Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Thema, das im Bewusstsein der Öffentlichkeit zunehmend mehr Raum einnimmt. Dies ist vor allem auf eine umfassende Thematisierung in den Medien zurückzuführen. Als Folgen sind sowohl eine Zunahme bekannt werdender Fälle von Kindesmissbrauch als auch ein wachsendes Verständnis für dessen Auswirkungen auf die Opfer zu beobachten. Die Hochrechnungen über die Häufigkeit von sexuellem Kindesmissbrauch schockieren ebenso wie die Intensität und Vielzahl seiner Folgen, weisen beide doch deutlich auf ein grundlegendes, gesellschaftliches Problem hin. Dennoch lassen effiziente Maßnahmen zur Reduzierung von Kindesmissbrauch auf sich warten, denn die Unsicherheit im Umgang mit diesem Thema ist groß: Zu viele Ängste, zu tiefgreifende gesellschaftliche Probleme, zu verwurzelte Tabus werden hier angesprochen. Zudem unterliegt sexueller Missbrauch in der Regel einer so wirkungsvollen Geheimhaltung, dass nicht einmal annähernd realistische Datenerhebungen und Untersuchungen durchführbar sind. Diese fordert unsere Gesellschaft jedoch als Voraussetzung für umfassende Veränderungen. Viele Ansätze, sexuellem Kindesmissbrauch entgegenzuwirken, scheitern deshalb an den Schwierigkeiten, die notwendige institutionelle, rechtliche oder finanzielle Unterstützung zu erhalten. Ein Umdenken wäre hier erforderlich.
Seit einiger Zeit wird eine gangbare Alternative in der präventiven Arbeit gegen sexuellen Kindesmissbrauch gesehen. Idealerweise soll diese umfassend wirken und früh genug ansetzen, um Kindesmissbrauch gar nicht geschehen zu lassen. In der Praxis zeigen sich jedoch auch hier viele Probleme. So sind beispielsweise Inhalt, Methoden und Effizienz derzeitiger Präventionsarbeit kaum erforscht und dementsprechend umstritten. Ein weiteres Defizit liegt in der mangelnden Abstimmung einzelner präventiver Maßnahmen aufeinander. Zudem ist auch die wichtigste Voraussetzung für eine sinnvolle Präventionsarbeit noch nicht ausreichend gegeben: eine Sensibilisierung für die Erlebniswelt der Opfer und TäterInnen, die zur Tat führt bzw. aus dieser resultiert.
Eine Annäherung an diese Erlebniswelt sowie die Entwicklung eines hierauf aufbauenden Präventionskonzepts sind die Ziele dieser Arbeit.
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
1. Einleitung
2. Sexueller Mißbrauch von Kindern
2.1. Definitionen und Daten
2.2. Die Thematisierung von Kindesmißbrauch in der Öffentlichkeit
2.3. Gesellschaftsprofil
2.4. TäterInnenprofile
2.4.1. Tätermotiv: Ma t
2.4.2. Tätermotiv: Einsamkeit
2.4.3. TäterInnenmotiv: Pädophilie
2.4.4. Frauen als Täterinnen
2.5. Opferprofile
2.5.1. Vertrauensverlust und Lähmung durch Widersprüche
2.5.2. Überlebensstrategien
2.5.3. Relevante Aspekte für das Ausmaß der Schädigung
2.5.4. Symptome
2.5.5. Familienstrukturen der Opfer
2.5.6. Jungen als Opfer
3. Mißbrauchsprävention
3.1. Theoretische Ansätze
3.2. Schulische Präventionsarbeit: Möglichkeiten und Probleme
3.3. Initiativen zur schulischen Präventionsarbeit
3.4. Ein Konzept zur schulischen Präventionsarbeit: Eltern aufklären - LehrerInnen fortbilden - Kinder stärken
3.4.1. Langfristige Forderungen
3.4.2. Organisation
3.4.3. Eltern aufklären
3.4.4. LehrerInnen fortbilden
3.4.5. Kinder stärken
4. Resümee
Literaturverzeichnis
Anhang
I Untersuchungen zur Häufigkeit von sexuellem Kindesmißbrauch
II §176 StGB
III Zeitungsartikel: suchtkranke Frauen und Kindesmißbrauch
IV Symptome
V Erklärung
Vorwort
Zum ersten Mal kam ich mit sexuellem Kindesmißbrauch in Kontakt, als ich 1990 für ein Jahr die Leitung einer Kindergruppe übernahm. Ein Mädchen dieser Gruppe fiel mir durch ihr Verhalten negativ auf. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits - wenn auch geringes - Vorwissen zum Thema Kindesmißbrauch hatte, brauchte ich das ganze Jahr, um mir einzugestehen, daß dieses „seltsame Verhalten“ deutlich auf solchen hinwies. Es war mit Sicherheit kein Zufall, daß dieses Eingeständnis unmittelbar vor meiner letzten Gruppenstunde erfolgte, zu einem Zeitpunkt also, als ich kaum noch eingreifen und die Verantwortung nur noch an meine NachfolgerInnen bzw. die Klassenlehrerin des Mädchens weitergeben konnte.
Diese Erfahrung hat mir verständlich gemacht, warum Kindesmißbrauch so häufig so lange „unentdeckt“ oder zumindest ungeahndet bleiben kann. Sie hat mich allerdings auch so geärgert, daß ich beschloß, so etwas nicht noch einmal zuzulassen. Um dies zu gewährleisten, setzte ich mich die folgenden Jahre immer mehr mit sexuellem Mißbrauch auseinander - mit Hilfe von Büchern, Filmen und im zunehmenden Maße auch durch Gespräche mit Opfern. Je mehr ich mich mit Mißbrauch beschäftigte und auch darüber sprach, desto mehr meiner FreundInnen, Bekannten und Verwandten erzählten mir von eigenen direkten oder indirekten Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen, bis mir die enorm hohen Dunkelzifferschätzungen (s. Kap. 2.1.) zum sexuellen Kindesmißbrauch erschreckend realistisch erschienen.
Durch das nach und nach angesammelte Wissen fiel es mir immer leichter, bei meiner Arbeit mit Kindern Hinweise auf sexuellen Mißbrauch wahrzunehmen. Meine Vermutungen stimmten immer mit den Beobachtungen der anderen involvierten ErzieherInnen überein und konnten in manchen Fällen sogar definitiv bestätigt werden. Dies führte jedoch in keinem Fall zu einer Veränderung der Situation des betroffenen Kindes. Immer gab es zeitliche, rechtliche oder persönliche Schranken, die ein sinnvolles Eingreifen verhinderten.
Diese Erfahrungen mit der Praxis zeigten mir, daß Hintergrundwissen zum und Sensibilisierung für sexuellen Kindesmißbrauch zwar die Wahrnehmung von Kindesmißbrauch erleichtern, zu dessen Reduzierung jedoch nicht ausreichend beitragen können. Ich begann also, nach Möglichkeiten zu suchen, wie trotz der derzeitigen Rechtslage und der Schwierigkeiten, sexuellen Kindesmißbrauch zweifelsfrei aufzudecken (s. Kap. 2.), gegen Kindesmißbrauch vorgegangen werden könnte. Die präventive Arbeit gegen sexuellen Kindesmißbrauch verspricht diesbezüglich, ein guter Ansatz zu sein. Naheliegend und sinnvoll erscheinen mir hier besonders die Integration präventiver Arbeit in den Unterricht sowie das regelmäßige Durchführen von Projekten und Informationsveranstaltungen an Schulen. Diese Überlegungen sowie die Frage, warum ein solcher Schritt bisher nicht realisiert wurde, stellen den Ausgangspunkt dieser Arbeit dar.
1. Einleitung
Sexueller Kindesmißbrauch ist ein Thema, das im Bewußtsein der Öffentlichkeit zunehmend mehr Raum einnimmt. Dies ist vor allem auf eine umfassende Thematisierung in den Medien zurückzuführen. Als Folgen sind sowohl eine Zunahme bekannt werdender Fälle von Kindesmißbrauch als auch ein wachsendes Verständnis für dessen Auswirkungen auf die Opfer zu beobachten. Die Hochrechnungen über die Häufigkeit von sexuellem Kindesmißbrauch schockieren ebenso wie die Intensität und Vielzahl seiner Folgen, weisen beide doch deutlich auf ein grundlegendes, gesellschaftliches Problem hin. Dennoch lassen effiziente Maßnahmen zur Reduzierung von Kindesmißbrauch auf sich warten, denn die Unsicherheit im Umgang mit diesem Thema ist groß: Zu viele Ängste, zu tiefgreifende gesellschaftliche Probleme, zu verwurzelte Tabus werden hier angesprochen. Zudem unterliegt sexueller Mißbrauch in der Regel einer so wirkungsvollen Geheimhaltung, daß nicht einmal annähernd realistische Datenerhebungen und Untersuchungen durchführbar sind. Diese fordert unsere Gesellschaft jedoch als Voraussetzung für umfassende Veränderungen. Viele Ansätze, sexuellem Kindesmißbrauch entgegenzuwirken, scheitern deshalb an den Schwierigkeiten, die notwendige institutionelle, rechtliche oder finanzielle Unterstützung zu erhalten. Ein Umdenken wäre hier erforderlich.
Seit einiger Zeit wird eine gangbare Alternative in der präventiven Arbeit gegen sexuellen Kindesmißbrauch gesehen. Idealerweise soll diese umfassend wirken und früh genug ansetzen, um Kindesmißbrauch gar nicht geschehen zu lassen. In der Praxis zeigen sich jedoch auch hier viele Probleme. So sind beispielsweise Inhalt, Methoden und Effizienz derzeitiger Präventionsarbeit kaum erforscht und dementsprechend umstritten. Ein weiteres Defizit liegt in der mangelnden Abstimmung einzelner präventiver Maßnahmen aufeinander. Zudem ist auch die wichtigste Voraussetzung für eine sinnvolle Präventionsarbeit noch nicht ausreichend gegeben: eine Sensibilisierung für die Erlebniswelt der Opfer und TäterInnen, die zur Tat führt bzw. aus dieser resultiert. Eine Annäherung an diese Erlebniswelt sowie die Entwicklung eines hierauf aufbauenden Präventionskonzepts sind die Ziele dieser Arbeit.
In Kapitel 2. soll dementsprechend Hintergrundwissen über sexuellen Mißbrauch von Kindern zusammengetragen und ein Verständnis für die mißbrauchsspezifische Problematik aufgebaut werden. Neben allgemeinen Informationen zum Kindesmißbrauch sollen hier Fragen nach dessen Ursachen und Folgen hinsichtlich der Opfer und TäterInnen sowie nach den gesellschaftlichen Problemen im Umgang mit diesen geklärt werden.
Zunächst werden im Kapitel 2.1. Definitionen und Daten zum sexuellen Kindesmißbrauch vorgestellt. Die vielfältigen und teils auch widersprüchlichen Informationen hierzu werden gemäß des derzeitigen Wissensstandes gesammelt und diskutiert.
Die statistischen Angaben über Kindesmißbrauch liefern zudem einen ersten Hinweis darauf, daß es sich hierbei nicht um Einzelfälle, sondern um ein gesellschaftliches Problem handelt. Diese These wird sodann ausgeführt und belegt.
In diesem Kontext gilt es darüber hinaus zu untersuchen, wie unsere Gesellschaft als Ganzes auf das Thema Kindesmißbrauch reagiert und welche Schwierigkeiten sie im Umgang mit diesem hat. Ebenso ist zu zeigen, welche gesellschaftlichen Normen und Werte, aber auch welche persönlichen Voraussetzungen Menschen zu Opfern bzw. TäterInnen werden lassen.
Das Kapitel 2.2. beschäftigt sich dementsprechend unter Berücksichtigung historischer Entwicklungen mit der Thematisierung von sexuellem Mißbrauch in der Öffentlichkeit.
In Kapitel 2.3. wiederum wird ein Gesellschaftsprofil entworfen, das anhand von gesellschaftlichen Normen die Ängste der Menschen zu erklären versucht, die nichts gegen Kindesmißbrauch unternehmen, obwohl sie mit diesem - allgemein durch die Medien oder aber konkret in ihrem Umfeld - konfrontiert werden.
Die beiden anschließenden Kapitel (2.4. TäterInnenprofile und 2.5. Opferprofile) beinhalten eine Analyse der Ursachen, die dazu führen können, zu TäterInnen bzw. Opfern zu werden. Über die Anforderungen der eigentlichen Präventionsarbeit hinausgehend werden hier zudem Verhaltensmuster von TäterInnen und Opfern sowie deren Wahrnehmungen und Empfindungen vor, während und nach der Tat aufgezeigt. Diese Informationen sollen helfen, die zweite große Chance wahrzunehmen, die Präventionsarbeit bietet: die Aufdeckung und Unterbindung aktueller Fälle von Kindesmißbrauch.
Die Kapitel 2.3. bis 2.5. sind bewußt als Profile gestaltet, da sie auch als Grundlage für eventuelle spätere Präventionsarbeit dienen sollen. Während ein akribisch zusammengestellter „Merkmalkatalog“ in der Eltern- bzw. LehrerInnenarbeit Ängste und Überreaktionen auslösen kann, soll diese Form der Analyse helfen, ein Verständnis für grundlegende Strukturen des sexuellen Kindesmißbrauchs zu wecken und darüber hinaus adäquate Reaktionsmöglichkeiten aufzeigen.
Mit der Mißbrauchsprävention selbst beschäftigt sich im Anschluß an die Auseinandersetzung mit der Problematik des sexuellen Kindesmißbrauchs das Kapitel 3.
Hier werden zunächst allgemeine theoretische Hintergründe und praktische Ansätze derzeitiger Präventionsarbeit kurz vorgestellt (Kap. 3.1.).
Anschließend wird die schulische Präventionsarbeit im Hinblick auf ihre Möglichkeiten und Probleme konkretisiert (Kap. 3.2.).
Das Kapitel 3.3. gibt dann einen kurzen Überblick über Inhalte und Effizienzschwierigkeiten einiger derzeitiger Initiativen zur schulischen Präventionsarbeit in Deutschland sowie deren Ursprungsland USA.
Schließlich wird in Kapitel 3.4. ein Präventionsmodell für die Schule vorgestellt, das Eltern aufklären - LehrerInnen fortbilden - Kinder stärken soll und inhaltlich die Ergebnisse des Kapitels 2., konzeptionell die in Kapitel 3.1. bis 3.3. aufgeführten Probleme derzeitiger Präventionsarbeit berücksichtigt.
2. Sexueller Mißbrauch von Kindern
2.1. Definitionen und Daten
Die ersten Fragen, die sich in Bezug auf sexuellen Mißbrauch von Kindern stellen, sind die nach dessen Definition und Häufigkeit. Beide sind nicht eindeutig zu beantworten, zumal die Fachliteratur hierzu zum Teil erhebliche Differenzen aufweist.
Die Problematik hinsichtlich der Definition beginnt beim Versuch einer genauen Eingrenzung des Begriffs „ sexueller Kindesmißbrauch “.
Bereits bei der eindeutig anmutenden Bezeichnung „ Kind “ finden sich erste Unterschiede in der Fachliteratur, da die einzelnen AutorInnen bzw. Untersuchungsanordnungen zum sexuellen Kindesmißbrauch von unterschiedlichen Altersgrenzen (12 - 18 Jahre) ausgehen und dementsprechend in ihren Ergebnissen differieren.
Uneindeutig ist auch der sexuelle Aspekt. Ist es die Tat selbst, die diesen ausmacht, also beispielsweise die Berührung der Genitalien, so ist dies deutlich von Notwendigkeiten wie z. B. einer ärztlichen Untersuchung oder der Körperpflege eines kleinen Kindes zu unterscheiden. Doch auch eine solche Abgrenzung ist nicht unproblematisch, da sich, wie noch gezeigt werden wird, hinter solchen scheinbaren Notwendigkeiten auch sexuelle Übergriffe verbergen können. Schwierig ist darüber hinaus die Definitionsfindung im Hinblick auf weniger offensichtlich sexualisierte Handlungen, wie etwa Blicke, Anzüglichkeiten oder nicht-genitaler Körperkontakt. Eine Unterscheidung zwischen sexuellen Übergriffen und harmlosen Interaktionen ist hier häufig nur anhand der TäterInnenintention zu treffen, die jedoch kaum nachzuweisen ist. Noch problematischer wird es jedoch, nimmt man zudem den Mißbrauchs begriff hinzu. Dieser kann allgemein als Instrumentalisierung einer Person zur egoistischen Bedürfnisbefriedigung einer anderen verstanden werden. In Bezug auf sexuellen Kindesmißbrauch sagt Bange dementsprechend: „ Der Täter (die Täterin) nutzt seine (ihre) Macht- und Autoritätsposition aus, um seine (ihre) eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen. “[1]. Und Steinhage führt aus: „ Sexueller Mißbrauch bedeutet, daß der Täter (die Täterin) das Vertrauen, die Abhängigkeit und Sexualität des Mädchens (Jungen) mißbraucht und kindliche Gefühle für seine (ihre) Interessen benutzt. “[2] Auch hier wird also auf die Intention der TäterInnen und die Empfindung der Opfer zurückgegriffen. Von außen - und teilweise sogar von Seiten der TäterInnen bzw. Opfer selbst - sind diese jedoch meist nur schwer zu erkennen (s. Kap. 2.3.3.). Da sexueller Mißbrauch Abhängiger zudem eine Straftat ist (s. u.), können anzügliche Blicke oder Reden nicht ohne weiteres unter diesem Begriff subsumiert werden. Andererseits darf aber auch nicht das individuelle Empfinden des Opfers ignoriert werden, indem als tief verletzend wahrgenommene Handlungen durch festgelegte Definitionen als Lappalie abgetan werden. Als Folge dieses Problems finden sich in der Fachliteratur immer wieder differenzierte Aufzählungen derjenigen Handlungen, die nach dem Verständnis der jeweiligen AutorInnen unter sexuellen Mißbrauch fallen. Solche „Handlungslisten“ beinhalten jedoch ebenfalls die Gefahr, bestimmte Aspekte sexuellen Mißbrauchs auszuklammern oder aber umgekehrt Handlungen aufzuführen, die in bestimmten Kontexten keinen mißbräuchlichen Charakter haben.[3] Beides kann für Betroffene sehr problematisch sein. Enders umgeht das Problem einer genauen Definition von sexuellem Kindesmißbrauch, indem sie von „ sexueller Gewalt “ gegen Kinder spricht. Diese definiert sie folgendermaßen: „ Sexuelle Gewalt [...] fängt bei heimlichen, vorsichtigen Berührungen, verletzenden Redensarten und Blicken an und reicht über Kinderpornographie bis hin zur oralen, vaginalen oder analen Vergewaltigung.“ Als „ entscheidende Kriterien “ gibt sie „ das Erleben des Mädchens (Jungen) und die Sexualnormen, die in einer Familie gelten “[4] an. Das Erleben der Kinder wiederum hängt weitgehend von der Intention der TäterInnen ab, denn „ Kinder spüren genau, wann Zärtlichkeiten aufhören und sexuelle Übergriffe anfangen. “[5] „ Jedes Kind weiß sehr bald, daß der Erwachsene etwas tut, was er für sich selbst will. Das Kind nimmt das bewußt wahr und fühlt sich ausgenützt und ausgebeutet. “[6] Dies macht eine bestimmte Handlung, die ohne egoistische sexuelle Absicht möglicherweise unproblematisch wäre, erst zum sexuellen Mißbrauch.
Die Intention der TäterInnen und das Empfinden der Opfer scheinen für eine angemessene Definitionsfindung also eine entscheidende Rolle zu spielen. Da beide jedoch subjektiv geprägt sind, können sie zumindest im rechtlichen Bereich nicht als Indikatoren für sexuellen Mißbrauch verwendet werden, wohl aber in der Präventionsarbeit, die sich vorrangig um ein Verständnis für Ursachen und Strukturen des sexuellen Kindesmißbrauchs bemühen muß. Möglicherweise sind in Bezug auf sexuellen Kindesmißbrauch tatsächlich mehrere Definitionen erforderlich, die dem jeweiligen Kontext angepaßt werden müssen. Als eine Art Richtschnur trotz aller Unsicherheiten und Schwierigkeiten können nach Glöer und Schmiedeskamp-Böhler zwei Kriterien dienen, die auf sexuelle Ausbeutung hinweisen: „ Zum einen beginnt sexueller Mißbrauch immer dann, wenn die zu befriedigenden Bedürfnisse ausschließlich die des Erwachsenen sind. Zum anderen kann man von sexueller Gewalt dann ausgehen, wenn solche Berührungen heimlich passieren. “[7] Jungjohann wiederum gibt an, daß im „ transkulturellen Sinn “ übereinstimmend die Faktoren „ Zwang “, „ Geheimhaltung “ und „ Altersunterschied “ als Hinweise auf sexuellen Mißbrauch angesehen werden.[8] Doch auch diese Begriffe lassen viel Raum für unterschiedliche Interpretationen. Diskussionen entstehen hier beispielsweise darüber, ob Zwang erst bei Gewaltandrohung anfängt oder bereits durch die Existenz eines Machtgefälles gegeben ist. Eine weitere Meinungsverschiedenheit bezieht sich auf den Altersunterschied, denn „ auch sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen können als schädlich, unschön und ungewollt erfahren werden, und auch bei AltersgenossInnen kann die Absicht vorhanden sein, andere Kinder zu mißbrauchen. “[9]
Wird die Möglichkeit, daß Kinder auch von anderen Kindern mißbraucht werden können, mit einbezogen, bietet Longdon eine recht umfassende Definition für sexuellen Kindesmißbrauch, die vielen wichtigen, z. T. bereits genannten Aspekten gerecht wird: „ Ein Kind wird durch einen Menschen männlichen oder weiblichen Geschlechts, der/die Aufsichts- oder Fürsorgepflicht oder Macht über das Kind besitzt, gezwungen, gedrängt oder manipuliert, sexuelle Handlungen an seinem Körper entweder zu verüben oder verüben zu lassen oder an dem Körper der/des Erwachsenen vorzunehmen. Dabei schließe ich Fälle ein, in denen das Kind veranlaßt/gebeten wird, anderen Menschen bei ihren sexuellen Handlungen zuzusehen, egal ob durch Zwang oder freiwillig, oder in denen das Kind irgendwelchen sexuellen Handlungen, Reden, Bildern etc. ausgesetzt wird, die weit über die sexuelle und psychologische Entwicklung des Kindes hinausgehen. “[10] Vereinfacht läßt sich dies folgendermaßen zusammenfassen: Jegliche Handlung an Kindern, denen eine einseitige sexuelle Intention zugrunde liegt, ist als sexueller Kindesmißbrauch anzusehen.[11] Letztlich ist jedoch festzuhalten, daß es zur Zeit keine allgemein gültige und allgemein anerkannte Definition von sexuellem Kindesmißbrauch gibt.
Die eingangs gestellte Frage nach der Häufigkeit von sexuellem Kindesmißbrauch kann ebenfalls nicht eindeutig beantwortet werden. Dies hängt in vieler Hinsicht mit der o. g. Problematik bei der Definition von sexuellem Kindesmißbrauch zusammen. Besonders die unterschiedlich gesetzten Altersgrenzen sowie die Diskussion über die Zugehörigkeit von nicht-körperlichen sexuellen Übergriffen (z. B. Exhibitionismus) zum Kindesmißbrauch führen hier zu erheblichen Differenzen. Ein weiteres Problem liegt darin, daß viele mit dem sexuellen Kindesmißbrauch verwandte Begriffe wie Kindesmißhandlung, sexueller Mißbrauch, Vergewaltigung, Inzest, Inzucht, pädophiles Verhältnis, Verführung Minderjähriger u. ä. in der Fachliteratur synonym für diesen verwendet werden oder zumindest weder deutlich voneinander abgegrenzt, noch eindeutig und übereinstimmend definiert sind. Dementsprechend unterscheiden sich viele Untersuchungen auch hinsichtlich ihrer Fragestellung und Vorgehensweise, was einen Vergleich der Untersuchungsergebnisse zusätzlich erschwert und ihre Glaubwürdigkeit reduziert.[12]
Das Hauptproblem bei der Datenerhebung zum sexuellen Kindesmißbrauch ist jedoch auf die gesellschaftliche Tabuisierung sowie die von Opfer- und TäterInnenseite vollzogene Geheimhaltung des sexuellen Mißbrauchs zurückzuführen. Die wenigen, häufig erst in der Retrospektive bekannt gewordenen und nicht immer bewiesenen Fälle müssen demnach nicht unbedingt repräsentativ sein. Zudem muß von einer extrem hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. Die im Zusammenhang mit sexuellem Kindesmißbrauch erstellten Zahlenangaben sind somit vornehmlich auf Schätzungen und Hochrechnungen angewiesen und müssen dementsprechend als Tendenzen bzw. Annäherungen an die Realität verstanden und beständig hinterfragt und modifiziert werden.
Hinsichtlich der Inzidenz[13] des sexuellen Kindesmißbrauchs greifen viele AutorInnen in Ermangelung repräsentativer wissenschaftlicher Untersuchungen für die Bundesrepublik Deutschland auf die Polizeiliche Kriminalstatistik zurück, um wenigstens einen sicheren Mindestwert für die Bundesrepublik Deutschland zu erhalten.[14] Vorwiegend wird hier die Kriminalstatistik von 1987 zitiert, die für dieses Jahr 10.000 Fälle von sexuellem Mißbrauch an Kindern im Sinne des § 176 StGB sowie 10.000 weitere Fälle von Exhibitionismus angibt.[15] Vereinzelt werden auch spätere Statistiken zitiert, die eine Entwicklung hinsichtlich des Meldeverhaltens belegen.[16] So weist etwa die Kriminalstatistik für das Jahr 1995 bereits 16.013 Fälle von sexuellen Kindesmißbrauch auf.[17] Es ist zu vermuten, daß die verstärkte Aufklärung über Kindesmißbrauch die diesbezügliche Meldebereitschaft zunehmend erhöht. Für diese Tendenz sprechen auch vergleichbare Zahlen in den USA. So berichtet beispielsweise Jungjohann von einem dortigen Anstieg der jährlichen Meldungen von Fällen sexuellen Kindesmißbrauchs von 6.000 (1976) auf 132.000 (1986).[18]
Um die Mindestwerte der Kriminalstatistik nun an die Realität annähern zu können, werden Hell-/Dunkelfeldschätzungen vorgenommen, die sich gewöhnlich an Fragebogenerhebungen orientieren. Häufig zitiert wird hier die von Baurmann (1983) angenommene Hell-/Dunkelfeldschätzung von 1:18 bis 1:20, obwohl diese nicht auf einer repräsentative Dunkelfeld-Studie, sondern auf einer BKA-Längsschnittstudie aufbaut.[19] Ausgehend von den Angaben der Kriminalstatistik von 1987 und orientiert an Hell-/Dunkelfeldschätzungen wie der Baurmanns, „ gehen ExpertInnen davon aus, daß jährlich schätzungsweise 150.000 bis 300.000 und mehr Kinder sexuell mißbraucht werden “[20]. Die Legitimität einer so wenig abgesicherten Vorgehensweise ist jedoch umstritten, so daß zahlreiche KritikerInnen - wie z. B. Rutschky - solche „ Rechenkünste “ bezweifeln.[21] Ihre Kritik ist verständlich, denn bei einer so komplexen Problematik wie der des sexuellen Kindesmißbrauchs ist es nicht unwahrscheinlich, daß persönliche Dispositionen der Befragten, wie etwa Verdrängungsmechanismen, Schamgefühle oder Geltungssucht die Ergebnisse von Fragebogenerhebungen signifikant verfälschen. Solange noch nicht alle inneren Zusammenhänge des sexuellen Kindesmißbrauchs geklärt sind, ist zudem nicht auszuschließen, daß die Auswahl der Befragten die Untersuchung beeinflußt, was eine Hochrechnung der Ergebnisse verbieten würde. Weitere Verfälschungsfaktoren könnten in der Art und Weise der Befragung sowie in Beeinflussungen der Befragten durch die öffentliche Darstellung des Mißbrauchsthemas zu finden sein.[22] Die hier genannten Kritikpunkte sind besonders angebracht, wenn sie sich auf so eingegrenzte Versuchsanordnungen wie der Opferbefragung Baurmanns beziehen, gelten jedoch grundsätzlich für alle Fragebogenerhebungen. Aufgrund des Alternativenmangels scheinen solche retrospektiven Untersuchungen zur Zeit allerdings die einzige Möglichkeit zu bieten, sich dem tatsächlichen Ausmaß des Kindesmißbrauchs zumindest anzunähern. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse sollten die zahlreichen möglichen Fehlerquellen deshalb berücksichtigt werden.
Die oben geschilderte Problematik gilt auch für die Prävalenz[23] des sexuellen Kindesmißbrauchs, für die ebenfalls auf retrospektive Untersuchungen in Form von anonymen Fragebogenerhebungen zurückgegriffen werden muß. Eine der bekanntesten dieser Fragebogenerhebungen ist die von Bange (1992). Von insgesamt 874 StudentInnen (518 Studentinnen, 343 Studenten) gaben hier 25% der Frauen und 8% der Männer an, mindestens einmal als Kind sexuell mißbraucht worden zu sein. Damit bestätigte Bange „ die häufig geäußerte Annahme, daß in der Bundesrepublik Deutschland etwa jedes vierte Mädchen und jeder zwölfte Junge sexuell mißbraucht würden “[24].
Banges Studie zeigt zudem in Übereinstimmung mit vielen anderen, daß ein Großteil der TäterInnen aus dem engsten sozialen Umfeld des Opfers kommt.[25] Desweiteren stimmen viele Untersuchungen zu Kindesmißbrauch darin überein, daß mehr Männer als Frauen mißbrauchen, mehr Mädchen als Jungen mißbraucht werden und sexueller Kindesmißbrauch wesentlich häufiger stattfindet, als er zur Anzeige gebracht wird.[26] Trotz dieser Kongruenz sollten solche Untersuchungsergebnisse nicht verabsolutiert werden, da sich die Enttabuisierung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern noch im Prozeß befindet und erhebliche Abweichungen vom jetzigen diesbezüglichen Erkenntnisstand zu erwarten sind.
Verwiesen werden soll noch auf die zahlreichen weiteren Untersuchungen, die möglicherweise in der Hoffnung durchgeführt wurden, eindeutige Strukturen und äußere Merkmale des sexuellen Mißbrauchs zu finden, die den TäterInnen- bzw. Opferkreis von vornherein einschränken können. Sie sollten beispielsweise klären, wie viele Opfer welchen Geschlechts, welcher Altersgruppe und mit welchen Eigenschaften von welchen TäterInnen einer bestimmten Geschlechts-, Altersgruppen-, Schicht-[27] oder Berufszugehörigkeit in welchen Lebenssituationen mißbraucht werden. Die diesbezüglichen Ergebnisse sind jedoch breit gefächert und fast ebenso zahlreich wie die Untersuchungen selbst, weshalb sie wenig aussagekräftig sind. Doch selbst wenn sie eine größere Kongruenz aufweisen würden, wären sie zur Reduzierung von sexuellem (Kindes-)Mißbrauch weitgehend ungeeignet, da die Ergebnisse immerhin darin übereinstimmen, daß die gesuchten Einschränkungen hinsichtlich des TäterInnen- bzw. Opferkreises nicht vornehmbar sind. Vielmehr haben sie gezeigt, daß grundsätzlich jeder Mensch (auch Erwachsene!) Opfer von sexuellem Mißbrauch werden und jede/r (auch Kinder!) TäterIn sein kann. Die Frage nach der durchschnittlichen prozentualen Beteiligung der jeweiligen Personengruppen am sexuellen Mißbrauch ist für dessen Minderung nicht nur unerheblich, sondern birgt zudem die Gefahr, durch Berufung auf solche Untersuchungen ungewöhnlichere Mißbrauchsfälle nicht wahrzunehmen. Dieses Risiko ist möglicherweise größer als der Nutzen, den das Feststellen bestimmter Tendenzen im Rahmen des Kindesmißbrauchs bringen kann. In der vorliegenden Arbeit wird dieser Aspekt daher vernachlässigt.
Abschließend läßt sich sagen, daß die beschriebenen wie auch die folgenden Untersuchungsergebnisse bei aller Fragwürdigkeit hinsichtlich ihrer Exaktheit zumindest deutlich machen, daß ein Einschreiten gegen sexuelle Gewalt absolut notwendig ist - und zwar unabhängig davon, ob diese als sexueller Kindesmißbrauch zu bezeichnen ist oder nicht.
2.2. Die Thematisierung von Kindesmißbrauch in der Öffentlichkeit
Relevant für das Verständnis der Problematik des sexuellen Kindesmißbrauchs sind nach dessen Definition und Häufigkeit vor allem seine Ursachen. Hier sind in erster Linie die später noch zu behandelnden persönlichen Motive bzw. Dispositionen der Opfer und TäterInnen sowie der „ZeugInnen“[28] von Kindesmißbrauch zu nennen. Darüber hinaus wirft das Ausmaß des Kindesmißbrauchs die Frage nach dessen Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext auf. Es wäre zu vermuten, daß der Ursprung des sexuellen Kindesmißbrauchs ebenso wie der gesellschaftliche Umgang mit diesem Aufschluß über Möglichkeiten zur Abhilfe geben kann.
Auf die Frage nach der Ursache des sexuellen Kindesmißbrauchs gibt es keine eindeutige Antwort. Hier ist auf eine sehr lange Geschichte der sexuellen Ausbeutung von Kindern zu verweisen, die bereits von der Antike an belegt ist. So berichten zahlreiche altgriechische Schriften von der gesellschaftlich durchaus anerkannten „Knabenliebe“.[29] Im Mittelalter dienten Kinder ihren Eltern als sexuelle Spielzeuge.[30] In England galt „Vergewaltigung von Minderjährigen“ im 16. Jahrhundert zwar als Straftat, wurde jedoch in der Regel nicht sanktioniert.[31] Ende des 19. Jahrhunderts führten Freuds Erfahrungen mit mißbrauchten Patientinnen zu den im deutschsprachigen Raum ersten wissenschaftlichen Diskussionen über Inzest, die jedoch durch die enorme Angst der Gesellschaft, sich diesem Thema zu stellen, schnell wieder fallengelassen wurden. Unter Druck widerrief Freud seine Verführungstheorie und erklärte die realen Erlebnisse seiner Patientinnen mit kindlichen, sexuell geprägten Phantasien, die bis heute zum Mythos des sexuell an seinen Eltern oder anderen Erwachsenen interessierten Kindes beiträgt.[32] Erst als in den 80er Jahren im Kontext der Frauenbewegungen die ersten Veröffentlichungen von ehemals mißbrauchten Frauen auf den Markt kamen[33], konnte der sexuelle Mißbrauch von Kindern gesellschaftlich nicht mehr negiert werden. Zahlreiche Untersuchungen über Vorkommen, Häufigkeit und Begleitumstände des Kindesmißbrauchs, Fachliteratur von TherapeutInnen bzw. MitarbeiterInnen entsprechender Hilfsorganisationen und immer zahlreicher erscheinende Biographien von Betroffenen sorgten von diesem Zeitpunkt an für eine schnelle Zunahme von Wissen und Akzeptanz in der Gesellschaft. Als sich schließlich vermehrt auch die Unterhaltungsmedien des (ehemaligen) Tabuthemas annahmen, avancierte es zum Modethema. So gibt es mittlerweile in Kino und Fernsehen eine ganze Reihe Filme, Serien und Talkshows, die Kindesmißbrauch thematisieren oder zumindest am Rande streifen, Lieder aus der Popszene, Zeitungsartikel, die sich teils skandalträchtig, teils engagiert mit Kindesmißbrauch auseinandersetzen, und sogar Trivialliteratur, deren Handlung auf Kindesmißbrauch basiert.[34] Ob diese Art und Weise der öffentlichen Thematisierung von Kindesmißbrauch signifikant zu dessen Reduzierung beiträgt oder vielmehr die Gleichgültigkeit gegen diesen noch erhöht, läßt sich zur Zeit nicht feststellen. Solange sich die Aufklärung über sexuellen Kindesmißbrauch noch im Prozeß befindet, sind genaue Zahlenerhebungen und sonstige Untersuchungen nicht durchführbar. Festzuhalten bleibt jedoch, daß die häufige, wenn auch teilweise sehr triviale Darstellungsweise von Kindesmißbrauch zwar manchen verschrecken mag, insgesamt jedoch zumindest zu einer breiten Aufklärung in allen Gesellschaftsschichten führt und deutlich macht, daß Kinder in einem ernstzunehmenden Maße sexuell mißbraucht werden.[35] Hierdurch schafft sie die Voraussetzungen, daß Anzeichen für Kindesmißbrauch leichter wahrgenommen und zumindest die zur Anzeige gebrachten Mißbrauchsfälle ernst genommen und sinnvoll, für das Opfer hilfreich bearbeitet werden.[36]
Letzteres wird zudem durch das Angebot an Fortbildungsmöglichkeiten für professionelle HelferInnen (ErzieherInnen, LehrerInnen, SeelsorgerInnen, ÄrztInnen, PolizistInnen, MitarbeiterInnen des Jugendamts und des Gerichts, TherapeutInnen, etc.) in zunehmenden Maße gewährleistet. Für die Opfer bedeutet die Enttabuisierung des Mißbrauchsthemas unabhängig von ihrer Darbietungsform in jedem Fall insofern eine große Befreiung und Erleichterung, als sie auf diesem Weg erfahren, daß sie mit ihren Erlebnissen, Problemen und Nöten nicht allein sind. Seriöse und sensible Darstellungen vermitteln ihnen zudem, daß sie nicht Schuld an ihrem Leid haben, ihre Schwierigkeiten noch Jahre nach den sexuellen Übergriffen normal sind und es Möglichkeiten für sie gibt, Hilfe zu erhalten.[37] „ Die Folge war, daß Kinder darüber zu sprechen begannen, daß sie in der Familie, in der Nachbarschaft, in Ferienlagern und in Tageseinrichtungen sexuellen Handlungen Erwachsener ausgeliefert waren “[38], weshalb die Zahlen der zur Anzeige gebrachten Mißbrauchsdelikte jährlich deutlich steigen (s. o.). Negativ kann sich die teils wenig seriös wirkende, dramatisierte oder abgeflachte Darbietung dann auswirken, wenn sie Außenstehenden den Eindruck vermittelt, die öffentliche Thematisierung von sexuellem Kindesmißbrauchs sei lediglich eine Modeerscheinung. Eine solche Sichtweise kann dazu beitragen, ein gesellschaftliches Umfeld zu schaffen, das Kindesmißbrauch trotz deutlicher Hinweise der Opfer (s. u.) nicht wahrnehmen kann oder will. Indirekt wirken sich die Medien zudem durch die Vermittlung bestimmter, häufig äußerst fragwürdiger Vorstellungen über Rollendefinitionen, Liebe bzw. Sex auf sexuellen Kindesmißbrauch bzw. dessen Sichtweise in der Öffentlichkeit aus.[39]
Der historische Rückblick sowie der Überblick über den sich wandelnden Umgang mit sexuellem Kindesmißbrauch in der Öffentlichkeit machen deutlich, wie tiefgreifend und umfassend dieses Problem in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Bereits hier zeigt sich, daß wirksame Gegenmaßnahmen in ebenso tiefgreifenden und umfassenden, die ganze Gesellschaft betreffenden Ansätzen gesucht werden müssen.
2.3. Gesellschaftsprofil
Es wurde bereits angedeutet, daß Kindesmißbrauch weitgehend als gesellschaftliches Problem zu sehen ist. Wie noch gezeigt werden wird (s. Kap. 2.4. und 2.5.), tragen normative geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen der Gesellschaft grundlegend dazu bei, sexuellen Kindesmißbrauch zu ermöglichen. Darüber hinaus sind gesellschaftliche Strukturen aber auch im Hinblick auf diejenigen relevant, die am Mißbrauch selbst zwar unbeteiligt sind, diesen jedoch wahrnehmen (könnten) und dennoch passiv bleiben. Hier ist zu fragen, warum es trotz der umfassenden Aufklärung über sexuellen Kindesmißbrauch und der teils sehr deutlichen Reaktionen der Opfer (s. Kap. 2.5.) noch immer so einfach zu sein scheint (s. Dunkelzifferschätzungen), unentdeckt oder zumindest ungestraft immer wieder und über einen langen Zeitraum hinweg Kinder zu mißbrauchen. Die Sicherheit, mit der TäterInnen hier agieren können, wird erst verständlich, unterstellt man sowohl der Gesellschaft im Ganzen als auch konkreten „Außenstehenden“ im Umfeld von Opfer bzw. TäterIn eine große Bereitschaft, Kindesmißbrauch „zu übersehen“.
Der bereits beschriebene, nicht immer seriös und somit wenig überzeugend wirkende Umgang mancher Medien mit dem Mißbrauchsthema unterstützt eine solche Bereitschaft sicherlich, ist jedoch kaum eine ausreichende Erklärung für die ungenügende Wirkung der Aufklärung über sexuellen Mißbrauch. Vielmehr ist davon auszugehen, daß sie nicht selten eine dankbar angenommene Entschuldigung für die Passivität einer Gesellschaft ist, die das „Weggucken“ und „Sich-Heraushalten“ gewöhnt ist.[40] Die TäterInnen „ können sich auf den allgemeinen Wunsch verlassen, das Böse nicht zu sehen, nicht zu hören und darüber nicht sprechen zu wollen. “[41]
Ein langwieriger Individualisierungsprozeß hat unsere Gesellschaft gelehrt, sich nicht in die Privatsphäre anderer einzumischen. Was grundsätzlich positiv sein mag, kann jedoch im Hinblick auf sexuellen Mißbrauch fatale Folgen für die Opfer haben. Denn: „ Die hohe Bedeutung, die wir der Privatsphäre des einzelnen und der Familie geben, ermöglicht, daß so manche verletzenden und erschütternden Formen des (elterlichen) Verhaltens unbemerkt bleiben. “[42]
Des weiteren sorgt unsere Gesellschaftsstruktur dafür, daß sich der Einzelne schwer damit tut, mit Themen wie Leid, Schmerz, Krankheit und Tod, kurz mit allem, was nicht der produktiven gesellschaftlichen Norm entspricht, umzugehen. „ In ihrem Wunsch, unangenehmen Wahrheiten aus dem Weg zu gehen, flüchten sich Menschen gern in eine Haltung, in der sie diese häßliche Wahrheiten anzweifeln, verleugnen oder innerlich Abstand von ihnen nehmen. “[43] Die Notwendigkeit, unterlassene Hilfeleistung unter Strafe zu stellen, sowie ein breites Angebot an Institutionen, die Betroffene aus dem Lebensalltag ihrer Umwelt herausholen (Krankenhäuser, Sterbehospize, Alten- und Pflegeheime, Sonderschulen u. ä.), zeugen hiervon. Zwar ermöglicht eine solche „Institutionalisierung des Leids“ den Betroffenen eine optimale Versorgung und ihren Familienangehörigen ein „normales“ Leben, nimmt ersteren jedoch das Gefühl, „dazu zu gehören“ und letzteren die Fähigkeit, bei einer plötzlichen Konfrontation mit diesen Themen - wie beispielsweise bei einem Unfall, einem Überfall auf offener Straße oder eben dem Miterleben von körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt - adäquat einzugreifen. Die sich hieraus ergebende Unsicherheit ist vielleicht weitaus mehr als die oft zitierte Gleichgültigkeit Ursache für die Untätigkeit vieler Menschen, die Notsituationen anderer miterleben.
Der Begriff des sexuellen Mißbrauchs mag enttabuisiert sein, der sexuelle Mißbrauch selbst jedoch ist es sicherlich nicht. Vielmehr werden in ihm viele gesellschaftliche Tabus gleichzeitig angesprochen. Hierzu gehören die bereits erwähnten Tabus des Leids oder der Einmischung. Bedeutender ist jedoch die Infragestellung der Familie als (zumindest überwiegend) positiv geprägter Hort der Sicherheit.[44] Kindesmißhandlung beispielsweise wird - soweit die in diesem Falle sichtbaren Spuren dies ermöglichen - ebenso ignoriert wie Kindesmißbrauch[45], Vergewaltigung in der Ehe ist erst kürzlich als Straftat anerkannt worden, und die (intrafamiliären) Folgen des Alkoholismus werden nicht nur von Betroffenen, sondern auch von einer Alkohol als Genußmittel akzeptierenden Gesellschaft eher heruntergespielt als objektiv diskutiert.
Über diese grundsätzliche gesellschaftliche Problematik im Umgang mit sexuellem Kindesmißbrauch hinaus gibt es noch zahlreiche persönliche Motive, sich gegen eine Auseinandersetzung mit diesem Thema oder gar ein Einschreiten gegen Kindesmißbrauch zu wehren. Doch auch diese persönlichen Motive sind im Kontext gesellschaftlicher Normen zu sehen.
In Bezug auf Männer liegt die Bereitschaft, Mißbrauchspublikationen als Massenhysterie[46] abzutun, nahe: Da immer noch vornehmlich Männer als Mißbraucher und Vergewaltiger gelten, befürchten viele, als potentielle Täter angesehen zu werden, und fühlen sich so in eine Verteidigungsposition gedrängt, die sie die Mißbrauchsproblematik im Ganzen negieren läßt. Hinzu kommen Befürchtungen vor dem sogenannten „Mißbrauch des Mißbrauchs“, dem versehentlich oder auch gezielt zu Unrecht ausgesprochenen Verdacht des Kindesmißbrauchs, beispielsweise durch übervorsichtige ErzieherInnen, rachsüchtige Schülerinnen oder Ex-Ehefrauen, die sich im Scheidungsprozeß hierdurch Vorteile bezüglich des Sorgerechts erhoffen.[47]
Wie die Männer können im Zuge neuerer Publikationen, auch die hiervon betroffenen Frauen und professionelle HelferInnen aus Angst, selbst (zu recht oder zu unrecht) des Mißbrauchs von Kindern verdächtigt zu werden, vor einer Auseinandersetzung mit diesem Thema zurückschrecken.
Die Erfahrungen mit ungerechtfertigten Mißbrauchsverdächtigungen sollten sehr ernst genommen und bei der Frage nach eventuellen Interventionen berücksichtigt werden. Sie dürfen jedoch nicht als „Gegenbeweis“ für tatsächliche Mißbrauchshandlungen[48] oder als Entschuldigung für eine weitere allgemeine Passivität gegenüber dem Kindesmißbrauch dienen.
Für Menschen, die indirekt von der Mißbrauchsproblematik betroffen sind - beispielsweise Eltern oder professionelle HelferInnen, insbesondere Personen, die einen konkreten Mißbrauchsverdacht haben -, ergeben sich zudem ganz reale Ängste, die weit über die Angst vor dem Brechen eines Tabus oder davor, selbst verdächtigt werden zu können, hinausgehen:
Von nahen Familienangehörigen, Verwandten, FreundInnen und professionellen HelferInnen wird Zuverlässigkeit und liebevolle Fürsorge erwartet. Sich diese Menschen als TäterInnen vorzustellen, ist problematisch:
Eltern fragen sich, wem sie denn überhaupt vertrauen können, wenn auch diejenigen, auf deren Hilfe sie angewiesen sind oder deren Verläßlichkeit sie sich immer sicher waren, TäterInnen sein können. Wenn sie dann tatsächlich den Verdacht haben, daß ihre Kinder mißbraucht werden/wurden, müssen sie die Angst vor den eigenen Schuldgefühlen überwinden, ihr Kind in diese Situation gebracht zu haben oder auch zu riskieren, einen anderen möglicherweise zu Unrecht des Mißbrauchs anzuklagen. Es ist einfacher, die Angst zu verdrängen, die Beobachtungen zu ignorieren und zu hoffen, daß nichts passiert ist. „ Wir glauben lieber, daß „So was hier nicht passieren kann“ “.[49]
Dasselbe gilt für Außenstehende, die bei einer Intervention riskieren, Familien unnötig auseinander zu reißen, sich lächerlich zu machen oder gar der Verleumdung angeklagt zu werden, wenn sie einen Kindesmißbrauch melden, der gar nicht stattgefunden hat oder zumindest nicht bewiesen werden kann. Wenn sie nicht zufällig Zeugen des Mißbrauchs werden oder sich ein Kind ihnen anvertraut, haben Außenstehende kaum eine Möglichkeit, über einen intrafamiliären Mißbrauch Gewißheit zu erlangen. Dies ist jedoch nur selten der Fall, da die TäterInnen zumeist sehr vorsichtig vorgehen und die Opfer häufig derart eingeschüchtert sind, daß sie den Mißbrauch nur in Ausnahmefällen explizieren. Sie „sprechen“ auf eine andere, verstecktere Art, „verraten“ das „Geheimnis“ durch Verhaltensweisen, Bilder oder Versprecher sowie durch eine Vielzahl weiterer Symptome, für die es jedoch, jedes für sich genommen, häufig noch viele andere Erklärungen geben könnte (s. Kap. 3.3. Opferprofile). Zudem fällt es Mißbrauchsopfern aufgrund ihrer Erfahrungen sehr schwer, anderen zu vertrauen. In der Regel haben sie ein Gespür für das Risiko, das mit einer Verbalisierung des sexuellen Mißbrauchs verbunden sein kann, wenn der/die ZuhörerIn nicht in der Lage ist, sinnvoll zu helfen.
Doch selbst bei absoluter Gewißheit über einen stattfindenden Kindesmißbrauch ist nicht unbedingt gewährleistet, daß eine Anzeige für die Kinder hilfreich ist. Denn diejenigen, die eine Anzeige entgegennehmen und bearbeiten - PolizistInnen, BeamtInnen des Jugendamts oder Gerichtsangestellte - bringen ihre eigenen Ängste zum Thema Kindesmißbrauch mit und gehen manchmal dementsprechend unsensibel mit Opfern oder TäterInnen um. Baurmann beispielsweise zeigte „ ...daß über ein Fünftel der Gespräche mit den Beamten von den Opfern als „schädigend“ eingestuft wurden. “[50] So kann es vorkommen, daß das betroffene Kind tatsächlich mißbraucht wird, dies offiziell angesprochen, aber nicht bewiesen wird, der/die TäterIn somit in der Familie verbleibt und die Möglichkeit zu Rache oder noch größerer Druckausübung auf das Kind hat, denn: „ Ohne „handfeste“ Beweise und ohne ein psychologisches Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Aussage des Kindes besteht heute kaum noch die Möglichkeit, eine Trennung vom Vater (von der Mutter) durchzusetzen. “[51] Auch ist es leider kein Einzelfall, daß das Kind und nicht der/die TäterIn aus der Familie herausgenommen wird, was traumatisierend erlebt werden kann.[52] Doch selbst wenn der/die TäterIn verhaftet wird, muß das Opfer nach jetziger Rechtspraxis den Mißbrauch beweisen, muß in z. T. unzumutbaren Verhörmethoden immer wieder erklären, was passiert ist, muß ärztliche (gynäkologische) und therapeutische Untersuchungen über sich ergehen lassen und sich im Gerichtssaal dem Machtkampf mit dem/r TäterIn stellen.[53] Im negativsten Fall kann dies als Wiederholung des Mißbrauchs empfunden werden und ebenfalls traumatisierend wirken.[54]
Eine solche Realität verstärkt noch die Ängste und Zweifel der potentiellen HelferInnen. Um einigermaßen risikofrei bei Mißbrauchsverdacht intervenieren zu können, müßte ein/e potentielle/r HelferIn also nicht nur sicher wissen, daß Kindesmißbrauch stattfindet, sondern auch, daß er bei einer Intervention definitiv beendet wird. Dies jedoch ist ein kaum realisierbarer Idealfall. Die bisherigen Ansätze, die die Situation der Opfer nach einer Intervention verbessern sollen - wie z. B. die therapeutisch unterstützte Videobefragung vor Gericht, die dem Opfer eine direkte Konfrontation mit dem/r TäterIn erspart[55] oder der Einsatz von geschultem Polizeipersonal - sind noch längst nicht ausreichend.
Die beste Chance, zumindest einen intrafamiliären Kindesmißbrauch aufzudecken, haben die Familienmitglieder selbst. Diese sind jedoch gleichzeitig am wenigsten dazu in der Lage. Viele sind selbst Opfer sexueller, körperlicher und/oder seelischer Gewalt und fürchten sich dementsprechend, dagegen vorzugehen, glauben, kein Recht darauf zu haben oder sind einfach daran gewöhnt, Mißbrauch zu ignorieren. Sie sind dementsprechend „ nicht fähig zur Wahrnehmung der Tragweite des Geschehens “[56]. Nicht mißbrauchte Geschwister werden manchmal von dem/der TäterIn so von dem Opfer abgeschottet oder gar gegen es aufgehetzt, daß sie den Mißbrauch tatsächlich nicht wahrnehmen.[57] Väter ignorieren manche Hinweise, weil sie einfach davon ausgehen, daß eine Mutter gut für ihre Kinder sorgt. Mütter wiederum fürchten, den Ehemann und damit eventuell auch ihre Existenzgrundlage zu verlieren, haben Angst vor Sanktionen durch den Partner und vor Schuldgefühlen, das Kind nicht genügend geschützt zu haben, oder glauben, ihr eigener sexueller Einsatz würde genügen, den Partner vom Mißbrauch abzuhalten.[58] Allen - auch den Opfern selbst - ist die Angst gemein, sich (und anderen) eingestehen zu müssen, daß ein Mensch, dem sie vertraut und den sie geliebt haben (vielleicht immer noch lieben) oder von dem sie abhängig sind, sie dermaßen verraten hat. Ein Mißbrauch innerhalb der Familie betrifft immer - wenn auch auf unterschiedliche Weise - alle Familienmitglieder.[59]
Zusammenfassend läßt sich sagen: Je geringer der Kontakt zu Opfer und TäterIn ist, desto schwieriger ist es, sexuellen Mißbrauch aufzudecken, je intensiver er ist, desto größer ist die Angst, das „Undenkbare“ auch nur zu denken.
2.4. TäterInnenprofile
Eine Präventionsarbeit gegen sexuellen Kindesmißbrauch, die auch in Bezug auf (potentielle) TäterInnen wirksam sein soll, muß zunächst nach deren Motivation fragen, sich an Kindern sexuell zu vergehen. Was reizt einen (zumeist) erwachsenen Menschen sexuell an einem hinsichtlich der Geschlechtsmerkmale noch sehr unzulänglich ausgestatteten Kinderkörper? Was bringt einen Verwandten, gar ein Elternteil oder selbst Geschwister dazu, sexuelle Erregung statt familiärer Liebe zu empfinden? Wie ist es möglich, daß die meisten TäterInnen keine Schuldgefühle gegenüber ihren Opfern haben?[60]
Die häufig geäußerten Vermutungen, bei den TäterInnen handele es sich um Perverse, namentlich Pädophile, oder aber um Personen, die selbst als Kind sexuell mißbraucht wurden, reichen angesichts der Masse an sexuellen Übergriffen auf Kinder und der Komplexität des Problems nicht aus - wenn sie als Teilantwort auch zutreffend sind und mitbeachtet werden sollten. Wie viele TäterInnen tatsächlich dieserart vorbelastet sind, läßt sich kaum erfassen, da viele TäterInnen ihre Schuld nie eingestehen oder gar reflektieren, und es insbesondere männlichen Opfern aufgrund ihrer Sozialisation und der gesellschaftlichen Tabus noch schwerer fällt als weiblichen, sexuelle Übergriffe, die sie selbst erlitten haben, vor sich und anderen zuzugeben (s. Kap. 3.4).
Dementsprechend unterschiedlich fallen auch diesbezügliche Schätzungen aus. Heyne beispielsweise zitiert klinische Untersuchungen sowie Studien über Sexualstraftäter, nach denen etwa 50% der (ausschließlich geständigen) TäterInnen als Kind selbst mißbraucht wurden.[61] Der Therapeut Velde geht davon aus, daß „ die Täter meistens in ihrer Jugend mißbraucht worden sind “[62], Hassenmüller, die selbst Mißbrauchsopfer war, vermutet sogar, daß „ alle Täter Opfer eines Mißbrauchs gewesen “[63] sind. Wie groß der tatsächliche Anteil von TäternInnen mit eigenen Mißbrauchserfahrungen auch sein mag, kann dies doch keinesfalls der einzige bestimmende Faktor sein, da Menschen auch ohne eigene Mißbrauchserlebnisse zu TäterInnen werden und umgekehrt viele ehemalige Opfer auch als Erwachsene nicht mißbrauchen[64]. Gegen einen zu engen Zusammenhang zwischen eigenen Opfererfahrungen und späterer Täterschaft spricht zudem der dem heutigen Erkenntnisstand entsprechende Fakt, daß Männer häufiger als Frauen mißbrauchen, aber dennoch seltener selbst zum Opfer werden.
Ein besonders in den achtziger Jahren verbreitetes Erklärungsmodell für die Mißbrauchsmotivation der TäterInnen ist das der Familiendysfunktion.[65] 1993 noch vermutet Velde, „ daß die größte Hauptursache für Inzest eine gestörte Partnerbeziehung ist. “[66] Aber auch diese Annahme greift zu kurz. Es ist kaum anzunehmen, daß der sexuelle Mißbrauch des eigenen Kindes eine normale Reaktion auf emotionale und sexuelle Probleme in der Partnerschaft darstellt. Sexueller Mißbrauch stellt eine extreme Handlungsform dar, die auch auf extreme Ursachen schließen läßt: tiefgreifende „ traumatisch erlebte Verletzungen der kindlichen Persönlichkeit “[67], die deren Entwicklung so nachhaltig störten, daß es den Betroffenen noch als Erwachsene unmöglich ist, „ ihre Rollen als Eltern verantwortungsvoll zu übernehmen und reife sexuelle Beziehungen aufzubauen. “[68] Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß eine solche Persönlichkeitsstörung auch die Partnerwahl beeinflußt. So kann sie beispielsweise die bewußte Wahrnehmung ähnlich bedrohlicher Störungen beim potentiellen Partner und somit den Schutz vor einer problematischen Partnerwahl erschweren. Umgekehrt kann eine Verbindung mit einem solchen Partner sogar angestrebt werden, da dessen Verhaltensmuster vertraut erscheinen. Die beidseitig erlernten Verhaltensweisen und Wertesysteme werden dann unreflektiert gegenüber den eigenen Kindern weitergelebt. Darüber hinaus kann die Wahl eines problematischen Partners ein Versuch sein, unbewußt die traumatischen Erlebnisse der Kindheit zu wiederholen, um diese dann stellvertretend in der neuen Konfliktsituation zu verarbeiten. Gelingt diese Verarbeitung nicht - was die Regel ist - kann dies sowohl zu einem Verharren in der Opferrolle führen, die jetzt dem Partner gegenüber eingenommen wird, als auch dazu, nun dem eigenen Kind gegenüber selbst zum/r TäterIn zu werden.[69] Hier wird verständlich, warum sich intrafamiliärer Mißbrauch häufig wie eine genetisch bedingte Krankheit von Generation zu Generation weiter „vererbt“.[70] Das Risiko, selbst zum/r TäterIn zu werden, ist um so höher, wenn wegen der kindheitsbedingten Defizite „ keine gleichberechtigte Partnerschaft angestrebt wird, kein/e Partner/in, sondern eine gute „Mutter“ oder ein guter „Vater“ gesucht wird, der/die alles das vermitteln soll, was in der Kindheit vermißt worden ist. Diese m. E. kindliche Erwartungshaltung wiederum kann zu erheblichen Enttäuschungen führen. Außerdem führt es zu versteckten oder offenen Aggressionen und einer Transferierung der Problematik auf das schwächste Glied der Familie - das Kind. “[71]
Es steht also außer Frage, daß eine gestörte Partnerbeziehung häufiges Merkmal einer „Inzestfamilie“ ist, eventuell sogar der Auslöser des Mißbrauchs, sie ist jedoch kaum eine ausreichende Erklärung für eine solche Handlungsweise. Wenn es auch sinnvoll ist, die ganze Familie in die Mißbrauchsanalyse und insbesondere -therapie mit einzubeziehen, so beinhaltet der Erklärungsansatz der Familiendynamiker jedoch die höchst problematische Suggestion, daß auch die Schuld bei allen Familienmitgliedern gleichermaßen zu suchen sei. Diese muß jedoch eindeutig und ausschließlich dem/r TäterIn zugesprochen werden.
Ein inzwischen verbreiteteres Erklärungsmodell, das extrafamiliären Mißbrauch mit berücksichtigt, führt sexuellen Kindesmißbrauch vornehmlich auf eine problematische geschlechtsspezifische Sozialisation zurück. Dieser feministische Erklärungsansatz sieht die „ Ursache sexueller Gewalt an Mädchen [...] nicht im dysfunktionalen Familiensystem, sondern in der patriarchalischen Struktur unserer Gesellschaft und der geschlechtsspezifischen Sozialisation von Frauen und Männern. “[72] Snowdon bemerkte diesbezüglich nach jahrelanger therapeutischer Arbeit mit Sexualstraftätern, „ unsere Gesellschaft produziere Mißbraucher schneller als irgend jemand diese einfangen oder heilen könne. “[73] Dies vermittelt ebenso wie die eingangs genannten erschreckend hohen Zahlen zum sexuellen Mißbrauch an Kindern, daß es sich hierbei keineswegs um „ einen abnormen Einzelfall einer zerrütteten oder kranken Familie [...] , sondern den leider allzu häufigen „Extremfall“ der „Normalfamilie“ “[74] handelt. Die Motivation der TäterInnen sehen die AnhängerInnen dieses Erklärungsmodells nicht in sexuellen Bedürfnissen, sondern in der „... Befriedigung emotionaler Bedürfnisse des Täters. Sexualität ist das Vehikel, die für den Täter passende Form, um Gefühle wie Macht, Wut und Haß, aber auch das Bedürfnis nach Nähe, mit Hilfe des Kindes auszuleben. “[75]
Dieser Erklärungsansatz soll im Folgenden anhand der Tätermotive „Macht“ und „Einsamkeit“ vertieft werden. Täterinnen handeln zwar aus ähnlichen Motiven heraus, ihre Empfindungen und Handlungsweisen sind jedoch teilweise so abweichend von denen der Männer, diesbezügliche Forschungen noch so neu und defizitär, daß sie gesondert untersucht werden. Als Sonderfall wird zudem die Pädophilie vorgestellt.
Die im Folgenden genannten Erklärungsansätze sollen weder der Entschuldigung der TäterInnen dienen, noch zu unzulässigen Verallgemeinerungen und pauschalen Verurteilungen führen. Vielmehr sollen sie helfen, die Ursachen für mißbrauchendes Handeln zu klären, um diesem sinnvoll entgegenwirken zu können. Sie sind als Faktorensammlung zu verstehen, die - besonders, wenn sie gehäuft auftreten - Mißbrauch begünstigen können. Enders faßt Rijnaarts Gedanken hierzu folgendermaßen zusammen: „[...] menschliches Verhalten (ist) immer Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen individueller Handlungsfreiheit und gesellschaftlichen Strukturen “. Das Bindeglied zwischen beiden sieht Rijnaarts (in Bezug auf Opfer und Täter) in der „persönliche (n) Verantwortung “.[76]
2.4.1. Tätermotiv: Macht
Viele AutorInnen geben den Vater-Tochter-Inzest bzw. den Mißbrauch durch einen Mann, der für das Opfer die Vaterrolle übernommen hat, als häufigste Form sexuellen Mißbrauchs an.[77] Das Bild des typischen Mißbrauchers, das sich hierdurch in der Gesellschaft manifestiert hat, ist das des Mannes, der Kinder, vor allem Mädchen, immer wieder, über einen längeren Zeitraum hinweg und zum Teil sehr brutal mißbraucht, um sich selbst und allen anderen seine Macht zu beweisen. Inwieweit dies tatsächlich die häufigste Ursache für Mißbrauch ist, muß angesichts des sich beständig wandelnden Erkenntnisstands dahingestellt bleiben. Viele Biographien, Untersuchungen und Fachbeiträge sprechen jedoch zur Zeit noch dafür. So sieht beispielsweise Enders in Übereinstimmung mit einer Untersuchung Finkelhors „... die zentrale Bedeutung und Funktion der meisten sexuellen Mißhandlungen in der Befriedigung männlicher Dominanz- und Herrschaftsbedürfnisse [...] , es (geht) also um die Ausübung von Gewalt und Macht. “[78] Aus dieser Perspektive wird deutlich, warum die Opfer Kinder sein müssen, häufig Mädchen aus dem engsten Familienkreis: „ In keiner anderen Beziehung ist das Machtgefälle größer als zwischen Vater und Tochter“[79], hier kann der Täter sein Bedürfnis nach Bestätigung seiner Macht am sichersten ausleben, muß er am wenigsten mit Konsequenzen rechnen: Eine Tochter ist dem Vater nicht nur als Kind, sondern - zumindest in traditionellen Familienstrukturen - auch aufgrund ihres Geschlechts unterlegen.[80] Brownmiller bemerkt diesbezüglich in ihrer Vergewaltigungsanalyse: „ Men never rape equals in power. (Männer vergewaltigen niemanden, die/der sich in der gleichen Machtposition wie sie selbst befindet.) “[81] Ebenso stellten Kavemann und Lohstöter in ihren Interviews mit Vätern, die ihre Kinder mißbraucht haben, fest, „ wie offen Männer ihr Bedürfnis nach Bewunderung und williger sexueller Passivität als Grund für ihren Schritt zum Mißbrauch der Tochter benannten. “[82] Gewalt, auch in sexueller Hinsicht, scheint hierbei als selbstverständliches Mittel zum Zweck akzeptiert zu sein. Kavemann und Lohstöter vermuten dementsprechend, „ daß Männer Gewalt als legitimes Mittel zur Bedürfnisbefriedigung ansehen “[83] und diese in „ männlichem Denken [...] oft untrennbar mit Sexualität verbunden “[84] ist. Diese Gewaltbewertung sowie das Selbstverständnis vieler traditionell erzogener Männer, als Ernährer der Familie auch deren Besitzer zu sein und als (Ehe-)Mann Anspruch auf sexuelle Befriedigung zu haben, erklären die Selbstverständlichkeit, mit der Männer glauben, nur ihr Recht ausgeübt zu haben, und sich von jeder Verantwortung und Schuld freisprechen.[85] In Interviews mit den beiden Autorinnen beantwortete ein Täter die Frage nach seinem Motiv dementsprechend eindeutig: „ Sie ist meine Tochter, und das gibt mir das Recht, mit ihr zu machen, was ich will. “[86] Ein anderer nach Kavemann und Lohstöter von dem amerikanischen Therapeuten Snowdon zitierter Vater bezog zwar (scheinbar) die Reaktion seiner Tochter in seine Entscheidung für den Mißbrauch mit ein, nahm sich aber die Freiheit, diese seinem Interesse entsprechend zu interpretieren und sogar ein eindeutiges „Nein“ zu ignorieren: „ Sie wollte, daß ich zärtlich zu ihr bin, und kletterte mir immer auf den Schoß. Sie sagte „nein“, als ich zum Sex überging, aber ich glaubte ihr nicht, denn warum wollte sie sonst all das andere? “[87]
[...]
[1] Bange 1992, S. 57; nicht kursiv gedruckte Ergänzungen in den Klammern von mir.
[2] Steinhage 1989, S. 17; nicht kursiv gedruckte Ergänzungen in den Klammern von mir.
[3] So berichtet beispielsweise Jungjohann (1996, S. 98) von Kulturen, in denen das Berühren, Streicheln oder Küssen kindlicher Genitalien ohne sexuelle Absicht zur Beruhigung des Kindes oder im Rahmen zeremonieller Traditionen üblich war. Andererseits können bereits sexuell intendierte Blicke oder Bemerkungen demütigen und verletzen.
[4] Enders 1990, S. 22.
[5] Glöer/Schmiedeskamp-Böhler 1990, S. 15.
[6] Jungjohann 1996, S. 111.
[7] Glöer/Schmiedeskamp-Böhler 1990, S. 15.
[8] Vgl. Jungjohann 1996, S. 98.
[9] van Outsem 1993, S. 18 (s. auch S. 41). Dies bestätigen auch Berichte von erwachsenen Opfern, die selbst als Kinder, in dem Versuch, den Mißbrauch zu verarbeiten, andere Kinder mißbrauchten (z. B. Glöer/Schmiedeskamp-Böhler 1990, S. 61f), sowie Bange 1995, S. 76: „ Viele Täter, die Jungen sexuell mißbrauchen, sind selbst noch Jugendliche. In den meisten Dunkelfelduntersuchungen und klinischen Studien machen sie etwa 30% aus.“ und van Outsem 1993, S. 41 (van Outsem nennt einige Studien nach denen 50% der TäterInnen zwischen 14 und 17 Jahre (Risin und Koss 1987) und 36% der TäterInnen zwischen 12 und 16 Jahre (Friedrich 1988) alt waren; zudem verweist er auf TäterInnen zwischen 3 und 8 Jahren).
[10] Longdon 1995, S. 100.
[11] Vgl. Jungjohann 1996, S. 100.
[12] Beispielhaft hierfür s. den von VAN OUTSEM (1993, Anhang) zusammengestellte Überblick der Studien zu sexuellem Mißbrauch an Jungen im Anhang dieser Arbeit (S. 1-4).
[13] „Untersuchungen zur Inzidenz ermitteln, wie viele (neue) Fälle innerhalb eines bestimmten Zeitraumes (hier ein Jahr) auftreten.“ Gies 1995, S. 28, Fußnote 61.
[14] Vgl. Gies 1995, S. 28.
[15] Vgl. Steinhage 1989, S. 13; gemäß S. 158 sind weitere relevante Paragraphen: §173 StGB Beischlaf zwischen Verwandten, §174 StGB Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen, §177 StGB Vergewaltigung, §178 StGB Sexuelle Nötigung, §179 StGB Sexueller Mißbrauch Widerstandsunfähiger; § 176 StGB bezieht sich auf den Sexuellen Mißbrauch von Kindern (s. Anhang S. 5).
[16] Laut Hartwig/Weber (1991, S. 16, mit Bezug auf den FRAUENPOLITISCHEN DIENST 1989/024:3) gibt die Kriminalstatistik für das Jahr 1988 bereits 13.179, laut Manns (1995, S. 1, mit Bezug auf den Jahresbericht 1992 des Bundeskriminalamtes Wiesbaden) für das Jahr 1991 14.554 bekanntgewordene Fälle mit Verstößen gegen den §176 StGB an.
[17] Vgl. Stöckel 1998, S. 14.
[18] Jungjohann 1996, S. 103. Vgl. von den Broek 1993, S. 11.
[19] Vgl. Bange 1992, S. 28 (mit Bezug auf Baurmann 1983). Grundlage von Bauermanns Hell-/Dunkelfeldschätzung war eine Anfang der 80er Jahre durchgeführte BKA-Längsschnittstudie, in der er nahezu alle der von 1962-1972 angezeigten strafbaren Sexualdelikte in Niedersachsen anhand eines opferorienterten Fragebogens, standartisierter Tiefeninterviews mit Sexualopfern und einer Analyse von Gerichtsakten untersuchte. Vgl. hierzu Manns 1995, S. 1 und Gies (1995) S. 28. Eine repräsentative Dunkelfeld-Studie baut gewöhnlich auf anonymen Fragebogenerhebungen auf, die „ Idealerweise [...] anhand Stichproben durchgeführt (werden) , die repräsentativ für die jeweilige Population sind. Da dies sehr aufwendig ist, werden aus praktischen Erwägungen oft studentische Stichproben genommen. “ (Gies 1995, S. 27, Fußnote54).
[20] Vgl. Enders 1990, S. 12 (mit Bezug auf Kavemann/Lohstöter 1984). Vgl. auch Steinhage 1989, S. 13.
[21] Rutschky 1992, S. 15. Vgl. auch Rutschky 1994, S. 13-31. (Rutschkys Aufsatz ist Teil eines von Rutschky und Wolff (1994) herausgegebenen Buches gegen die „Mißbrauchspanik“. Viele Kritikpunkte der AutorInnen sind zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, ihre Schlußfolgerungen überzeugen jedoch auch nicht mehr als die von ihnen kritisierten Untersuchungen, Hochrechnungen, Rechtsschritte und Beratungsweisen. Vielmehr scheinen sie teilweise die Problematik des Kindesmißbrauchs nicht nur auf ein in ihren Augen „realistisches Maß“ zu reduzieren, sondern es darüber hinaus bagatellisieren zu wollen. Ihr Appell, weniger Energie auf Untersuchungen, Diskussionen und möglichst hohe Aufklärungszahlen zu verwenden, sondern vielmehr verstärkt die Opfersicht zu ergreifen und dies in Hilfsangebote umzusetzen, die den Opfern wirklich helfen können, kann jedoch als produktive Kritik verstanden werden und Überreaktionen wie auch übermäßigem Theoretisieren entgegen wirken.
[22] Vgl. hierzu Kutchinskys Kritik (1994) an Untersuchungsmethoden und -ergebnissen zu sexuellen Kindesmißbrauch.
[23] Prozentualer Anteil einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, auf den ein bestimmter Aspekt zutrifft, hier also der Anteil der Opfer an der Gesamtzahl der Kinder in Deutschland. (Vgl. Gies 1995, S. 27, Fußnote 54 und Manns 1995, S. 2.)
[24] Bange 1992, S. 86. Es gibt jedoch auch Schätzungen, die von sehr viel mehr Opfern ausgehen. Fürniss beispielsweise vermutet nach Koch-Knöbel (1995, S. 13) auf einem unveröffentlichten Vortrag am 21.02.1989 in Bad Segeberg, daß „ etwa jeder 6. bis 11. Junge sexuell ausgebeutet wird.“
[25] Vgl. Baurmann 1983, S. 7 und Braun 5/1992 (mit Bezug auf Untersuchungen von Draijer (1990), Russel (1983) und Fegert (1987). Die in den einzelnen Studien angegebenen Zahlenwerte sind zum Teil recht unterschiedlich, belegen aber alle die o. g. Tendenz, weshalb ich eine genauere Ausführung für wenig hilfreich halte.
[26] Lew (1993) spricht von etwa einem Drittel der Mädchen und einem Zehntel der Jungen als Opfer sexuellen Mißbrauchs (S. 36).Vgl. auch Baurmann 1983, Enders 1990, Bange 1992.
[27] Hinsichtlich der Schichtzugehörigkeit finden sich immer wieder Hinweise auf ein erhöhtes Auftreten von sexuellem Mißbrauch in sozial schwachen Familien (z. B. van Outsem 1993, S. 32-43). Dies kann jedoch auch auf die erhöhte Aufmerksamkeit der Behörden gegenüber diesen Familien zurückzuführen sein und wird zudem von anderen AutorInnen negiert. Um Vorurteile nicht zu bestärken, werde ich auf diesen Aspekt nicht weiter eingehen.
[28] Gemeint sind hier nicht nur AugenzeugInnen, sondern alle Menschen, die sexuellen Kindesmißbrauch vermuten.
[29] So berichtet beispielsweise die Iliade von der Liebe des Helden Achill zum Knaben Patroklos. S. auch Ariés (1994²), Rush (1989) und Stöckel (1998). Weitere, möglicherweise noch ältere Beispiele für sexuelle Gewalt auch innerhalb des engsten Familienkreises liefert die Bibel (z. B. die Vergewaltigung Tamars durch ihren Bruder Amnon, 2 Sam 13,1-33. Ob diese jedoch als sexueller Mißbrauch von Kindern anzusehen sind, muß angesichts der damaligen - von unserem heutigen Verständnis von Kindheit deutlich abweichenden - Definition von „Kind“ dahingestellt bleiben.)
[30] Vgl. Ariés 1994².
[31] Vgl. Rush 1989, S. 75ff.
[32] Vgl. a.a.O., S. 135-168; Glöer/Schmiedeskamp-Böhler 1990; Bange 1995, S. 14-16; Koch-Knöbel 1995, S. 7; Steinhage 1989, S. 36f. Andere AutorInnen, wie z. B. Gekle (1994), kritisieren diese Interpretation von Freuds Aufgabe der Verführungstheorie. Gekle bezweifelt in diesem Zusammenhang jedoch nicht den sexuellen Kindesmißbrauch selbst (bzw. Freuds Glaube an dessen Existenz), sondern nur die diesbezüglich häufig geäußerten Vermutungen hinsichtlich seiner Häufigkeit, weshalb diese Kritik für die Aussagen und Ziele dieser Arbeit unerheblich ist.
[33] Rauchfleisch 1992, S. 80.: „Erst in den letzten Jahren wird von der Fachwelt (vor allem seit der Publikation des Buches von Masson 1984) und einer breiteren Öffentlichkeit zunehmend wahrgenommen, wie häufig diese Form der Gewalt ist und welche tiefgreifende Folgen sie für die Betroffenen hat. Zu dieser Einsicht hat insbesondere die mutige Initiative betroffener Frauen beigetragen, die in Selbstdarstellungen von ihrem erschütternden Schicksal berichtet haben. (Iris Galey: Ich weinte nicht als Vater starb, 1988; Truddi Chase: Aufschrei, 1987; Ursula Wirtz: Seelenmord,1989)“ Vgl. auch Steinhage 1989, S. 11.
[34] z. B.: Kinofilme: „Die Farbe Lila“ (USA 1986); „Spur der Angst“ (USA 1986); „Nuts“ (USA 1987); „Sliver“; „Herr der Gezeiten“ (USA 1991); „Herzflimmern“ (F); „Ladybird Ladybird“ (USA 1994); „Stummer Schrei“ (USA 1994); „Girls Town“ (USA 1996); „Forrest Gump“ (USA), „Sleepers“ (USA); „Happiness“ (USA 1999); Spielfilme (TV): „Die Umarmung des Wolfes“ (D 1992); „Gundas Vater“ (D); „Lehrstunden der Liebe“ (Dk 1995); Tatort: Frau Bu lacht (D 1996, ARD); „Gestohlene Kindheit“ (GB 1997); „Ein Vater sieht rot“ (1999 zu sehen); Serien (TV): „Ein Strauß Töchter“; „Falcon Crest“; „Unsere kleine Farm“; Talkshows: „Bärbel Schäfer“ (1997), „Andreas Türck“ (1999); Lieder: „Der böse Wolf“ (Tote Hosen, 1998) „Bitte küß mich nicht“ (TicTacToe, 1997); Zeitschriften: COSMOPLITAN 6/1983 (Artikel von Charlotte Seling), EMMA 5/1994 (Goy, Alexandra: „Mißbrauch. Stoppt den Backslash!“), 2/1997 (Filter, Cornelia: „Was können wir tun? Sexualverbrecher.“) und 6/1999, DER SPIEGEL 39/1993 (Friedrichsen, Gisela/Mauz, Gerhard: „Kot und Ketchup“) und 29/1984, Penthouse 8/1982 (Ziem, Jochen: „Verbotene Früchte“); Krimi: Fielding, Joy: „Lauf, Jane, lauf!“, München 1992.
[35] Vgl. Jungjohann 1996, S. 97.
[36] Vgl. z. B. DIERKES 1997, S. 133ff.
[37] Vgl. Lew (1993), S. 41: „ Sobald ein Inzestopfer zum erstenmal jemand anderen sagen hört: „So war es bei mir auch“ [...] , verändert sich sein Leben. “ Vgl. auch DIERKES 1997, S. 134.
[38] Jungjohann 1996, S. 102.
[39] Vgl. z. B. Gies 1995, S. 21 sowie Lew 1993; Gemeint sind hier vor allem Vorstellungen, die vermitteln, daß bestimmte Menschen - beispielsweise aufgrund ihres Geschlechts - über andere Menschen verfügen können. Noch verherender ist die Darstellung von Frauen und Kindern als hinterhältige Vamps oder als Genießer männlicher Übergriffe.
[40] Im Hinblick auf die Präventionsarbeit, die sich auch auf die „Nicht-Betroffenen“ einer Klasse bezieht, kann diese Überlegung ein wichtiger Bestandteil diesbezüglicher Maßnahmen sein. „Zivilcourage“ - um hier ein umfassendes Schlagwort zu nennen - könnte als ein Aspekt in die Präventionsarbeit aufgenommen werden.
[41] Enders 1995, S. 99.
[42] Lew 1993, S. 26; nicht kursiv gedruckte Ergänzung in der Klammer von mir.
[43] a.a.O., S. 36.
[44] Vgl. Lew 1993, S. 26: „ „Die Familie“ ist in der Auffassung der amerikanischen Kultur heilig. [...] Niemand würde es wagen, die Unantastbarkeit der Familie in Frage zu stellen. “ und S. 34: „ Von frühester Kindheit an lehrt man uns, daß Familienangehörigen und Freunden zu trauen ist. [...] Das Zuhause wird mit Sicherheit gleichgesetzt. “
[45] Vgl. z. B. TRUBE-BECKER 1987², EGLE/HOFFMANN/JORASCHKY 1997 und JUNGJOHANN 1991.
[46] Als solche bezeichnete beispielsweise der Täter „R.,Piet“ den öffentlichen Umgang mit sexuellem Kindesmißbrauch (in: Hassenmüller 1993, S. 141ff).
[47] Ein Beispiel für den sogenannten „Mißbrauch des Mißbrauchs“ beschreibt Thomas Alteck (1994) in seinem gleichnamigen Buch. Weitere Beispiele sind mir aus den Medien sowie durch Berichte aus dem Bekanntenkreis bekannt.
[48] Vgl. z. B. Armstrong 1996.
[49] ARMSTRONG 1996, S. 36.
[50] Baurmann 1983, S. 21, zitiert nach Stöckel 1998, S. 96.
[51] Bange 1995, S. 66; nicht kursiv gedruckte Ergänzung in Kammern von mir.
[52] Vgl. z. B. Däubler-Gmelin/Speck 1997, S. 170-172 und Steinhage 1989, S. 169f.
[53] Vgl. Däubler-Gmelin/Speck 1997, S. 173-185 und Steinhage 1989, S. 157-170. Die Rechtslage und derzeitige Rechtspraxis bezüglich sexuellen Kindesmißbrauchs ist sicherlich auch ein Thema, das vertiefend untersucht werden müßte, jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die entsprechende Literatur in diesem Kapitel verweisen, sowie auf Marquardts (S. 183-195), Richters (S. 196-205) und Enders’ (S. 206) Aufsätze in: Enders 1990; ebenso auf Jungjohann 1996, S. 163-166 + 169-178; Fastie 1994.
[54] Vgl. Steinhage 1989, S. 33f
[55] Vgl. Däubler-Gmelin/Speck 1997, S. 227-230.
[56] Rauchfleisch 1992, S. 86.
[57] Vgl. Enders 1990, S. 67-69 (S. 67: Fegert; S. 69f: Enders/Stumpf).
[58] Zu Gründen für das Schweigen der Mütter s. auch: Steinhage 1989, S. 103ff. Vgl. des weiteren Glöer/Schmiedeskamp-Böhler 1990, S. 153-155 und Enders 1990, S. 61-66.
[59] ebd.
[60] Vgl. Kavemann/Lohstöter 1984, S. 98.: „Sie (die Täter) lehnen jede Verantwortung ab für das, was sie getan haben, und bestehen darauf, daß sie selber Opfer sind.“ (Nicht kursiv gedruckte Anmerkung in Klammern von mir.)
[61] Vgl. Hanks & Saradjian 1991, zitiert nach Heyne 1996, S. 271f.
[62] Velde 1993, S. 66.
[63] Hassenmüller 1993, S. 74. Die Autorin wurde zu einer der Vorreiterinnen im Hinblick auf Publikation des sexuellen Mißbrauchs durch ihr 1989 erschienenes Buch „Gute Nacht, Zuckerpüppchen“ und dessen 1995 erschienene Fortsetzung: „Zuckerpüppchen - die Zeit danach“.
[64] Vgl. z. B. Glöer/Schmiedskamp-Böhler 1990, S. 8.
[65] Vgl. Enders 1990, S. 28-32 mit Bezug auf Dunand 1987 und Fürniss/PHIL 1986.
[66] Velde 1993, S. 64. Vgl. auch Steinhage 1989, S. 121 mit Bezug auf Frank/Stachiw (1984), Fürniss/PHIL (1986) und Giaretto (1982 oder 1976 - Steinhage nennt im Text erstere Jahreszahl, macht eine Literaturangabe allerdings nur bezüglich eines 1976 erschienenen Artikels Giarettos; s. Literaturverzeichnis. Zur Bestätigung der von Steinhage getroffenen Aussagen genügen jedoch die Verweise auf Frank/Stachiw und Fürniss/Phil. Aus Gründen der Vollständigkeit möchte ich hier jedoch Steinhages Literaturverweise vollständig wiedergeben).
[67] SCHNACK/NEUTZLING 1990, S. 230. van Outsem (1993, S. 41) nennt diesbezüglich beispielhaft kindheitsbedingte Probleme wie ein niedriges Selbstwertgefühl, ein negatives Selbstbild, eine schlechte Kontrolle über die eigenen Impulse, Alkohol- und/oder Drogenmißbrauch, unzureichende soziale Kompetenzen und emotionale Unausgeglichenheit; Koch-Knöbel (1995, S. 53) verweist auf Trennungs- und Konfliktängste aufgrund von emotionaler Vernachlässigung und Zurückweisung; Jungjohann (1996, S. 146) spricht von frühkindlichen Gewalterfahrungen, Zuwendungsdefiziten, sexuellen Entwicklungsstörungen, Bindungsunfähigkeit, depressiver Persönlichkeitsstruktur, geringem Selbstwertgefühl und Abwehrmechanismen in Form von Abspaltung, Verdrängung, Verleugnung, Selbsttäuschung und Bagatellisierung.
[68] Koch-Knöbel 1995, S. 53. Die Autorin untersucht in ihrer Arbeit intrafamiliären Mißbrauch und beschränkt sich in ihrer TäterInnennennung somit auf die Eltern. Entsprechendes gilt jedoch vermutlich auch für andere TäterInnengruppen, wie etwa ErzieherInnen oder ÄrztInnen.
[69] Zu Ursachen für die Fortführung von Mißbrauch über Generationen vgl. Ulrike Giernalczyk im Nachwort zu DIERKES Buch (1997, S. 158f).
[70] Vgl. z. B. Petersen 1991, S. 200f (Bericht eines Inzestopfers): „ ...Bastard deiner Mutter, die dich so geliebt hat, wie du mich geliebt hast. [...] Bist du bei deinem Tod wieder der kleine Junge geworden, der seine Schwester weinen hörte, wenn ihr Vater mit ihr machte, was du mit mir gemacht hast? Mit mir und meiner Schwester, eine Generation nach der anderen. “ sowie DIERKES 1997, S. 75 und Fallgeschichten S. 98ff und 105ff.
[71] Koch-Knöbel 1995, S. 53.
[72] Steinhage 1989, S. 12 in Bezug auf Brownmiller (1980) und Rush (1982). Zu kritisieren sind diesbezüglich einige - vorwiegend ältere, stark von der Frauenbewegung der 80er Jahre geprägte- Publikation, die weibliche Täter und männliche Opfer mehr oder weniger übergehen und die Verantwortung für das Mißbrauchsphänomen nahezu ausschließlich den Männern zuordnen. Gesellschaftliche Sozialistionsstrukturen werden aber von (mächtigen) Männern und (erziehenden) Frauen gemeinsam geprägt und können auch nur gemeinsam verändert werden. Zur Analyse und Bekämpfung des sexuellen Mißbrauchs kann jedoch weder eine einseitige Schuldzuweisung noch eine prozentuale Schuldaufteilung zwischen den Geschlechtern hilfreich beitragen.
[73] Vgl. Snowdon, Richard im Gespräch mit CAPP 1985; zitiert nach Enders 1990, S. 35.
[74] Enders 1990, S. 34.
[75] Glöer/Schmiedeskamp-Böhler 1990, S. 15.
[76] Enders 1990, S. 36 mit Bezug auf RIJNAARTS 1988.
[77] Vgl. z. B. Steinhage 1989, S. 11.
[78] Enders 1990, S. 32 in Bezug auf eine Untersuchung von Finkelhor (1984). Vgl. auch Steinhage 1989, S. 18f.
[79] Rijnaarts 1988; zitiert nach Enders 1990, S. 32f.
[80] Vgl. Koch-Knöbel 1995, S. 19.
[81] BROWNMILLER 1978; zitiert nach ENDERS 1990. Übersetzung von Enders. Ich zitiere Brownmiller hier, weil ich ihre Aussage für tendenziell zutreffend halte, möchte jedoch auch auf Fälle verweisen, bei denen Frauen vergewaltigt werden, weil sie sich in einer höheren Machtposition als die Täter befinden (z. B. Schüler -Lehrerin) und so von diesen als Bedrohung wahrgenommen werden, die es zu demütigen gilt. Ich würde hier nicht ausschließen, daß dies auch bei einer gleichwertigen Machtposition möglich ist, beispielsweise aus einer berufichen Eifersucht heraus.
[82] Kavemann/Lohstöter 1984, S 98.
[83] a.a.O., S. 99.
[84] a.a.O., S. 100.
[85] Vgl. z. B. Enders 1990, S. 34 und Lew 1993, S. 26 und 43.
[86] Kavemann/Lohstöter 1984, S. 100.
[87] a.a.O., S. 101.
- Citation du texte
- Petra Stichert geb. Nitsch (Auteur), 2000, Hintergründe und Möglichkeiten zur schulischen Prävention gegen sexuellen Kindesmissbrauch, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35938
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