Es handelt sich um das Ergebnis einer umfassenden Recherche um das Werk "An Schwager Kronos" von Goethe und die subjektive Interpretation jenes Werkes durch den Autor.
Gedichtsinterpretation
-An Schwager Kronos-
Ein Fürst, den Göttern gleich, auf seiner Lebensfahrt von „Gebürg zu Gebürg“ (V. 16) über „Stock Wurzel Steine“ (V. 7) bis hin zur reinen Hybris? In seinem Gedicht „An Schwager Kronos“ aus dem Jahre 1774, schrieb ein junger Goethe, als wäre er in reiner Gewissheit über die wahrhafte Destination dieser Reise. Welcher Impetus rührte diese trotzende Kraft in ihm, die in jedem Vers seines Werkes zu spüren ist. Welche Motivation speiste diesen Übermut? Ein Tag an dem alles zu gelingen schien. Ich hatte den lang ersehnten Erfolg im Sport erreicht und am selben Tag mir das kleine Lächeln zu eigen gemacht. Es war einer dieser Tage an dessen Ende man zu schreiben beginnt gleich ob es ein Gedicht ist oder ein Lied. Folglich ist es mir ein Leichtes nachzuvollziehen welche Gefühle den jungen Goethe bewegten diese Verse zu schreiben.
Eine Fahrt mit der Kutsche gilt in Goethes „An Schwager Kronos“ als metaphorisches Sinnbild für die Lebensfahrt des lyrischen Ichs, wie der Untertitel „In der Postchaise den 10. Oktober 1774“ vorab verheißen lässt. An eben diesem Tag hatte der junge Goethe den wohl bedeutsamsten Dichter seiner Zeit, Friedrich Gottlieb Klopstock, auf seiner Weiterfahrt nach Karlsruhe begleitet. Nicht weniger als eine große Ehre, musste es dem jungen Juristen gewesen sein den fünfzigjährigen Dichterfürsten treffen zu dürfen. Goethe selbst hatte im Jahr zuvor mit seinem Werk „Götz von Berlichingen“ erste Berühmtheit erlangt. „Die Leiden des jungen Werthers“ waren soeben veröffentlicht und Goethe schwamm auf einer Welle der Motivation die ihm dieser erster Ruhm eröffnet hatte.
„Schwager“ war die führende Bezeichnung die Anfang des 18. Jahrhundert für den Kutscher galt. Sein Gedicht „ An Schwager Kronos“ richtet Goethe also in erster Hinsicht an den Führer der Postkutsche, der ihn nach dem Abschied aus Karlsruhe zurück nach Frankfurt geleitete. Der Terminus „Kronos“ eröffnet jedoch eine weitere Betrachtungsmöglichkeit. Der Titan gilt als Göttervater in der griechischen Mythologie. Mit einer Sichel hatte dieser sich gegen seinen Vater Uranus - den Himmel aufgelehnt und ihn entmannt. So war er selbst zum Herrscher der Welt geworden und hatte das goldene Zeitalter eingeläutet.[1] Gleichzeitig gibt die Ähnlichkeit zum Namen des Zeitgottes Chronos eine weitere Möglichkeit der Betrachtung. Es stellt sich die Frage der möglichen Verwechslung beider Charaktere, denn speziell im Zusammenhang mit dem Inhalt des Gedichtes kann auch von einem Herrscher der Zeit ausgegangen werden der auf der Kutschfahrt vom lyrischen Ich zur Eile gedrängt wird. In Konklusion kann man schlussfolgern: Goethe habe wohlmöglich beide Bezeichnungen im Schwager Kronos vereint.[2]
Das Gedicht besteht aus sieben Strophen die zwischen fünf und acht Versen lang sind. Ausschließlich freie Rhythmen bestimmen das Metrum. Die erste Strophe thematisiert die Aufforderung zur Eile und die Ungeduld des lyrischen Ichs. In der zweiten Strophe führt der Weg einen Berg hinauf. Hoffnungsvoll fordert das lyrische Ich nicht langsamer zu werden. Die dritte und vierte Strophe beschreiben symbolisch den Höhepunkt der Lebensfahrt. Bei der Ankunft auf dem Berg ist: „Weit hoch herrlich der Blick Rings ins Leben hinein“ (V. 14-15).Grund für den Höhepunkt ist hier Gott: „Über der ewige Geist“ (V. 17). In der vierten Strophe hingegen fährt die Kutsche ins Dorf ein. Beweggrund des Höhepunktes ist hier die Liebe: „Und der Frischung verheißende Blick […] des Mädchens da.“ (V. 21-22) In der fünften Strophe geht die Fahrt zunächst bergab. Das lyrische Ich symbolisiert diese mit dem Alterungsprozess: „Und das schlockernde Gebein,“ (V. 31) Doch ohne den Satz zu beenden geht die fünfte Strophe in die sechste über. In dieser wendet sich das lyrischer Ich von diesem Prozess ab und fordert direkt in die Unterwelt gebracht zu werden. Die Bedeutung der Hölle darf hier nicht im christlichen Verständnis betrachtet werden sondern richtet sich nach der griechisch-mythologischen Bedeutung des Orkus. Die siebte Strophe thematisiert nun die Ankunft in der Unterwelt. Ein letztes mal fordert das lyrische Ich: „Töne, Schwager, dein Horn,“ (V. 36). Um allen zu verkünden: „ […] ein Fürst kommt,“ (V. 39)[3]
Schon im ersten Vers spricht das lyrische Ich mit einem sehr häufig benutzen imperativen Charakter: „Spude dich, Kronos!“ (V. 1) und wagt damit zugleich den Göttervater Befehle zu erteilen. Das Ausrufezeichen am Ende des Verses verstärkt den drängenden Stil des lyrischen Ichs zusätzlich. Gemeint ist der Führer der Postkutsche, der die Pferde zum schnelleren traben motivieren soll. Dabei achtet das lyrische Ich auf eine Musikalität die der Wortverbindung inne wohnt: „[…] rasselnden Trott!“ (V. 2). Ein weiteres dynamisches Element wird richtungsgebend durch: „Bergab gleitet der Weg;“ ergänzt. In Vers vier und fünf äußert das lyrische Ich seine Unzufriedenheit mit der Reisegeschwindigkeit. Er geriet in „Ekles Schwindeln“ (V. 4) durch das „[…] Haudern.“ (V. 5) des Kutschers. Die Abbreviation am Anfang des Verses unterstreicht dabei die Annahme der Reisende würde es sehr eilig haben. „Haudern" steht dabei umgangssprachlich für das sehr langsame fahren des Schwagers. Immer wieder bedient sich das lyrische Ich dem humoristischen Wechsel zwischen gehobener Ausdruckskunst und mundartlicher Sprache und liegt damit dem jugendlichen Sprachstil der Stürmer und Dränger nahe.[4] Zusammenhangsfrei wirken die Verse der ersten Strophe. Dieser Eindruck wird von den Versen sechs bis sieben bestätigt. Die Akkumulation „Stock Wurzel Steine […]“ (V. 7) unterbricht, einer Parenthese gleich, die Folge beider Verse.[5] Es bleibt nicht einmal die Zeit die genannten syntaktischen Elemente durch ein Komma zu trennen. „Rasch in´s Leben hinein!“ (V. 8) soll der Schwager die Kutsche führen. Der Eindruck entsteht, der Autor habe der ersten Strophe bewusst den unrhythmischen, holprigen Charakter verliehen, denn der Start ins Leben beginnt zumeist ebenso uneben. Kein besseres Beispiel könnte der junge Goethe selbst sein, der mit den Anfängen seines Rechtswissenschaftsstudiums ebenso zu hadern hatte.[6] Schlussfolgern lässt sich, dass im Gedicht das Metrum eng mit den Gefühlsausdrücken des lyrischen Ichs verbunden ist.
Ungeduld äußert das lyrische Ich bei der mühsamen Fahrt bergauf: „Nun schon wieder“ (V. 9). Doch es soll weitergehen: „Auf denn, nicht träge denn! Strebend und hoffend an.“ (V. 12-13) Es ist der sehnliche Wunsch voran zu kommen im Leben, der das lyrische Ich in der zweiten Strophe bewegt. Gleichzeitig wird uns ein Lebensprinzip des Autors präsentiert. So schrieb Goethe später auch in Faust 2: „Wer immer strebend sich bemüht,/ Den können wir erlösen!“ (V. 11932 f.)[7] Auch schon in jungen Jahren hatte sich Goethe also der Tugend bedacht.
In Strophe drei und vier erreicht das lyrische Ich nun den Höhepunkt seiner Lebensfahrt. Eingeleitet wird dieser durch eine Alliteration: „Weit hoch herrlich der Blick“ (V. 14), in welcher drei Hebungen auf einander folgen. Es entsteht ein erhabener, feierlicher Eindruck:
„Das war schon im altdeutschen Vers das Mittel, Höhepunkt, Majestät auszudrücken.“ schreibt Erich Trunz in seinem Werk „Goethe Gedichte“ (S.488) und belegt, dass sich Goethe auch alter Traditionen behalf. Das lyrische Ich überschaut metaphorisch die Höhen und Tiefen seines Lebens: „Von Gebürg zum Gebürg“ (V. 16) und verweist dabei auf die Anwesenheit des ewigen, des schöpferischen Geistes der über allem steht und „Ewigen Lebens ahndevoll“ (V. 18) ist. Er scheint Grund für den Höhepunkt zu sein. Hervorzuheben ist dabei der Wechsel des Sprachstils: während in den ersten beiden Strophen die deutlich holpernde Sprache vorherrscht, besitzt sie in Strophe 3 einen tragenden und ebenmäßigen Charakter. In Strophe vier hingegen ist Thema des Höhepunktes: „das Höchste irdischen Glücks:“ die Liebe, so Jochen Hieber. „Seitwärts Überdachs Schatten“ (V.19) verweisen auf das Eintreffen im Dorf. Erstmalig im Gedicht spricht das lyrische Ich nicht zum Kutscher sondern zu sich selbst: „Zieht dich an“ (V.20) und zu dem Mädchen: „Labe dich ! - Mir auch, Mädchen,“ (V. 23). Wieder verweisen Abbreviationen und Ellipsen auf die Kurzweiligkeit des Momentes: „[…] Frischung […]“ (V. 21). Expressiv ist die Häufung des Wortes Blick, während in Strophe drei der Blick des lyrischen Ichs „Rings ins Leben hinein“ (V. 15) schaut, ist es in Strophe vier der „Frischung verheißende Blick“ (V. 21) des Mädchens und in Vers 25 der „ […] freundliche Gesundheitsblick!“. Symbolisch deutet der ferne Blick in Strophe drei auf die Freiheit des lyrischen Ichs, wobei der Blick des Mädchens in Strophe 4 die Liebe symbolisiert. „Dennoch wird die Liebe in diesem Gedicht - trotz zentraler Stellung - eher als nur vorübergehend wichtig angesehen.“ (Helmut Moers).
Doch auch diese Etappe der Lebensreise vergeht. Vers 26 verweist auf den Fortgang der Fahrt: „Ab dann, frischer hinab!“. Metaphorisch spricht das lyrische Ich: „Sieh, die Sonne sinkt.“ (V. 27) und meint den Werdegang des Lebens. Doch „Eh´sie sinkt, Eh´mich faßt“ (V. 28) will er dem Prozess entgehen. Vorab wird dieser jedoch noch ausführlich Beschrieben. Durch die Synästhesie „[…] im Moore Nebelduft,“ (V. 29) und höchst kreativ anmaßende Metaphern: „Entzahnte Kiefer schnattern Und das schlockernde Gebein,“ (V. 30-31) bringt das lyrische Ich seine Ablehnung und auch seine Angst zum Ausdruck, denn bewusst hält Goethe hier Abstand zum Tod. Motivation für diese Verse könnte die Ernüchterung des jungen Goethes bei der Betrachtung des alternden Klopstocks gewesen sein.[8] Strophe fünf und sechs verbindend, belässt Goethe den Vers 31 unbeendet. Das lyrische Ich will dem Prozess der Alterung entgehen und „Trunken vom letzten Strahl“ (V. 32), von einem Feuermeer „In der Hölle nächtliches Tor“ (V. 36) gerissen werden. Der typische Charakter eine Hymne wird an diesem Beispiel offensichtlich. Es ist der letzte Höhepunkt, der fast epische Niedergang, den sich das lyrische Ich hochmütig einfordert. Hervorzuheben ist die Metaphorik des Lichtes, worauf der Autor in den Versen 27-32 deutet.[9] Wie als würde jemandem ein Licht aufgehen, verweist er so auf sein schöpferisches Schaffen. Selbst Goethes letzte Worte: „Mehr Licht“, könnten diesbezüglich gedeutet werden.
„Töne, Schwager, dein Horn,“ (V. 37) befielt der so selbstbewusste Sprecher ein letztes Mal. Die Inversion betont diese Forderung eindringlich. Seine Schöpfungen haben ihn zum Fürsten gemacht, und der gesamte Orkus solle seine Ankunft vernehmen. (V. 39) Der Begriff des Geniehelden wird dadurch thematisiert, denn gleich der ihm gegebenen Mittel schöpft er die Gesamtheit dieser Fähigkeiten voll aus. Die Parallele zu Goethes Gedicht „Prometheus“ liegt nahe. Sich den Gewaltigen gleichsetzend, lehnt sich das lyrische Ich gegen die Obrigkeit auf. „Mache dir die Gewaltigsten untertan, birgt [das Gedicht] als Botschaft wohl.“ (Jochen Hieber). Ein wichtiger Unterschied zu „Prometheus“ ist jedoch, dass es dem lyrischen Ich in „An Schwager Kronos“ an keiner mythologischen Maske bedarf. „[…] er spricht nur von sich selbst - und damit zugleich von der reinen Hybris, vom Größenwahn des Verfassers.“ so Jochen Hieber. Doch in den letzten Versen wird dieser Übermut relativiert. Humorvoll und leicht selbstironisch erzeugt das lyrische Ich umgangssprachlich das Bild der sich lüftenden Gewaltigen (V. 41).[10]
Es war ein junger Goethe der vielseitig motiviert und geprägt vom ersten Ruhm in seinem Gedicht „An Schwager Kronos“ eine Vision seines Lebens niederschrieb. Nicht grundlos zählt dieses Werk zu den Lebensgedichten, von denen Goethe so einige schrieb. Der junge und übermütige Sprachstil, wodurch dieses Gedicht auch eindeutig der Epoche des Sturm und Drang zuzuordnen ist, birgt jedoch den Zauber und die Kraft die Goethe in so manchen anderen Werken zu Vergessen weiß. So liegt die einzige Abweichung von der beschriebenen Lebensvision in der späten Zensur des Gedichtes. Denn nur der menschliche Charme hätte den Dichterfürsten Goethe veranlasst in seinem Gedicht das so Hervorragende unbedarft zu glätten.
[...]
[1]https://de.wikipedia.org/wiki/Kronos
[2]Trunz, Erich. Goethe Gedichte. Verlag C.H. Beck München. 1982. S.488
[3]Moers, Helmut. Interpretationshilfe Deutsch. Stark Verlag. S.52f
[4]Trunz, Erich. Goethe Gedichte. Verlag C.H. Beck
[5]München. 1982. S.488 Moers, Helmut. Interpretationshilfe Deutsch. Stark Verlag. S.54
[6]Trunz, Erich. Goethe Gedichte. Verlag C.H. Beck
[7]München. 1982. S.488 Moers, Helmut. Interpretationshilfe Deutsch. Stark Verlag. S.54
[8]Conrady, Karl Otto. Goethe Leben und Werk. Verlag Artemis & Winkler, 1982. S.226
[9]Moers, Helmut. Interpretationshilfe Deutsch. Stark Verlag. S.55
[10]ebd. S.56
- Citation du texte
- Anonyme,, 2016, Gedichtsinterpretation zu Goethes "An Schwager Kronos", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/358404