Der Charakter der Moderne
1.1 Zum Ausdruck der ästhetischen Moderne
„Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen.“ So diagnostiziert bereits Schiller das Verhältnis seiner wie auch unserer ästhetischen Gegenwart, die sich bis heute von der noch stark historisierenden Kurzzeitepoche zu einer gegenwartsoffenen Langzeitepoche entwickelt hat, zu den Meistern der Antike, ihres verlorenen Ideals. Damit erfaßt er prägnant den Charakter der Moderne. Kurz seien hier deren von der Allgemeinheit als solche sanktionierten Grundzüge umrissen, bevor sich anschließend vor diesem Hintergrund das die gängigen Eindrücke zwar aufnehmende, sie aber sehr spezifisch ausfeilende Modernekonzept Adornos darstellt.
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Inhaltsverzeichnis
I. Der Charakter der Moderne
1.1 Zum Ausdruck der ästhetischen Moderne
1.2 Zum Moderneverständnis Adornos
II. Nach der Katastrophe des Sinns wird Erscheinung abstrakt
2.1 Die Kunst als Gesellschaftliches
2.2 Engagierte Autonomie
2.3 Der rücksichtsvolle Fortschritt
III. Die Postmoderne – Aufbruch zum vergangenheitsträchtigen Einst ?
Bibliographie
I. Der Charakter der Moderne
1.1 Zum Ausdruck der ästhetischen Moderne
„Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen.“[1] So diagnostiziert bereits Schiller das Verhältnis seiner wie auch unserer ästhetischen Gegenwart, die sich bis heute von der noch stark historisierenden Kurzzeitepoche zu einer gegenwartsoffenen Langzeitepoche entwickelt hat, zu den Meistern der Antike, ihres verlorenen Ideals. Damit erfaßt er prägnant den Charakter der Moderne. Kurz seien hier deren von der Allgemeinheit als solche sanktionierten Grundzüge umrissen, bevor sich anschließend vor diesem Hintergrund das die gängigen Eindrücke zwar aufnehmende, sie aber sehr spezifisch ausfeilende Modernekonzept Adornos darstellt.
Wesentlich für unser Zeitalter, für unseren Zustand, ist das Bewußtsein, einstige Ideale verloren zu haben. Die Idee des unwiederbringlichen natürlichen Paradieses erklingt exemplarisch in Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung, der das sich Ende des 18. Jahrhunderts einstellende und bis heute ausschlaggebende Bewußtsein der Autonomie und Selbstreflexivität aufzeigt. Bezeugte die Französische Revolution plakativ das in ganz Europa aufkeimende Gefühl der Diskontinuität gegenüber der Vergangenheit, so fand der damit einhergehende revolutionäre Impuls in Deutschland eher auf dem Gebiet der Ästhetik statt. Während der Begriff „Moderne“ (im Sinne von lat. „neu“, „gegenwärtig“) zuvor lediglich den Kontrast zur augusteischen Ära markierte, indem die Imitatio den ästhetischen Thron zugunsten der Aemulatio räumte, bedeutet er nun die Wandlung der historischen zur anthropologischen Kategorie. Die naive Einheit und Vollkommenheit der Antike kontrastiert mit der neuen Situation der Dissoziation; der reflektierende „Erwachsene“ sehnt die einfältige „Kindheit“ zurück, die er verspielt hat. Eine solche Idee des verlorenen Paradieses oder, wie Schiller sagt, „unserer verlorenen Kindheit“[2] repräsentiert das sentimentalische Denken als Grundbefindlichkeit der gegenwärtigen Moderne. Auf dem vermeintlichen Weg zur ersehnten Vereinigung von schwermütiger Reflexivität und verlorenem Ideal kennzeichnen diese zunehmend Traditionsnegation, Gesetzlosigkeit und Verwirrung.
Ist die frühe Dekadenzanalyse Schillers auch heute noch aktuell, so ist doch die Macht des Sentimentalen im Vergleich zu seiner Zeit ungleich ausgeprägt. Spätestens mit Baudelaire wird Selbstreflexion zur Selbstdefinition der Epoche. Dissoziation, Dissonanz und immer weiter um sich greifender Perspektivismus übernehmen das absolutistische Regiment, Hand in Hand mit dem aufsteigenden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts auf gesellschaftlicher Ebene. Euphorie beim Anblick neu entdeckter Freiräume und melancholische Angst vor dem Verlorensein lösen einander ab. Fortan definiert sich die ästhetische Moderne, unter deren Oberbegriff auch unsere aktuelle Phase, die der sogenannten Postmoderne, fällt, durch ihre Vielfalt an isolierten Elfenbeinturmkonstruktionen, künstlerisch aufgeladen entweder mit bezweckter Destruktion oder versuchter Rekonstruktion eines traditionsgefüllten Gestern, - vorausgesetzt, eine so eindeutige Selbstdefinition ist noch möglich angesichts der perspektivistischen Auflösung, in die die Freiheit des Perspektivismus umgeschlagen ist.
1.2 Zum Moderneverständnis Adornos
„Das Neue ist dem Tod verschwistert“, heißt es in der Ästhetischen Theorie, der Begriff der Moderne „mehr Negation dessen, was nun nicht mehr sein soll, als positive Parole. Er negiert aber nicht, wie von je die Stile, vorhergehende Kunstübungen sondern Tradition als solche.“[3] Für Adorno trägt die Moderne das Mal des Untergangs auf der Stirn, das Leben ihrer Kunst zehrt vom Tod. Der Zwang zum Neuen in der Kunst ist unmittelbar mit der wachsenden Herrschaft des Kapitalismus über die Massen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Entfremdung verbunden.
Die von Adorno diagnostizierte Morbidität der modernen Gesellschaft entspringt der diese hermetisch dominierenden Spirale der Macht, auf Kapital fußend und das Individuum auf keinen Notausgang verweisend. Zwangsläufig büßt der einzelne die Freiheit ein, eine der beiden dem Begriff des Subjekts innewohnenden Essenzen zu realisieren: die des autonomen Handelns und Wirkens. Systematisch uniformiert entsprechend den Anforderungen des Kapitals an seine jeweilige Verwendung, bleibt dem am Überleben interessierten Subjekt gewöhnlich allein die Wahl zwischen diesem oder jenem Einsatzbereich, zwischen einander wiederum systematisch ähnelnden Nischen, die nach Besetzung verlangen. Die Staatsform der kapitalistischen Monarchie definiert das Subjekt unabwendbar als ihren Untertan. Dieser Position sich – allerdings nur partiell – zu entledigen ist ihm lediglich durch materiellen Besitz möglich. Doch liegt hier auch die Energiequelle der sich dialektisch unabsehbar ausweitenden Machtspirale: Dem System entkommen kann das Subjekt nicht; es kann sich allenfalls zum vom Kapital beherrschten Herrscher über andere emporschwingen, bis es etwa wiederum materiell überboten wird... Wer zu gehorchen wisse, wisse auch zu befehlen, wer aber erfolgreich herrschen wolle, bedürfe in hohem Maße der Fähigkeit, Gehorsam zu üben, legt bereits der die Menschenmenge kurzfristig bis zur seelischen Vereinheitlichung indoktrinierende Clown Cipolla bei Thomas Mann dar; Befehlen und Gehorchen, sie beruhten auf ein und derselben Fähigkeit.[4] Dies kennzeichnet, überspitzt und damit exemplarisch aufgezeigt, treffend die von Adorno bedeutete traurige Aporie der modernen Lebensschablone, die dem Subjekt nicht Raum zur Selbstbestimmung bietet, sondern es in Anlehnung an den einen Prüfstein fungibel macht.
Obwohl Adorno den Begriff ,Moderne‘ stets unspezifiziert benutzt, bezieht er sich, streng genommen, auf zwei verschiedene Phänomene. Einerseits meint er die mit Baudelaire beginnende und bis heute anhaltende Makroepoche; in speziellerem Kontext aber verwendet ihn Adorno für die nach dem „Bruch“ einsetzende Mikroepoche, welche die Wiege der in den 70er Jahre einsetzenden ,Postmoderne‘ ist. Sie ist die nach neuer Identität suchende Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg; der „Bruch“ ist Auschwitz. Standen schon vormals Rationalisierung, Zivilisation, Aufklärung und Entzauberung nicht im Zeichen der Verwirklichung eines Glücks, das dem ebenbürtig wäre, als welches im Rückblick die naive Vorwelt erschien, so trat hiermit eine Katastrophe ein, die eine heillose Zäsur für Gesellschaft und somit auch Kunst bedeutete. Die Ära nach Auschwitz ist es, die Adorno unter Verwendung des Terminus ,Moderne‘ vornehmlich fokussiert. Mit zweifelloser Eindeutigkeit jedoch findet man diesen Begriff in seinen Schriften durchaus nicht verwendet. Ihn genauer zu determinieren macht sich Adorno nicht die Mühe. Er bleibt vage wie die moderne Kunst selbst. Ebenso uneindeutig und dennoch unmißverständlich gebraucht Adorno die Bezeichnung „Bruch“. Meint sie auf historischer Ebene konkret Auschwitz als „Katastrophe des Sinns“[5], so benutzt er sie auch im Zusammenhang mit jenem Phänomen, das der Kunst der Moderne inhärent und in der Literatur zumindest bis zur Romantik zurückzuverfolgen ist, - er beobachtet es bereits bei Goethe. Es ist inbegriffen, wo „das Ich [...] sich als dem Kollektiv, der Objektivität entgegengesetztes bestimmt und ausdrückt“; hier ist „das Moment des Bruches “ gegenwärtig.[6] Es impliziert also in dem Zusammenhang die produktive Kluft zwischen Subjekt und Objektivität, zwischen „Ich“ und „Kollektiv“, welche spätestens seit der Romantik Signum wenigstens der literarischen Kunst ist. Der Begriff des „Bruchs“ ist also, je nach Kontext, in einigen Fällen unhistorisch – ästhetisch aufzufassen.
Moderne heißt für Adorno auf gesellschaftlicher Ebene Entindividuation. Diese Erscheinung imprägniert mit einer solchen Ausschließlichkeit sein düsteres Gesellschaftsbild, daß diesbezüglich selbst die nicht unangebrachte Unterscheidung zwischen dem totalitären Regime des Nationalsozialismus und dem nachfaschistischen Systemzwang für ihn an Priorität verliert. Faschismus und Nachfaschismus unterscheiden sich in seinen Augen in diesem wesentlichen Punkt nicht voneinander: in der Totalisierung der Verfügungsgewalt durch die lückenlose Vernichtung von autonomer Individualität. Daß das faschistische System hierin im Vergleich zu Gesellschaftssystemen, die die Bezeichnung Demokratie für sich zumindest beanspruchen, den exklusiven Höhepunkt bildet, läßt Adorno unberücksichtigt. Ausschlaggebend ist die prinzipielle Übermächtigkeit der Organisationen und Institutionen, die verwaltete Welt als Gegenwarts- und Zukunftstrend, schließlich, soweit nicht seine wirtschaftliche Ertragsfähigkeit tangiert ist, die Überflüssigkeit des Individuums. Im Faschismus noch als uniform duldendes oder kontrollierte Tätigkeiten ausführendes Material verwendet, erhält es in der wiederum kapitalistisch beherrschten Ära nach dem „Bruch“ Warencharakter. Diese Betrachtungsweise erfaßt gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den Adorno die vielfältigen Phänomene der Moderne zu bringen tendiert: Es ist der Warenfetischismus einer warenproduzierenden und selbst zur Ware degenerierenden Gesellschaft. „Daß die Menschen nach den Produktionsmethoden gemodelt werden, ist abscheulich, aber es ist so lange der Weltlauf, wie sie im Bann der gesellschaftlichen Produktion stehen, anstatt über diese zu gebieten“, schreibt Adorno an Rolf Hochhuth.[7] Diese Auffassung beinhaltet folgerichtig, daß die Existenz als solche ihre metaphysische Dimension eingebüßt hat. Die Tilgung von Natur beinhaltet dies. In Bezug auf Becketts Endspiel heißt es: „Der im Stück gegebene Zustand aber ist kein anderer als der, in dem es ,keine Natur mehr gibt‘. Ununterscheidbar die Phase der vollendeten Verdinglichung der Welt[...].“[8] Pointe der Gegenwartsanalyse Adornos in puncto Gesellschaft ist also, zugespitzt formuliert, die Diagnose einer Entindividuation der Individuen sowie einer Entqualifizierung der Allgemeinheit; es entsteht der Begriff der neuen ,schlechten‘ Gesellschaft.
Dieser Befund mutet angesichts des Dialektikers Adorno wenig differenziert und wenig komplex an. Er könnte auch als unreflektiertes Pauschalurteil eines aggressiv Unzufriedenen durchgehen, für den das Frühere, als Unwiederbringliches ohnehin in unwirklich schillernder Farbe kokettierend, zum Maß des zwangsläufig desillusionierenden Neuen wird, - eine Haltung, die Adorno übrigens auf ästhetischem Gebiet verabscheut; die einfältige Verherrlichung des Früheren ist hier schlicht unästhetisch, wie sich im folgenden zeigen wird. Sein gesellschaftstheoretischer Ansatz ist vielmehr die Voraussetzung für Adornos äußerst differenzierte Kunsttheorie, welche im übrigen die Ausfeilung der Gesellschaftsanalyse in sich trägt. Erst in seinen Ausführungen zur modernen Kunst findet die wesentliche Komplexität seiner Gedanken Niederschlag.
II. Nach der Katastrophe des Sinns wird Erscheinung abstrakt
2.1 Die Kunst als Gesellschaftliches
„Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht“[9], - dies bezieht sich nicht so sehr auf die bewußte ästhetische Traditionsnegation, das Taufbecken der künstlerischen Moderne, wie auf die nach dem „Bruch“ Auschwitz aktuelle Unmöglichkeit einer Rückanbindung bzw. auch nur Anknüpfung an das davor Gewesene. Dieses wurde zu einem irreversiblen Vormals, verloren und die Zeitform des tiefsten Präteritums fordernd. „Die Autonomie, die sie [die Kunst] erlangte, nachdem sie ihre kultische Funktion und deren Nachbilder abschüttelte, zehrte von der Idee der Humanität. Sie wurde zerrüttet, je weniger Gesellschaft zur humanen wurde.[...] Wohl bleibt ihre Autonomie irrevokabel.“[10] Das Signum der Moderne nach 1945 ist das Leid, das Zittern, sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf ästhetischer Ebene. Dieses Zittern wird nun, neben der Sprache, zum vielleicht wichtigsten Medium, welches die Korrespondenz zwischen der systematisierten, das Individuum in uniformer, abstrakter Einheitlichkeit vergewaltigenden Gesellschaft und der Kunst, die stets dem freien Partikularen entgegen strebt, ermöglicht.
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[1] Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, 5. Bd., 6. Aufl., München,
1980, S. 695.
[2] Ebd., S. 695.
[3] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hrsg. von Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, 1998, S. 38.
[4] s. Thomas Mann, „Mario und der Zauberer“, in: Unordnung und frühes Leid und andere Erzählungen, Frankfurt am Main, 1997, S. 213.
[5] Ästhetische Theorie, S. 40.
[6] Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, 1998.
[7] Noten zur Literatur, S. 592.
[8] Ebd., S. 285.
[9] Ästhetische Theorie, S. 9.
[10] Ebd., S. 9.
- Quote paper
- Sonja Schiffers (Author), 2002, Kunst und Gesellschaft in der Moderne - Zu Adornos Verständnis der modernen Kunst, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3597