EINLEITUNG
Eine bedeutende Zeitepoche für die Entstehung des deutschen Bildungssystems war das erste Drittel des 19. Jahrhunderts. Hier wurden aufbauend auf den Entwicklungen im späten 18. Jahrhundert die Weichen für das heutige Bildungswesen gestellt. In der Zeit der preußischen Reformära, wie auch im nachfolgenden Zeitalter der Restauration wurden zahlreiche Reformen zur Modernisierung des preußischen Staates in Angriff genommen – und dies nicht nur im Bereich des preußischen Schulwesens. Nach dem Zusammenbruch des alten Reiches im Jahre 1806 erschien eine grundlegende Reformierung des überkommenen Staats- und Gesellschaftssystems dringend erforderlich. Triebkräfte waren liberale Staatsbeamte, die sich von der Erneuerung des Schulwesens als einem bedeutenden gesellschaftlichen Teilbereich positive Impulse für das gesamtstaatliche bzw. gesamtgesellschaftliche Reformprojekt versprachen. Im Rahmen dieser Hausarbeit steht überwiegend die Realgeschichte im Vordergrund. Nur vereinzelt wird bei Bedarf und zum besseren Verständnis auf die Ideengeschichte oder auf programmatische Entwicklungen verwiesen. Kapitel 2 dient als Einstieg in die Thematik und beschreibt Entwicklungstendenzen in der Gesellschaft um 1800. Auf dieser Grundlage wird anschließend die Bedeutung und Intention der preußischen Schulreformen erörtert. Dabei soll verständlich werden, warum die Reformen insbesondere nach 1806 notwendig bzw. möglich wurden und in welcher Weise sich die Schulreformen in das gesamte Reformenbündel einfügten. Darüber hinaus steht die weitere Entwicklung der Reformbewegung im Mittelpunkt, wobei die Hintergründe für die Kontinuität dieser Bewegung in der konservativen Phase verdeutlicht werden. Kapitel 4 und 5 bilden den Schwerpunkt dieser Arbeit. Zunächst werden die eigentlichen preußischen Schulreformen auf der Ebene der Schulverwaltung und im höheren Schulwesen sowie die Entwicklungen im niederen Schulwesen beschrieben. Die Beschreibung des Entwicklungsprozesses sowie der einzelnen Schulverordnungen und Edikte konzentriert sich hauptsächlich auf die Zeit der Reformära, wobei aufgrund der kontinuierlichen Entwicklung auch auf die Zeit der nachfolgenden konservativen Phase Bezug genommen wird. Darauf aufbauend geht es in Kapitel 5 darum, die von den Schulreformen bewirkten bzw. verstärkten gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, die teilweise bereits im einführenden Kapitel 2 zur Sprache kamen, zu untersuchen...
INHALT
1. Einleitung
2. Die Gesellschaft im Umbruch – Entwicklungstendenzen um 1800
3. Die Bedeutung und Intention der preußischen Schulreformen
3.1 Die Schulreformen in der preußischen Reformära
3.2 Die weitere Entwicklung der Reformbewegung
4. Regelungen und Entwicklungen im Schulwesen
4.1 Entwicklungen in der Schulverwaltung
4.2 Entwicklungen im niederen Schulwesen
4.3 Reformen im höheren Schulwesen
5. Gesellschaftliche Auswirkungen der Schulreformen
5.1 Auswirkungen auf die institutionelle Entwicklung des Schulsystems
5.2 Auswirkungen für die Lehrkräfte des Schulwesens
5.3 Wertewandel und Veränderung der gesellschaftlichen Sozialstruktur
5.4 Auswirkungen auf die allgemeine Volksbildung
6. Schlussbemerkung
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Eine bedeutende Zeitepoche für die Entstehung des deutschen Bildungssystems war das erste Drittel des 19. Jahrhunderts. Hier wurden aufbauend auf den Entwicklungen im späten 18. Jahrhundert die Weichen für das heutige Bildungswesen gestellt. In der Zeit der preußischen Reformära, wie auch im nachfolgenden Zeitalter der Restauration wurden zahlreiche Reformen zur Modernisierung des preußischen Staates in Angriff genommen – und dies nicht nur im Bereich des preußischen Schulwesens. Nach dem Zusammenbruch des alten Reiches im Jahre 1806 erschien eine grundlegende Reformierung des überkommenen Staats- und Gesellschaftssystems dringend erforderlich. Triebkräfte waren liberale Staatsbeamte, die sich von der Erneuerung des Schulwesens als einem bedeutenden gesellschaftlichen Teilbereich positive Impulse für das gesamtstaatliche bzw. gesamtgesellschaftliche Reformprojekt versprachen.
Im Rahmen dieser Hausarbeit steht überwiegend die Realgeschichte im Vordergrund. Nur vereinzelt wird bei Bedarf und zum besseren Verständnis auf die Ideengeschichte oder auf programmatische Entwicklungen verwiesen. Kapitel 2 dient als Einstieg in die Thematik und beschreibt Entwicklungstendenzen in der Gesellschaft um 1800. Auf dieser Grundlage wird anschließend die Bedeutung und Intention der preußischen Schulreformen erörtert. Dabei soll verständlich werden, warum die Reformen insbesondere nach 1806 notwendig bzw. möglich wurden und in welcher Weise sich die Schulreformen in das gesamte Reformenbündel einfügten. Darüber hinaus steht die weitere Entwicklung der Reformbewegung im Mittelpunkt, wobei die Hintergründe für die Kontinuität dieser Bewegung in der konservativen Phase verdeutlicht werden. Kapitel 4 und 5 bilden den Schwerpunkt dieser Arbeit. Zunächst werden die eigentlichen preußischen Schulreformen auf der Ebene der Schulverwaltung und im höheren Schulwesen sowie die Entwicklungen im niederen Schulwesen beschrieben. Die Beschreibung des Entwicklungsprozesses sowie der einzelnen Schulverordnungen und Edikte konzentriert sich hauptsächlich auf die Zeit der Reformära, wobei aufgrund der kontinuierlichen Entwicklung auch auf die Zeit der nachfolgenden konservativen Phase Bezug genommen wird. Darauf aufbauend geht es in Kapitel 5 darum, die von den Schulreformen bewirkten bzw. verstärkten gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, die teilweise bereits im einführenden Kapitel 2 zur Sprache kamen, zu untersuchen.
Die vorliegende Arbeit liefert damit einen Überblick über die Entwicklung des Schulwesens im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die gesellschaftlichen Auswirkungen, die von den Veränderungen im Schulwesens bewirkt bzw. verstärkt werden, sind über diese Zeit hinausgehend relevant. So kommt beispielsweise der entstehenden Klasse des Bildungsbürgertums im gesamten 19. Jahrhundert eine wesentliche Bedeutung zu.
2. Die Gesellschaft im Umbruch – Entwicklungstendenzen um 1800
Die preußische Gesellschaft um die Jahrhundertwende war eine Gesellschaft, in der erste Entwicklungstendenzen einen Umbruch des gesellschaftlichen Gefüges andeuteten. Es war eine Übergangsphase, in der traditionelle und moderne Elemente nebeneinander existierten und sich rivalisierend gegenüber standen.[1] Die Entwicklungstendenzen und der sich abzeichnende gesellschaftliche Wandel lassen sich in den Bereichen der Politik, der Wirtschaft, der sozialen Ordnung und der Kultur verfolgen. Diese gesellschaftlichen Teilbereiche dienen dazu, den umfassenden Begriff Gesellschaft einzugrenzen und auf analytischer Ebene zu untersuchen, ohne dass dabei von einer realen Trennung der Bereiche ausgegangen wird.[2] Vielmehr sind die einzelnen Teilbereiche interdependent und beeinflussen sich wechselseitig. Im Folgenden soll ein knapper Überblick über die Entwicklungstendenzen in den gesellschaftlichen Teilbereichen gegeben werden, wobei neben dem politischen und wirtschaftlichen System, die soziale Ordnung sowie das Bildungswesen als bedeutender Bestandteil des kulturellen Bereiches im Vordergrund stehen.
Der spätabsolutistische Staat um 1800 verkörperte keinesfalls ein uneingeschränkt absolutistisches Regime, in dem alle Herrschaft vom Monarchen ausging. Vielmehr ist ein Pluralismus konkurrierender Kräfte charakteristisch für die Machtverhältnisse der damaligen Zeit. Fürsten, Grundherren, halbautonome Städte und Kirchen bildeten diverse nichtstaatliche Machtzentren. Ein Hauptziel der entstehenden staatlichen Bürokratie war es, die einzelnen Sondergewalten des Adels, der Stadtverwaltungen und der Kirche zu beschränken, um den neu entstehenden Staat als zentralisierte Verwaltungs- und Steuerungseinheit zu organisieren und einen einheitlichen Staatsuntertanenverband zu schaffen. Die zahlreichen staatlichen Interventionsmaßnahmen stießen jedoch auf enormen Widerstand der Privilegienbesitzer und konnten sich nur vereinzelt durchsetzen.[3] Insbesondere die zunehmende Öffnung und Erweiterung der Märkte für kapitalistisches Wirtschaften erforderte eine Rationalisierung der Regeln bzw. eine juristische Verkehrssicherheit innerhalb einer staatlich garantierten Rechtsordnung, die durch die Monopolisierung der staatlichen Kräfte erreicht werden sollte.
Auch der entstehende neuzeitliche Staat selbst knüpfte zahlreiche Hoffnungen an die aufkommende kapitalistische Wirtschaftsweise. Diese sollte durch eine florierende und produktive Wirtschaft das Steueraufkommen steigern und den Staatshaushalt verbessern.[4] Darüber hinaus erhoffte man sich eine gesamtgesellschaftliche Wohlstandssteigerung, denn die rapide Bevölkerungszunahme nach fast 400 Jahren stehender Bevölkerung[5] führte zu schweren Versorgungsproblemen und Hungerkrisen. Es war hauptsächlich ein Bevölkerungsanstieg der gesellschaftlichen Unterschichten, deren zunehmende Verelendung Veränderungen in Politik und Wirtschaft, aber auch im Erziehungs- und Bildungssystem, erforderten.
Die damalige Gewerbewirtschaft, in der sich die umwälzenden ökonomischen Veränderungen deutlich abzeichneten, war geprägt durch das Handwerk und das Verlags- und Manufakturwesen. Das kleingewerbliche Handwerk bewegte sich um die Jahrhundertwende überwiegend in traditionellen und verkrusteten Strukturen. Die Zünfte des jeweiligen Handwerks regulierten den Marktzugang und garantierten Schutz vor Konkurrenz. Ziel war es, durch das Ausschalten des freien Wettbewerbs allen Mitgliedern ein ausreichendes und möglichst gleiches Einkommen zu gewährleisten. Die Zwangsmitgliedschaft in der Zunft setzte die Beachtung von Vorschriften zu Ausbildung und Produktion voraus und war überdies mit einer strengen sozialen Kontrolle verbunden. Eingeschränkt von starren Zunftrechten und gekennzeichnet durch eine geringe Produktivität sowie durch wenig leistungs- und innovationsorientiertes Verhalten bot das Handwerk keine Ernährungsgrundlage für die verarmenden Bevölkerungsschichten, die überall mehr als die Hälfte der Einwohnerschaft ausmachten. Ferner wurde das Zunftwesen durch Gesellenaufstände und Arbeitskämpfe erschüttert, welche auf das starke Wohlstandsgefälle zwischen Meistern und Abhängigen sowie zwischen Gewerbeunternehmern und Einzelmeistern zurückzuführen waren.[6]
Insbesondere das Manufakturwesen, aber auch das Verlagswesen, beschäftigte um die Jahrhundertwende eine vergleichsweise kleine Anzahl an Arbeitern und besaß überdies eine geringe wirtschaftliche Leistungskraft. Vereinzelt existierten bereits sogenannte Protofabriken – Vorläufer der späteren Industriefabriken und erste kapitalistische Organisationsformen mit freier Lohnarbeit und einem arbeitsteiligen, mechanisierten und motorisierten Produktionsprozess, dessen zunächst rudimentäre Planung und Steuerung ein privater Unternehmer übernahm. Die Veränderungen im Wirtschaftssystem, d.h. das Aufkommen der kapitalistischen Wirtschaftsweise zeichnete sich insbesondere im Manufaktur- und Verlagswesen ab. Doch zunächst waren die wenigen Protofabriken nur Vorboten der Industriellen Revolution, so dass das Überangebot an Arbeitskräften durch die Bevölkerungszunahme von dem vorindustriellen Gewerbe nur mühsam aufgefangen werden konnte.[7]
Auch die Landwirtschaft sah sich angesichts rückständiger Produktionsmethoden außerstande, die zunehmende Bevölkerung angemessen zu ernähren. Auf dem Land, wo die Mehrzahl der Bevölkerung lebte, spaltete sich die Gesellschaft in die Minderheit der Bauern und die Mehrheit der Landlosen bzw. Landarmen, für die der elterliche Hof keine Lebensgrundlage mehr bieten konnte. Der rapide Bevölkerungsanstieg war primär auf die Zunahme dieser ländlichen Unterschicht zurückzuführen.[8]
Die kapitalistische Wirtschaftsweise befand sich vor allem in großen Hafen-, Handels- und Gewerbestädten auf dem Vormarsch und kämpfte überall gegen traditionale und tief verwurzelte Strukturen an. Es waren erste gesellschaftliche Umwälzungen erkennbar, die sich im Vordringen von marktabhängigen Klassen manifestierten. Diese stellten das bestehende Ständesystem und damit die herrschende Sozialstruktur in Frage, in dem sie die Klassenzugehörigkeit anstatt an Geburtsprivilegien an Leistungsmerkmale knüpften. Das Leistungsprinzip implizierte das Postulat nach formaler und staatsbürgerlicher Rechtsgleichheit[9] sowie nach freier Persönlichkeitsentfaltung. Die Zeit der Aufklärung, die das Gebrauchen des menschlichen Verstandes sowie das vernünftige und rationale Denken postulierte, stellt den eigentlichen Aufbruch zu einer neuen Gesellschaftsordnung dar. An die Stelle unreflektierter Verhaltensnormen und der Orientierung an mythischen Traditionen sollte eine rationale und vernunftbegabte Lebensführung treten. Untertanen sollten zu mündigen und freien Bürgern werden, die von ihrer „Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch machen“[10] und so zum gesellschaftlichen Forschritt beitragen. Bereits das Postulat der Aufklärung stellte somit die bestehende soziale Ordnung, d.h. das Ständesystem und die gottgewollte Ungleichheit grundsätzlich in Frage.
Existierte bisher eine kleine, aber privilegierte Schicht des Adels, ein handel- und gewerbetreibendes Bürgertum sowie eine breite Schicht von freien oder leibeigenen Bauern, so waren nun erste Veränderungen in der sozialen Ordnung erkennbar. Es entstanden neue gesellschaftliche Schichten wie die Bourgeoisie und das sogenannte Bildungsbürgertum, die neben dem eigentlichen Ständesystem empor stiegen. Die Bedeutung der Bourgeoisie war aufgrund der zunächst geringen Anzahl der bürgerlichen kapitalistischen Unternehmer begrenzt. Auch die damit verbundene Entstehung der Arbeiterklasse sollte erst zu einem späteren Zeitpunkt bedeutend werden. Das Bildungsbürgertum wuchs jedoch bereits um die Jahrhundertwende in Form eines staatsloyalen Beamtentums zu einem einflussreichen Machtfaktor heran[11], der insbesondere für die Zeit der preußischen Reformära eine zentrale Rolle spielte.
Bildung als Qualifikationsmerkmal begründete nicht nur den Anspruch einer bestimmten Schicht z.B. der des Bildungsbürgertums anzugehören, sondern wurde auch als die notwendigen Voraussetzung für gesellschaftliche Verbesserungen angesehen. Es war das Erbe der Aufklärung, welches der Erziehung bzw. der Reflexion über Erziehung einen enormen Bedeutungszuwachs zukommen ließ. Philosophen, Pädagogen und Politiker waren überzeugt, dass Erziehung und Ausbildung geeignet sein könnten, die gesellschaftliche Problemlage und den Übergangsprozess am Ende des alten Reiches zu überwinden.[12] Die Steigerung der allgemeinen Volksbildung sollte neben der objektiven Vermittlung elementarer Kulturtechniken auch die Veränderung von Mentalitäten und Wertvorstellungen zum Ziel haben. Durch den Abbau von abergläubischen und traditionsgeleiteten Verhaltensweisen sowie durch die Vermittlung einer arbeitsamen Einstellung sollte eine allgemeine Wohlstandssteigerung erreicht werden.[13] Obwohl um 1800, trotz der bereits mehrfach proklamierten Schulpflicht, höchstens die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder eine Schule besuchten[14], trat die Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz zunehmend in den Vordergrund. Hatten bisher überwiegend die Familie und der Stand für die Erziehung gesorgt, wurde durch die erwähnten gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen eine professionelle Erziehung erforderlich[15]. Die Hebung der Volksbildung durch ein verbessertes Unterrichtswesens wurde vor allem von der Schicht der Gebildeten, darunter auch von führenden Beamten, als Aufgabe des Staates erkannt. Das Interesse des Staates an einer durchgreifenden Schulreform zeigte sich bereits vor der eigentlichen Reformära vor allem an zahlreichen Vorschlägen für die Neuordnung des Unterrichtswesens, die jedoch nicht über das Entwurfstadium hinaus kamen.[16]
Auch in anderen Bereichen scheiterten vor 1806 zahlreiche Reformpläne des spätabsolutistischen Staates. Wehler nennt als Begründung verschiedene soziopolitische Binnenschranken und meint damit die ständischen Strukturen, die veraltete ökonomische Verfassung, die dominierenden Herrschaftsschichten sowie den absolutistischen Staat. Die herrschenden Gesellschaftsschichten waren nicht geneigt, ihre Vorrechte freiwillig aufzugeben, um der entstehenden liberalen Marktgesellschaft mit rechtsgleichen Bürgern den Weg zu bereiten.[17] Welche Vorkommnisse dennoch einen radikalen Schnitt mit der „alten“ Welt bedeuteten, wird im folgenden Abschnitt erläutert.
3. Die Bedeutung und Intention der preußischen Schulreformen
In diesem Kapitel steht die weitreichende Bedeutung der preußischen Schulreformen sowie deren zentrale Intention im Vordergrund. Dabei soll erstens erörtert werden, welche Gründe den preußischen Staat nach 1806 zu umfassenden Reformen in allen gesellschaftlichen Bereichen veranlasst haben und welche Rolle dabei die Reformen im Bildungssektor spielten. Zweitens wird ein Überblick über die weitere Entwicklung der bildungspolitischen Reformbewegung gegeben und die über die Reformära hinausgehende Kontinuität und Bedeutung der Bildungsreformen aufgezeigt. Dieses Kapitel beabsichtigt einen Überblick über die Zeitspanne zu geben, die auch für die Darstellung der Regelungen und Entwicklungen im Schulwesen (Kapitel 4) von Bedeutung ist.
3.1 Die Schulreformen in der preußischen Reformära
Die Kriegsniederlage gegen Napoleon und der damit verbundene totale Zusammenbruch des alten Preußens im Oktober 1806 markiert den Anfang der preußischen Reformära. Der durch Kriegs- und Besatzungskosten hoch verschuldete preußische Staat hatte keine großen Alternativen. Er stand vor der Wahl, Reformmaßnahmen nach dem Vorbild Frankreichs durchzuführen, um die finanziellen Belastungen für den Abzug der Besatzungstruppen aufzubringen und seine politische Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen oder er sah seinem Untergang entgegen. Das militärische Debakel erzeugte einen Modernisierungszwang im Innern und setzte die bereits existierenden Reformkräfte endgültig frei. Deren Absicht war es, eine blutige Revolution von „unten“ wie in Frankreich möglichst zu vermeiden und durch staatlich verordnete Reformen von „oben“, d.h. durch eine friedliche Revolution zu ersetzen. Während zunächst die Aufrechterhaltung des preußischen Staates im Mittelpunkt stand, gerieten vermehrt konkrete Reformprojekte in den Blickpunkt.[18] Oberste Priorität hatte für die Reformer der Aufbau einer rationalen, effizienten und einheitlichen Regierung und Verwaltung einschließlich der Neuorganisation der kommunalen Verwaltung. Die weitere Zielsetzung war die Erneuerung der Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung, in dem an die Stelle der berufsständisch verfassten Gesellschaft eine Gesellschaft rechtsgleicher Bürger trat, die durch formal gleiche Startchancen gekennzeichnet war. Ausgehend von einer staatsbürgerlichen Gesellschaft konnte dann die Forderung nach der Integration des preußischen Volkes zu einer Nation und die Forderung nach politischer Teilhabe folgen.[19] Bedeutende Reformbereiche waren das Militär- und Bildungswesen. Insbesondere der Neuorganisation des Bildungswesens kommt - wie nachfolgend verdeutlicht - eine zentrale Rolle zu.
[...]
[1] Vgl. Wehler (1989), S. 332.
[2] Vgl. Lundgreen (1980), S. 9.
[3] Vgl. Wehler (1989), S. 339.
[4] Vgl. ebd., S. 333.
[5] Vgl. Jeismann (1987), S. 13.
[6] Vgl. Wehler (1989), S. 92-94.
[7] Vgl. ebd., S. 115, 118-119, siehe hierzu ausführlich S. 102 ff.
[8] Vgl. Wehler (1989), S. 69.
[9] Vgl. ebd., S. 333, 336, 340.
[10] KANT (1983), S. 1.
[11] Vgl. Wehler (1989), S. 336; Anm.: Auf die gesellschaftliche Schicht des Bildungsbürgertums wird in 5.3 noch ausführlich eingegangen.
[12] Vgl. Tenorth (2000), S. 85.
[13] Vgl. Baumgart (1990), S. 14.
[14] Vgl. WEHLER (1989), S. 282.
[15] Vgl. Nipperdey (1983), S. 451.
[16] Vgl. Jeismann (1987b), S. 107; Anm.: Die Konzeption des ersten gesamtstaatlichen Schulplans aus dem Jahre 1778, verfasst von dem Justizminister Freiherr von Zedlitz, verdeutlicht das aufkommende Interesse des Staates, das Schulsystem zu einer staatlichen Angelegenheit zu machen. Der Schulplan orientiert sich im Gegensatz zu der späteren neuhumanistischen Bildungskonzeption an einer standesgemäßen Erziehung und enthält den Vorschlag zur Einrichtung eines dreigliedrigen Schulsystems mit separaten Schultypen für Bauern, Bürger und Gelehrte.
[17] Vgl. Wehler (1989), S. 341.
[18] Vgl. Wehler (1989), S. 401-402, siehe hierzu auch Nipperdey (1983), S. 31-33.
[19] Vgl. Nipperdey (1983), S. 35.
- Citation du texte
- Nicole Rudolf (Auteur), 2004, Entwicklungen im preußischen Schulwesen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts - die Schulreformen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36476
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