In unserer Arbeit befassen wir uns mit Astrid Lingren´s Kinderroman „Ronja Räubertochter“. In Schweden erscheint er erstmals 1981 unter dem Titel „Ronja Rövardotter“ beim Stockholmer Verlag Rabén & Sjögren. Ein Jahr später, 1982, erscheint beim Hamburger Friedrich Oetinger Verlag die Deutsche Ausgabe, übersetzt von Anna-Liese Kornitzky. Mit Ronja Räubertochter veröffentlicht Astrid Lindgren ihr letztes literarisch bedeutsames Werk. Gattungsgemäß lässt es sich typisch für Astrid Lindgren´s Werke nicht eindeutig zuordnen. Die Autorin schafft mit Ronja Räubertochter in den 80-er Jahren, völlig quer zum Trend, ein Räubermärchen, das zahlreiche phantastische Elemente aufweist: Z.B. die fabelhaften „Waldbewohner“, das sogenannte „Dunkelvolk“. Da sind z.B. Graugnome, Rumpelwichte und die furchterregenden Wilddruden. Auch typisch für die Gattung Märchen ist es, dass die Zeit, in der die Geschichte von Ronja erzählt wird, nicht historisch datierbar ist. Dafür lässt sich der Handlungsort erschließen: Naturschilderungen und Volksmystik sind bei Ronja Räubertochter ganz in der skandinavischen Tradition anzusiedeln.
[...] Es erschließen sich verschiedene Zugehensweisen zu diesem Roman. Zum einen ist es eine Räubergeschichte und ein Märchen. Dann ist es aber auch die Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung oder die realistische Darstellung eines Adoleszenzprozesses, der eine Variante des Romeo- und Juliastoffes und eines Robinsonadenmotivs in sich trägt. Ronja Räubertochter ist sicherlich auch eine Geschichte über das Leben in der Natur und mit der Natur. Unser Augenmerk liegt allerdings auf der Beobachtung der zwischenmenschlichen Beziehungen. [...]
„Ihr fragt immer soviel danach, was ich meine und was dahintersteckt. Wißt ihr, ich werde euch mal was sagen. Ich denke überhaupt nicht soviel. ich denke gar nicht. Ich schreibe einfach. Das Einzige, was ich mit meinen Büchern beabsichtige, ist, das Kind in mir selbst zufriedenzustellen und den Kindern ein Leseerlebnis zu schenken. Ich schreibe Märchen, und der Mensch braucht Märchen, hat sie immer gebraucht. So ist das. Ich versuche nicht, die Kinder, die meine Bücher lesen, bewußt zu erziehen oder zu beeinflussen; das Einzige, worauf ich zu hoffen wage, ist, daß sie den Kindern vielleicht ein klein wenig zu einer menschenfreundlichen, lebensbejahenden und demokratischen Einstellung verhelfen.“ (Astrid Lindgren bei der Präsentation von Ronja Räubertochter 1981 vor Journalisten)
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Analyse der Familienstrukturen
3. Feinanalyse einer ausgewählten Textstelle
4. Der Familienkonflikt
4.1. Ablösungsprozess
4.2. Emanzipation
4.3. Romeo- und Juliamotiv/ Robinsonadenmotiv
4.4. Kinder als Verkörperung der Vernunft
5. Ronja Räubertochter als Entwicklungs-/ Adoleszenzroman
5.1. Das Entwicklungsmodell nach Erik H. Erikson
5.2. Die einzelnen Stufen in Ronjas Entwicklung
6. Feinanalyse einer ausgewählten Textstelle
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Ihr fragt immer soviel danach, was ich meine und was dahintersteckt. Wißt ihr, ich werde euch mal was sagen. Ich denke überhaupt nicht soviel. ich denke gar nicht. Ich schreibe einfach. Das Einzige, was ich mit meinen Büchern beabsichtige, ist, das Kind in mir selbst zufriedenzustellen und den Kindern ein Leseerlebnis zu schenken. Ich schreibe Märchen, und der Mensch braucht Märchen, hat sie immer gebraucht.. So ist das. ich versuche nicht, die Kinder, die meine Bücher lesen, bewußt zu erziehen oder zu beeinflussen; das Einzige, worauf ich zu hoffen wage, ist, daß sie den Kindern vielleicht ein klein wenig zu einer menschenfreundlichen, lebensbejahenden und demokratischen Einstellung verhelfen.“1
(Astrid Lindgren bei der Präsentation von Ronja Räubertochter 1981 vor Journalisten)
In unserer Arbeit befassen wir uns mit Astrid Lingren´s Kinderroman „Ronja Räubertochter“. In Schweden erscheint er erstmals 1981 unter dem Titel „Ronja Rövardotter“ beim Stockholmer Verlag Rabén & Sjögren. Ein Jahr später, 1982, erscheint beim Hamburger Friedrich Oetinger Verlag die Deutsche Ausgabe, übersetzt von Anna-Liese Kornitzky. Mit Ronja Räubertochter veröffentlicht Astrid Lindgren ihr letztes literarisch bedeutsames Werk.
Gattungsgemäß lässt es sich typisch für Astrid Lindgren´s Werke nicht eindeutig zuordnen. Die Autorin schafft mit Ronja Räubertochter in den 80-er Jahren, völlig quer zum Trend, ein Räubermärchen, das zahlreiche phantastische Elemente aufweist: Z.B. die fabelhaften „Waldbewohner“, das sogenannte „Dunkelvolk“. Da sind z.B. Graugnome, Rumpelwichte und die furchterregenden Wilddruden. Auch typisch für die Gattung Märchen ist es, dass die Zeit, in der die Geschichte von Ronja erzählt wird, nicht historisch datierbar ist. Dafür lässt sich der Handlungsort erschließen: Naturschilderungen und Volksmystik sind bei Ronja Räubertochter ganz in der skandinavischen Tradition anzusiedeln.
Ronja Räubertochter ist in erster Linie eine Geschichte für Kinder im Grundschulalter, wird aber auch von älteren Kindern und Erwachsenen sehr gerne gelesen.
Es erschließen sich verschiedene Zugehensweisen zu diesem Roman. Zum einen ist es eine Räubergeschichte und ein Märchen. Dann ist es aber auch die Geschichte einer Vater - Tochter- Beziehung oder die realistische Darstellung eines Adoleszenzprozesses, der eine Variante des Romeo- und Juliastoffes und eines Robinsonadenmotivs in sich trägt. Ronja Räubertochter ist sicherlich auch eine Geschichte über das Leben in der Natur und mit der Natur.
Unser Augenmerk liegt allerdings auf der Beobachtung der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Inhaltsangabe
Ronja wird in einer Gewitternacht auf der Mattisburg geboren. In dieser Nacht schlägt ein Blitz in die Burg und teilt sie in zwei Hälften. Dazwischen bleibt ein tiefer Abgrund, der Höllenschlund, zurück. Ronja wächst in einer liebevollen Umgebung, mit ihren Eltern Mattis und Lovis und den zwölf Räubern, auf. Am liebsten spielt sie im Mattiswald, wo sie die Natur und die in ihr lebenden Wesen kennen und in einigen Fällen auch fürchten lernt. Mit der Zeit lernt Ronja die Gefahren richtig einzuschätzen und ihre Angst zu überwinden. Eines Tages begegnet sie Birk, dem Sohn der verfeindetet Borkasippe, am Höllenschlund und erfährt, dass sich Borka und seine Räuber im abgespaltenen Teil der Mattisburg eingenistet haben. Mattis ist außer sich vor Wut als er davon erfährt und will die Borkasippe schnellst möglich vertreiben. Aus diesem Grund können sich Ronja und Birk zunächst nicht ausstehen. Nachdem sie sich aber gegenseitig aus einer Reihe von Gefahren gerettet haben, schließen sie Freundschaft. Sie treffen sich heimlich, um einem Konflikt mit den Eltern aus dem Weg zu gehen. Im Winter ist es so verschneit, dass die beiden sich nicht treffen können. Ronja gräbt in ihrer Verzweiflung einen Tunnel von ihrer Burghälfte zu Birks. Im Frühling können die beiden endlich wieder in ihren geliebten Wald. Nachdem sie von ihrem ersten Ausflug zurückkehren, wird Birk von Mattis und seinen Räubern gefangen genommen. Er will Borka erpressen. Wenn dieser nicht sofort die Mattisburg verlässt, dann bekommt er seinen Sohn auch nicht zurück. Ronja ist schockiert. Wie kann ihr Vater nur so grausam sein? Es kommt zu einem Treffen am Höllenschlund. Vor lauter Wut springt Ronja zu Borka auf die andere Seite der Schlucht. Mattis ist fassungslos. Borka bietet ihm einen Tausch der Kinder an, aber Mattis sagt, er habe keine Tochter mehr. Also vollzieht Lovis den Kindertausch mit Borka. Die Freundschaft zwischen Ronja und Birk löst einen so starken Konflikt innerhalb der Familien aus, dass die beiden keinen anderen Ausweg sehen, als in eine Bärenhöhle im Wald zu ziehen. Sie verleben einen Sommer im Wald und lernen, dass es auch in einer Freundschaft Konflikte gibt, aber auch, dass sie einander brauchen. Ronja leidet unter der Trennung von ihrem Vater. Erst als dieser sie bittet wieder nach Hause zu kommen und er ihre Freundschaft zu Birk akzeptiert, geht sie mit ihm zurück auf die Mattisburg. Mattis und Borka überwinden ihren jahrzehnte langen Streit. Es kommt zu einem Zweikampf, aus dem Mattis als Birk erklären ihren Vätern, dass sie das Räuberleben nicht fortführen wollen. Schwer enttäuscht müssen diese akzeptieren, dass ihre Kinder einen eigenen Willen und eigene Vorstellungen vom Leben haben.
2. Analyse der Familienstrukturen
Um die Familienstrukturen in dem Roman „Ronja Räubertochter“ analysieren zu können, bedarf es zuerst einer ausgiebigen Charakterisierung jedes einzelnen Familienmitglieds. Denn erst mit der Kenntnis über typische Charaktereigenschaften und Verhaltensmuster der Figuren können ihre Beziehungen zu anderen Figuren durchleuchtet und interpretiert werden.
Im Text ist immer wieder die Rede von der „Mattissippe“ und der „Borkasippe“. Um dem Ausdruck „Sippe“ gerecht zu werden, müssen viele Personen zusammenleben und auch Familienstrukturen untereinander aufweisen können.
Es liegt also nahe, Mattis, Lovis, Ronja und die Mattisräuber als eine große zu untersuchende Einheit zu betrachten, als Familie, genauer in Form einer „Großfamilie“.
Das Hauptaugenmerk soll bei der Analyse jedoch auf der Untersuchung der Beziehungen innerhalb der „leiblichen“ Familie liegen: Wie geht Mattis mit seiner Tochter Ronja um, wie ist das Verhältnis zwischen ihm und seiner Frau Lovis, welche Beziehung hat Ronja zu ihren Eltern, usw.?
Einer gesonderten Analyse bedarf auch die Stellung Glatzen-Per´s auf der Burg und in der Familie. Auch die Figur des Birk soll in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden.
Mattis
Mattis, so heißt es in vielen Stellen im Buch, sei der „mächtigste Räuberhauptmann in allen Wäldern und Bergen“ (S. 14, S. 63, S. 65, ). Er ist Hauptmann über zwölf Räuber, die zusammen mit ihm, seiner Frau Lovis und seiner Tochter Ronja auf der Mattisburg leben. Dass Mattis wirklich mächtig ist, merkt man schon daran, dass die Burg „Mattisburg“ und der Wald um sie herum „Mattiswald“ heißt. Das Räuberleben hat Tradition in Mattis´ Familie: „Schon mein Vater war Räuberhauptmann, ebenso wie mein Großvater und mein Urgroßvater“, erklärt er Ronja (S. 65). Auch Mattis´ Erscheinung ist sehr stattlich: er ist hochgewachsen, stark und hat einen schwarzen Bart (S. 49/66). Vor Mattis haben alle Respekt: Seine Räuber und sogar die Landsknechte, die bisher vergeblich versucht haben, Mattis das Handwerk zu legen. Auch bei den Reisenden ist er gefürchtet, weil niemand vor seinen Überfällen im Mattiswald sicher ist. Und Mattis brüstet sich mit diesem Ruf und mit seiner Kraft (S. 220). Deshalb ist es Mattis auch gewohnt, dass ihm niemand widerspricht und er über alle Dinge bestimmen kann. Jeder hat zu tun, was Mattis will. Es heißt immer wieder „Mattis will“. Man erkennt an dieser Wortwahl, dass er seinen Willen stets laut äußert und es nicht gewohnt ist, wenn er diesen nicht auch durchsetzen kann (S. 45). Normalerweise hört alles auf sein Kommando und sein Wille wird befolgt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Mattis glaubt, sogar Naturgewalten wie der Tod würden seinem Kommando unterliegen.
„Aber daran stirbt er doch hoffentlich nicht?“ „Doch das tut er“, sagte Lovis. Da brach Mattis in Tränen aus. „Nein, scher dich zum Donnerdrummel“, schrie er. „Das erlaub ich nicht!“ Lovis schüttelte den Kopf. „Über alles bestimmst du Mattis, aber darüber nicht!“ (S. 231). Er klingt hier wie ein kleines Kind, egozentrisch, als gäbe es nur ihn auf der Welt. Mattis hat eine ausgeprägte Verlustangst, das merkt man auch in dieser Szene. Auch als Ronja krank ist, gerät Mattis direkt in Panik und meint, Ronja müsse sterben (S. 82). So sehr liebt er die Menschen um ihn herum. Mattis hat ein großes Herz, nur leider ist es schwer, mit ihm umzugehen, und manchmal fällt es auch schwer, ihn zu ertragen. Denn Mattis ist sehr laut. Wenn er lustig und fröhlich ist, dann jubelt er und schreit, wie bei der Geburt von Ronja (S. 6: „Juchhe, Juchhei!“). Er tanzt und ist sehr ausgelassen. Ist er aber wütend und die Dinge laufen nicht so, wie Mattis es will, dann schreit er auch. Er tobt, er flucht ungehobelt, er randaliert sogar (S. 43), er schmeißt sich auf den Boden und bleibt dort schmollend liegen. Eigentlich wird Mattis immer sofort laut und gerät außer sich, ohne vorher nachzudenken. So auch, als Sturkas krank ist (S. 115): er tobt und flucht über Borka. Erst als Lovis ihn streng ansieht, kommt ihm der Gedanke, „dass der Arme (Sturka) wohl nicht allzuviel Lärm vertrug“ und er schweigt. Mattis ist hitzköpfig und leicht reizbar, aber genau so schnell wie er sich aufregen kann, ist seine Wut auch schon wieder verflogen (S. 12). All dies macht Mattis in seinem Verhalten sehr berechenbar: Lovis und Glatzen-Per wissen natürlich, wie sie Mattis zu nehmen haben, aber auch Ronja kann die Wutausbrüche ihres Vaters schon kalkulieren. Deshalb kritisieren sie ihn lieber nicht, wenn er tobt, sondern warten, bis er sich abgeregt hat. Kritik kann Mattis nämlich gar nicht vertragen. Mattis braucht die Bewunderung und den Beistand all seiner Lieben. Ronja und Lovis, aber auch Glatzen-Per und die Räuber müssen stets hinter ihm stehen, sonst wird er wieder wütend (S. 119): „Mattis ergrimmte, als er merkte, dass er Ronja und auch Lovis gegen sich hatte“. „Wofür das gut sein soll?“ schrie er. „Wofür das gut sein soll? Dafür, dass Borka jetzt endlich aus der Mattisburg verschwindet, begreift ihr denn nicht ihr Gänse?“
Mattis ist nebenher auch noch ein brutaler, rücksichtsloser Räuberhauptmann, Dass er Menschen ausraubt, sich mit Gewalt das holt, was er will, spiegelt sich auch in seinem Verhalten innerhalb seiner Familie wider. Er ist sehr egoistisch und sieht nur sich selbst, er ist nicht empathiefähig, die Gefühle anderer kann er nicht verstehen. S. 84: Er klagt den Schafen sein Leid: „Ihr wisst ja nicht, wie es ist, wenn man ein Kind hat! Ihr wisst ja nicht, wie einem zumute ist, wenn man sein kleines Lieblingslamm verliert!“ Dann verstummte er, denn ihm fiel ein, dass sie alle im Frühjahr Lämmchen bekommen hatten. Und was war aus ihnen geworden? „Lammschlegel und Lammbraten aus fast allen!“
Mattis kämpft brutal mit Borka und ist gemein, als er Birk gefangen hat; Birk ist verwundet. Anschließend tobt er so stark vor Wut, dass er sogar Lovis brutal durch die Steinhalle schleudert (S. 127). In dieser Szene ist Mattis wirklich unsympathisch, aber in allen anderen Szenen kann man ihm nicht böse sein. Er ist nur der etwas tolpatschige, grobe Mattis (S. 14), der einem wie ein großes Kind erscheint. In seinen Wutausbrüchen ist er hilflos und trotzig. Lovis ermahnt und belehrt Mattis, als sei er ihr Sohn und nicht ihr Mann (S. 43). Auch zwischen Ronja und ihm sind die Rollen des Kindes und des Erwachsenen manchmal vertauscht. Aber einen weiteren Aspekt gibt es noch, der Mattis so sympathisch macht: Er ist ein liebender Vater, Ehemann und „Räubervater“. Schon von Ronja´s Geburt an liebt er seine kleine Tochter abgöttisch. Sie ist sein ganzer Stolz (S. 7 „Er erschauerte vor Liebe“. „Du Kind, in diesen Händen hälts du jetzt schon mein Räuberherz“, sagte er). Er ist fürsorglich und behütet seine kleine Tochter, weil er ohne sie nicht mehr leben kann, wie man später im Buch sieht. Er kümmert sich liebevoll um seine Tochter und vernachlässigt sogar seine Raubzüge, nur um Ronja beim „Großwerden“ zuzuschauen. Jeder Lernerfolg Ronja´s ist ein Wunder für Mattis , als wäre seine Ronja das einzige Kind auf der Welt, das Laufen lernt. Hier erkennt man auch wieder, dass Mattis den Egozentrismus wohl nie ganz überwunden hat. Er wirkt niedlich, wenn er vor Entzückung in Ekstase gerät, nicht wie ein großer Räuberhauptmann, sondern wieder wie ein Kind (S. 14). Dieser laute Ausdruck von Lebensfreude entweicht mit einem Mal aus Mattis, als er über den Höllenschlund springt. Zum ersten mal brüllt Mattis nicht vor Wut, sondern schweigt. „Etwas war geschehen, das alles veränderte“ (S. 130), und deshalb sorgt sich auch jeder um Mattis. Mattis hat sich verändert („Mattis´ Schweigen ist schlimmer als harte Worte“, dachte Ronja [S. 138]). Diesen Schmerz muss er zum ersten Mal mit sich ganz allein ausmachen, er zieht sich zurück und „leidet so unmenschlich“ (S. 195). „Nichts merkte er. in diesem Augenblick war er allein auf der Welt“ (S. 132). Das Bild des gebrochenen Mattis intensiviert den Vorfall am Höllenschlund. Auch gerade deshalb, weil er mit seinem Schmerz sonst gar nicht allein umgehen kann und ihn immer zumindest Lovis mitteilen muss. So auch in folgender Szene, wo Astrid Lindgren ihre Figuren sogar ein typisches Männerklischee bedienen lässt: Mattis hat gegen Borka gekämpft, er kann nicht schlafen, weil seine Prellungen und Wunden schmerzen. „Er machte kein Auge zu und es verdross ich sehr, dass Lovis so ruhig neben ihm schlief Schließlich weckte er sie. „Mir tut alles weh“, klagte er. „Ich hoffe nur, dass dieser Borka jetzt genauso daliegt und noch größere Höllenqualen leidet!“ Lovis drehte sich zur Wand. „Mannsleute“, sagte sie und schlief sofort wieder ein“ (S. 228).
Lovis
Über Lovis ´ Erscheinung wird im Buch nicht viel gesagt. Sie hat langes Haar
(S. 139), mehr erfährt der Leser nicht über ihr Aussehen. Dafür merkt man schon in der ersten Szene, dass Lovis der ruhende Gegenpol zu Mattis ist: Als sie Ronja gebärt, ist sie völlig ruhig und besonnen, weil sie bei der Geburt singt. Lovis kümmert sich auf der Mattisburg um alles: Sie verpflegt die Tiere, hält die Burg sauber, kocht und verpflegt die Räuber und ist darüber hinaus noch eine liebevolle Mutter für Ronja (und für Mattis und für die Räuber). Lovis kennt alle Pflanzen und ihre Heilkräfte, sie verhilft Kranken wieder zur Genesung und kocht sehr gut. Sie kann einfach alles, ist immer für jeden da, versteht die Zusammenhänge und ist gerecht. Ronja liebt ihre Mutter. Von Lovis geht Ruhe, Gelassenheit und Sicherheit aus. „Da saß sie, an die Bergwand gelehnt, so unerschütterlich und sicher wie der Berg selbst“ (S. 193). Mit der Figur der Lovis geht das Ritual des Singen des Wolfsliedes einher. In diesem Zusammenhang scheint diese Aufgabenverteilung vorgeschrieben: Nicht nur, dass das Singen des Wolfsliedes Frauensache ist, es paßt auch zu Lovis´ Rolle: Das Wolfslied ist ein „Schutzlied“. Lovis beschwört darin das Böse, draußen zu bleiben, vertreibt es. Lovis verkörpert das warme Zuhause, Ort der Geborgenheit, wie es eine liebende Mutter immer für ihre Kinder verkörpert. interessant ist, dass auch Mattis allabendlich diesem Gesang lauscht. Es läßt auf ihre Beziehung zueinander schließen, doch das sei später erwähnt.
Bisher kann man sagen, dass Lovis die typische Rolle der Frau auf der Burg einnimmt. Sie ist „Hausfrau“und Mutter, während Mattis auf seine Raubzüge geht und die Familie „ernährt“. Aus der bisher devot erscheinenden Position der Lovis heraus entwickelt Astrid Lindgren eine starke emanzipierte und weise Frau, die der Männerwelt in diesem Roman gänzlich überlegen ist.
Denn eigentlich hat Lovis das Sagen auf der Burg. Alle wichtigen Entscheidungen auf der Burg trifft sie, und das manchmal sehr energisch: „Wie soll sie denn heißen?“ fragte Glatzen-Per. „Ronja“, antwortete Lovis. „So wie ich es schon seit langem beschlossen habe“. „Aber wenn es nun ein Junge geworden wäre?“ meinte Glatzen-Per. Lovis sah ihn ruhig und streng an.“ Wenn ich beschlossen habe, dass mein Kind Ronja heißt, dann wird es auch eine Ronja“ (S. 7).
Lovis ist die Einzige, von der sich Mattis etwas sagen läßt. Und Mattis ist abhängig von ihr. Lovis überläßt Mattis lediglich das Sagen über seine Räuber, in seine „Geschäfte“ mischt sie sich nicht ein. In dem Bereich ist es Glatzen-Per, der Mattis unterstützt und für ihn mitdenkt. Aber im familiären und privaten Bereich übernimmt Lovis diese Rolle: Auch die Räuber haben Respekt vor ihr, sie gehorchen Lovis und benehmen sich anständig in ihrer Gegenwart. Lovis sorgt für Ronja, Mattis und zwölf Räuber, die nicht immer bereitwillig vernünftig sein wollen: „Sie fluchten und wetterten über Lovis´ unmenschliche Härte, aber sie schrubbten sich, wie sie es befohlen hatte. Etwas anderes hätten sie nicht gewagt“ (S. 101).Lovis greift oftmals streng durch, dann hat sie genug von den „Mannsleuten“ und schmeißt sie allesamt aus der Steinhalle (S. 68/69). Allerdings mischt sich Lovis nur dann ein, wenn es ihr notwendig erscheint. Über die meisten Konflikte schweigt sie. Auch bleibt sie im Konflikt zwischen Mattis und Ronja nahezu unparteiisch und hält sich heraus. Sie überläßt ihrer Tochter eine große Verantwortung und erzieht sie zur Selbständigkeit und zur Selbsthilfe. Dennoch ist sie nicht nüchtern desinteressiert an den Konflikten zwischen ihren Liebsten. Sie kennt Mattis nur zu gut und vermeidet, dass er sich in die Enge gedrängt fühlt, indem sie neutral bleibt. Denn beide Frauen gegen sich zu haben, das erträgt Mattis ja nicht (S. 119). Das Verhältnis zwischen ihr und Mattis scheint manchmal etwas eigentümlich zu sein. Da Mattis sich ja meistens sehr kindisch aufführt, übernimmt sie auch für ihn zum Teil eine Mutterrolle. Und Mattis akzeptiert dieses Rollenverhältnis: „Dann fand er [Mattis] keine Worte mehr, und er stieß ein Gebrüll aus, das erst verstummte, als Lovis mit strengem Blick auf Sturkas wies“ (S. 115). Lovis mäßigt ihren Mattis, wenn dieser zu weit geht. In erster Linie läßt sie ihn aber gewähren und sich „austoben“, solange er im nachhinein für die Konsequenzen seines Verhaltens geradesteht: „Hier bedien dich“, sagte Lovis. „Aber hinterher machst du eigenhändig sauber, merk dir das!“ (S. 43). Sie spricht mit Mattis auch wie mit einem Kind, wie man hier erkennt. In erster Linie lässt sie Mattis gewähren. Sie beachtet ihn so weit es geht gar nicht, gerade so, wie man ein kleines Kind, tobt und nach Aufmerksamkeit schreit, durch Ignoranz am meisten strafen kann. Wenn ihr dann trotzdem einmal der Kragen platzt, dann beendet Lovis nüchtern Mattis´ Gezeter. „Nein, jetzt ist aber Schluss damit!“ (S. 43). Auch wenn Mattis traurig ist, steht sie mütterlich an seiner Seite: „Aber er fehlt mir!“ schrie Mattis. „Er fehlt mir so sehr, dass es mir ins Herz schneidet!“ „Möchtest du, dass ich dich ein Weilchen in die Arme nehme?“ fragte Lovis. „Ja, tu das meinetwegen!“ schrie Mattis. Und egal wie kindisch sich Mattis verhält, niemals würde sie ihn auslachen und seine Autorität untergraben. Sie steht immer hinter ihrem Mattis und unterstützt ihn (S. 132). Nach außen bilden die beiden eine unerschütterliche Einheit, die zusammenhält. Lovis steht still hinter Mattis, meistens schweigt sie, sie gibt Mattis Kraft, indem sie Ruhe und Zuversicht ausstrahlt (S. 134: „Lovis war sich zu gut für eine Antwort. Sie zog Ronja an sich und wollte wortlos mit ihr fort“). Auf Streit läßt sich Lovis niemals ein und ist auch bei anderen immer bemüht, Streit zu vermeiden. Lovis ist konsequent und läßt sich in ihrer Meinung nicht beirren.: „Wenn wir beide nicht mehr sind, wird wohl dein Sohn Häuptling werden [Borka]. Denn meine Tochter will ja nicht. Und wenn sie nein sagt, dann meint sie nein, das hat sie von ihrer Mutter“ (S. 225).
Ronja
Ronja hat viele Eigenschaften ihrer Mutter geerbt. Die beiden Frauen sind sich sehr ähnlich. Ronja ist elf jahre alt, als sie Birk kennenlernt und sich die Ereignisse überschlagen (S. 185). Sie hat dunkle (schwarze) wache Augen (S. 7) und ist schwarzhaarig. Mit ihrer noch dazu ranken und schlanken Erscheinung ähnelt sie einer Wilddrude, findet Mattis (S. 16). Ronja ist ein aufgewecktes Mädchen, manchmal ist sie auch vorlaut und ein bißchen dreist. Ronja ist sehr abenteuerlustig und mutig. Sie hat vor fast gar nichts Angst, und wenn sie doch vor etwas Angst hat, dann übt sie sich darin, keine Angst mehr zu haben (S. 24). Ronja liebt den Wald und die Tiere. sie ist gern den ganzen Tag unterwegs und liebt die Natur. Sie lebt im Einklang mit ihr. Und genau so sehr wie die Natur liebt Ronja auch ihren Vater Mattis („Für sie war er nur der bärtige, gutmütige Mattis, der lachte und sang und schrie und sie mit Brei fütterte. ihn hatte sie lieb „ (S. 15). Ronja ist Mattis´ „Täubchen“ (S. 14) und das weiß sie auch. Und deshalb kann sie ihren Vater auch ständig um den kleinen Finger wickeln. Mattis ist ihr eigentlich nie böse („Und Mattis wird ausnahmsweise einmal böse auf sie“ [S. 14]). Und Ronja bewundert ihren Vater, auch weil er der mächtige Räuberhauptmann ist, ohne dass sie überhaupt weiß, was es bedeutet, ein Räuberhauptmann zu sein. Ronja ist seine Ronja, Mattis´ Tochter. Mattis liebt sie mit einer Art Besitzanspruch. Diese Vater-Tochter-Liebe endet oftmals für beide Seiten in einem schmerzvollen Ablösungsprozess der Tochter von der überragenden Vaterfigur, und zwar in dem Moment, wenn sie einen Lebenspartner, einen Mann findet. So auch bei Ronja. Bis zu Ronja´s Begegnung mit Birk eifert sie Ihrem Mattis nach. Sie flucht wie er, sie redet wie er, sie will alles so machen, wie er es tut. Ronja hat viele Freiheiten, aber trotzdem weiß sie, dass sie diese Freiheiten nur solange hat, wie sie sich an gewisse Regeln hält. Und Ronja weiß auch, dass Mattis sehr zornig wird, wenn man gegen seine Regeln verstößt. „Aber Ronja dachte an Mattis, und ihr grauste. Sie hatte ihn schon vor Wut ganz von Sinnen erlebt und wusste, wie das war“ (S. 34). Trotzdem hat Ronja keine Angst vor Mattis, sie weiß ja, dass er sie liebt. Ronja ist Mattis schon mit elf Jahren überlegen: Sie ist nämlich empathiefähig und versteht Mattis´ Gefühle. Deshalb wird er für sie berechenbar. Mattis versteht nichts von Gefühlen außer von seinen eigenen. Ronja ist das einzige Kind auf der Mattisburg, deshalb wird ihr auch grenzenlose Liebe von Lovis, dem Räuber und vor allem von Mattis zuteil. Und Ronja ist sich der Verantwortung, die diese Liebe für die mit sich bringt, bewusst: (S. 76; Ronja droht im Schnee zu erfrieren: „ Armer Mattis, er würde den Verstand verlieren vor Kummer! Und dann gab es keine Ronja mehr, die ihn tröstete, wie es sonst immer tat, wenn er traurig war“). Ronja ist für Mattis da, er braucht sie, er kann ohne sie nicht leben. Mit dem Wissen darüber, dass sich Ronja dieser Tatsachen bewusst ist, wird das Ausmaß ihrer inneren Zerrissenheit, welche sie bei der schweren Entscheidung zwischen Mattis und Birk treffen musste, deutlich. Als Ronja Birk kennenlernt, ist sie hoch erfreut. Ein Kind auf der Mattisburg! Sie freut sich, dass sie jemanden zum Spielen gefunden hat. Doch als sie erfährt, dass es Borka´s Sohn ist, muss sie gleich an Mattis denken und stellt sich automatisch auf Mattis´ Seite und vertritt ihn, weil Mattis nicht da ist. Sie wird fuchsteufelswild (S. 34) und flucht und klingt dabei sehr altklug, gar nicht kindlich: Sie nennt Birk einen Lümmel (S. 34). „Sie hatte jetzt genug von dem Lümmelgeschwätz und den Frechheiten“ (S. 36).
[...]
1 Ummo Becker 1986: S.124.
- Quote paper
- Rebecca Hillebrand (Author), 2000, Familienstrukturen in Astrid Lindgrens Ronja Räubertochter, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35435
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.