Zunächst soll der biographische, ökonomische und zeithistorische Kontext der Entstehung seiner Theorie angerissen werden um in dem darauffolgenden Kapitel diese Theorie und dessen Merkmale im Einzelnen vorzustellen, die ausgehend von seiner Kritik der herkömmlichen Lehrmethoden, dem von ihm so genannten ‘Bankiers’ Konzept, seine Alternativen wie Dialogischer Prozess und der Dialektik von Aktion und Reflexion aufzeigen sollen um mit einer Zusammenfassung zu schließen. Im nächsten Kapitel geht es um die Anwendung seiner Theorie in der Praxis, insbesondere am Beispiel seiner berühmten Alphabetisierungskampagnen in den 60-er Jahren in Brasilien und anderen Ländern, aber auch die Einbeziehung Freire’scher Ansätze in der Arbeit mit Straßenkindern oder in der ‘Educación Popular’. Im weiteren wird das Theater Augusto Boals, welches sich auf Freires Pädagogik stützt, dargestellt. Eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit Bezug auf jetzige gesellschaftliche Verhältnisse und abschließende Gedanken folgen um die Arbeit mit dem Literaturverzeichnis und dem Anhang abzuschließen.
Für mich war die maßgebliche Motivation diese Hausarbeit schreiben zu wollen, der Umstand, dass ich die ungerechte Weltwirtschaftsordnung und das damit verbundene massenhafte Elend als unerträglich empfinde und in Paulo Freire jemanden sehe, der mit seinen pädagogischen Konzepten versucht hat, die Welt und die Menschen in eine ‘humanere’ Richtung zu verändern. Dies verdient nach meinem Dafürhalten eine intensiveren Auseinandersetzung auf der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Historische Geschehnisse
2.1 Die Zwangssterilisierungen
2.2 Euthanasie: T4-Aktion 1939 - 1941
2.3 ‘Wilde Euthanasie’
2.3.1 Meseritz-Obrawalde
2.3.2 Aktion 14 f 13
2.4 Kindereuthanasie
3 Ideologische Grundlagen des Gesundheitswesens im Nationalsozialismus
3.1 Diskussion in der Weimarer Republik: Hoche und Binding
3.2 Abschließende Bemerkungen zur Akzeptanz der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik durch die MedizinerInnen
4 Zu den ökonomischen Aspekten nationalsozialistischer Gesundheitspolitik
4.1 Senkung der Pflegesätze bei den Heil- und Pflegeanstalten
4.2 Belegungen der Heil- und Pflegeanstalten
5 Zu den Zielvorstellungen der deutschen Psychiatrie in den dreissiger und vierziger Jahren
6 Zusammenfassung und aktuelle Bezüge
7 Literaturverzeichniss
1. Einleitung
Diese Hausarbeit befasst sich mit einem Kapitel der Medizin- und Menschheitsgeschichte, welches bei heutigen BetrachterInnen zunächst einmal ungläubiges Entsetzen hervorrufen mag: die planmässige Sterilisierung und Tötung von Menschen, die als andersartig und somit dem damaligen Zeitgeist entsprechend als ‘minderwertig’ betrachtet wurden. Die Opfer dieser Politik in den Jahren 1933 - 1945 sind ungezählt. Die verschiedensten Personengruppen der Gesellschaft waren davon betroffen: jüdische Menschen, Roma und Sintis, psychisch Kranke, körperlich sowie geistig Behinderte, Nichtsesshafte, Schwule und Lesben, Alkoholiker, Zeugen Jehovas, Farbige etc. Die Opfergruppen passten sämtlichst nicht in eine nationalsozialistisch beherrschte Gesellschaft, in der die ‘Rassenhygiene’ und die rücksichtslose Vernutzung der menschlichen Arbeitskraft (‘Vernichtung durch Arbeit’) tragendes ideologisches Fundament war. Nach Adolf Hitler sollte, wie er in seinem Buch ‘Mein Kampf’ schrieb, “das deutsche Reich (...) als Staat alle Deutschen umschliessen mit der Aufgabe, aus diesem Volke die wertvollsten Anteile an rassischen Urelementen nicht nur zu sammeln und zu erhalten, sondern langsam und sicher zur beherrschenden Stellung emporzuheben.”1 Die Emporhebung des deutschen Volkes hieß in der Konsequenz des Denkens und des nationalsozialistischen Handelns Krieg nach aussen zur imperialen Beherrschung der Welt und Krieg nach innen, d.h. zur Vernichtung des so benannten ‘unwerten Lebens’.
Ein Teil der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten bestand in der Durchführung der ‘Euthanasie-Aktionen’ in den Jahren 1939 - 1945 (und z.T. schon davor)2. Hier wurde die Zahl der Opfer bei den Nürnberger Prozessen auf 275 000 geschätzt.3An ihnen waren massgeblich, wenn nicht gar treibend, deutsche ÄrztInnen beteiligt; insbesondere PsychiaterInnen erwiesen sich als zuverlässig in der Umsetzung der Massnahmen zur Ermordung psychisch kranker oder körperlich wie geistig behinderter Menschen. Die offiziöse Diktion vom so genannten ‘Gnadentod gewähren’ gerierte zu einem brutalen wie seelenlosen Euphemismus, der lediglich die Funktion hatte, eine gnadenlose Mordmaschinerie zu decken. Die Rede vom Erlösen der Opfer von ihren Leiden sei, nach Gerhard Schmidt, eine ohne Sachkenntnis, “weil von der Gruppe der Idioten weder ein Schrecken ohne Ende noch ein Ende mit Schrecken empfunden werden kann, weil vom Heer der Geistesschwachen die Fragwürdigkeit der Existenz nicht empfunden zu werden pflegt, und weil der Erlösungswunsch verzweifelter Patienten mit Abklingen ihrer Depressionsphase verstummt, bietet der subjektive Zustand psychisch Kranker bzw. Anstaltsbetreuter in Wahrheit keine Basis für den Gnadentod.”4
In dieser Hausarbeit soll zunächst ein kurzer Überblick über die historischen Fakten (Kapitel 2.1- 2.4) stattfinden, in dem als erstes auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sowie den daraus legitimierten Zwangssterilisierungen eingegangen wird, des weiteren auf die so genannten T4-Aktionen von 1939 - 41, der darauf folgenden “Wilden Euthanasie” sowie gesondert nochmals der Euthanasie von Kindern.
In den Kapiteln 3 - 5 wird untersucht, welche Grundlagen der vieltausendfache Mord in ideologischer wie auch ökonomischer Hinsicht hatte. Ein Verständnis des damaligen Geschehens an sich kann wahrscheinlich nur annähernd sein: zu gross, zu brutal und zu menschenverachtend sind die begangenen Taten. Es wird nach meinem Verständnis allerdings immer eine Verständnislücke bleiben, die nicht zu füllen ist. Trotzdem denke ich, dass es notwendig ist, sich den Wahrheiten anzunähern, sie erforschen zu wollen und zu begreifen, dass das Handeln der Menschen im Nationalsozialismus eben auch ein menschliches war. Das Menschliche, welches das Bösartige miteinschließt und seit Auschwitz nicht mehr abzutrennen ist. Primo Levi, ein früherer Häftling von Auschwitz, hat einmal sinngemäss gesagt, dadurch dass Auschwitz existierte, sei bewiesen, dass es möglich sei. Dadurch, dass es möglich ist, gibt es nie die Gewissheit, dass es sich so oder in ähnlicher Form nicht wiederholen könne.
So sehr uns die Taten im Nationalsozialismus entsetzen mögen, so genau ist auch immer zu beobachten, wie in der heutigen Gesellschaft die Bilder von den ‘Anderen’ und ‘Fremden’ sind, wie mit Menschen umgegangen wird, die nicht leistungsfähig sind, sein können oder wollen und so wird auch dies ein Aspekt dieser Hausarbeit sein. Es wird in Kapitel 6 zumindest skizzenhaft darzustellen sein, in welchen Bereichen es Entwicklungen oder Diskussionen gibt, die gedanklich nicht mehr so weit von denen im Nationalsozialismus sind. Hier stellt bspw. Ernst Klee in einem Interview in der ‘jungen welt’ vom 04.04.1998 fest, dass von seiten der Forschung “am Nürnberger Ärztekodex stark gerüttelt “ (werden würde). Es fände der Versuch statt, ”sich in der Ethik wieder annähernd Arbeitsbedingungen zu schaffen wie in der Nazizeit.”5 Hier gilt es dementsprechend solche Entwicklungen zu erkennen und sich ihnen entgegenzustellen.
Meine persönliche Motivation zum Schreiben einer Hausarbeit zu dieser Thematik beruht auf zwei Faktoren:
1. eine längere intensive Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik mit mehrfachen Studienfahrten nach Auschwitz, Treblinka, Belzec und Sobibor in den Jahren 1998/99.
2. meine Arbeit als Krankenpfleger, auch in der Psychiatrie, mit dem Erleben von Gewaltstrukturen und Abwertungen gegenüber den PatientInnen, die zwangsläufig Fragestellungen nach den Ereignissen und deren Ursachen im Nationalsozialismus aufkommen ließen.
Ich bin mir bewusst, dass eine derartig umfangreiche und komplexe Thematik im Rahmen einer Hausarbeit nur angerissen werden kann, trotzdem hoffe ich zu erreichen, die Strukturen der Euthanasieaktionen sowie deren Bedingtheiten ökonomischer sowie ideologischer Natur anschaulich wie angemessen aufzeigen zu können.
2. Historische Geschehnisse
Die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse habe ich in verschiedene Abschnitte unterteilt. Sie sind zum Teil chronologisch voneinander abgegrenzt, jedoch nie inhaltlich vollständig voneinander zu trennen. Alle Ereignisse beruhen auf einer ähnlichen Gedankenkonstruktion. Allerdings lässt sich feststellen, dass auch hier zum Teil Differenzierungen vollzogen wurden. So befürwortete bspw. der Göttinger Neurologe und Psychiater Gottfried Ewald generell die nationalsozialistische Politik der Eugenik und in diesem Zusammenhang durchaus unter eng gefassten Umständen die Zwangssterilisierung (“Die Eugenik erstrebt also Ausmerzung der schlechten und Förderung der guten Anlagen; gleichzeitig aber auch Besserung des Milieus und eine zielstrebige Einstellung der Erziehung. Nach jeder möglichen Richtung ist das Problem angefasst. Niemand wird sich dem Eindruck verschließen wollen, dass hier etwas ganz Grosses und Gutes erstrebt wird”6), verwirft die Euthanasie jedoch zugleich ganz entschieden und lehnt es (als einziger berufener Professor) ab, Gutachter für die T4 - Aktion zu sein.7Trotzdem muss attestiert werden, dass der grösste Teil der deutschen PsychiaterInnen ohne Widerstand oder öffentlich geäußerten Bedenken an den nationalsozialistischen Unrechtsmassnahmen, häufig mit grossem Engagement, teilnahm.
2.1 Die Zwangssterilisierungen
Nach jahrelangen Diskussionen, die schon in der Weimarer Republik geführt worden waren und auf die in Kapitel 3.1 näher einzugehen ist, wie mit ‘erbkranken Nachwuchs’ umgegangen werden solle sowie der nahezu einmütigen Forderung von Seiten der Ärzteschaft eine Zwangssterilisierung aus eugenischen Gründen für psychisch Kranke, körperlich sowie geistig behinderte Menschen zu legalisieren, wurde am 14. Juli 1933 das ‘Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’ (GzVeN) verkündet und zum 01. Januar 1934 in Kraft gesetzt. Der Paragraph stellte fest wer von den Zwangssterilisierungsmaßnahmen betroffen sein sollte:
“(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht [sterilisiert] werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden
(2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:
1. angeborener Schwachsinn,
2. Schizophrenie
3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein,
4. erblicher Fallsucht, [Epilepsie]
5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea),
6. erblicher Blindheit,
7. erblicher Taubheit
8. schwerer körperlicher Missbildung.
(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.”8
Am 26. Juni 1935 wurde das Sterilisierungsgesetz dahingehend erweitert, dass aus eugenischen Gründen bei einer unfruchtbar zu machenden Frau ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden könne.9Nach Schätzungen wurden auf Grundlage dieser Gesetze in den Jahren zwischen 1933 - 1945 bis zu 400 000 Menschen unfruchtbar gemacht, wobei 5000 - 6000 Frauen sowie etwa 600 Männer durch die chirurgischen Eingriffe zu Tode kamen.1011Die Sterilisierungen wurden am 01.09.1939, dem Tag an dem deutsche Truppen Polen überfielen (also mit Kriegsbeginn), durch Verordnung (“Anträge auf Unfruchtbarmachung sind nur zu stellen, wenn die Unfruchtbarmachung wegen besonders großer Fortpflanzungsgefahr nicht aufgeschoben werden darf”und in §2: Verfahren auf Unfruchtbarmachung, die beim Inkrafttreten dieser Verordnung noch nicht rechtskräftig erledigt sind werden eingestellt. Sie sind nur auf besonderen Antrag des Amtsarztes fortzusetzen.”)12zumindest offiziell gestoppt. Die Gründe für den Stopp der Zwangssterilisierungen sind nicht ganz einwandfrei geklärt. Mit Sicherheit spielt der Kriegsbeginn in zweierlei Hinsicht eine bedeutsame Rolle:
viele ÄrztInnen wurden nun an den Fronten für kriegswichtige Aufgaben zur Versorgung
von verwundeten Soldaten benötigt. Die operativen Zwangssterilisationen waren zu zeit- und arbeitsaufwendig. In diesem Zusammenhang ist durchaus erwähnenswert, dass der Gynäkologe Dr. Clauberg von Heinrich Himmler am 07./08. Juli 1942 in einer Konferenz dazu beauftragt wurde in Auschwitz mit den Häftlingen Experimente (die diese zumeist nicht überlebten!) durchzuführen, um ein Verfahren einer operationslosen und schnellen Sterilisation zu entwickeln.13
im Schatten des Kriegsgeschehens konnte die planmässige Ermordung des so genannten ‘unwerten’ Lebens unauffälliger durchgeführt werden.14
Ohne die engagierte Unterstützung von Seiten der Mediziner und den Psychiatern (aber auch dem Krankenpflegepersonal, den Hebammen sowie weiteren Berufsgruppen) in ideologischer, theoretischer, organisatorischer und praktischer Hinsicht wären die Zwangssterilisationen in der Form und diesem Umfang nicht möglich gewesen.
Bereits Monate vor der Veröffentlichung der Gesetzesregelung vom 14.07.1933 wurde in den ärztlichen Standesorganisationen über Systeme zur Erfassung der ‘Erbkranken’ breit und öffentlich diskutiert: “So hat das ‘deutsche Ärzteblatt’ Anfang 1933 ein Preisausschreiben des Deutschen Ärztevereinbundes veröffentlicht. Die Preisfrage lautete: ‘Auf welchem Wege können sich praktizierende Ärzte an erbbiologischer und eugenischer Forschung und Materialbeschaffung beteiligen?’ Sowohl im ‘Deutschen Ärzteblatt’ als auch in der neu gegründeten Zeitschrift ‘Der Erbarzt’ erschienen in rascher Folge Berichte über entsprechende Erfassungstechniken.”15
Der größte Teil der Ärzteschaft nahm den unwissenschaftlichen Missbrauch des Begriffes Erbkrankheit unter sozialpolitischer Diktion kritiklos hin, propagierte ihn sogar. Der Nachweis über die Erbbedingtheit einer der im GzVeN genannten Erkrankungen brauchte im Einzelfalle nicht beigebracht werden, es reichte die allgemeine (und wiederum wissenschaftlich nicht haltbare Feststellung), dass bspw. “die überwiegende Mehrheit der angeborenen Schwachsinnsformen eine erbliche Grundlage habe” wie es 1935 in einem Kommentar einer führenden juristischen
Zeitschrift hieß.16 In sozialpolitischer Hinsicht war nach Ansicht Siemens “die psychiatrische Diagnose Schwachsinn von jeher dazu bestimmt, jene Menschen zu psychiatrisieren die aus vielfältigsten Gründen nicht voll leistungsfähig waren, die den Anforderungen der jeweiligen Gesellschaft an ihre Person als Arbeitskraft, als loyaler Staatsbürger nicht genügen konnten und teilweise wohl auch nicht wollten.”17
Hinzuzufügen sei, dass die Erbgesundheitsgesetze nach dem Krieg im Bundesentschädigungsgesetz nicht als Rassenverfolgung anerkannt waren. Erst seit 1990, also fünfzig Jahre nach den Geschehnissen, bekommen die Zwangssterilisierten nach langem entwürdigendem Kampf und zu einem Zeitpunkt, wo viele der Opfer bereits verstorben waren, ohne Nachweis eines Gesundheitsschadens einen monatlichen Betrag von 100,-DM.18
2.2 Euthanasie: T4-Aktion 1939 - 1941
Anfang Oktober 1939 unterschrieb Adolf Hitler eine auf den 01. September des gleichen Jahres rückdatierte geheime ‘Ermächtigung’, fixiert auf seinem privaten Briefpapier, mit folgendem Satz:
“Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.”19Damit war von höchster Stelle der Beginn der ‘Euthanasie’ beschlossen, wenngleich aus politischen Gründen nicht öffentlich verlautbart. Hitler lehnte im übrigen die Verabschiedung eines ‘Euthanasie-Gesetzes’ im Spätherbst 1940 endgültig ab, obwohl die Reichskanzlei verschiedene Entwürfe erarbeitet und diskutiert hatte. Götz Aly und Karl-Heinz Roth interpretieren diesen Umstand dergestalt, “dass das ‘deutsche Volk’ für diese Art der ‘inneren Selbstreinigung’ noch nicht ‘reif’ genug war. Es war einfach nicht ausreichend ‘fortschrittlich’, um die so konservativ erscheinenden Dimensionen des sozialen Existenzrechts einer Handvoll
wissenschaftlich profilierter Experten zu überantworten.”20Hitler fürchtete offenbar schlichtweg, dass die Euthanasie-Massnahmen bei der Bevölkerung politisch nicht durchsetzbar waren. Seine Bedenken waren wohl nicht völlig unbegründet, wird doch allgemein davon ausgegangen, dass ein Grund des Stopps der offensichtlicheren und ersten Form der T4-Aktionen (September 1941) im wachsenden öffentlichen Protestes ( insbesondere durch die Angehörigen der Opfer und bspw. in einer Predigt des Bischoffs Clemens von Galen vom 03. August 194121) gelegen haben könnte.22
Am 9. Oktober 1939 erging ein Runderlass des Reichsminister des Inneren an die Leiter von Psychiatrischen und Pflegeeinrichtungen mit der Bitte anliegenden Meldebogen nach den Massgaben des beiliegenden Merkblattes umgehend zur planwirtschaftlichen Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten ausgefüllt zurückzusenden. Zu melden waren demnach sämtliche PatientInnen, “die
1. an nachstehenden Krankheiten leiden und in den Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten (Zupfen u.ä.) zu beschäftigen sind: Schizophrenie, Epilepsie (wenn exogen, Kriegsdienstbeschädigung oder andere Ursachen angeben), senile Erkrankungen, Therapie-refraktäre Paralyse und andere Lues-Erkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, Encephalitis, [Hirnhauterntzündung] Huntington und andere neurologische Edzustände; oder
2. sich seit mindestens 5 Jahren dauernd in Anstalten befinden; oder
3. als kriminelle Geisteskranke verwahrt sind; oder
4. nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes sind unter Angabe von Rasse ( Deutschen oder artverwandten Blutes [deutsch- blütig], Jude, jüdischer Mischling I. oder II. Grades, Neger, Negermischling, Zigeuner,
Zigeunermischling usw.) und Staatsangehörigkeit.”23
Zugleich wurde die Gesamtzahl der zu tötenden PatientInnen durch das Leitungsgremium der Tiergartenstraße 4 am 9. Oktober 1939 auf 65 000 - 70 000 festgelegt.24
Die T4-Aktionen standen inoffiziell unter der Regie der Kanzlei des Führers. Zur Tarnung wurde in der Tiergartenstr. 4 (daher leitet sich das Kürzel T 4 ab) in Berlin eine Zentralstelle eingerichtet. In ihr waren, mit Tarnbezeichnungen eingeführt, vier Dienststellen zusammengefasst:
1. Die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Krankenpflegeanstalten (RAG) beinhaltete inoffiziell die Medizinische (Ltg Prof. Heyde bis Dez. 1941, ab Dez. 1941 Prof. Nitsche) und die Büroabteilung (Ltg. Bohne), zuständig für die Erfassung der Heilanstaltsinsassen, der Sammlung der verschickten Fragebögen, der Begutachtung sowie für die Verwaltungsaufgaben nach der Ermordung der Kranken.
2. Die Gemeinnützige Krankentransport GmbH (Gekrat) war im Eigentlichen die Transportabteilung in der KdF (Ltg: Vorberg), verantwortlich für die Verlegung und den Transport der Kranken.
3. Die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege mit der Hauptwirtschaftsabteilung (Ltg. Schneider bis März 1941; ab August 1941 Schmiedel) und der Personalabteilung (Ltg. Haus/ Oels).25Sie firmierte als juristische Person um so als Arbeitgeber nach innen und als Partner für Verträge über Pacht und Kauf in Erscheinung zu treten.
4. ab 1942 existierte die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten zur Abwicklung aller finanzieller Angelegenheiten.26
Die Begutachtung der Opfer erfolgte zum einen durch Ärzte (i.d.R. auch Psychiater) in der Zentralstelle unter Leitung von Professor Heyde und ab Dezember 1941 Professor Nitsche und zum anderen durch praktisch tätige Psychiater, z.T. auch Anstaltsleiter wie bspw. Dr. Pfannmüller, Leiter der Anstalt Eglfing-Haar. Die Begutachtung erfolgte per Aktenlage und wurde in einem aberwitzigen Tempo durchgeführt: Der schon erwähnte Dr. Pfannmüller bearbeitete z.B. in der Zeit vom 12. November - 01.Dezember 1940 über 2000 Meldebögen neben seiner Tätigkeit als Leiter einer großen Anstalt und der Medizinalrat Dr. Josef Schreck
[...]
1 Hitler, Adolf zitiert in: “Nach Hadamar” ; Kersting/Teppe/Walter (Hrsg.) 1993; S. 153
2 vgl. Klee, Ernst; “‘Euthanasie’ im NS-Staat” 1983; S. 66 ff.
3 siehe Gutman (Hrsg.), “Enzyklopädie des Holocaust”, S. 425
4 Schmidt; Gerhard; “Selektion in der Heilanstalt 1939 - 1945", 1983; S. 15
5 Klee, Ernst in: junge welt vom 04.04.1998
6 vgl. Stöbäus, Ricarda; “Gottfried Ewald - Neurologe und Psychiater in Göttingen”; 1995 S. 16 ff.
7 siehe Klee, Ernst; “‘Euthanasie’ im NS-Staat”; 1983; S. 223 ff. leiden werden.
8 in: Benz, Distel (Hrsg.); “Dachauer Hefte 4"; 1988; S. 66
9 in: Klee, Ernst; “‘Euthanasie’ im NS-Staat”; 1983; S.48
10 in: Schmuhl, Hans-Walther; Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie aus Internet: www.comlink.de/cl- hh/m.blumentritt/agr265s.htm vom 21.12.2001
11 in anderen Quellen wird von 250 000- 350 000 zwangssterilisierten Opfern gesprochen
12 in: Klee, Ernst; “‘Euthanasie im NS-Staat”; 1983, S. 85
13 vgl. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau; “Auschwitz - Nationalsozialistisches Vernichtungslager”; 1997; S.132 ff.
14 vgl. Klee, Ernst; “‘Euthanasie’ im NS-Staat”; 1983; S. 85
15 Schott/Propping (Hrsg.); “Wissenschaft auf Irrwegen Biologismus - Rassenhygiene - Eugenik”; 1992; S. 88
16 vgl. ebenda S. 48 ff
17 Siemen, Hans-Ludwig; “Das Grauen ist vorprogrammiert -Psychiatrie zwischen Faschismus und Atomkrieg”; 1982;S.102
18 Christoph/Illiger; “Notwehr - Gegen die neue Euthanasie”; 1993; S. 268 ff.
19 in: Klee, Ernst ebenda S. 100
20 in: Tolmein, Oliver; “Geschätztes Leben - Die neue ‘Euthanasie’-Debatte”, 1990; S. 192
21 vgl. Gutman, Israel (Hrsg.); “Enzyklopädie des Holocaust” 2. Auflage 1998; S. 424
22 vgl. bspw. Luderer; “Geschichte der Psychiatrie” aus Internet: www.lichtblick99.de/historisch.html vom 21.12.2001
23 in Klee, Ernst; ebenda. S. 93
24 in: Drechsel, Klaus-Peter; “Beurteilt Vermessen Ermordet”; 1993; S.34
25 vgl. Klee, Ernst; ebenda, Organisationsschema der Euthanasie S. 168/169
26 vgl. 23) ebenda
- Citar trabajo
- Jens Grünberg (Autor), 2002, Psychiatrie im Faschismus zwischen eugenischer Grundkonzeption und ökonomischen Wirklichkeitskriterien, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3544