Untersucht Herders Nationenbild in seinem "Journal meiner Reise im Jahre 1769" und zeigt Zusammenhänge zur Frühphase der Konzeption der Idee "Nation" in Europa und in vorstaatlicher Form (Stichwort: Kulturnation) im heutigen Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Nationsbegriff im 18. Jahrhundert
3. Herder und sein „Journal meiner Reise im Jahre 1769“
3.1 Herder
3.2 Das „Journal“ und der Gelehrtendiskurs
4. Der Volks- und Nationsbegriff
4.1 ‚Volk’ und ‚Nation’ als geographisch und geschichtlich verankerte Wesenheit
4.1.1 Das Verhältnis Denkart und Geist zu Kultur, Sprache, Literatur und Mythologie im Volks-/Nationsbegriff
4.1.2 „Volk“, „Nation“ und Könige, „Politik“, Gesetze und Ökonomie
5. Fazit
6. Bibliographie
1. Einleitung
Die Nationsforschung tendiert mittlerweile zum konstruktivistischen Ansatz. In diesem wird die ‚Nation’ aufgefasst als eine „imagined community“, eine vorgestellte Gemeinschaft.[1] Der Begriff ‚Nation’ ist nicht die sprachliche Manifestation eines in einem zwangsläufigen geschichtlichen Prozess entstandenen natürlichen Gebildes in einer ontologischen Wirklichkeit. Vielmehr besteht ein dialektisches Verhältnis zwischen der Begriffsfindung, Begriffsformierung, Kategorisierung – Konstruktion – und der Anwendung auf der einen und der Entwicklung der ‚Nation’ als Wir-Gruppe, mit deren Legitimierung und Verwirklichung als politisches, rechtliches und kulturelles Gebilde auf der anderen Seite.
Im 18. Jahrhundert entwickelt sich ein Nationsbegriff, der als Idee und Konstrukt hohes Integrations- und Identifikationspotential hat. Als metaphysisches Konzept bietet er im Bezugsrahmen der Geschichte Identifikationsraum und Partizipationsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen – Kultur, Ökonomie, Sprache und Politik. Die Entwicklung dieses Begriffes findet in den Diskursen des 18. Jahrhunderts statt.[2] Als einer der prominentesten und einflussreichsten Gelehrten in der Entwicklung eines wirkmächtigen Nationsbegriffs gilt Johann Gottfried Herder.[3] Anhand seines „Journal meiner Reise im Jahre 1769“ – eines gelehrten Egodokuments - zeigt diese Hausarbeit Elemente und Merkmale seines Nationsbegriffe, und beleuchtet diesen in einem Prozess der Begriffsentwicklung, der auf den Ebenen des Gelehrtendiskurses und der philosophischen Reflektion politischer und gesellschaftlicher Prozesse und Realitäten stattfindet, auch bestimmt von der Suche des Gelehrten nach einem Markt und einem Raum für die eigene Verwirklichung.[4]
Zunächst wird kurz der Nationsbegriff im 18. Jahrhundert charakterisiert. Im zweiten Teil wird Herder kurz in die Gelehrtenlandschaft und das „Journal“ als Quelle in den Gelehrtendiskurs eingeordnet und beurteilt. Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem Gebrauch des Begriffs ‚Nation’, und in diesem Zusammenhang auch dem bei Herder fast synonym gebrauchten ‚Volk’.
Neben der umfangreichen Sekundärliteratur zu Herder, die ein äußerst weites, häufig auch interdisziplinäres, Spektrum aufweist,[5] die sich bezüglich Herders Rolle in der Entwicklung von nationalen Ideen häufig apologetisch gibt,[6] wird die wachsende Literatur der Nationsforschung zur frühen Neuzeit berücksichtigt.
2. Der Nationsbegriff im 18. Jahrhundert
Ein gründlicher Überblick über den Nationsbegriff im 18. Jahrhundert ist aus Platzgründen hier nicht möglich. Ein paar Merkmale des Klimas, in dem sich Herders Nationsbegriff entwickelt scheint, aber zweckmäßig.
Als „eine Vereinigte Anzahl von Bürgern, die einerlei Gewohnheiten, Sitten und Gesetze haben“[7] definiert Zedlers Universallexikon den Begriff ‚Nation’ 1740 und impliziert damit ein rechtlich-gesellschaftliche Kollektiv.
Die Gelehrten der Aufklärung bemühen sich, die Welt und die Kräfte, die sie bestimmen, zu benennen und zu erklären – ausgedrückt in einer steigenden Anzahl von Publikationen und eines wachsenden Lesepublikums.[8] In diesem Klima erfahren ‚Nation’ und ‚Volk’ eine Aufwertung als Gegenstände der Reflektion und als Kategorien in den unterschiedlichsten Diskursen.[9] In der Vertragstheorie, Naturrechtstheorie, aber auch in Bildungs- und Patriotismusdiskursen, bezeichnen ‚Volk’ und ‚Nation’ häufig signifikante theoretische Größen.[10] Damit gehen sie, in einem philosophischen, wissenschaftlichen bis metaphysischen Rahmen, über die bis dato konkreten Gruppen, bzw. Wir-Gruppen-Bezeichnung oder Beschwörung hinaus.[11]
Spätestens mit Herder – rückgreifend auf Bedeutungen der ‚Nation’ bei den lateinischen Gelehrten, als Abstammungs- und Sittengemeinschaft – erhalten ‚Nation’ und ‚Volk’ als kollektive Wesenheiten einen Platz in Geschichte und Geographie.[12]
Gleichzeitig entsteht im 18. Jahrhundert ein großes Bürgertum, das einen Platz der Verwirklichung sucht. Herrschen und Politik sind dem Adel vorbehalten, und die Energien bürgerlichen Schaffens, die zu großen Teilen in Literatur, Bildung und Gelehrtentum manifestiert werden, suchen Ziele und Aufgaben.[13] Metaphysische Konzepte, die Raum zu Identifikation, Integration und zum Handeln bieten, werden geradezu benötigt.[14] In Deutschland ist dies besonders problematisch, weil England, aber vor allem das benachbarte Frankreich, bereits als geschlossene Räume – politisch, kulturell und sprachlich – empfunden werden.[15]
Hinzu kommt drittens noch das Interesse nach unten, welches das Bürgertum mit seinen humanistischen Bildungsidealen entwickelt und das es für die Belange des ‚gemeinen Volkes’ sensibilisiert.[16]
[...]
[1] Vgl. Hans Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland, Hamburg 2000, S. 15; Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, S. 175, 181; Reinhard Stauber: Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu „Nation“ und „Nationalismus“ in der frühen Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Forschung (47), 1996, S. 141, 160-62.
[2] Langewiesche spricht von der Nation als „sozialem Kommunikationsprozess“ (Dieter Langewiesche: ‚Nation’, ‚Nationalismus’, ‚Nationalstaat’ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, in: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, Dieter Langewiesche (Hg.), München 2000, S. 33.
[3] Siehe unten.
[4] S. u.
[5] Vgl. Klaus Manger: Herder im Licht der Aufklärung, in: Ideen und Ideale. Johann Gottfried Herder in Ost und West, Peter Andraschke/Hellmut Loos (Hg.), Freiburg 2002, S. 17.
[6] Jost Schneider geht sogar so weit, Herder als Opfer von nachfolgenden Ideologen zu bezeichnen. Vgl. Jost Schneider: Was bleibt von Herder? in: Herder im „Dritten Reich“, Jost Schneider (Hg.), Bielefeld 1994, S. 9. Dies ist natürlich auch eine Reaktion auf die Tendenz älterer Arbeiten, Herder unreflektiert zum Propheten des Nationalismus zu machen – besonders auch der Ideologen des 3. Reiches. Vgl. Schneider, Was bleibt?, S. 8-11.
[7] Zedlers Universallexikon (Online Ausgabe) ______________.
[8] Vgl. Georg Schmidt: Geschichte des alten Reichs. Staat und Nation in der frühen Neuzeit 1495 – 1806, München 1999, S. 290f; Langewiesche, Versuch einer Bilanz, S. 32f; Schulze, Staat und Nation, S. 145f; Eckhardt Hellmuth: Nationalismus vor dem Nationalismus?, in: Nationalismus vor dem Nationalismus? (Aufklärung: interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Jg. 10 Heft 2), Eckhardt Hellmuth/Reinhard Stauber (Hg.), Hamburg 1998, S. 9; Otto Dann: Begriffe und Typen des Nationalen in der frühen Neuzeit, in: Nationale und kulturelle Identität: Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Bernhard Giesen (Hg.), S. 65.
[9] Vgl. Manger, Herder im Licht, S. 23; Blitz, Liebe zum Vaterland, S. 16f; Schulze, Staat und Nation, S. 189.
[10] Vgl. Stauber, Nat. vor Nat.? , S. 149; zu den Diskursen vgl. Birgit Nübel: Zum Verhältnis von ‚Kultur’ und ‚Nation’ bei Rousseau und Herder, in: Nationen und Kulturen: zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Regine Otto (Hg.),Würzburg 1996, S. 104; Schmidt, Geschichte des alten Reichs, S. 282 – 285; Wolfgang Förster: Herders Zivilisationskritik als Bestandteil seiner Auffassung von der Nation, in: Nationen und Kulturen, S. 131f; Bernd Schönemann: Volk, Nation, in: Geschichtliche Grundbegriffe (Bd. 7), Otto Brunn (Hg.), Stuttgart 1992, S. 301-5; 307-9; 309-14; Schulze, Staat und Nation, S. 145; Blitz, Liebe zum Vaterland, S. 343f.
[11] Als die sie z. B. von politischen Entscheidungsträgern, aber auch von um den Frieden im deutschen Reich bemühten Gelehrte während des 30-jährigen Krieges appellativ benutzt wird. Auch für die Bezeichnung eines sprachlichen oder kulturellen Verband benutzen deutsche Literaten, im Bemühen um einen eigenen, abgegrenzten, sprachlichen Raum des Schaffens, bereits seit den Humanisten im 16. Jahrhunderts, den Begriff ;Nation’. Üblich geworden ist hier die Unterscheidung in politischer Nation und ethnische oder kulturelle Nation in der wissenschaftlichen Literatur. Der konkrete Bezug divergiert ebenfalls. Vgl. Stauber, Nat. vor Nat.?, S. 143-46; Dann, Begriffe und Typen, S. 56, 58, 67f, 70; Schönemann, GG, S. 296-99, 305-7; Schmidt, Geschichte des alten Reichs, S. 173-75, 212, 284f; Joseph Huinziga: Im Bann der Geschichte, Basel 21943, S. 144; Förster, Herders Zivilisationskritik, S. 132f; Schulze, Staat und Nation, S. 117-19, 126, 141-43, 146f; Langewiesche, Versuch einer Bilanz, S. 18f; Blitz, Liebe zum Vaterland, S. 16, 18.
[12] Vgl. Blitz, Liebe zum Vaterland, S. 344.
[13] Zwar finden die Herrscher des Adels mit dem aufgeklärten Absolutismus noch einen Platz in der Welt des aufstrebenden Bürgertums. Als Führer des Staats, verklärt zu Dienern des ;Volkes’ und der ‚Nation’ und selbst Teil dieser, instrumentalisieren sie einige der Ideale des aufgeklärten Bürgertums zum Machterhalt. Aber die Ambitionen und der Aufstieg des Bürgertums lässt sich schon deutlich erkennen, auch wenn es noch auf Domänen der Kultur, Wissenschaft, Bildung und Wirtschaft beschränkt bleibt. England und Amerika als Staatsgebilde sind bereits alternative Modelle. In Frankreich entlädt sich dies in der französischen Revolution. Auch die Säkularisierung und die Schwäche des Konzeptes Gott und Kirche dürfen nicht vernachlässigt werden – im aufgeklärten Absolutismus haben ‚Nation’ und ‚Volk’ in der Rhetorik ‚von Gottes Gnaden’ abgelöst.Vgl. Blitz, Liebe zum Vaterland, S. 18f, 344f, 355f, 358; Schmidt, Staat und Nation, S. 281; Förster, Herders Zivilisationskritik, 132f; Langewiesche, Versuch einer Bilanz, S. 22, 31-33; Huinziga, Bann der Geschichte, S. 141, 149, 175; Dann, Begriffe und Typen, S. 60f; Stauber, Nat. vor Nat.?, S. 147, 162, Nübel, Rousseau und Herder, S. 100f, Hellmuth, Nat. vor Nat.?, S. 6f.
[14] Vgl. Schmidt, Geschichte des alten Reichs, S. 290; Stauber, Nat. vor Nat.?, S. 145, 159; Nübel, Rousseau und Herder, S. 59f; Langewiesche, Versuch einer Bilanz, S. 16f; Schulze, Staat und Nation, S. 141f.
[15] Vgl. Huinziga, Bann der Geschichte, S. 141, 149; Schulze, Staat und Nation, S. 147f.
[16] Vgl. Schönemann, GG, S. 314f.
- Arbeit zitieren
- Marc Regler (Autor:in), 2004, Elemente der Konstruktion des Nationsbegriffes in Johann Gottfried Herders "Journal meiner Reise im Jahre 1769", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35686
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