I. Annäherung des Klassischen an die Ära des Sturm und Drang
1.1 Die Entstehung des Faust I
Als das Urprinzip aller Schöpfung galt bereits dem jungen Goethe Gestaltung und Umgestaltung als unendlich fortdauernder Prozeß, im Organischen wie im Unorganischen. Plastischer und überzeugender hätte der Dichter seine Theorie wohl kaum exemplifizieren können, als durch die Entstehungsgeschichte seines Faust. Über 60 Jahre lang, ausgehend vom Sturm und Drang über die Klassik bis unmittelbar vor seinem Tod, widmete er der Kreation, welche seinen gesamten poetischen Reif spiegelt, in welcher sich geistige Elemente unterschiedlichster Lebenphasen sowie Kunstepochen konzentrieren.
[...]
Inhaltsverzeichnis
I. Annäherung des Klassischen an die Ära des Sturm und Drang
1.1 Die Entstehung des Faust I
1.2 Wald und Höhle
1.3 Zueignung
1.4 Vorspiel auf dem Theater
1.5 Prolog im Himmel
II. Erscheinungsformen der Dialektik im Faust
2.1 Goethes Technik der Spiegelung – die Dialektik des kontrastiven Nebeneinander
2.2 Polarität in der Sukzession – das erste Paralipomenon
III. Perspektivismus und Poststrukturalismus
Bibliographie
I. Annäherung des Klassischen an die Ära des Sturm und Drang
1.1 Die Entstehung des Faust I
Als das Urprinzip aller Schöpfung galt bereits dem jungen Goethe Gestaltung und Umgestaltung als unendlich fortdauernder Prozeß, im Organischen wie im Unorganischen. Plastischer und überzeugender hätte der Dichter seine Theorie wohl kaum exemplifizieren können, als durch die Entstehungsgeschichte seines Faust. Über 60 Jahre lang, ausgehend vom Sturm und Drang über die Klassik bis unmittelbar vor seinem Tod, widmete er der Kreation, welche seinen gesamten poetischen Reif spiegelt, in welcher sich geistige Elemente unterschiedlichster Lebenphasen sowie Kunstepochen konzentrieren.
Einen Zeitraum von ca. 37 Jahren umfaßt allein die Schöpfung des ersten Teils der Tragödie. Nach drei arbeitsintensiven Etappen – die letzte absorbiert eine Spanne von beinahe zehn Jahren – vollendet Goethe schließlich seinen Faust I, der, zweifellos als zwingende Konsequenz der Anlage seiner endgültigen Konzeption, einen Faust II fordern würde. Nach der Arbeit an seinem Faust in ursprünglicher Gestalt, dem sogenannten Urfaust, der damals unveröffentlicht blieb und erst 1887 in Form einer Abschrift im Nachlaß des Weimarer Hoffräuleins Luise von Göchhausen gefunden wurde, ließ der Dichter das Werk ungefähr 13 Jahre ruhen. Auf 1775 wird allgemein der Urfaust datiert, erst 1788 nähert sich Goethe, vom damaligen Stürmer und Dränger zum Vertreter klassizistischer Ästhetik gereift, dem so lange ruhenden Manuskript von neuem – bezeichnenderweise geschieht dies nach der Flucht aus Weimar, während seiner ersten italienischen Reise. In Italien also nimmt er den Stoff wieder auf, doch trotz des Willens zur Fertigstellung entsteht wiederum etwas, wenn auch verändertes, Unvollendetes: Faust. Ein Fragment erscheint 1790. Erst 1797 kommt es, wiederum in Italien, zu einem zweiten Neuansatz, der gleichzeitig die letzte Arbeitsphase bis zur Vollendung des Faust I einleitet. Im Jahre 1806 abgeschlossen, gelangt das Werk 1808 an die Öffentlichkeit.
Von fundamentalem Interesse ist nun die Betrachtung, inwiefern die spätere künstlerische Ausrichtung Goethes sich dem Sturm – und – Drang – Relikt nähert, sich in dieses integriert und eine homogene Verbindung mit ihm eingeht. “Man muß (...) zwischen den Konzeptionsstufen und Arbeitsphasen zugleich mit Kontinuität wie mit Veränderung rechnen”, heißt es bei Ulrich Gaier[1] in Anlehnung an einen Eintrag des Dichters in der Italienischen Reise unter dem 1. März 1788, in dem er es als “merkwürdig” bezeichnet, “wie sehr ich mir gleiche und wie wenig mein Inneres durch Jahre und Begebenheiten gelitten hat.”
Klassische Elemente finden hier zu romantischen (die Verwendung dieses Begriffs ist in dieser Arbeit nicht als Bezeichnung der eigenständigen Kunstepoche zu verstehen, sondern als Kennzeichen jener speziellen schon den Sturm und Drang prägenden Geisteshaltung), doch trotz der Gegensätzlichkeit dieser ästhetischen Herangehensweisen sticht anstelle von heterogenem Nebeneinander eines Flickenteppichwerks mit sich widersprechend beißenden Dissonanzen eine Harmonie hervor, welche eben nur auf jener Kontinuität in der Veränderung gegründet sein kann, auf Dauer im Wechsel. Auf gewissermaßen romantische Weise sind hier zwei konträre Pole nicht ineinandergeschmolzen, sondern unter Wahrung des jeweiligen Profils ineinsgefügt.
Um die Symbiose zwischen Sturm und Drang und neu hinzugefügter Klassik im Faust I ansatzweise darzustellen sowie die Verflüssigung jenes durch das Hinzutreten dieser, der Keimzelle des Klassischen, die sich in diesem Werk einnistet und als unweigerliche Konsequenz die Geburt eines zweiten Teils der Tragödie fordert, beschäftige ich mich im Folgenden mit den diesbezüglich bedeutungsträchtigsten Textpassagen, in denen sich Faust I vom Fragment unterscheidet.
1.2 Wald und Höhle
Bevor ich zu den augenfälligsten und für die Untersuchung der Klassizität des Faust ergiebigsten Szenen komme, in denen das vollendete Werk vom Fragment abweicht, möchte ich kurz auf diese allgemein weniger beleuchtete, jedoch zentrale Textstelle eingehen. Bereits im Fragment vorhanden, erscheint sie im ersten Teil der Tragödie nicht unwesentlich verlängert und, vor allem, umpositioniert. Während sie im früheren Entwurf der Szene “Zwinger” vorgeschaltet ist, begegnet man ihr in der endgültigen Fassung noch vor der Verführung Gretchens. Das ohnehin Charakteristische dieses Kapitels ist die “überraschende Aufwertung zu hohem geistigen Genuß”, welche das “fruchtlose Sinnen” erfährt. Somit ist hier das Lebensverlangen wieder explizit als universales dargestellt, das sich “zwischen Begierde und hingerissenem Entzücken vor dem Zauberbild”[2] bewegt. – Sinnbild des Konflikts zwischen metaphysischem und sinnlichem Verlangen, Reflexion und Trieb, zuletzt Geist und Leben.
“O daß dem Menschen nichts Vollkomm`nes wird, / Empfind` ich nun”[3], verkündet Faust bereits im Eingangsmonolog des Fragments ( - dies nebenbei als Beispiel dafür, daß keine kompromißlos separierende Grenze zwischen “frühem” Sturm und Drang und “später” Klassik bei Goethe sowie bezüglich seines Werks gezogen werden darf; im Früh- wie im Spätwerk handelt es sich hauptsächlich um ,unrein` vielfältigere Mischungen verschiedener Elemente, von denen eins lediglich charakterbestimmend überwiegt), jedoch erfolgt diese ,Bewußtwerdung` des zwanghaft Strebenden hier erst, als ihm der vorprogrammierte tragische Untergang Gretchens durch seine eigene Schuld bereits gegenwärtig sein muß. So in den Verlauf der Handlung eingebunden, tendiert diese Szene dazu, lediglich als fruchtlose Aufbäumung des in die Dunkelheit des stürmischen Drangs nach ,Leben` bereits sündhaft Verstrickten aufgefaßt zu werden; das “schöne Bild”[4] nicht als wesenhaft gegebene Sehnsucht seines Charakters, sondern eher eine Art des schlechten Gewissens, des Bedürfnisses nach Reinigung, nach Entbindung von Schuld, zu der letztlich seine Unbeholfenheit in und Unerfahrenheit mit den ,Wonnen des Gewöhnlichen` - wie Thomas Mann es bezeichnen würde - führte.
“Entfliehe, Kuppler!”[5] – So lauten Fausts Worte erst in der verlängerten Ausführung von “Wald und Höhle” im fertiggestellten Faust I. Dies sind, nach dem die universelle Weite der Natur umfassenden, in pathetischen Blankversen vorgetragenen Eingangsmonolog, die Worte des zwiespältigen Protagonisten, der, die spätere Verstrickung nicht ahnend, also im Unterschied zum Fragment ohne konkret begründenden Anlaß, das Ursächliche seiner Wesenhaftigkeit in noch unbelasteter Reflexion präsentiert, sich, noch ohne den Druck der greifbaren Schuld, der Macht von einseitig ,lebendigen` Energien entziehen will. Erst in der vollendeten Fassung legt Goethe ihm diese Aussage in den Mund. Sinnbildlich sind hier das romantische Streben des Sturm und Drang wie das der Klassik als gleichberechtigt widerstreitende Anlagen dargestellt. Als unabhängig von konkret niederen Anlässen, wie z. B. Schuldbewußtsein, existiert bedingungslos neben der sinnlichen Gier und in letzter Konsequenz über sie hinaus die Sehnsucht Fausts nach dem Reinen, der Verselbstung im allumfassenden Geist.
Durch die Vorschaltung und Heraushebung dieser gewichtigen Szene der Reflexion aus der ,Aktion` der Gretchen – Tragödie erfährt ihre Aussage ein selbständigeres, im Rahmen der Gesamtkonzeption und bezüglich des zweiten Teils des Werkes gewissermaßen betont leitmotivisches Profil; wenn auch und gerade weil Faust erst kurz darauf durch die sinnliche Begierde, Mephisto, von Gott entfernt wird – um später höher in die Dimension des ,Reinen` zurück geleitet zu werden. Ein Goethescher Schachzug klassischer Ordnung.
1.3 Zueignung
Da ich in diesem Rahmen leider nicht die Gesamtheit der Textpassagen untersuchen kann, die während des Entstehungsprozesses des Faust I inhaltlich modifiziert wurden bzw. deren Positionen innerhalb des gesamten Werkes so variiert wurden, daß sie dieses phänotypisch veränderten, halte ich es für sinnvoll, mich systematisch den drei einleitenden Teilen zu widmen, die Goethe zu Beginn seiner letzten Arbeitsphase der eigentlichen Handlung voranschickt, durch die er sich der alten, fernen Materie in konzentrischen Kreisen wieder annähert. Bevor er erneut in den Inhalt eingreift, das Werk ,von innen` vollendet, beginnt er am äußersten Rand, schafft sich sozusagen zunächst einen stabilen umfassenden Rahmen, innerhalb dessen er schließlich sicher die Stränge der Handlung weiterkreiert, inhaltliche Lücken harmonisch füllt.
“Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten”[6], - so die Anfangsworte des ersten der drei einleitenden Stücke, der “Zueignung”, die sich direkt auf die Wiederaufnahme des Stoffes 1797 bezieht. Mit diesem unterschiedlich zu deutenden Vers nähert sich der klassische Dichter seinem romantischen Fragment. Die “schwankenden Gestalten” mögen konkret für alte Weimarer Bekanntschaften stehen, welche Goethe während seiner ersten Ansätze zum Werk umgaben, sinnbildlich bezeichnen sie jedoch womöglich das Relikt an sich, wären dann als die geistige Gestalt des damaligen Stürmers und Drängers selbst und wiederum als seine kreierten Geister, die innerhalb der angefangenen Gestaltung walten, zu verstehen. Doch nicht der Dichter nähert sich jenen nebulösen “Gestalten”, sondern er steht ihnen passiv gegenüber, während sie sich auf ihn zu bewegen, aktiv von ihm Besitz ergreifen. Kreative Lähmungserscheinungen, Zweifel Goethes, ob sich sein Herz noch jenem Wahn geneigt fühlte[7], ob er sich dem romantischen Fragment aus eigener Kraft wieder nähern, es erneut gestaltend aufnehmen könne, prägen diese einleitenden Verse. Der “Äolsharfe gleich”[8], die, selbst unbeteiligt, durch den Wind bewegt, Töne hervorbringt, schwebt “in unbestimmten Tönen” sein “lispelnd Lied”[9].
[...]
[1] Ulrich Gaier, Urfaust. Ein Kommentar, Stuttgart, 1989, Kapitel II: “Entstehung und Konzeption des Faust in ursprünglicher Gestalt”, S. 49.
[2] Wolfgang Binder, “Goethes klassische Faust – Konzeption” in: Aufsätze zu Goethes Faust I, hrsg. von Werner Keller, Darmstadt, 1974.
[3] J. W. Goethe, Faust. Der Tragödie Erster Teil (3240 – 3241), hg. Albrecht Schöne, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt/Main 1999.
[4] Ebd., V 3248.
[5] Ebd., V 3338.
[6] Ebd., V 1.
[7] Ebd., V 4.
[8] Ebd., V28.
[9] Ebd., V 27 – 28.
- Quote paper
- Sonja Schiffers (Author), 2001, Entstehung des FAUST I - Dialektik und Perspektivismus in Goethes FAUST, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3596