In dieser Arbeit wird Identität, als Ergebnis, aus Unterscheidungsprozessen resultierender, subjektiver Realität und Anpassung an soziale Konstrukte, dargestellt. Besondere Berücksichtigung finden dabei epistimologische Standpunkte des Radikalen und des Sozialen Konstruktivismus sowie medizinische und neurologische Grundlagen. Darüberhinaus werden systemtheoretische, linguistische und soziologische Ansätze und deren Einflüsse auf die Konstruktion subjektiver Realität herangezogen.
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Zentrale Fragestellung
1.2 Methodische Vorgehensweise
2 Realität(en)
2.1 Objektive Realität
2.2 Subjektive Realität
2.3 Einflussfaktoren auf subjektive Realität
2.3.1 Sprache
2.3.2 Gesellschaft
2.3.3 Sozialisation
2.4 Zwischenfazit
3 Konstruktionen
3.1 Medizinische und neurologische Prozesse
3.2 Konstruktivismus
3.2.1 Radikaler Konstruktivismus
3.2.2 Sozialer Konstruktivismus
3.3 Das biologische System: Mensch
4 Identitäten
4.1 Entstehende und zerfallende Identitäten
4.2 Identitäten durch wahrgenommene Realitäten
4.2.1 „Cäsarenwahn“
4.2.2 Soziale Rollen
4.2.3 Behinderung
5 Schlussfolgerungen
6 Zusammenfassung
Quellenverzeichnis
Anhang
1 Einleitung
„Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen nichts in der wirklichen Welt entspricht, zum Beispiel auf ... der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dinges in verschiedenen Punkten der Zeit.“[1] So beschrieb Nietzsche [2] in seinem Werk „Menschliches Allzumenschliches“ die Ambivalenz der Identität von Dingen unter den jeweiligen Umständen der Zeit.
Im Verlauf meiner Studien sowie der Ausübung meines Berufes als Sozialpädagoge stieß ich wiederholt auf die Situation von unerklärlich erscheinenden Veränderungen der Klienten, unter verschiedenen Bedin-gungen der Zeit – von äußeren Umständen.
In der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Kollegen blieb mir die Darstellung einer aus der Schweiz stammenden Kollegin sinngemäß in Erinnerung – Sie beschrieb eine intensive, anhaltende und durch vielfältige Methoden geprägte Arbeit mit Klienten, ohne dass Erkenntnisse nachhaltig erhalten blieben. Durch die Veränderung äußerer Umstände, beispielsweise ein Mensch tritt in das Leben oder verlässt dieses, entstand die Situation, dass der bisherige Unterstützungsbedarf nicht mehr notwendig war oder diametrale Einstellungen, Bewertungen und Standpunkte scheinbar plötzlich voller Über-zeugung vertreten werden konnten.
Nietzsches Zitat, welches durch den Titel des Werks auf eine Relevanz für den Menschen hinweisen vermag, eröffnet Gedanken nach der Beständigkeit menschlicher Identität sowie möglicher Einflussfaktoren und der Stringenz des Wirkens von Systemen auf deren Bestandteile und letztlich auf den Menschen selbst.
1.1 Zentrale Fragestellung
Der Titel dieser Arbeit „Identität – zu Ich-Konstruktionen in wahrgenommenen Realitäten“ beschreibt die Annahme, dass Identität einen dynamischen Cha-rakter aufwiese, welcher Individuen, durch umgebene Bedingungen, beein-flussen würde.
In der vorliegenden Abhandlung werden folgende Fragen erarbeitet:
Was ist Identität und wie entsteht diese?
Ist sie dynamischer Prozess und wenn ja, wie wird dieser beeinflusst?
1.2 Methodische Vorgehensweise
Diese Arbeit wird in drei Teile gegliedert sein. Zunächst werden die Bedingungen beleuchtet, in denen Identität entsteht. Dabei kommt Realität eine fundamentale Bedeutung zu; auf ihr werden die prägendsten Einflussfaktoren – Gesellschaft, Sozialisation, Sprache – und deren Wir-kungen, erarbeitet. Im Anschluss werden medizinisch-neurologische sowie sozialwissenschaftliche Bedingungen von Konstruktionen der Theorie des Konstruktivismus zugrunde gelegt. Auf diesen Erkenntnissen wird der Einfluss von Identifikationsmustern auf die Ausgestaltung sozialer Rollen sowie die Mechanismen der Bewertungs- und Handlungsmatrix dargestellt. Daran schließt das Kapitel Identitäten an, beginnend mit den Mustern von Segregation und Polarisation, den Prozessen von entstehenden und zerfal-lenden Identitäten sowie dem Kernstück, der Identitäten durch wahr-genommene Realitäten. Dabei wird an Beispielen des Cäsarenwahns sowie der Übernahme sozialer Rollen, die Konstruktion von Identität durch wahr-genommene Realitäten dargestellt. Beendet wird diese Arbeit durch die Schlussfolgerungen.
2 Realität(en)
In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff Realität erarbeitet, welcher dann in verschiedene Formen unterteilt und auf die Einflussfaktoren zur Realitäts-konstruktion eingegangen wird.
Das Wort Realität ist seit der Mitte des 17. Jahrhunderts für Wirklichkeit, Tatsache, tatsächliche Beschaffenheit, künstlerische Wahrhaftigkeit in Ver-wendung; seit Ende des 18. Jahrhunderts wird es im süddeutschen bzw. österreichischem Sprachraum auch für Grundbesitz oder Liegenschaft verwendet. Es wurde aus dem mittellateinischem Wort realitas entlehnt, welches für Sache und Ding aber auch für Wirklichkeit sowie Grund und Boden steht.[3] Darüberhinaus wird es von anderen Quellen als Abstraktum des Adjektivs real beschrieben, welches sich aus dem mittellateinischem Wort realis - für wesentlich - zum lateinischen res für Sache und Wesen entwickelte.[4]
Die verschiedenen Entlehnungen sowie die divergierenden Bedeutungen lassen den Eindruck entstehen, dass Realität, als ein universeller und fest-gesetzter Zustand, also eine objektive Realität, einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, im Sinne einer unwiderlegbaren Beweisführung kaum standhalten kann.
Dennoch ist es von Bedeutung, diese Annahme zu beleuchten, da in der täglichen medialen Massenkommunikation eine Wirklichkeit suggeriert wird. Den Menschen wird ein Anschein von erlebbarer universeller Realität erschaffen, unter Anderem mit Schlagzeilen wie „Der Wahrheit ins Auge blicken“, werden in der Frankfurter Allgemeinen Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich dargestellt[5], im Focus in den Leserkommentaren über das Massaker an den Armeniern und dem Begriff Völkermord gestritten[6], in der Neuen Züricher Zeitung über Freiheit und Gerechtigkeit debattiert[7] oder Parteiideologien zu Wahrheiten erhoben[8].
2.1 Objektive Realität
Die Annahme einer objektiven Realität, welche wie bereits dargestellt, unter Anderem durch mediale Beeinflussung entsteht, wird nicht Gegenstand dieses Kapitels sein. Vielmehr werden die Annahmen einer unveränderlichen Wirklichkeit sowie eines einhergehenden objektiven Wahrheitsanspruchs, einer universellen und somit objektiven Realität zu Grunde gelegt.
In der Abhandlung Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume [9] setzte sich Kant[10] mit der „ ... ‚eigene[n] Realität’ oder ‚Wirklichkeit’ des ‚absoluten’ Raumes ...“[11] auseinander und ersuchte diesen zu beweisen. Dabei wird auf der Basis mathematischer Grundprinzipien zwischen der Lage sowie der Gegend im Raum und somit zwischen relativen Bezugspunkten differenziert. Die Voraussetzung, für die Annahme von verschiedenen Gegenden im Raum, liegt in dem Vorhanden sein eines „nicht-relativen (eben ‚absoluten’) Raumes“[12] begründet. Kant belegt die Existenz dieses absoluten Raumes mit der körperlichen Orientierung. Dabei wird der Bezug zweier unterschiedlicher geometrischer Figuren angeführt, welche durch ihre relativen Lage im absoluten oder realen Raum, ein identisches Spiegelbild erzeugen. Dabei ist besonders zu bemerken, dass Kant Realität und Wirklichkeit (zunächst) gleichbedeutend verwendet und sich bei der Bezeichnung ausschließlich dem Singular bedient, also nicht von Realitäten ausgeht.[13]
In der Auseinandersetzung der Begrifflichkeiten muss berücksichtigt werden, dass jeweilige Adjektivattribute, wie: objektive, absolute oder empirische vorangesetzt werden und dadurch einen relativierenden Charakter im Sinne von „Realität mit Bezug auf ...“[14] zulassen.[15]
Im weiteren Verlauf seiner philosophischen Auseinandersetzung zu Realität wird eine (absolute) Raum-Realität als Grundlage eines nicht-relativen Raumes, durch eine mathematisch-naturwissenschaftliche Charakteristik, beschrieben. Einhergehend werden veränderliche Ausdehnungen, welche im Sinne subjektiver Anschauungen zu verstehen sind, als Teile der Einheit eines „allgemeinen Raumes“ angesehen. Dadurch ist es Kant möglich, zu den notwendigen Bedingungen des absoluten Realraumes zu gelangen, welche in der „Ganzheitlichkeit (Vorgängigkeit der Einheit gegenüber den Teilen) und nicht-rationale (‚innere’) Gewißheit der Wirklichkeit“[16] zu finden sind. Im Gegensatz zu früheren Schriften, in denen Realität gleich Wirklichkeit ist, wird ab 1769 in der Annäherung zur Bestimmung, ob Realität auch Wirklichkeit ist sowie der Raumdiskussion von Realität gegenüber Fiktion, Relativität zugelassen. Kant geht dabei von der Präsumtion einer „illusion des Verstandes“[17] bei der Erklärbarkeit von Zusammenhängen und ebenso deren Gegenteilen aus. Daher ist es möglich, in untereinander unvereinbaren, aber in sich schlüssigen Annahmen, beispielsweise in der Auseinandersetzung zu metaphysischen Phänomenen und exakter mathematischer Physik, Erklärungen zu finden.[18]
Bezogen auf Kants Vorstellung eines absoluten (Raumes), ist eine Vertiefung des Begriffes des Absoluten erforderlich, dazu bieten die Schriften Schelling s[19] mit der Idee des Absoluten und deren Entwicklung zur Strukturtheorie eine geeignete Basis.
Mit der Idee des Absoluten begründet Schelling seine Philosophie auf der grundlegenden Annahme, dass endliche Wirklichkeit aus dem Absoluten entsteht. Es ist dabei jedoch zu berücksichtigen, dass das ursprüngliche Ansinnen Schellings nicht die Frage nach dem Entstehen des Absoluten selbst war, sondern die Vermutung „...der Wirklichkeit des im Wissen vorausgesetzten Gegenstandes“[20]. Die Konstitution der Welt und ihre Verwirklichung konnte seiner Ansicht nach nur durch das Absolute geschehen und daraus abgeleitet werden. Als Folge innerer Widersprüche musste die Theorie des Absoluten fortwährend weiterentwickelt werden. Er sah den Inhalt der (seiner) Philosophie als Grundlage der Wissenschaften und war dadurch nicht bestrebt, die Erkennbarkeit endlicher Dinge zu beschreiben, sondern mit der Frage nach einem obersten absoluten Prinzip. So liegt die Vermutung nahe, dass das Absolute nur durch das Absolute selbst gegeben werden kann, welches dem „Princip des Seyns“[21] entspricht, ohne jedoch zu reifizieren. So kann das Absolute letztlich weder als absolutes Objekt, noch als absolutes Subjekt bestimmbar sein, da Subjekt ebenso als Objekt feststellbar ist. Aus diesem Grund ist die Bestimmung eines objektiven und somit absoluten Seins unmöglich, da das Absolute der Theorie zufolge nicht über einen Bewusstseinszustand verfügt und ist somit für sich weder Objekt noch Nichtobjekt und ist folglich als „gar nichts seyn“[22] definiert.[23]
Schelling war daran gelegen, dass etwas Menschliches im Absoluten eine gewisse Berücksichtigung findet. Obwohl das Absolute durch Unbedingtheit geprägt ist, gelangt Schelling, ohne immanente Widersprüche gänzlich ausräumen zu können, zu einem bedingten Ich. Dieses, als absolute Identität bezeichnete Sein, welches in fortlaufenden (in der Zeit bestimmten) Konflikten von These und Antithese (Ich und Nicht-Ich) als „objektiv-logische Möglichkeit“[24] entsteht, ermöglicht somit ein Dasein der Objekte aus ihrer eigenen Wirklichkeit heraus.[25]
Nach dieser überblicksartigen Auseinandersetzung kann natürlich kein zweifelsfreier Nachweis von objektiver, universeller oder absoluter Realität erwartet werden. Es konnten jedoch Anhaltspunkte und Indizien erarbeitet werden, die eine Vorstellung davon ermöglichen. Entsprechend Kants Interpretation von einer Lage und einer Gegend im Real- oder nichtrelativen Raum, kann als Realraum das Universum selbst angenommen werden. Die Abläufe, Zustände und Vorgänge darin folgen, basierend auf den Forschungen und Erkenntnissen renommierter Physiker wie Hawking [26] oder Einstein [27], wie von Kant beschrieben, mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen. Für den Realraum und dessen absoluter Realität ist es jedoch irrelevant, ob der Mensch, auf Grund der nicht begreifbaren Dimension, diese verstehen kann oder nicht. Was sich ebenfalls mit Schellings Ableitung der endlichen Wirklichkeit aus dem Absoluten deckt. So kann das menschliche Sein als relative Gegend und Lage innerhalb dieser Realität angenommen werden. Vergleichbar ist die absolute Realität also mit dem Zustand eines Menschen, der sich in einem Zimmer frei bewegen, dieses aber nicht verlassen kann. Es bleibt eine objektive Sicht von außen auf das Haus, mit der Anzahl weiterer Räume, der Beschaffenheit, also in seiner Gesamtheit gänzlich verwehrt. In Folge dessen ist davon auszugehen, dass der Mensch in einer Illusion seines Verstandes den Dingen einen eigenen Zusammenhang gibt, um in dem, ihn umgebenden Teil des Ganzen (über)leben zu können. Am gegebenen Beispiel kann somit davon ausgegangen werden, dass der Mensch in dem Zimmer eine für sich zweifelsfreie Realität des Hauses von innenheraus konstruiert, ohne die Realität je der Konstruktion prüfend gegenüber stellen zu können. Einstein stellt dazu fest: "Man muss die Welt nicht verstehen, man muss sich nur darin zurechtfinden."[28], sodass hier Schellings beschriebenen Konflikte von These und Antithese eine eigene Wirklichkeit der Dinge, als subjektive Realität erzeugen.
2.2 Subjektive Realität
Resultierend aus den Anhaltspunkten, dass absolute oder objektive Realität dem menschlichen Streben wohl unzugänglich bleibt oder sich vordergründig nur bruchstückhaft zum Zwecke des Bestehens erschließt, wird im folgenden Teil die subjektive Konstruktion von Realität erörtert. Dieser stehen als Grundlage zwei Theorien des Konstruktivismus gegenüber. Durch Beispiele werden die jeweiligen Abschnitte abschließend verdeutlicht. Eine differenzierte Erarbeitung dieser Theorien, insbesondere deren Grundlagen und Annahmen, erfolgt in einem späteren Kapitel.
Angelehnt an das Primat der Erklärung von objektiver Realität, wie sie Kant und Schelling anstrebten, ist vordergründig die Erkenntnis präsent, dass Realität als subjektives Ergebnis einer Bildung von Zusammenhängen und somit als Produkt illusorischer Prozesse des menschlichen Verstandes angesehen werden muss. So beschreibt Westmeyer [29] den Umstand, dass der Versuch, in der Erklärung von Wissen, Phänomenen und letztlich die Welt selbst, eine Metaposition einzunehmen daran scheitern muss, dass die Erklärung von Sichtweisen, aus ihr heraus ebenfalls auf eine subjektive Sichtweise basiert, beziehungsweise in eine solche Eingebunden ist.[30] Glasersfeld[31] führt dazu aus, dass die Wissenschaft in ihrer Rolle als erklärendes Element „die Geheimnisse der Welt“[32] zu enthüllen, zunächst durch technische Entwicklungen gestützt wurde. Jedoch steht in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Wissenschaft in der Lage ist, die Welt zu beschreiben, „so wie sie wirklich ist?“[33].
Zur Beantwortung dieser Frage zieht Glasersfeld die Erkenntnisse des Physikers Werner Heisenberg [34], als Vertreters einer mathematisch genauer Physik, heran, welcher in seiner Publikation Das Naturbild der heutigen Physik[35] feststellte: „Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst“.[36] Auch wenn Glasersfeld die gegebenen Problemstellungen, welchen sich Naturwissenschaftlern[37] innerhalb ihrer Disziplinen stellen, zunächst als eine reale Auseinandersetzung oder in seinen Worten als problematische Erfahrungssituationen beschreibt. So stellt Glasersfeld fest, dass die Lösung kein Abbild von Realität ist, sondern, „daß seine Lösung ein Instrument der Organisation und Erklärung der »Erfahrung« ist“[38].[39] Daher ist es unstrittig, dass auch Naturwissenschaftler gänzlich dem spezifisch-menschlichen Sehen und Denken unterliegen und somit Objektivität auch in der Wissenschaft infrage zu stellen ist.[40]
Als Beispiel dazu sind die Skeptiker der griechischen Antike anzuführen, welche in der Schule des Pyrrhon von Elis [41] bereits im 4. Jahrhundert vor Christus die Unstetigkeit der menschlichen Sinnesorgane feststellten. Sie beschrieben, dass lauwarmes Wasser von den Sinnesorgangen als heiß empfunden wird, wenn die Hände vorher in kaltem Wasser getaucht und eben dieses lauwarme Wasser als kalt wahrgenommen wird, wenn die Hände vorher in heißem Wasser gebadet worden. Das Erfassen des wahren Temperaturzustandes des Wassers ist ausgeschlossen, da die menschliche Wahrnehmung grundsätzlich auf Erfahrungszusammenhängen beruht. Aus diesem Grund können Urteile, Zustandsbeschreibungen, Prognosen usw. keine Wirklichkeit wiederspiegeln, sondern lediglich die Wahrnehmung des Menschen unter der Beeinflussung äußerer Umstände und innerer Einstellungen.[42]
Bronowski[43] erklärte, es könne keine Dauerhaftigkeit von naturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten (Erkenntnissen) geben, da sie ausschließlich der menschlichen Auslegung naturgebundener Erscheinungen entsprechen. Auf Grund dessen ist die menschliche Entwicklung - unter Anderem auch Wissenschaft - als bloßer zeitlich begrenzter Entwurf zu sehen, der von der ausschnitthaften Zugänglichkeit der Welt abhängig ist.[44]
Dazu bezieht Steven Hawking wie folgt Stellung:
„In the history of science we have discovered a sequence of better and better theories or models, from Plato to the classical theory of Newton to modern quantum theories. It is natural to ask: Will this sequence eventually reach an end point, an ultimate theory of the universe, that will include all forces and predict every observation we can make, or will we continue forever finding better theories, but never one that cannot be improved upon?“[45] [46] [47]
Im Bezug auf Realität führt Maturana [48] an, dass Erklärungen auf zwei grundlegend verschiedenen und sich ausschließenden Wegen möglich sind. Dabei obliegt es dem Beobachter selbst, welchen er (bewusst oder unbewusst) wählt. Wird sich dabei auf eine Objektivität ohne Klammern festgelegt, in welcher der Beobachter von einer Existenz der Dinge ohne subjektiven Einfluss ausgeht, also Denken und Wahrnehmung irrelevant für den Zugang zu einer objektiven Realität ist. Entsprechend Maturanas Ausführungen sind in dieser Form der Beweisführung verschiedene Auf-fassungen mehrerer Beobachter lediglich auf eine gegenseitige Negation ausgerichtet und vielmehr ist jeder Anspruch auf objektives Wissen eine „Aufforderung zur Unterwerfung“[49].[50]
Jedoch muss festgestellt werden, dass bereits der bloße Umstand die Wahl zu haben, ob implizit oder explizit, den Beobachter(n) keinesfalls einen universellen Zugang zu Realität verschafft, sondern lediglich eine andere Methode in der Interpretation der Beobachtung darstellt.
Dem gegenüber steht, nach Maturana, eine Objektivität in Klammern. In diesem Fall wird vom Beobachter explizit anerkannt, dass er, „als Mensch ein lebendes System“[51] ist, in dessen Schlussfolgerung, die Fähigkeiten der Wahrnehmung biologische Prozesse darstellen. Diese modifizieren gleichermaßen, wie sich die Biologie verändert und letztlich enden sie, mit dem Tod des organischen Systems. Zur Erläuterung der Wahr-nehmungsfähigkeiten eines Beobachters, ist anzumerken, dass die Fähigkeiten des Menschen keine exponierte Stellung einnimmt oder grundlegende Eigenschaften andere biologischer Systeme ausschließt, sondern diese ebenso geteilt werden. Die Trennung von Wahrnehmung und Illusion, welche im täglichen Leben gelingt, weißt die Erinnerung an zunehmender zurückliegende Ereignisse eine sukzessive Unschärfe an, bis eine Unterscheidung nicht mehr möglich ist und beides ineinander übergeht. So kann ein Beobachter nur dann zwischen Wahrnehmung und Illusion unterscheiden, wenn auf eine andere Beobachtung zurückgegriffen werden kann, welche von den gleichen Unsicherheiten geprägt ist. Diese kann wiederum nur dann unterschieden werden, wenn sie ebenfalls auf ent-sprechenden Zweifeln basiert. Daraus ergibt sich, dass es einem Beobachter unmöglich ist, eine Unterscheidung im Sinne von Wahrnehmung und Illusion, von Sachverhalten, physischen Objekten oder sonstigen Dingen zu treffen, welche unabhängig von Erfahrungen und Handlungen existieren. Somit basiert jede Unterscheidung auf eine vorausgehende Unterscheidung.[52]
In der Folge stellt Maturana fest, dass nur der Beobachter selbst der Ursprung der Realität sein kann, da durch seine Unterscheidungen (Wahrheit oder Fiktion) innerhalb seiner Lebenspraxis, seine (subjektive) Realität erzeugt wird. Dabei ist es möglich, dass ein vielfältiges Spektrum an differenzierten Realitätsbereichen gebildet wird, welche durch verschiedene Verfahren der Lebenspraxis anwendbar sind. Dies ermöglicht dem Beobachter, unter-schiedliche Erklärungsverfahren vorzuhalten, welche „... gemäß dem je-weiligen Kriterium der Akzeptabilität ...“[53] zu einer neuen Unterscheidung im Prozess der Lebenspraxis und dadurch zu einer ausgedehnten (subjektiven) Realität wird, welche vorher nicht in Wahrheit oder Fiktion unterscheidbar und letztlich nicht existent war.[54]
Auch die Wissenschaft mit dem Anspruch der Objektivität, die Welt durch Forschung zu erklären „wie sie ist“[55], kommt über die Grenzen der subjektiven Realität nicht hinaus. Trotz der Bestrebung der Distanz zum Forschungs-gegenstand – um subjektive Beeinflussungen zu vermeiden – ist gerade ein Scheitern an diesen zu verzeichnen. So ist bereits die Motivation der Forschung selbst ein Faktor, welcher das Ergebnis verzerren vermag, denn auch und gerade Forschende verbinden mit ihrem Tun immer eine Vorstellung, welchen Nutzen und Effekte durch ihre Mühen resultieren sollen. Ebenso ist auch die Formulierung des Problemgegenstandes, aus konstruktivistischer Sicht, bereits als subjektiver Einfluss zu werten, welcher durch möglichst wertneutrale Beschreibungen lediglich in den Hintergrund tritt. Auch die Annahme der Kontrollierbarkeit von Forschungsbedingungen um Zuverlässigkeit sicher zu stellen und diese mit gleichem Ergebnis wiederholen zu können, sollte mit erheblichem Zweifel begegnet werden. Jeder Forschungsgegenstand, insbesondere in den Sozialwissenschaften – der Mensch – kann nicht segmentiert auf einzelne Bedingungen, wie Umwelt, Gene und so weiter, aber ebenfalls auch nicht losgelöst von diesem bestimmbar gemacht werden. So ist die Konstruktion von Ursache und Wirkung auch nur als das zu verstehen, eine Konstruktion, welcher eine subjektive „Vorstrukturierung des Verstehens“[56] zugrunde liegt. Also ein vordefinierter Rahmen an dem der ausschnitthaft wahrgenommene, somit subjektive Teil von Realität verglichen wird. Aus diesem Grund wird weniger die Realität selbst gemessen, sondern lediglich die eigene Vorstellung von Wirklichkeit. Die Messbarkeit und die Darstellung von Forschungsergebnissen als Zahlen scheinen den Forschenden zu erlauben, feinste Abstufungen in hoher Genauigkeit vorzunehmen. Zahlen werden als ein wertneutrales Medium begriffen, welche keine positiven oder negativen Bedeutungen transportieren und zuverlässige prognostische Bewertungen suggerieren. Durch Dekonstruktion von Sprache, gefolgt von Übertragung hin zu einer numerischen Konstruktion, ist weniger ein Anstieg der Präzision die Folge, vielmehr geht mit dieser Form der Darstellung ein Prozess des Ausschlusses einher. Die Interpretation dieser numerischen Kommunikationsmedien erzeugt eine subjektive Realität, welche als empfundene und bezogen auf die Argumente lediglich den „Experten“ als eine objektive und scheinbar unumstößliche Realität zugänglich scheint.[57] An dieser Stelle sei an Maturanas Objektivität ohne Klammern mit der Ausrichtung auf Negation sowie der Aufforderung zur Unterwerfung erinnert.
Zur beispielhaften Darstellung von subjektiver Interpretation wissenschaftlicher Forschung, wird die Pressemitteilung zum Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vom 19.02.2015 herangezogen und Ausführungen von Dr. Thomas Petersen[58] und Prof. Dr. Walter Krämer[59] punktuell gegenüber gestellt.
Entgegen steigenden wirtschaftlichen Aufschwungs der Bundesrepublik, alarmiert der Paritätische Wohlfahrtsverband mit der Schlagzeile: „Armut auf Höchststand: Studie belegt sprunghaften Armutsanstieg in Deutschland“.[60]
Zunächst sollte das Messinstrumentarium kurz dargestellt werden. In Deutschland gilt als arm, wer weniger als 60% des Median-Einkommens zur Verfügung hat. Im Jahre 2014 galt als arm, wenn weniger als ca. 11000€ Einkommen pro Person im Jahr zur Verfügung standen.[61] Jedoch muss an dieser Stelle korrigiert werden, dass dieses Messinstrument nicht die Armut sondern die Armutsgefährdung ermittelt.[62] Warum diesbezüglich eine Gleich-setzung der Begrifflichkeiten vorgenommen wird, bleibt wohl den Kon-struktionen sowie den Intensionen der Autorin der Pressemitteilung vorbehalten.
Damit eine Vorstellung des ermittelten Wertes von 11000€ erzeugt werden kann, sei in Erinnerung gerufen, dass man mit diesem Betrag in nur wenigen Ländern der Welt arm wäre. Darüberhinaus bleiben dabei die Lebens-bedingungen der Menschen unberücksichtigt, beispielsweise Heiz-kosten: es ist in kalten Regionen der Welt notwendig zu heizen, während es in warmen Regionen nicht notwendig ist oder Mobilität: in ländlichen Regionen ist ein Fahrzeug notwendig, während in urbanen Regionen notwendige Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln überwunden werden können. Zu guter Letzt seien Studiengebühren erwähnt. Während in den Vereinigten Staaten von Amerika ein Studienplatz zwischen $30.000 und $60.000 kostet, ist der Studienplatz für das Erststudium in Deutschland gebührenfrei.[63] [64] Die Berücksichtigung dieser Kosten im Median-Einkommen würde somit zu einem enormen Absinken der, vom Paritätischen Wohlfahrtsverband gewähnten, Armut führen. Unverändert wäre jedoch der Anteil der armutsgefährdeten Menschen, wenn alle Einkommen gleicher Maßen erhöht oder multipliziert würden.[65]
„Noch nie war die Armut in Deutschland so hoch ...“[66] wird in der Presse-mitteilung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes dennoch festgestellt, und suggeriert grassierende Zustände. Im Umkehrschluss würde es bedeuten: Gesellschaften, in denen alle gleichermaßen hungern, wie im Deutschland des Jahres 1948, wären entsprechend dieser Interpretation nahezu frei von Armut.[67] [68]
2.3 Einflussfaktoren auf subjektive Realität
Die Erkenntnisse aus dem Kapitel subjektive Realität, mit den integralen Feststellungen von illusorischen Prozessen über eine Vorstrukturierung des Verstehens bis hin zur Unstetigkeit von Wissenschaft und der Produktion unbeständigen, also zeitlich begrenzt „gültigen“ Wissens, erzeugen die Fragen nach den Ursachen dieser letztlichen Inkonstanz in Wahrnehmung, Bewertung und Konstruktion von Realität.
Die Ursachen liegen womöglich in unzähligen Einflüssen begründet, wobei einige größeren Einfluss haben, andere wieder geringeren, Wechselwirkungen entstehen oder überlagern Effekte. Auf Grund dieses nicht einzugrenzenden Spektrums an möglichen Faktoren, wird in den folgenden Abschnitten die Wirkung von Sprache, Gesellschaft und Sozialisation auf die Konstruktion von subjektiver Realität beleuchtet.
2.3.1 Sprache
Der Einfluss, welcher Sprache auf subjektive Realität bzw. das individuelle Empfinden von Realität hat, mag zunächst wenig eindeutig oder greifbar sein. Darüberhinaus erscheint doch gerade Sprache als etwas präzises, als ein klar definiertes Medium zur Übertragung von Informationen.
In dem folgenden Abschnitt wird die Bedeutung von Sprache auf die Konstruktion von subjektiver Realität näher beleuchtet. Dabei werden unter Anderem linguistische sowie soziologische und psychologische Bedingungen berücksichtigt.
Bereits in der griechischen Antike, wurden Auseinandersetzungen über die Bedeutung und Funktion der Sprache geführt. Plato [69] als Vertreter der Realisten nahm eine vom Beobachter unabhängige Wirklichkeit hinter den genutzten Begriffen an. Für ihn war Sprache ein Ausdruck von Realität. Sprache diente der Wirklichkeit und konnte Realität weder beherrschen noch gestalten. Die Nominalisten, zu denen Aristoteles[70] gehörte, glaubten nicht an universelle Realitäten oder Wahrheiten. Im Gegenteil, die Nominalisten benannten Dinge nach eigenem Belieben und bestimmten so deren Bedeutung. Daraus resultierte die Vorstellung, dass durch Sprache eine "Wirklichkeit" erschaffen werden kann.[71]
Die Begrifflichkeit Sprache wird aus etymologischer Sicht als die Fähigkeit bezeichnet, ein, auf menschlichen Lauten aufbauendes, durch Sprechorgane hervorgebrachtes, System von Zeichen zu verwenden und dadurch Gedanken und Inhalte des Bewusstseins an andere Individuen zu übertragen.[72]
Über diese Definition hinaus ist Sprache, im Sinne einer menschlichen Lautsprache, nach Saussure [73] nicht nur langage - die Fähigkeit Sprache zu verwenden, sondern auch langue – Sprache als System verschiedener Sprachen und ebenso parole – die Verwendung von Sprache. Diese Sprachen werden als natürliche Sprachen bezeichnet, da sie ein organisches Instrumentarium zur Ton- bzw. Lauterzeugung voraussetzen und ebenso Sinnesorgane zur Aufnahme und Verarbeitung im Gehirn bedürfen. Darüberhinaus werden diese Sprachen an nachfolgende Generationen durch hören weitergegeben. In wieweit Sprachen als biologische Anlagen bereits vorhanden sind, ist umstritten, jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen.[74]
Dahingehend beschreibt der Dualismus von Körper und Geist den Zustand des Menschen, in von einander getrennte, in Wechselwirkung stehende Entitäten, als vernunftbegabtes Wesen.[75]
Dieser Dualismus wird deutlich, wenn im Sozialgesetzbuch IX die Zustände „...körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit ...“[76] kategorisiert werden.
Damit der menschliche Geist bzw. die Seele mit anderen Menschen, zum Beispiel den Eltern, in Interaktion treten bzw. einen Zugang zur außen-liegenden Welt bekommen kann, bedarf es der Sinnes- und Sprechorgane, also des Körpers. Die Vorgänge des Geistes eines Individuums werden anderen Individuen jedoch nur indirekt, durch Gestik, Mimik oder aber verbalisierten Äußerungen zugänglich.[77]
Die Funktionsgrenzen menschlicher Sinnesorgane werden an folgenden Beispielen verdeutlicht. Hierbei ist zum Einen der Frequenzbereich zu nennen, welcher vom Menschen wahrgenommen werden kann, aber lediglich einen Teil des Frequenzspektrums ausmacht, zum Anderen der Unterschied, im in der Leistungsfähigkeit des menschlichen Geruchssinns, im Gegensatz zu dem eines Hundes. Diese Einschränkungen, aber auch Hilfsmittel zur Ausdehnung vorhandener Grenzen beeinflussen die Wahrnehmung der Welt in der sich das Individuum erlebt und diese mitteilen kann.[78]
Die kulturelle Komponente von Sprache ist nicht nur in der generations-übergreifenden Weitergabe von Eltern auf die Kinder begründet, sondern auch in Hinsicht der Vermittlung kultureller Regularien, im Bezug auf Sprache, beispielsweise in welchem Zusammenhang wer, wann sprechen darf und wann nicht. Ebenso können Lautsprachen verschriftlicht werden, was aber nicht zu einem Automatismus führt, welcher am Beispiel des Analphabetismus plausibel wird. Daraus folgt, dass Menschen mit dem Erwerb der Sprache nicht zwangsläufig auch lesen und schreiben können.[79]
Neben der natürlichen bzw. der Annahme biologischer und kultureller Komponenten, welche von Sprache transportiert werden, geht Saussure auch von einer gesellschaftlichen oder sozialen Ebene der Sprache aus. Diese wird als fait social bezeichnet. Resultierend muss festgestellt werden, dass Sprache dabei nicht nur Anwendung und Können ist, sondern aus sich heraus, Gemeinschaft sowie gemeinschaftliches Wissen erzeugt und überträgt. Diese Erkenntnisse sind in ihrer Gesamtheit jedoch nur innerhalb der Sprachgemeinschaft zugänglich und schließen somit einzelne Anwender aus.[80]
Dies wird gestützt, wenn Sprache als Operationssystem aus (neuro-) biologischer Sicht betrachtet wird. Aus den bisherigen Erkenntnissen geht bereits hervor, dass Sprache kein konnotationsfreies System symbolischer Interaktionen ist, sondern vielmehr Übereinstimmungen erfordert. So ist Sprache als Resultat einvernehmlicher Entwicklung, jedoch in Unterscheidung der Beobachter und dem Beobachteten, zu verstehen. Denotationen sind dem Metabereich eines übergeordneten Beobachters vorbehalten, der in Bezieh-ung stehende Systeme und deren Verhalten bewerten könnte. Sprache lässt sich somit als Verhalten eines strukturellen Konsens beschreiben, welcher in seiner geschichtlichen Entwicklung einen hohen Grad an Vielfalt, durch eine mögliche Verhaltensvielfalt, der im System interagierenden Organismen, erreicht hat und diesen Bereich durch Unterscheidungen stetig erweitert hat.[81]
„Die Sprache bedingt, was der Sprecher denkt und wie er die Welt versteht. Wenn ich nur Nass-, Neu- und Pulverschnee im Begriffsköcher habe, kann ich nicht ... über neun verschiedene Schneearten nachdenken.“[82] stellt Benjamin Whorf[83] in seinen Forschungen zu der nach ihm benannten Sapir-Whorf-Hypothese fest.[84]
Whorf verwendet, zur Verdeutlichung seiner Forschung bzw. Hypothese, Erkenntnisse aus Einsteins Relativitätstheorie, was wohl der zeitlichen Nähe beider Personen geschuldet ist. Während Einstein die Beobachtung des Universums aus einer Abhängigkeit der relativen Lage des Beobachters, von Raum und Zeit, beschreibt, so sieht Whorf die Beobachter gleicher physikalischer Bedingungen, in einer relativen Lage zu den sprachlichen Hintergründen. Unterscheiden sich diese, so unterscheidet sich die Wahr-nehmung des Beobachtungsgegenstandes der Beobachter.[85]
Die sprachliche Relativität unterliegt dabei vier, von Whorf benannten, Faktoren. Zum Einen, den Beobachter selbst, mit den individuellen Prägungen und Erfahrungen, zum Anderen die sprachlichen Bedingungen, im Sinne der vom Beobachter gesprochenen Sprachen sowie der Wahrnehmung physikalischer Gegebenheiten und der individuellen Sicht auf die Welt.[86]
An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Hypothese der sprachlichen Relativität, Interpretationen anderer Linguisten hinzugefügt und als Bestand-teile der Ursprünglichen gewertet wurden. Whorf selbst sah Sprache als naturbedingte Ausdrucksform, durch die, nicht-sprachliche Zustände, wie Gedanken und Ideen, zur Interaktion mit anderen Individuen vermittelt werden können. Aus diesem Grund ist Denken in seiner Ausdrucksform sprachliches Denken.[87] Dabei wird die Schwierigkeit deutlich, in welcher sich Sprache befindet, wenn ein Individuum als Sender seine innere Sicht auf die Welt, sprachlich nicht Formulieren kann. Dies unterliegt, zum Einen den Bedin-gungen der erworbenen Sprache mit dem verfügbaren Wortschatz sowie den semantisch-lexikalischen Informationen und dem daraus resultierenden inneren Erleben sowie der Sicht auf die äußere Welt, zum Anderen an den kongruenten Bedingungen des in Interaktion stehenden Beobachters als Empfänger.[88]
Beispielhaft dafür steht eine unscharfe blau-grün Unterscheidung asiatischer Sprachen im Gegensatz zur klaren Abgrenzung in europäischen Sprachen. Im japanischen wurden die Farben Blau und Grün mit ao bezeichnet. Im heutigen Sprachgebrauch ist für die Farbe Grün allerdings die Bezeichnung midori üblich und bläuliche Farbtöne werden mit ao benannt. Somit hat eine linguistische Unterscheidung in der Farbbenennung Einzug erhalten. Jedoch zeigt sich in der Verbindung von Wahrnehmung der Farben und Sprache ein signifikanter Unterschied im Vergleich zu Sprechern europäischer Sprachen. Hinsichtlich der Bezeichnung von unreifem oder frischem Obst, wird weiterhin ao verwendet. Prägnanter ist jedoch, dass das Fahrtsignal (Grün-Phase) japanischer Ampeln als ao shingoo bezeichnet wird, was wohl zu einer gewissen Diskrepanz von Sprache und Wahrnehmung führte, sodass im Jahre 1973 durch die japanische Regierung, die Farbgebung der Benennung angepasst wurde, weshalb die Grün-Phase japanischer Ampeln, aus dem Empfinden europäischen Sprachgebrauchs, mit einer eher blauen Farbe signalisiert wird.[89]
Als weiteres Beispiel, steht die optische Verarbeitung verschiedener Blautöne zwischen russisch und englisch sprechenden Probanden. Dabei gelang es in der Versuchsanordnung, den Teilnehmern mit russischer Muttersprache, welche auf Grund der unterschiedlichen Benennung von sinij (dunkelblau) und goluboi (hellblau), schneller Blauabstufungen zu benennen als denen mit englischer Muttersprache, welche in der Benennung lediglich zwischen den Adjektiven light und dark auf die gleiche Farbbenennung blue eingegrenzt sind.[90]
Die Ursache, warum Sprachen entsprechende Relativität entwickelt haben, lässt sich an dieser Stelle nicht zweifelsfrei analysieren. Eine mögliche Erklärung läge jedoch in der Verhaltensvielfalt, der im Sprachsystem agierenden Individuen, und der daraus folgenden Notwendigkeit Unter-scheidungen zu bilden.
Die angeführten Beispiele legen nahe, dass Sprache einen nicht un-erheblichen Einfluss auf das Wahrnehmen der Menschen und folglich auch auf Interpretation der Welt hat.
„Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen.“[91] stellt Nietzsche fest. In Übereinstimmung der Annahme der sprachlichen Relativität, dass Sprache ein implizites Hintergrundsystem ist und damit jene Grundlage von Sprache darstellt, so ist Sprache nicht als Instrument anzusehen, in dem unabhängiges Denken den Zugang zur Welt findet oder Individuen interagieren. Sprachliches Denken ordnet als Grund-muster innere Prozesse (Gedanken, Gefühle, ...) um diese in der Form von formulierter Sprache zum Ausdruck zu bringen.[92]
Sprache und sprachliches Denken ist somit ein fester Bestandteil des menschlichen Lebens, wie es das Gesetz der Schwerkraft ebenso ist. Auch ein physikalisch ungebildeter Mensch berücksichtigt implizit die Bedingungen der Gravitation, ob er die Gesetzmäßigkeiten wiedergeben kann oder nicht. Entsprechend der vorhandenen, erlernten und mit der sich identifizierten Sprache ist das sprachliche Denken als Hintergrundsystem verankert, in dem innere Prozesse wahrgenommen und ausgedrückt werden.[93]
Dabei ist es unerheblich, was Menschen wirklich sehen. Ob Person A einen reifen Apfel als rot sieht und Person B als grün oder umgekehrt. Auf Grundlage der erlernten Sprache und des verinnerlichten sprachlichen Denkens, als Hintergrundsystem, empfinden beide Personen diesen Apfel als rot und verbinden die jeweiligen Emotionen damit, selbst wenn Person B diesen Apfel als grün wahrnimmt, so verbindet er diesen Zustand mit dem sprachlich erlernten Rot. Darüberhinaus empfinden beide Personen Feuer als warm, auch wenn Person B grüne Flammen, welche für sie dennoch rot sind, wahrnimmt.[94]
So schlussfolgert Wittgenstein [95] in seinen 1953 postum veröffentlichen Philosophischen Untersuchungen: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ [96], und stellt dabei fest, dass Menschen in der Welt ihrer Sprache leben, welche durch fortschreitende Interaktion von Sprache und Handeln in ihnen erzeugt wird.[97]
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Sprache über die formale Mitteilung von Informationen, wie sie im Alltag der Menschen in Erscheinung tritt, hinaus geht. Sie ist neben ihrer ausrichtenden Funktion auf Interaktion, zwischen den Individuen und der Herstellung von Unterscheidungen in der wahrgenommenen Welt Grundlage für die Entstehung von Gemeinschaft und gemeinschaftlichem Wissen, was sich durch anhaltenden Austausch innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft weiterentwickelt und dadurch auch die Sprache verändert. Man kann somit von wechselseitigen Entwicklungen und Auswirkungen ausgehen in denen der Mensch mit Sprache steht. Dabei unterliegt das Individuum zur Herausbildung von formulierbaren Gedanken und Ideen, aus dem mentalen Prozess des Denkens, sowie zur Verständigung mit seiner Umwelt einem sprachlichen Zwang, welchen das Individuum lediglich durch das Aneignen weiterer Sprachen erweitern kann. Dies beinhaltet jedoch nicht, dass mit dem Erwerb von Sprachkenntnissen auch die Mitgliedschaft in der Sprachgemeinschaft einhergeht. Es wird jedoch ein Zugang zu deren Weltsichten[98], wie es Wilhelm von Humboldt[99] formulierte, geschaffen. Es ist gerade dieser Umstand, der die besondere Bedeutung von Sprache auf die Interpretation der wahrgenommenen Realität einer Sprachgemeinschaft bzw. Gesellschaft definiert. Unter Berücksichtigung dessen, lassen sich Rückschlüsse ziehen, weshalb in Japan auf Grund einer wahrgenommenen Diskrepanz von Sprache und Färbung des Fahrsignals, das Fahrsignal an Sprache angepasst wurde und nicht umgekehrt, oder dass ein Integrationsprozess, in Folge von Migration, mit einem Zugang durch Sprache beginnen sollte und in dessen Umkehrschluss, die Entstehung von Parallelwelten plausibel erscheinen lässt, wie sie Buschkowski[100] als Bürger-meister von Berlin-Neukölln 2004 bereits beschrieb:
„... eine Parallelgesellschaft, indem ... Menschen in ihrer Heimatsprache quasi ein tägliches Leben führen können, ohne sich der deutschen Sprache zu bemächtigen, auch ohne eigentlich die Regeln der Mehrheitsgesellschaft dafür zu brauchen. Bei uns in Neukölln ist ... eine komplette Infrastruktur entstanden ist, vom eigenen Kindergarten über die eigenen Geschäfte, Rechtsanwälte, Reisebüro, Banken, bis zu Ärzten der Altenpflege. ... Dann kommen mit sechs Jahren Kinder in die Schule, die kein Wort Deutsch sprechen, und das kann die Schule gar nicht mehr aufholen.“ [101]
Das Denken eines Menschen, welches durch das Hintergrundsystem des sprachlichen Denkens geprägt ist bzw. einem sprachlichen Zwang unterliegt, also durch sprachliche Bedingungen zu ausformulierten Gedanken, Gefühlen und Ideen zu werden, aus welchen die Wahrnehmung und in dessen Resultat die auch die wahrgenommene Realität des Individuums entsteht.
Unter diesem Eindruck gewinnt der folgende Dialog, aus Carrolls[102] Alice in Wonderland mit Bezug auf Aristoteles Auffassung, eine realitäts-konstruierende Wirkung von Sprache.
Humpty Dumpty: When I use a word, it means just what I choose it to mean – neither more nor less.
Alice: The question is, whether you can make words mean so many different things. Humpty Dumpty: The question is: which is to be master – that´s all.[103] [104]
Daraus erschließt sich der hohe Stellenwert der Denk- und Redefreiheit unter den Philosophen der europäischen Aufklärung, in Folge dessen andere Freiheiten erst möglich wurden.[105]
[...]
1 Nietzsche in Chung 2004. 108
2 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1844 – 1900) deutscher Philologe und Philosoph
3 Pfeifer 2004. 1093
4 Seebold 2011. 750
5 Frankfurter Allgemeine 2010. www.faz.net
6 Focus 2015. www.focus.de
7 Neue Züricher Zeitung 2009. www.nzz.ch
8 Bündnis 90 Die Grünen 2012. www.gruene-fraktion-berlin.de
9 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1768)
10 Kant, Immanuel (1724 – 1804) deutscher Philosoph
11 Zöller 1984. 26
12 ebd.
13 Zöller 1984. 26f.
14 Zöller 1984. 54
15 ebd.
16 Zöller 1984. 28 (sic!)
17 Zöller 1984. 29 (sic!)
18 Zöller 1984. 27ff.
19 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775 – 1854) deutscher Philosoph
20 Loer 1974. 145
21 Loer 1974. 147 (sic!)
22 Loer 1974. 148 (sic!)
23 Loer 1974. 145ff.
24 Loer 1974. 151
25 Loer 1974. 150ff.
26 Hawking, Stephen (*1942) britischer theoretischer Physiker und Astrophysiker
27 Einstein, Albert (1879 – 1955) deutscher Physiker
28 Einstein in Knoll o.J. www.uni-augsburg.de
29 Westmeyer, Hans (*1946) deutscher Psychologe
30 Westmeyer 1999. 507ff.
31 Glasersfeld, Ernst von (1917 – 2010) österreichisch-irisch-US-amerikanischer Philosoph
32 Glasersfeld 1996. 58
33 ebd.
34 Heisenberg, Werner (1901 – 1976) deutscher Physiker und Nobelpreisträger
35 Das Naturbild der heutigen Physik (1955)
36 Heisenberg 1955. 18
37 neben Heisenberg auch Einstein, Mach, Helmholtz oder Bridgman
38 Glasersfeld 1996. 53 (sic!)
39 ebd.
40 Glasersfeld 1996. 58
41 Pyrrohn von Elis (um 362 v. Chr. – um 270 – 275 v. Chr.) griechischer Philosoph, Stifter der älteren skeptischen Schule
42 Glasersfeld 1996. 59
43 Bronowski, Jacob (1908 – 1974) polnisch-britischer Mathematiker und Biologe
44 Bronowski 1978.96
45 Hawking 2010. 7
46 Auf Grund der Prägnanz, wurde das Zitat im Ganzen übernommen, um die Tragweite in seiner Form zu erhalten.
47 Übersetzung sinngemäß: „In der Geschichte der Wissenschaft haben wir eine Folge von immer besserwerdenden Theorien oder Modellen, von Platon über die klassische Theorie von Newton zur modernen Quantentheorie entdeckt. Es ist natürlich zu fragen: Wird diese Sequenz einen Endpunkt erreichen, eine ultimative Theorie des Universums, die alle Kräfte umfassen und vorherzusagen wird. Jede Beobachtung die wir machen können, schließlich erreichen oder werden wir für immer auf Suche nach besseren Theorien sein, aber nie eine Finden, die nicht verbessert werden kann?“
48 Maturana, Humberto Romesín (*1928) chilenischer Biologe und Philosoph mit dem Schwerpunkt Neurobiologie
49 Maturana 2000 233
50 Maturana 2000. 231ff.
51 Maturana 2000. 233
52 Maturana 2000. 233f.
53 Maturana 2000. 236
54 Maturana 2000. 235f.
55 Gergen 2002. 118
56 Gergen 2002. 119
57 Gergen 2002. 118ff.
58 Petersen, Thomas (*1968) deutscher Kommunikationswissenschaftler und Meinungsforscher
59 Krämer, Walter (*1948) deutscher Ökonom, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik
60 Paritätischer Wohlfahrtsverband 2015. www.der-paritaetische.de
61 Krämer 2014. www.achgut.com
62 Petersen 2013. www.achgut.com
63 Krämer 2014. www.achgut.com
64 Deutsches Studentenwerk 2013. www.studentenwerke.de
65 Krämer 2014. www.achgut.com
66 Paritätischer Wohlfahrtsverband 2015. www.der-paritaetische.de
67 Petersen 2013. www.achgut.com
68 Krämer 2015. www.rwi-essen.de
69 Plato - lateinische Form des griechischen Platon (428/427 v. Chr. – 348/347 v. Chr.) griechischer Philosoph
70 Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.) griechischer Philosoph
71 Joffe et al. 2010. 7
72 Pfeifer 2004. 1330
73 Saussure, Ferdinand de (1857 – 1913) schweizerischer Sprachwissenschaftler
74 Werlen 2002. 12f.
75 Werlen 2002. 4
76 Stascheit 2010. 1394
77 Werlen 2002. 4
78 Werlen 2002. 7f.
79 Werlen 2002. 12f.
80 Werlen 2002. 14
81 Maturana 2000. 126f.
82 Joffe et al. 2010. 8f.
83 Whorf, Benjamin Lee (1897 – 1941) US-amerikanischer Linguist, Begründer des linguistischen Relativitätsprinzips
84 Joffe et al. 2010. 8f.
85 Werlen 2002. 1f.
86 ebd.
87 Werlen 2002. 217f.
88 Werlen 2002. 21
89 Deutscher 2013. 245f.
90 Deutscher 2013. 253ff.
91 Nietzsche in Deutscher 2013. 167
92 Werlen 2002. 219
93 Werlen 2002. 219ff.
94 Deutscher 2013. 249
95 Wittgenstein, Ludwig Josef Johann (1889 – 1951) österreichisch-britischer Philosoph
96 Wittgenstein 1990. 43
97 Kubsch 2007. 31
98 Werlen 2002. 15
99 Humboldt, Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von (1767 – 1835) preußischer Gelehrter, Schriftsteller, Staatsmann und Bildungsreformer
100 Buschkowski, Heinz (*1948) deutscher sozialdemokratischer Politiker
101 Deutschlandfunk 2004. www.deutschlandfunk.de
102 Carroll, Lewis (1832 – 1898) britischer Schriftsteller, Fotograf und Mathematiker
103 Joffe et al 2010. 8
104 Humpty Dumpty: Wenn ich ein Wort benutze, hat es just die Bedeutung, die ich ihm gebe – nicht mehr und nicht weniger.
Alice: Die Frage ist doch, ob du Wörtern so viele verschiedene Bedeutungen zuteilen kannst.Humpty Dumpty: Die Frage ist: Wer soll Herr darüber sein? – das ist alles.
105 Blum 2013. 4
- Citar trabajo
- M.A. Christian Blum (Autor), 2016, Identität. Ich-Konstruktionen in wahrgenommenen Realitäten, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/355700
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