Unbefriedigend ist die gängige "Lösung", das Zeit-Problem einfach für unlösbar zu erklären. Dagegen spricht die Tatsache, dass es mehr oder weniger adäquate Modell-Vorstellungen und begriffliche Konstrukte gibt, zum Beispiel aus Mathematik und Naturwissenschaften, Geschichtswissenschaft, Linguistik, Psychologie und Theologie. Zu diskutieren sind einschlägige Beiträge wie die von Kant, Einstein, Bloch, Heidegger und Lee Smolin. Mein eigener Vorschlag: eine Hypothese zur ursprünglichen Weltzeit – keine "endgültige Lösung", aber ein gemeinsamer Nenner, eine plausible Vermutung.
Inhalt
Vorbemerkung
Warum das „Rätsel Zeit“ immer noch ungelöst zu sein scheint.
Die Einstein-Minkowskische Raumzeit und ihre Folgen
Ernst Bloch (1885-1977) überbietet das Raumzeit-Konzept
Kant versteht die Zeit aus sich heraus.
Kleine Kant-Kritik
Lee Smolin (geb. 1955): Die Zeit ist eine unveränderliche „Reihe von Augenblicken“, aber relational bestimmbar!
Hypothese zur ursprünglichen Weltzeit.
Literaturhinweise
Vorbemerkung
Gern wird behauptet, das Wesen der Zeit sei nicht ergründbar, das „Rätsel Zeit“ nicht lösbar. Das bezweifle ich. Wenn nämlich das Wesen in feststellbaren Merkmalen und Eigenschaften besteht (was ich nicht bezweifle), können diese hinsichtlich der Zeit zwar nicht durch Sinnesdaten nachgewiesen, wohl aber durch Modell-Vorstellungen erschlossen werden. Folglich kann das Wesen der Zeit wohl in dem Maße ergründet werden, wie die entsprechenden Zeit-Modelle bzw. Zeit- Hypothesen sich als adäquat („haltbar“) erweisen.
Warum das „Rätsel Zeit“ immer noch ungelöst zu sein scheint.
Wäre das Zeit-Problem gelöst, müsste man die Zeit definieren können. Schon der Versuch einer Definition – also der Eingrenzung, Festlegung von „Eckpunkten“ des Bestimmens – scheint hier aber aussichtslos zu sein, weil die Zeit grundsätzlich als unbegrenzt, unendlich, ins Unendliche (die Ewigkeit?) fortschreitend gilt. Begriffe wie ‚finis‘ (Ende, Grenze, Schranke usw.) und ‚definitio‘ (bestimmte Angabe, Definition) verfehlen u.a. schon wegen ihres zumindest latent vorhandenen Raum-Charakters den (möglichen) Begriffs-Inhalt ‚Zeit‘. Woran liegt das? Zunächst wohl daran, dass wir über kein Sensorium für die Zeit verfügen. Die Zeit ist unanschaulich, sinnlich nicht erfahrbar, nur indirekt (annäherungsweise) erschließbar, z.B. durch Modell-Vorstellungen. Ein weiterer Grund besteht in der Vielzahl unterschiedlicher Versuche, die Zeit durch Begriffe verstehbar werden zu lassen. Unterscheidbar sind hier wohl zunächst die Dimensionen von
a) Mathematik und Naturwissenschaften,
b) Geschichte,
c) Psychologie,
d) Linguistik,
e) Theologie und Kosmologie.
Unter a) figuriert einerseits die kontinuierliche, lineare, physikalisch sehr genau in Sekunden gemessene „Echtzeit“; andererseits stammt ebenfalls aus a) die diskontinuierliche Einsteinsche Raumzeit, bekannt auch als vierdimensionaler „Minkowski-Raum“, wobei seltsamerweise in Letzterem die Zeit als Bezeichnung gar nicht mehr vorkommt. Als diskontinuierlich wird die Zeit auch in b) und c), teilweise auch in d) und e) begriffen. Geschichtliche Zeit verläuft anscheinend zumeist unberechenbar – und zuweilen sprunghaft – von Ereignis zu Ereignis. Die Zeit c), diejenige unseres Erlebens, erstreckt sich in unterschiedlicher Dauer, die individuelle verschieden gefühlt und erlebt wird. In der linguistischen Sicht d) geht es um Tempus und Tempora, Aspekte der Verbformen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. – Zu e): Auf Theologien der Zeit kann ich hier nicht näher eingehen.
Mit den genannten fünf Dimensionen überschneiden sich die „Zeitpfeil“-Vorstellungen, bei Stephen Hawking in der Unterscheidung zwischen kosmologischem, thermodynamischem und psychologischem Zeitpfeil. Postulierbar ist außerdem auch ein Zeitpfeil der Evolution, der sich ebenfalls mit den Dimensionen a) bis e) überschneidet.
All diese begrifflichen Einteilungen auf einen Nenner und unter einen Hut zu bringen, scheint nahezu aussichtslos, es sei denn Kontinuität und Diskontinuität, subjektive und objektive Zeit, Weltzeit, Raumzeit und „Eigenzeit“ könnten miteinander vereinbart werden.
Die Einstein-Minkowskische Raumzeit und ihre Folgen
Philosophisch wertet Einstein die Subjekt-Objekt-Dialektik insofern auf, als er die subjektiven Bezugssysteme der Beobachtung und des Messens mit einbezieht, so dass sogar die Materie als von der Relativgeschwindigkeit abhängig erscheint, und zwar im Raum zwischen den Objekten und dem Beobachter.
Aus Einsteins Thesen können sich schwerwiegende Folgen für die philosophischen Zeit-Theorien ergeben. Wobei unbestreitbar scheint, dass Raum und Zeit in der Materie selbst auf allen Ebenen miteinander verschränkt sind, so dass es legitim ist, anzunehmen, dass die Zeit zusammen mit der Materie entstanden ist, folglich auf jeden Fall (auch) im Big Bang (dem „Urknall“).
Ernst Bloch (1885-1977) überbietet das Raumzeit-Konzept
Bloch rezipiert Einstein intensiv, aber keineswegs unkritisch. Heftig kritisiert er z.B. die Tatsache, dass Einstein die Zeit in „Raum-Zeit-Koordinaten“ festhält, so dass „numerierte Werte“ entstehen, wodurch aber „von eigentlich naturhistorischer Zeit als der Daseinsweise eines tendierenden Geschehens “ in der Physik vollständig abgesehen werde (Bloch 1970, S. 132), wobei allerdings zu beachten ist, dass Bloch andernorts Zeit und Geschichte als nicht identische, sondern dialektisch aufeinander bezogene Kategorien behandelt.
Das „Jetzt“ des Augenblicks hält er für nicht unmittelbar erlebbar und insofern im Dunklen liegend. Nichtsdestoweniger gilt ihm gerade das „ Dunkel des gelebten Augenblicks “ – ebenso wie „das noch nicht bewusste Wissen“ – als eine Umschreibung von Utopischem 1 – folglich als ein Synonym für das Noch-Nicht, mit dem sich sein Werk in kürzester Form resümieren lässt. Blochs gesamtes Werk dient anscheinend der Lichtung des Dunkels, wobei das Dunkel des gelebten Augenblicks dadurch gelichtet werden soll, dass der Zeit(en)-Abstand, der ja auch in der klassischen Hermeneutik höchst bedeutsam ist, produktiv/kreativ für das Verstehen und Erklären genutzt werden soll.
Allerdings darf hier sogleich eine große Gefahr nicht übersehen werden: Der „Abstand“, d.h. die ausgeprägte Raum-Komponente des Begriffs Zeit- oder Zeiten-Abstand, droht, den Blick auf die eigentliche Problematik: das Rätsel Zeit zu verstellen. Daher sei zunächst an Blochs weiter gehende Vorschläge zur Lösung dieses Rätsels erinnert.
Bloch schreibt in dem 1975 erstmals veröffentlichten Experimentum Mundi auf Seite 102: „Die Zeit ist ab ovo diskontinuierlich, immer wieder entsprechend der Punktualität des Daß, dem sie entspringt und das sie in diskontinuierlichem Fluß sich ausbreiten läßt.“ (Wobei das ‚Daß‘ der Punktualität seinerzeit ja noch mit sz : ‚ß‘ geschrieben wurde.) In Blochs Text folgen Überlegungen zu den unterschiedlichen Zeit-Modi der Vergangenheit, des dunklen Jetzt und der ebenfalls noch teilweise dunklen Zukunft. Letztere bezeichnet Bloch allerdings als „Zeit in der Zeit“, der „nichts Zeitwidiriges“ anhafte, wohingegen die Vergangenheit eine „Unzeit der Zeit“ sei, in der aber Unabgegoltenes und damit „Zukunft in der Vergangenheit“ anzutreffen sei (a.a.O. S. 103). – Vermittlungsinstanz ist dabei stets die Gegenwart, und zwar nicht zuletzt im Hinblick auf das Nicht-Mehr und das Noch-Nicht des gelebten Augenblicks.
In materialistischer Sicht steht die Zeit außerdem in enger Verbindung mit der Bewegung der Materie, die ja zweifellos nicht geradlinig und nicht kontinuierlich verläuft. In diesem Verbund „fließt“ die Zeit also diskontinuierlich, genauer: „sie fließt nur, indem sie stets augenblickhaft pocht“.7 In dieser Zeit der Jetzt-Momente sieht Bloch eine Grundvoraussetzung, einen „Urgrund“ der Dialektik: „Ohne die Unruhe des Jetzt gibt es keine reale Dialektik.“ (ebd.) Und mit dieser Dialektik beginnt die „Lichtung des gelebten Augenblicks“. –
Blochs Zeit-Begriff ist anscheinend weniger durch Mathematik und Naturwissenschaft geprägt als durch Kosmologie und die tatsächliche, wenn auch durchweg indirekte Erfahrung des Menschen mit Naturzeit, historischer Zeit und psychologischer Zeit. Dabei ersetzt er offenkundig die Vorstellung einer Sukzessivität (bzw. Kontinuität) der Zeit durch ein „Elasticum“, eine hohe Flexibilität, die es ihm ermöglicht, Einsteins Raumzeit mit psychologisch-existenziellen und geschichtlichen Zeit-Faktoren zu verbinden und für seine alles bestimmende Zukunftssicht, die Utopie des Noch-Nicht, fruchtbar zu machen. – Unvermittelt bleibt dabei jedoch z.B. die Tatsache, dass die Sukzessivität der Zeit mathematisch-naturwissenschaftlich darstellbar ist, und zwar u.a. in der Zeitmessung, so dass diese lineare Zeit auch im Alltagsleben von existenzieller Bedeutung ist. Für diesen Mangel an Vermittlung sind, wie ich meine, einige Defizite und Widersprüche der relativistischen Zeit-Theorie verantwortlich. Einstein postuliert einerseits eine völlige Diskontinuität der Zeit in Abhängigkeit von Raum und Materie, antwortet aber auf die Frage nach dem Wesen der Zeit gelegentlich mit der Empfehlung, man solle auf die Uhr schauen, wenn man wissen wolle, was die Zeit sei. Dann aber stehen Kontinuität und Diskontinuität der Zeit in starrem Widerspruch einander gegenüber. Ohnehin kann es die reine Diskontinuität angesichts der mathematisch-physikalisch feststellbaren (bzw. konventionalisierten) linearen Zeit nicht geben.
Wie der Widerspruch zustande kommt, hat F. Lipsius bereits im Jahre 1927 folgendermaßen erklärt: „Der in der Relativierung von Raum und Zeit enthaltene Widerspruch besteht in dem Satz, dass Raum und Zeit vom Bewegungszustand des Beobachters abhängig seien. Nun ist es aber ohne Zweifel die Bewegung, die ihrerseits Raum und Zeit voraussetzt.“2 Folglich lässt sich jeglichem Relationismus entgegenhalten, dass die Zeit nicht in Abhängigkeit von Bewegungen und Ereignissen existiert, sondern dass, umgekehrt, die Zeit Voraussetzung für alles im Nacheinander Verlaufende ist, somit auch für Bewegungen und Ereignisse.
Kant versteht die Zeit aus sich heraus.
Den Prototypen hierfür finden wir nach wie vor in Kants Kritik der reinen Vernunft (von 1781/87). In ihr gelten Raum und Zeit als Formen der „reinen Anschauung a priori“.
Was bedeutet das für den Zeitbegriff? Für Kant gelten folgende, der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (Abschnitt „transzendentale Ästhetik“) entstammende Leitsätze:
1. Die Zeit ist kein Erfahrungsbegriff, sondern eine „notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt.“ (a.O. S. 74)
2. Die Zeit ist „a priori gegeben“, so dass in ihr jegliche „Wirklichkeit der Erscheinungen möglich“ ist (ebd.).
3. Die Zeit hat nur „Eine Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander …“ (a.O. S. 74).
4. „Die Zeit ist kein diskursiver, oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff, sondern eine reine Form der sinnlichen Anschauung.“ (a.O. S. 75)
5. Damit wird die Zeit zu einer Art Grund- Kategorie, der auch jegliche Raum-Vorstellung unterworfen ist.
Was aber bedeutet es, dass Kant zwar die Zeit sämtlichen Erscheinungen zu Grunde legt, darüber hinaus aber anscheinend einen Grund für diesen Grund angibt: das Beharrliche, die Substanz, die Materie als „das Bestimmbare überhaupt“ (a.O. S. 314)? Dazu stellt Kant unmissverständlich klar: „eine formale Anschauung (Zeit und Raum)“ muss gegeben sein, um Materie überhaupt beschreiben zu können (a.O. S. 315)! Daher setzt er die Materie keineswegs mit dem „Ding an sich“ gleich, sondern rechnet sie dem Reich der Erscheinungen zu, denen wiederum die Zeit zu Grunde liege. Dem „Beharrlichen“ an der Materie kommt die Funktion zu, dem „ D a s e i n in verschiedenen Teilen der Zeitreihe nacheinander eine G r ö ß e, die man D a u e r nennt“, zu verleihen (a.O. S. 236). Die Zeit selbst sei nicht wahrnehmbar, wohl aber „das Beharrliche an den Erscheinungen“ als „Substratum aller Zeitbestimmungen“ (ebd.), wobei Kant sorgfältig zwischen Zeit und Zeitbestimmung unterscheidet.
Gleichwohl erscheint die Zeit nunmehr einerseits eher subjektiv als Form einer synthetischen, reinen Anschauung a priori, andererseits eher objektiv als indirekt bestimmbar, nämlich an Hand des „Beharrlichen“ der Materie.
Kleine Kant-Kritik
Hat Einstein Kants Zeit-Theorie widerlegt, wie er selbst behauptet hat? Offensichtlich nicht, zumal er den Widerspruch zwischen subjektiv zu bestimmender, diskontinuierlicher Raumzeit und objektiv gemessener, kontinuierlicher Weltzeit anscheinend nicht zu lösen vermag. Reicht Kants Theorie nicht, um das Phänomen Zeit zu verstehen? Für Einstein und seine Adepten ohnehin nicht. Festzuhalten bleibt demgegenüber, dass es grundsätzlich möglich zu sein scheint, die Zeit nicht einseitig als „Raumzeit“ und damit auch begrifflich in unauflöslicher Abhängigkeit vom Raum, sondern als solche, d.h. aus sich selbst heraus, zu verstehen.
Lee Smolin (geb. 1955): Die Zeit ist eine unveränderliche „Reihe von Augenblicken“, aber relational bestimmbar!
Auf die Eigenart und den Eigenwert der Zeit besinnen sich sogar heutige Naturwissenschaftler wie der US-amerikanische Physiker Lee Smolin, der – trotz oder gerade wegen seiner grundsätzlichen Kritik an Einstein – zu teilweise ähnlichen Ergebnissen kommt wie Kant und Bloch, aber teilweise auch zu erheblich anderen.
Diese Ergebnisse finden sich in einer umfangreichen Studie, die Smolin im Jahre 2013 vorgelegt hat, in deutscher Übersetzung 2014 unter dem Titel Im Universum der Zeit, mit dem Untertitel: Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos (München 2014). Smolin erkennt darin die Zeit nicht wie Kant als Form einer „reinen Anschauung a priori“, sondern als etwas objektiv Vorgegebenes, das nicht nur das Leben jeder Einzelperson, sondern das gesamte Universum bestimmt, zumal es die Zeit möglicherweise schon vor dem „Urknall“ gegeben habe.
Einsteins Raumzeit, die des vierdimensionalen „Blockuniversums“ lehnt Smolin entschieden ab. Man könne und müsse die Zeit aus sich selbst begreifen und daher die Zeit-Vorstellung von der Raum-Vorstellung trennen (a.a.O. S. 49, 239). Ergebnis: Der Raum könne – fast wie bei Kant – aus der Zeit begriffen werden, nicht umgekehrt. (S. 258)
Eine „absolute oder universale Zeit“ lehnt Smolin dennoch ebenso strikt ab, zumal es bei der Zeit um „wahrgenommene Beziehungen“ und somit um Veränderung gehe (S. 99). Zu definieren – und zwar sogar „vollständig“ – sei die Zeit „durch die Beziehungen zwischen Ereignissen“. Unter ausdrücklicher Berufung auf Leibniz erklärt Smolin: „Beziehungen sind die einzige Wirklichkeit, die der Zeit entspricht – Beziehungen kausaler Art“ (S. 102).
Hier ist anzumerken, dass die Beschreibung des „Kosmischen Zeitpfeils“ inzwischen durch die von Horst Fritsch im Jahre 2007 vorgelegte „Kosmische Zeit-Hypothese (KZH)“ erweitert worden ist, die auf der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit beruht. Demnach ist das Universum unendlich, unbegrenzt in Zeit und Raum; es hat „weder einen Anfang noch ein Ende in der Zeit“, so dass die „Urknall“-Theorie hinfällig wird. Stattdessen entwickelt Fritsch teilweise neue Zeit-Vorstellungen, die nicht auf der Relativitätstheorie beruhen, ohne deren Gültigkeit in irgend einer Weise in Frage zu stellen. Aber: Als „Referenzzeit“, wie sie zur Definition der Zeit nötig wäre, kann Einsteins Theorie offenbar nicht dienen, so dass Fritsch folgert: „Die Relativitätstheorie gibt uns also keine Antwort auf die Frage, ob es ein universelles, absolutes Zeitmaß gibt oder nicht.“3 Was vielleicht auch der Grund dafür ist, dass Einstein, nach dem Wesen der Zeit gefragt, witziger Weise antwortete, man solle doch auf die Uhr schauen ... – In Bezug auf die Kosmische-Zeit-Hypothese von Horst Fritsch bleibt die Frage offen, wie der Kosmos zu bestimmen sein soll: als Universum, Parallel-Universum, Multiversum?
Smolins Zeit ist jedenfalls eine Zeit des „Relationismus“ (S. 18), in der idealerweise alle Teile des Systems miteinander in Beziehung treten können. Was allerdings für das persönliche Leben Ungewissheiten mit sich bringt, so dass „Menschsein bedeutet, ein Leben zu führen, das zwischen Gefahr und Chancen schwebt“ (ebd.). – Dennoch scheint auch Smolins Theorie nicht der Weisheit letzter Schluss, seine Definition der Zeit doch nicht „vollständig“ zu sein. Gibt es die Zeit wirklich als gleichförmige, unveränderliche Abfolge von Augenblicken, wird der Relationismus nebensächlich, wenn nicht überflüssig. Was sollten denn die Beziehungen zwischen Ereignissen an einem gleichbleibenden Nacheinander der Zeit bzw. der Welt-Zeit ändern?
Darüber hinaus lässt sich dem Relationismus entgegenhalten, was F. Lipsius an Einsteins „Relativierung von Raum und Zeit“ kritisiert, dass nämlich die Zeit dem „Bewegungszustand des Beobachters“ vorgeordnet ist – nicht umgekehrt (s.o.).
Was ist in dieser Situation zu tun, in der die Dimensionen des Zeit-Problems und auch einige Lösungsansätze deutlich geworden sind, nicht jedoch wirklich überzeugende Lösungen? Wohl nur das, was die Sachlage zulässt und/oder gebietet, nämlich nicht „abschließende“ oder gar „endgültige“ Thesen aufzustellen, sondern eine
Hypothese zur ursprünglichen Weltzeit.
Wobei ich mit dem Adjektiv ‚ursprünglich‘ meine, dass die Weltzeit wahrscheinlich im „Ursprung“, also im Big Bang, entstanden ist, nicht aber, dass es vor dieser Singularität keine Zeit gegeben haben kann.
Im vorletzten Satz von Sein und Zeit (SuZ) fragt Heidegger (1927), ob „ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins “ führt. Diese Utopie – oder besser: dieses „Ansinnen“ – bleibt unerfüllbar, solange wir nicht in der Lage sind, das Wesen unseres Universums (Multiversums?) hinreichend zu bestimmen. Wir wissen nicht, was vor dem sogenannten „Urknall“ war, und wir wissen nicht, ob es Paralleluniversen bzw. ein Multiversum gibt. Angeblich sind nur ca. 4 % des Weltalls überhaupt bekannt. Die „ursprüngliche Zeit“ als ursprüngliche Weltzeit aufzufassen, dürfte dennoch legitim sein, auch wenn diese Zeit zwar anscheinend im ‚Big Bang‘ entstanden ist, aber – aus den genannten Gründen – weder universal noch absolut sein kann.
Mehr Aufschluss verspricht die folgende Äußerung Heideggers, wenn er sagt: „ Die Zeit ist sinnlos. Zeit ist zeitlich.“ (Heidegger 1989, S. 21) Der bestimmte Artikel verbietet sich hier in der Tat, weil er das Kontinuierliche, Unveränderliche der Zeit künstlich fixieren würde. Und was das Zeitliche an der Zeit sein könnte, beschreibt Heidegger seitenlang, z. B. als „die Sorge“ oder als „Zeit-Raum-Spiel“, aber wenig überzeugend.
Außerdem zeigt er nicht, wie das Subjektive und das Objektive der Zeit miteinander vereinbart, vermittelt werden können. Genau dies halte ich aber für möglich, z.B. an Hand der folgenden Feststellung Heideggers: „Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, das heißt die Einheit des >Außer-sich< in den Entrückungen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Seiendes sein kann, das als sein >Da< existiert.“ (SuZ S. 350). Der Begriff „Bedingung der Möglichkeit“ erscheint zunächst rein subjektiv-intelligibel, als pure Verstandeskategorie. Aber: Sein Referenz-Objekt, das seiende Sein, das „Da“, ist nicht nur im Verstand vorhanden; es ist vielmehr zugleich die objektive Grundlage jeglicher Verstandestätigkeit. Die Zeitlichkeit dieses Seins kann daher zunächst auch nur objektiv sein, in der „Ekstase“, im „Außer-sich“ der zeitlichen „Entrückungen“. Als 4. Dimension kontrastiert das Zeitliche mit allem Räumlichen – auch dies ein Grund, warum man die Zeit aus sich selbst heraus verstehen sollte.
Dessen ungeachtet wohnt das Zeitliche auch in uns selbst (vermutlich bis wir’s „gesegnet“ haben), z.B. als „psychologischer Zeitpfeil“. Das objektive „Da“ der Weltzeit manifestiert sich in uns als Dauer, erlebte Zeit, also subjektiv . Und genau darin besteht die gesuchte Vermittlung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven der Zeit.
Im Übrigen bedeutet auch diese Vermittlung keine Fixierung der Zeit. Das Wesen ist nicht nur Hegels „Ge-wesenheit“ der Vergangenheit, sondern auch das Noch-Nicht der Zukunft, die noch nicht erschienene Zukunft. Und die Zukunft wird wohl immer klarer erweisen, was es mit der Zeit auf sich hat. Die Zeit ist kein Ding, keine bloße „Erscheinung“, wohl aber – vorläufig und hypothetisch – eine Grundbefindlichkeit des Seins, ursprüngliche Weltzeit als anscheinend unveränderliche Reihe von Momenten bzw. Augenblicken. Diese Zeit ist, z.B. als Internationale Weltzeit in den verschiedenen Zeit-Zonen, zwar messbar, aber inhaltlich, d.h. in ihren „verschwindend“ kleinen Einzelmomenten, nicht erlebbar. Wir leben nicht den Augenblick, wohl aber in der Zeit der Gegenwart.
Auch deshalb darf man Zeit und Zeitmaß nicht verwechseln. Was physikalisch – auch und gerade in der Uhrzeit – gemessen wird, ist stets eine Zeitspanne, ein Quantum an Zeit. Quantität ist jedoch nicht gleich Qualität, Zahl nicht gleich Wesen, Zeit nicht gleich Zeitmaß, auch nicht als „Maß für Dauer und Geschwindigkeit“ (L. Mayr)4 Wer die Grundlage der physikalischen Zeitmessung (t=s/v, „Zeit = Strecke durch Geschwindigkeit“) erklärt, erklärt noch nicht die wirkliche Zeit, die physikalisch zwar gemessen, aber nicht erklärt werden kann.
Dennoch: Was da gemessen wird, ist die Zeit. Also ist anzunehmen, dass es sie gibt. Skaliert werden kann nur, was vorhanden ist. Vorhanden ist die wirkliche Zeit – hypothetisch: die ursprüngliche Weltzeit in einer unveränderlichen Reihe von Momenten, eine Weltzeit, die auch in „Dauer und Geschwindigkeit“ und wohl auch in Blochs „elastischer“ Zeit weitergeht.
An der Weltzeit partizipieren wir alle, allerdings in unterschiedlichen, relativ kurzen Zeitspannen, in denen, in dramatischer Weise, unsere individuelle Vergangenheit immer länger und unsere individuelle Zukunft immer kürzer wird. Es wäre ein grausames Narrenspiel, gäbe es nur Heideggers „Vorlaufen in den Tod“, nicht aber Blochs Hoffnungsbilder gegen den Tod,, den Geist der Utopie, den Glanz des kosmologischen Alles (natürlich im Sinne der Blochschen Kosmologie), einer Vollendung, deren Vor-Schein die Schatten des Nichts, des Nihilismus, zu vertreiben vermag.5 So dass wir auch in finsteren Zeiten zunehmender Unfreiheit nicht an der Aufgabe verzweifeln müssen, dem Reich der Freiheit näherzukommen .
Die Weltzeit lässt sich nicht manipulieren. Sie verlangt ihren Tribut in Form mehr oder weniger sinnvoll genutzter Zeit.6 Dies genauer darzulegen, ist mir hier und jetzt ebenso wenig verstattet wie eine Antwort auf die Frage, welche weiteren Einzelprobleme unter dem Aspekt der Weltzeit neu überdacht werden müssen.
Literaturhinweise
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1959
ders.: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a.M. 1970
ders.: Experimentum Mundi, Frankfurt a.M. 1975
Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997
Ekpyrotisches Universum (Paul Steinhardt 2002), in: Wikipedia 2015
Fritsch, Horst: Zeit und Wirklichkeit. Die „Kosmische Zeit-Hypothese“ (KZH) – eine Alternative zur Urknalltheorie, Aachen 2007
Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013
Hawking, Stephen: Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbek 1988
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1963
ders.: Der Begriff der Zeit, Tübingen 1989
ders.: Logik als die Frage nach dem Wesen, in: Gesamtausgabe Bd. 38, Frankfurt a.M. 1998
Jung, Werner: Augenblick, Dunkel des gelebten Augenblicks, in: Beat Dietschy, Doris Zeilinger, Rainer E. Zimmermann (Hrsg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, Berlin/Boston 2012, S. 51-59
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956
Mayr, Luitpold, Zeit-Blog, in: http://zeitrelativ.blogspot.de/2011/10/philosophische-argumente-gegen-die.html
Robra, Klaus: Wege zum Sinn, Hamburg 2015
ders.: Die Zeitdimension im Dunkel des gelebten Augenblicks (mit einer Hypothese zur ursprünglichen Weltzeit), in: ‚VorSchein‘ 34, Jahrbuch der Ernst-Bloch-Assoziation 2015/21016, hrsgg. von Doris Zeilinger, Nürnberg 2017, S. 51-61
Schulz, Walter: Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter, Pfullingen 1992
Smolin, Lee: Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos, München 2014
[...]
1 Jung 2012, S. 53. S. auch Robra 2017. Ganz anders als Bloch analysiert Henri Bergson (1859-1941) den gelebten Augenblick, den er nicht mit Dunkel, sondern mit gleichzeitiger (!) Wahrnehmung und Erinnerung angefüllt sieht. Jeder Augenblick sei beides: „ak tuell und virtuell“ (in: Deleuze 1997, S. 109). – Was ich bezweifle, denn wir können in der winzigen Zeitspanne des mit dem Jetzt vergehenden Augenblicks nicht einmal erkennen, ob wir überhaupt etwas wahrnehmen oder erinnern. Tatsächlich nehmen wir zwar erinnernd wahr, aber nicht unmittelbar, nicht im Dunkel des gelebten Augenblicks.
2 F. Lipsius, zitiert von Luitpold Mayr, in:http://zeitrelativ.blogspot.de/2011/10/philosophische-argumente-gegen-die.html
3 Fritsch 2007, S. 12. Zur Kritik der „Urknall“-Theorie s. auch bereits Paul Steinhardt 2002, in: Ekpyrotisches Universum, Wikipedia 2015
4 s. Fußnote Nr. 2!
5 Bloch 1959. S. 1297 ff.
6 Vgl. Robra 2015 b)
- Citation du texte
- Dr. Klaus Robra (Auteur), 2016, Raumzeit oder Weltzeit. Ist das "Rätsel Zeit" doch lösbar?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/359339
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