ist, mit dem viele Menschen viele Jahre ihres Lebens leben, lässt den Film zur Realität werden, auch wenn die Häufung von Schicksalsschlägen nicht immer den normalen Alltag ausmacht.
Die Hausarbeit versucht zu klären, wie diese Wirkung bei „Böse Zellen“ mit filmstilistischen Mitteln im Zusammenhang mit seiner Thematik erzeugt wird. Dabei werden die verschiedenen Aspekte und Themen des Films hauptsächlich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und nicht im Einzelnen untersucht. Der neoformalistische Ansatz dient dabei als Grundlage der Analyse. Zudem wird die Frage nach der Zuschauerrezeption im Zusammenhang mit dem sozialen Statutes angerissen, die Frage nach dem „typisch Österreichischen“ aufgeworfen und zu einem Fazit übergeleitet.
Gliederung:
1. Leben wir nicht alle einen Film
2. Neoformalismus – Entstehung und Begriffsdefinition
2.1 Ein Ansatz
2.2 Die Bedeutung des Zuschauers
2.3 Schlüsselkonzepte
3. Sequenzanalyse
4. Die Zuschauerfrage oder inwiefern der soziale Status eine Rolle spielt
5. Die Frage nach der „Austriazität“ bei Böse Zellen
6. Fazit
7. Anhang
8. Literaturverzeichnis
„Ich wollte nicht schockieren. Ich wollte, dass „Böse Zellen“ fast hyperrealistisch ist, dass man wirklich etwas spürt. Für mich sind das Normalitäten. Wenn du dir überlegst, was so passiert – das ist ja oft nicht zu glauben, weil es so heftig ist. Jeder kennt jemanden, der bei einem Autounfall gestorben ist. Ein Film macht alles geballter Form, und in „Böse Zellen“ wird das noch gesteigert, weil es so viele Erzählstränge gibt.“
Barbara Albert[1]
1. Leben wir nicht alle einen Film?
Frau S. hängt an einem Mittwochmorgen die Strümpfe auf die Wäscheleine, fährt danach zum nächstgelegenen Shoppingcenter und sitzt abends mit ihrem Mann vor dem Fernseher. Die Situation, wie sie sich hier abspielt, würde man wahrscheinlich wohl mit Alltagsleben, Realität oder auch Normalität bezeichnen.[2]
Wie brutal dieser Alltag jedoch sein kann, der gleichzeitig doch so normal ist, bringt Böse Zellen von Barbara Albert zum Ausdruck. Denn „So drückend liegt eine Wolke aus Angst, Einsamkeit, Bedrohung und Ausgesetztheit über allen, dass es einem fast den Atem nimmt.“[3] “The people in Albert´s „Free Radicals“[...] must cope with boundless grief”, schreibt Sylviane Gold dazu[4] und dass der Film eben düster scheint – ob er es nun ist oder nur so wahrgenommen wird bleibt bis dahin noch ungeklärt - bringt selbst diese Kritik zum Ausdruck: „Dass der Film nicht so düster ist, wie es scheinen mag, hat viel mit der Musik zu tun, der Barbara Albert viel Raum gewährt.“[5] „Böse Zellen“ ist ein sehr vielschichtiger Film, mit „traurigen Einzelepisoden, die den Blick auf das trostlose Ganze ermöglichen“[6] und der in mehreren Kritiken auch als überladen bezeichnet wurde. Zwischenmenschliche Abhängigkeiten und Einsamkeit, Chaos und Ordnung, Religion und Jenseits, Todesangst, Schuld und Verantwortung und die Suche des Glücks in der Konsumgesellschaft gehören unter anderem zu den nebeneinander existierenden, zentralen Themen des Filmes.
Doch was verwundert und erschrickt ist die Wirkung, die „Böse Zellen“ hinterlässt. Ohne den Film einer vorschnellen Wertung oder Analyse unterziehen zu wollen, wird das Gefühl bestärkt, dass die „Grausamkeit“ der Realität im Film oder auch „die Düsternis, die über dem Alltag schwebt“[7] eigentlich die wirkliche Realität darstellt. „Die verschachtelten, kargen Momentaufnahmen ganz gewöhnlichen Lebens sind von einer Klarheit, die einen frösteln lässt.“[8] Das dumpfe, traurige Gefühl und der Eindruck, dass Grausamkeit der wirkliche Alltag ist, mit dem viele Menschen viele Jahre ihres Lebens leben, lässt den Film zur Realität werden, auch wenn die Häufung von Schicksalsschlägen nicht immer den normalen Alltag ausmacht.
Die Hausarbeit versucht zu klären, wie diese Wirkung bei „Böse Zellen“ mit filmstilistischen Mitteln im Zusammenhang mit seiner Thematik erzeugt wird. Dabei werden die verschiedenen Aspekte und Themen des Films hauptsächlich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und nicht im Einzelnen untersucht. Der neoformalistische Ansatz dient dabei als Grundlage der Analyse. Zudem wird die Frage nach der Zuschauerrezeption im Zusammenhang mit dem sozialen Statutes angerissen, die Frage nach dem „typisch Österreichischen“ aufgeworfen und zu einem Fazit übergeleitet.
2. Neoformalismus - Entstehung und Begriffsdefinition
Neoformalismus leitet sich von Formalismus ab, einer Strömung in der Literaturwissenschaft zwischen 1913 – 1939, die in Russland begründet worden ist. Als eine abwertende, beleidigende Bezeichnung seitens der Marxisten dieser formalistischen Literaturperiode gekennzeichnet, wurde sie wieder „neu“ aufgegriffen und während der Neoformalismus im engsten Sinne ein Beschränkung auf die Arbeiten von Bordwell und Thompson ist, bevorzugt Bordwell eher den Begriff „historische Poetik des Films“. Somit kann der Begriff auch als Sammelbegriff für Arbeiten mit verwandten Zugängen von z.B. Noël Carrol, Edward Branigan oder Rick Altmann stehen.[9]
Der Neoformalismus bezieht sich im Unterschied zu anderen filmwissenschaftlichen Theorien ausschließlich auf den Film, versucht das Spezifische und den formal-ästhetischen Bezugsrahmen zu erfassen und nimmt den Film als Kunst wahr. Auch wird Neoformalismus von Bordwell und Thompson nicht als umfassende Filmtheorie oder filmanalytische Methode aufgefasst. „Neoformalism […] is thus not a general theory of film, let alone a Grand one. Nor is it, once again, a method.“[10] Vielmehr ist es ein Ansatz, von dem ausgehend spezifische, dem einzelnen Film und den einzelnen Fragestellungen angemessene Methoden abgeleitet werden können.
Der Ansatz ist stark umstritten, dennoch weist er eine große Kohärenz und Konsistenz auf, bezieht verschiedenste film-, literatur- und kunsthistorische Entwürfe mit ein und hat den Anspruch Filmtheorie, Filmanalyse und Filmgeschichte im Zusammenhang zu betrachten.
2.1 Ein Ansatz
Bordwell fragt: „How do the various parts relate to one another to create a whole? Answering these questions will help us understand how we respond to individual movies and how cinema works as an artistic medium.”[11] Der Neoformalismus versucht die formalen Charakteristika eines Films zu untersuchen und sich somit zum filmästhetischen Material hinzuwenden, die Verarbeitungsprozesse des Rezipienten zu analysieren und zu verstehen und gleichzeitig den geschichtlichen Kontext mit einzubeziehen.
2.2 Die Bedeutung des Zuschauers
Was sein Zuschauerkonzept betrifft steht Bordwell als Kognitivist[12] in seiner Theorie dem psychoanalytischen Konzept fern, ohne sein eigenes Modell jedoch empirisch abgesichert zu haben. „As the viewer watches the film, she or he picks up cues, recalls information, anticipates what will follow, and generally participates in the creation of the film´s form.“[13] Der Rezipient sucht demnach im Film aktiv nach bestimmten Hinweisen, die so genannten „cues“, und reagiert auf diese „cues“ mit „viewing skills“, was man mit Wahrnehmungsfähigkeiten übersetzen könnte, die er im Alltagsleben im Umgang mit anderen Kunstwerken erworben hat.
„Wenn wir also einen künstlerischen Film sehen, nehmen wir ihn in seinem spezifischen Unterschied zur Realität, zu anderen Kunstwerken und zum praktischen Gebrauch wahr. Der Gegenstand der Analyse eines Films ist dessen Festhalten an und das Abweichen von solchen Hintergrundnormen, und der durch die Hintergründe bereitgestellte historische Kontext liefert die cues für die Entwicklung einer angemessenen Methode.“[14]
Daraus schließen „die“ Neoformalisten, dass die Interaktion zwischen den formalen Strukturen des Werks und den mentalen Verarbeitungsprozessen für die Analyse und das Verständnis eines Filmes von zentraler Bedeutung ist. Somit haben bestimmte formale Elemente, wie z.B. die Kameraeinstellung, keine bereits zugeschriebene Bedeutung und sind mitunter abhängig von der Erfahrung des Rezipienten, der seinerseits zur Wirkung des Filmes beiträgt und der vom Neoformalismus nicht als passives „Subjekt“ betrachtet wird, sondern aktiv mitwirkt.[15]
2.3 Schlüsselkonzepte
Wie bereits erläutert hatten die russischen Formalisten[16] einen großen Einfluss auf den Ansatz der Neoformalisten, was zur Folge hatte, dass mehrere Konzepte etwas abgewandelt übernommen worden sind.
Das erste Konzept stellt das „Verfahren“ dar, was soviel bedeutet wie jedes Element oder jede Struktur, die im Kunstwerk eine Rolle spielen, wie z.B. eine Kamerabewegung, eine Rahmenhandlung, Wiederholung eines Wortes, Kostüm usw.
Es spielen die Funktion und die Motivation des Verfahrens eine Rolle, wobei der Zweck hinterfragt werden muss und die Begründung für das Auftreten eines Verfahrens geliefert werden soll. Dabei ist der Kontext, in dem die Verfahren verwendet werden von zentraler Bedeutung und ist als Hauptaufgabe der Analyse zu ermitteln.
Das zweite Konzept stellt das narratologische Modell (Fabel/Sujet) dar und ist eine Methode zur Analyse von Erzählungen. Während die Fabel[17] die abstrakte Struktur darstellt, über die der Zuschauer durch Wissen über Handlungsschemata verfügt, stellt das Sujet die Anordnung, Auswahl und Bearbeitung der Story-Ereignisse da und ist „im wesentlichen die Kette aller kausal wirksamen Ereignisse, wie wir sie im Film selbst zu sehen und zu hören bekommen.“[18] Der Zuschauer stellt dieses Ereignisse mental um und ordnet sie zu einer chronologischen Reihenfolge, was dann wieder die Fabel ergibt.
Zum einen beschreibt dieses Konzept den künstlerischen Akt des Filmemachers, nämlich inwiefern er den Handlungsverlauf mit filmischen Mitteln gestaltet, zum anderen kann auf die Verstehensprozesse des Zuschauers eingewirkt werden, je nachdem wie die Geschichten und die Stellung der Szenen gewählt werden.
Das dritte Konzept ist das Konzept der Verfremdung oder auch „Ostranenie“ genannt. Während der historische Kontext uns immer wieder „cues“ für das Verständnis des Films und dieser den „background of conventions“ liefert, gibt es auch immer wieder Abweichungen von bestehenden Normen und Konventionen, die bei einem Einzelwerk anhand seiner historischen Reihe immer überprüft werden müssen.
Der/Die ZuschauerIn verfügt über einen Hintergrund und zahlreiche erlernte Schemata, die während der Filmrezeption genutzt werden, um kontinuierlich Hypothesen über die verwendeten Verfahren zu bilden. Diese Schemata können sich ändern und so werden z.B. durch neu verwendete Verfahren unsere Erfahrungen und unsere Sehgewohnheiten stärker herausgefordert.
Doch auch dieses Konzept wird von Kessler zwar als „vielfältig einsetzbares Konzept“ beschrieben, gleichzeitig aber als zu „vielseitig“ beschrieben, „um auf wirkliche systematische Weise verwendet werden zu können.“[19]
[...]
[1] Albert, Barbara in einem Interview mit Hermes, Manfred in: Die Tageszeitung, 01.04.2004, S. 17
[2] Eine eindeutige Definition dieser Begriffe wäre im Rahmen dieser Hausarbeit nicht möglich gewesen, da die Autorin es sich vorbehalten hat, ihren Schwerpunkt auf die neoformalistische Sequenzanalyse zu setzen. Es wird von einem allgemeinen Verständnis dieser Begriffe ausgegangen.
[3] Kritik von Steiner, Ulrike auf
www.nachrichten.at/kultur/kino/228158?PHPSESSID=929c07f689095504d230e9eadf2d603e6
[4] Kritik von Gold, Sylviane in: New York Times, 18.07.2004, S. 46
[5] Kritik von Heberling, Erwin auf http://www.programmkino.de/ABCD/A_Hard_Days_Night/Ausser_Atem/Ahnungslosen/About_a_Boy/All_or _Nothing/About_Schmidt/Autofocus/Amores_Pissiveis/Before_Night_Falls/Bose_Zellen/bose_zellen.html
[6] Kritik von Hering, Tobias auf http://www.freitag.de/2004/15/04151201.php
[7] Vgl. hierzu Kritik von Claus, Peter auf http://morgenpost.berlin1.de/archiv2004/040401/film/story669473.html
[8] ebd.
[9] Vgl. Kapitel 2 mit Hartmann, Britta u. Wulff, Hans J.: „Neoformalismus – Kognitivismus – Historische Poetik
des Kinos“. In: Moderne Film Theorie. Hg. von Jürgen Felix, Mainz: Bender Verlag, 2002, S.191-221
[10] Bordwell, David auf www.geocities.com/david_bordwell/historicalpoet.htm
[11] Bordwell, David u. Kristin Thompson: FilmArt. An Introduction. McGraw-Hill: The McGraw-Hill Companies, fünfte Auflage, 1997 S.64
[12] Bordwell geht vom bewussten rationalen Operationen eines denkenden Ichs aus und versucht zu klären, was der Zuschauer mit dem Film macht und wie der Film strukturiert wird, damit er verstanden wird. Hingegen wird bei der Psychoanalytischen Theorie der Zuschauer durch unbewusste Faktoren determiniert und deshalb sind psychische, ideologische und geschlechtsspezifische Effekte des Film von einem besonderen Interesse sowie die Frage, was der Film mit dem Zuschauer macht.
[13] Bordwell und Thompson, 1997, S. 90
[14] Thompson, Kristin: „Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden.“ In: montage/av, 4/1/1995,
S. 41 (Herv.i.O.)
[15] Vgl. ebd. S. 45
[16] Die Schule der Literaturwissenschaft erkannte in der Dichtkunst nur sprach- und formanalytische Kriterien an und psychologische, ideologische, politische und theologische Gesichtspunkte wurden nicht berücksichtigt. Es sollten die Besonderheiten der poetischen Sprache gegenüber der Alltagssprache herausgearbeitet werden und die ästhetischen Strukturen sollten gegen die Routinen des Alltagslebens wirksam werden. Gründe der Ablehnung auf seiten der marxistisch-leninistischen Kunsttheorie waren die Verneinung der gesellschaftlich, erzieherischen Aufgabe der Kunst sowie die sinnentleerte Gestaltungsweise.
[17] ‚Fabula’ bedeutet soviel wie Story.
[18] Thompson, 1995, S.55
[19] Kessler, Frank: „Oestranie. Zum Verfremdungsbegriff von Formalismus und Neoformalismus.“ In: montage/av, 5/2/1996, S.63
- Quote paper
- Katharina Papke (Author), 2004, Die Grausamkeit des Alltags. Wirkung des Films "Böse Zellen" und dessen Verstärkung durch filmstilistische Mittel. Eine neoformalistische Sequenzanalyse., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36504
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