Laut dem Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge befanden sich Ende Januar 2016 insgesamt 60.162 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Zuständigkeitsbereich von jugendhilferechtlichen Einrichtungen. Diese Kinder und Jugendliche suchen ohne Erziehungsberechtigte in der Europäischen Union Zuflucht und gelten als besonders vulnerabel, da sie mehr Schutz und Hilfe als erwachsene Flüchtlinge benötigen. Bei ihrer Ankunft sind viele von ihnen traumatisiert, haben gesundheitliche Schwierigkeiten oder Kriegsverletzungen.
Die stetige Zunahme der nach Deutschland einreisenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge stellt sämtliche Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Im Spannungsfeld zwischen dem Rechtsgebiet der Kinder- und Jugendhilfe auf der einen und dem Aufenthalts- und Asylgesetz auf der anderen Seite ergeben sich zahlreiche weitere Schwierigkeiten.
Das Ziel der Fallstudie ist es, die Lebenssituation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus einem soziologischen und am Rande entwicklungspsychologischem Blickwinkel darzustellen. Auf Basis ihrer subjektiv empfundenen Zufriedenheit (in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht) sollen in einem zweiten Schritt Maßnahmen für die Optimierung ihres Wohlbefindens abgeleitet werden. Um die Subjektperspektive mit Hilfe von verbalen Daten zu eruieren, wird ein qualitativer Forschungsansatz gewählt. Die Umsetzung erfolgt in Form von Interviews in einer Clearingeinrichtung in einer Mittelstadt X im Kreis Mettmann.
Aus dem Inhalt:
- Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge;
- Trauma;
- Resilienz;
- Migration;
- Jugendhilfe
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffsklärung und thematische Hinführung
2.1 Begriffsklärung
2.2 Migration und Fluchtmotive
2.3 Größenordnung und Herkunft
2.4 Herausforderungen und Belastungen der Adoleszenz im Kontext von Migration
2.5 Gefahr der Posttraumatischen Belastungsstörung
2.6 Resilienz
2.7 Positionierung im deutschen Bildungsraum
3 Zwischenstaatliche und nationale Abkommen zum Schutz von Minderjährigen
3.1 Zwischenstaatliche Regelungen
3.2 Nationale Rahmenbedingungen
4 Methodisches Vorgehen
4.1 Zielsetzung und Fragestellung
4.2 Vorüberlegungen und Untersuchungsplan
4.3 Erhebungsverfahren: das problemzentrierte- und das Experteninterview
4.4 Feldzugang und Besonderheiten bei Interviews mit UMF
4.5 Durchführung der Erhebung
4.6 Datenaufbereitung
4.7 Datenauswertung
5 Darstellung der Interviews und kritische Würdigung
5.1 Interviews mit Betroffenen
5.2 Interviews mit Experten
5.3 Diskussion der Ergebnisse vor dem Hintergrund der Forschungsfrage
6 Fazit und Ausblick
7 Quellenverzeichnis
8 Anhang
8.1 UMF
8.2 Experten
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser eseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Laut dem Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (BumF) befanden sich Ende Januar 2016 insgesamt 60.162 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) im Zuständigkeitsbereich von jugendhilferechtlichen Einrichtungen. Hinzu kamen noch 7.721 junge Volljährige und ehemalige UMF aus Übergangsprogrammen, die ebenfalls in diesen Verantwortungsbereich fielen. (vgl. BumF 2016: 3) Diese Kinder und Jugendliche suchen ohne Erziehungsberechtigte in der Europäischen Union Zuflucht und gelten als besonders vulnerabel, da sie mehr Schutz und Hilfe als erwachsene Flüchtlinge benötigen. Sie durchleben die bedrohliche Flucht in der Phase der Entwicklung und des physisch und psychischen Erwachsenwerdens. In den meisten Fällen verlassen sie ihre Bezugspersonen und ihr Herkunftsland nicht freiwillig. (vgl. Dieckhoff 2010: 6f.) Viele von ihnen werden als Ankerkind vorausgeschickt, damit sie ihre Familien nachholen oder die Zurückgebliebenen später finanziell unterstützen können (vgl. Lau 2016: 1). Sie fliehen i. d. R. vor kriegerischen Auseinandersetzungen, Verfolgung, Armut oder Perspektiv-losigkeit[1] und haben Gewalt am eigenen Leibe erlebt. Auf ihrem Fluchtweg müssen sich nahezu alle ohne Fremdsprachenkenntnisse und Ausweisdokumente durchschlagen. Meist kennen sie ihre Route nicht und wissen nicht, wann es für sie weitergeht. Oftmals erreichen sie Deutschland erst nach einigen Jahren, da sie unterwegs immer wieder Geld für ihren weiteren Weg verdienen müssen (vgl. Dieckhoff 2010: 6f.).
Bei ihrer Ankunft sind viele von ihnen traumatisiert, haben gesundheitliche Schwierigkeiten oder Kriegsverletzungen. Sie werden physisch und psychisch völlig erschöpft nahe der Grenze ausgesetzt und dort von der Polizei oder dem Grenzschutz aufgegriffen. Andere kommen am Flughafen an oder werden durch eine Privatperson zum Jugendamt oder der Ausländerbehörde gebracht. (vgl. BAG Landesjugendämter 2014: 24) Von diesem Zeitpunkt an sind die Kinder und Jugendlichen im Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendhilfe angekommen und haben, soweit sie tatsächlich noch nicht volljährig sind, nach § 42 des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII Anspruch auf eine Inobhutnahme.
Die stetige Zunahme der nach Deutschland einreisenden UMF stellt sämtliche Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Aktuell steht die Aufnahmesituation und der Prozess des Ankommens im Fokus der öffentlichen Debatten, da bestimmte Erstaufnahmeeinrichtungen näher an Transitrouten liegen und einige Kommunen überproportional belastet sind. Die Gesetzeslage wurde bereits mit dem umstrittenen Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher, am1. November 2015 an diese neue Realität angepasst. Seitdem greift das Prinzip der Unterbringung am Ankunftsort nicht mehr und sie werden wie Erwachsene auf die einzelnen Kommunen verteilt. Diese sind vielfach nicht darauf vorbereitet und nun in kürzester Zeit dazu angehalten, neues Personal einzustellen und zu schulen, Jugendwohngruppen zu errichten, Dolmetscher zu finden sowie entsprechende Ausbildungsangebote und Therapiemöglichkeiten zu organisieren. In diesem Spannungsfeld zwischen dem Rechtsgebiet der Kinder- und Jugendhilfe (mit der Grundlage des SGB VIII) auf der einen und dem Aufenthalts- (AufenthG) und Asylgesetz (AsylG) auf der anderen Seite ergeben sich zahlreiche weitere Schwierigkeiten. Die gegensätzlichen Prinzipien wirken sich sowohl auf die tägliche Arbeit der zuständigen Betreuer und Sozialpädagogen als auch auf die Teilhabechancen und Möglichkeiten der UMF aus.
Zudem können UMF nicht losgelöst ihrer ethnischen Herkunft betrachtet werden, da damit häufig Benachteiligungen im öffentlichen Raum sowie soziale Exklusion verbunden sind. In den öffentlichen Debatten steht der Migrationshintergrund bei der jüngeren Generation zudem häufig im Kontext von Bildungsmisserfolg (vgl. Rühl 2012: 31). Aus diesem Grund müssen neben kulturellen und sprachlichen Differenzen die Strukturen und Praktiken sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung auf verschiedenen Ebenen Berücksichtigung finden.
Im Licht der Komplexität dieser Thematik ist es das Ziel der vorliegenden Fallstudie, die Lebenssituation der UMF aus einem soziologischen und am Rande entwicklungs-psychologischem Blickwinkel darzustellen. Auf Basis ihrer subjektiv empfundenen Zufriedenheit (in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht) sollen in einem zweiten Schritt Maßnahmen für die Optimierung ihres Wohlbefindens abgeleitet werden. Um die Subjektperspektive mit Hilfe von verbalen Daten zu eruieren, wird ein qualitativer Forschungsansatz gewählt. Die Umsetzung erfolgt in Form von Interviews in einer Clearingeinrichtung in einer Mittelstadt X im Kreis Mettmann.
Die Untersuchung gliedert sich dabei in zwei große Teilbereiche, wobei der erste Abschnitt (Kap. 1-3) die Lebenssituation von UMF aus theoretischer Perspektive rahmt und die vielfältigen Dimensionen ihrer Lebenswirklichkeit sichtbar macht. Im Anschluss an dieBegriffsbestimmung folgt eine schwerpunktmäßige Betrachtung ihrer Aufwachs-bedingungen im Rahmen von heterogenen Sozialisationskontexten (Kap. 2). Im dritten Kapitel wird die rechtliche Position dargestellt, diegroßen Einfluss auf die Lebenssituation der UMF im Rahmen der stationären Jugendhilfe nimmt. Im zweiten Teilbereich (Kap. 4-5) erfolgt die empirische Untersuchung. Zunächst wird in Kap. 4 das methodische Vorgehen vorgestellt, bevor anschließend die Befragungen der direkt und indirekt Betroffenen in dem Herzstück der Arbeit (Kap. 5) dargestellt werden. Dabei wird ein besonderer Fokus auf die Erfahrungen und Perspektiven von drei UMF gelegt. Ergänzend werden zwei weitere Interviews mit in dieser Institution angestellten Experten berücksichtigt, die die Zufriedenheit der Betroffenen aus einer zusätzlichen Perspektive beleuchten. Die betreffenden Ausschnitte münden schließlich in eine Diskussion und Reflexion der Ergebnisse, die sich mit einer möglichen Optimierung ihrer Lebenssituation beschäftigt. Die Arbeit schließt mit einem Fazit und einem Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen.
2 Begriffsklärung und thematische Hinführung
2.1 Begriffsklärung
Im Folgenden wird eine Definition zweier terminologischer Grundlagen der Arbeit vorgenommen, wobei sich einleitend auf die Definition des UMF konzentriert wird. Im Anschluss erfolgt eine Abgrenzung und Beschreibung des zentralen Begriffes der Lebenssituation.
2.1.1 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Die Bezeichnung des UMF wird zwar vordergründig im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe verwendet, stützt sich aber im weiteren Zusammenhang auf internationale Rahmenbedingungen und Schutzabkommen (wie bspw. dem Haager Minderjährigenschutzabkommen und der UN-Kinderrechtskonvention), denen die Bundesrepublik beigetreten ist (vgl. Stauf 2012: 15). Im Folgenden werden die drei einzelnen Elemente beleuchtet.
unbegleitet:
- Als unbegleitet gelten alle minderjährigen Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Personensorge- oder Erziehungsberechtigten (§ 7 Abs. 1 Nr. 5 und 6 SGB VIII) in das Bundesgebiet einreisen oder nach der Einreise getrennt werden und bei denen davon auszugehen ist, dass die Trennung von Dauer ist und die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten aufgrund einer räumlichen Distanz nicht in der Lage sind, für den Minderjährigen zu sorgen (vgl. BAG Landesjugendämter 2014: 7).
- Ein möglicherweise über Internet bestehender Kontakt zu den Eltern, z. B. via Skype ist für den Tatbestand einer begleiteten Einreise lt. dem Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen nicht hinreichend (vgl. 2015: 5).
- Minderjährige gelten auch dann als unbegleitet, wenn sie sich in Begleitung von Familienmitgliedern (z. B. Onkel oder Tante) befinden, die nach dem deutschen Recht keine gültige Vollmacht vorweisen können (vgl. MFKJKS 2015: 16). In diesem Fall gilt unter vorrangiger Berücksichtigung des Kindeswohls ein spezielles Verfahren bei der Zuweisung, wobei im Zweifelsfall davon auszugehen ist, dass der Minderjährige unbegleitet ist (vgl. ebd.: 5, 16).
- Reist ein Minderjähriger unbegleitet nach Deutschland und wird dann bei Familien-angehörigen bzw. Verwandten aufgenommen, die auch die Vormundschaft ausüben, gilt er ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als unbegleitet (vgl. BAMF 2009: 13).
minderj ährig:
- Als minderjährig gilt jede Person, die noch nicht 18 Jahre alt ist und damit jedes Kind und jeder Jugendliche (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII).
- Nicht berücksichtigt bleibt dabei der Umstand, dass in einigen Ländern (bspw. in Ägypten, Kenia und der Elfenbeinküste) die Volljährigkeit erst mit 21 Jahren eintritt. In diesem Fall richtet sich die Volljährigkeit der UMF nicht nach dem deutschen Recht, sondern nach dem Recht des Herkunftslandes (vgl. Flüchtlingsrat NRW 2016: 1).
- Seit dem 1. November 2015 gelten UMF (auch wenn sie das 16. Lebensjahr vollendet haben) nicht mehr eigenständig verfahrensfähig im Rahmen des AufenthG und AsylG (vgl. MFKJKS 2015: 3). Sie können seitdem nicht mehr selbstständig einen Asylantrag stellen. Unterschiedliche Rechtsauffassungen gibt es hinsichtlich dessen, ob das Jugendamt für die UMF während der vorläufigen oder der regulären Inobhutnahme dazu berechtigt ist, dies für sie zu übernehmen (vgl. MFKJKS 2015: 3).
Flüchtling:
- Der Begriff Flüchtling bezieht sich vornehmlich auf die Definition nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK 2011 [1951/1967]):
Flüchtling ist, wer aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will. (Artikel 1 A, Abs. 2)
- Bei den UMF wird der Flüchtlingsbegriff generell jedoch ebenso auf die minderjährigen Personen angewandt, die den Status des Flüchtlings anstreben oder die nicht die Voraussetzungen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK 2011 [1951/1967]) erfüllen und nach erfolgter Prüfung durch das Bundesamt für Migration keinen Flüchtlingsschutz für sich in Anspruch nehmen können (vgl. BAG Landesjugendämter 2014: 7). Aus rechtlicher Perspektive handelt es sich de facto erst einmal um unbegleitete minderjährige Schutzsuchende.
- Der Begriff UMF umfasst insofern unbegleitete einreisende Kinder bzw. Jugendliche aus Nicht-EU-Staaten, die entweder Asyl suchen, keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Verfahren eingestellt bzw. abgeschlossen wurde. Wird im weiteren Verlauf der Arbeit der aufenthaltsrechtliche Status explizit von Interesse, wird dieser entsprechend differenziert.
2.1.2 Lebenssituation
Der hier verwendete Ausdruck der Lebenssituation umschreibt die alltägliche Lebenswelt der UMF im Rahmen der betrachteten Clearingeinrichtung in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht. Die Akteure werden dabei nicht als homogene Flüchtlingsgruppe betrachtet (Breithecker & Freesemann 2011: 39), wenngleich angenommen werden kann, dass ihre aktuellen Lebenssituationen in der betrachteten Clearingeinrichtung (in der Mittelstadt X) bis zu einem gewissen Grad miteinander vergleichbar sind. Alle betrachteten UMF sind zudem männlich, befinden sich im Alter der Adoleszenz und haben z. T. ähnliche Erfahrungen in ihren Herkunftsländern erlebt. Diese Erfahrungen wirken sich, gemeinsam mit den äußeren Umständen im Aufnahmeland (z. B. in Form von rechtlichen Restriktionen) prägend auf ihre jeweilige Lebenssituation aus. Darüber hinaus haben sie jedoch alle unterschiedliche Biografien und individuelle Ressourcen, wie bspw. eine gute Schulbildung oder Kompetenzen in alltagspraktischen Dingen (vgl. Breithecker & Freesemann 2011: 37ff.).
Der Begriff der Lebenssituation wird in der vorliegenden Arbeit als ein temporärer Ausschnitt des Begriffes der Lebenslage in Anlehnung Weißer (1978) verwendet. In seinem gesellschaftspolitisch-soziologischen Ansatz ging er davon aus, dass sich die Lebenslage einer Person oder Gruppe nicht einzig durch ihre sozioökonomischen Variablen (wie Einkommen, Berufsposition, Wohnumfeld) bestimmen lassen. Es sollten vielfältigere Dimension genutzt werden, wie bspw. die soziale Position, der Gesundheitszustand oder die Familien- und Bildungssituation. Daher plädierte er dafür, bei der Untersuchung einer Lebenslage immer mehrere Lebensbereiche mit einzubeziehen. Diese sollen hinsichtlich der äußeren Umstände und ihres Spielraumes betrachtet werden, die sie dem Menschen für die Erfüllung seiner Grundanliegen bieten. Ein Handlungsspielraum kann dabei als eine begrenzte jedoch auch beeinflussbare Dimension betrachtet werden, in der es letztlich um die Qualität der Chance geht, zu Wohlbefinden zu gelangen. Nach Weißers soziologischem Verständnis werden dabei alle Handlungsweisen durchweg gesellschaftlich rückgekoppelt, sodass jegliches soziales Handeln immer in sozial vorstrukturierte Bezüge eingebunden ist und damit konträr zu der Illusion des freien Willens geschieht.
2.2 Migration und Fluchtmotive
Es gibt eine Vielzahl individueller Gründe, weshalb Kinder und Jugendliche ihre Heimat verlassen und häufig treffen diese ebenso auf Erwachsene zu. Sie fliehen vor Kriegen, militärischen Konflikten, Unruhen, vor Armut oder Naturkatastrophen, die ihnen und ihrer Familie die Existenz genommen haben (vgl. BAMF 2009: 19). Ebenso kann ihre Religionszugehörigkeit, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe oder die Beteiligung an politischen Aktivitäten der Auslöser für ihre Flucht sein (vgl. Hargasser 2015: 88). Viele Kinder und Jugendliche haben in ihrem Herkunftsland Tod, Folter oder Verfolgung von Familienmitgliedern miterlebt oder begeben sich auf die Flucht, weil sie Angst vor Sklaverei in Form von körperlicher und sexueller Ausbeutung haben (vgl. Rieger 2010: 21). Sie flüchten vor den Konsequenzen von Wehrdienstverweigerung oder einer drohenden Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2015: 1). Bei Mädchen oder weiblichen Jugendlichen liegen die Fluchtursachen oftmals in einer drohenden Genitalverstümmelung, Zwangsheirat oder sexuellem Missbrauchs begründet (vgl. ebd.). Zuweilen kann es auch sein, dass sie sich zunächst gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern auf die Flucht begeben und sie dann durch Schleuser von ihrer Familie getrennt werden (vgl. BAMF 2009: 19; BAMF 2014a: 1). Dass auch schon Kleinkinder in den Statistiken der UMF auftauchen, lässt vermuten, dass es auch Fälle gibt, in denen ein Elternteil (oder beide Erziehungsberechtigte) auf der Flucht ums Leben kommen ist (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2015: 1).
Teil mancher kindlichen Biographien ist es ebenso, dass Familien ein - meist männliches - Kind auswählen, um dieses als Arbeitsmigrant mit der Erwartung nach Europa schicken, dass es Geld verdient. Sie fordern, dass ihnen das Schleppergeld möglichst zügig zurückgezahlt wird und die sie darüber hinaus finanzielle Unterstützung erhalten (vgl. Dieckhoff 2010: 19). Andere Familien schicken ihr Kind als Ankerkind mit der Hoffnung los, dass es als Flüchtling anerkannt und ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht im Sinne des subsidiären Schutzes gewährt wird, was ihnen als Eltern und Erziehungsberechtigten die Möglichkeit des Nachzuges eröffnen würde (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2015: 1).
Eine vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) angestoßene Feldstudie in Afghanistan stellte fest, dass die Ursachen einer Flucht multifaktoriell begründet sind.Zumeist entscheiden sich die Kinder und Jugendlichen jedoch nicht allein für eine Flucht, sondern es werden Ersparnisse einer Großfamilie zusammengelegt oder Kredite aufgenommen, um einen Heranwachsenden auf die Reise nach Europa schicken zu können.(vgl. Echavez et al. 2014: 4) Z. T. bleiben UMF ebenso bei dem Entscheidungsprozess hinsichtlich des Zieles uninformiert, was zu dem Problem führt, dass sie dies im Asylverfahren nicht hinreichend begründen können (vgl. BAMF 2014a: 1). Nicht selten bekommen sie von ihren Familien oder Schleppern Anleitungen, wie sie sich verhalten sollen, was sie sagen oder an welcher Stelle sie unbedingt schweigen sollen (vgl. Dieckhoff 2010: 8). Hinzu kommt die Unwissenheit über die Konsequenzen wenn sie sich nicht an ihre Anleitungen halten.
Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass UMF i. d. R. kein Visum oder gültiges Ausweisdokument bei sich führen, was dazu führt, dass sie erste Schwierigkeiten im Umgang mit den deutschen Behörden bei ihrer Grenzüberschreitung haben können. Da ihre Einreise in die Bundesrepublik rein rechtlich betrachtet irregulär ist, ist die Grenzschutz-behörde grundsätzlich dazu verpflichtet ihre Einreise zu verhindern, es sei denn die Minderjährigen weisen darauf hin, dass sie in Deutschland Schutz suchen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2015: 1).
2.3 Größenordnung und Herkunft
Die Zahl der UMF in Deutschland muss differenziert betrachtet werden, da sie im Ausländerzentralregister nicht gesondert erfasst werden. Demnach beruhen die Daten häufig auf den eingereisten UMF, die entweder einen Asylantrag gestellt haben oder auf denjenigen, die in Obhut genommen wurden. (vgl. Stauf 2012: 48) Allerdings ist weder die Zahl der gestellten Asylanträge der UMF aussagekräftig, da die Mehrzahl der in Obhut genommenen Minderjährigen darauf verzichtet einen Asylantrag zu stellen. Noch sind die Daten der in Obhut genommen UMF hinreichend, da viele keine gültigen Ausweisdokumente vorweisen können oder sie ihr Alter (aus Perspektive des Asyl- und Aufenthaltsrechtes) bewusst zu niedrig angeben, da sie von der engmaschigen Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe profitieren möchten. Der Hamburger Senat spricht davon, dass rund 45 Prozent der Flüchtlinge ein jüngeres Alter angeben, sie dann aber nach (teils fragwürdigen) Altersfeststellungen nicht länger als Minderjährige gelten und wieder rasch aus der Obhut der Kinder- und Jugendhilfe herausfallen. (vgl. Lau 2016: 2) Hinzu kommen Fälle, wo UMF nach ihrer Registrierung und Inobhutnahme wieder untertauchen (vgl. BumF 2016: 1) oder Mehrfachnennungen derselben Person erfolgen (vgl. BAMF 2014c: 29). Vor diesem Hintergrund wird bezweifelt, dass die Zu- und Abgänge detailliert in den Datenbanken festgehalten werden.
Grundlage der nachfolgend bezifferten Inobhutnahmen von UMF aus dem Ausland stellen die Daten des Statistischen Bundesamtes (vgl. 2016) dar. Die Quellen des BAMF (2010-2013: vgl. 2014c: 21; 2014: vgl. 2015a: 23; 2015: vgl. 2016a: 20) lieferten ergänzend Zahlen zu den UMF, die in den Jahren von 2010-2015 einen Asylerstantrag stellten (siehe Abb. 1). Deutlich wird der enorme Anstieg der Inobhutnahmen, sowie der Asylerstanträge in 2015 im Vergleich zum Vorjahr. Waren es im Jahr 2014 11.642 Inobhutnahmen (vgl. Statistsisches Bundesamt 2016) und 4.399 Asylerstanträge (vgl. BAMF 2015a: 23), die gestellt worden, stiegen diese 2015 um jeweils über 300% (vgl. BAMF 2016a: 20). Werden alle Asylsuchenden im Jahr 2014 betrachtet, waren 31,8 % davon Kinder und 2,6 % UMF (vgl. BT-Drs.18/7248).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Inobhutnahmen von UMF im Vergleich zu den von ihnen gestellten Asylerstanträgen in den Jahren 2010-2015
Quelle: eigene Darstellung auf der Basis des Statistischen Bundesamtes (2016) und BAMF (2014c: 21; 2015a: 23; 2016a: 20).
Zur geographischen Herkunft der UMF, die 2014 und 2015 einen Asylerstantrag gestellt haben, kann gesagt werden, dass jeweils mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen aus Afghanistan, Syrien und Eritrea kamen (vgl. BAMF 2015a: 23; BAMF 2016a: 20) (siehe Abb. 2 und 3). Dabei hat sich im Jahr 2015 insbesondere die Zahl der Antragsteller aus Syrien exponentiell erhöht.
2014
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: UMF nach Herkunftsländern im Jahr 2014
Quelle: BAMF (2015a: 23); leicht modifiziert.
2015
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: UMF nach Herkunftsländern im Jahr 2015
Quelle: BAMF (2016a: 20); leicht modifiziert.
Wird das Jahr 2014 betrachtet und ein Vergleich zwischen den Herkunftsländern der UMF, die in Obhut genommenen wurden und denjenigen angestellt, die einen Asylerstantrag gestellt haben, so fällt auf, dass die jeweiligen Länder in etwa gleich stark vertreten sind. Da in Afghanistan, Eritrea, Syrien und Somalia menschenrechtliche Verletzungen der Tagesordnung angehören, ist die Schutzgewährung der UMF aus diesen Gebieten entsprechend hoch. Demnach lagen bspw. die Schutzquoten für UMF aus Eritrea bei 98,4% und aus Syrien bei 98,9% (vgl. BAMF 2015a: 23; BAMF 2016a: 20), während die Gesamtschutzquote aller Herkunftsländer im selben Jahr bei 73,1 % lag. (vgl. BAMF 2015c: 2f)
2.4 Herausforderungen und Belastungen der Adoleszenz im Kontext von Migration
Die meisten UMF, die Deutschland erreichen, sind zwischen 15 und 17 Jahre alt. Damit befinden sie sich in der Phase der Adoleszenz, die als eine kritische, vulnerable Entwicklungsphase bezeichnet wird. Dieser physiologische, emotionale und psychische Reifungsprozess wird auch ohne eine Flucht- bzw. Migrationserfahrung als anspruchsvoll bezeichnet. (vgl. Hargasser 2015: 104) Für Jugendliche westlicher Industrienationen stellt diese Altersspanne auf Basis ihres gesamten Lebenslaufes eine Phase dar, in der sie den meisten Gefährdungen ausgesetzt sind. Die Suizidrate ist während dieser Phase hoch (vgl. Wunderlich 2004: 7).
Die UMF erfahren in dieser Phase des Erwachsenwerdens zusätzlich potentiell traumatische Erlebnisse. Ihre Flucht kombiniert mit der abrupten Trennung der Familie und dem Verlust des sozialen und kulturellen Umfeldes stellt für Kinder und Jugendliche eine befremdende Situation dar. Während ihrer Migrationsphase sind sie i. d. R. auf sich allein gestellt und mit komplexen Herausforderungen konfrontiert. Sie befinden sich in Abhängigkeit von Fluchthelfern und Schlepperorganisationen und erfahren nicht selten gewalttätige Übergriffe. In der Aufnahmegesellschaft treffen die UMF auf eine neue Kultur, eine neue Sprache und möglicherweise ein anderes Schriftbild. (vgl. Hargasser 2015: 104) Ihre Migration oder Flucht hinterlässt vielfach Brüche im Lebenslauf und birgt somit die Gefahr, dass die UMF sich häufig - entgegen der Erwartungshaltung - nicht zeitnah in die Gesellschaft integrieren können (vgl. Lanfranchi 2010:127).
In der Aufnahmegesellschaft werden sie mit Rollenverständnissen von Männern und Frauen konfrontiert, die nicht an ihre gewohnten Traditionen, Werte und Gewohnheiten anknüpfen (vgl. Kilian & Zito 2013: 244). Es existieren häufig andere Betrachtungsweisen von der Lebensphase der Adoleszenz als in den Herkunftsländern der Jugendlichen, sodass ihre bis dato inkorporierten Fähigkeiten und Problemlösungsfähigkeiten in Frage gestellt werden, was mit einer tiefen Verunsicherung der Jugendlichen einhergehen kann (vgl. Lanfranchi 2010: 127). Mit den Erziehungs- bzw. Sozialisationsstrategien im Herkunftsland sind kulturelle Muster des Aufwachsens verbunden, womit die von klein auf vermittelten Werte und Normen von denen in Deutschland abweichen können. Bspw. können Kinder je nach gesellschaftlichem und kulturellem Kontext in der Form sozialisiert werden, dass sie nach psychologischer Autonomie und Eigenständigkeit streben (distales Verhalten) oder eher die Verbundenheit und die soziale Eingliederung in die hierarchische Ordnung (proximales Verhalten) suchen. (vgl. Keller 2011: 157ff.)
Vor diesem Hintergrund wird den UMF im Aufnahmeland abverlangt, Entwicklungsaufgaben im Sinne einer doppelten Adoleszenz zu vollbringen. Einerseits müssen sie sich von ihrer kulturellen und sozialen Herkunftswelt trennen, sich mit den betreffenden Äquivalenzen des Aufnahmelandes vertraut machen und eine Selbstpositionierung realisieren. Andererseits müssen sie, wie alle anderen Jugendlichen auch, Entwicklungsaufgaben lösen, die zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen angesiedelt sind. (vgl. Herwartz-Emden et al. 2010: 67) Havighurst (1953) bezifferte dabei acht wesentliche Entwicklungsaufgaben, wie bspw. die Ablösung vom Elternhaus, Integration in die Peer Group, Vorbereitung auf Beruf und Familie sowie Ausprägung eines neuen Bewusstseins zum eigenen Körper.
Werden die generellen Entwicklungsaufgaben im Zusammenhang mit dem Geschlecht betrachtet, bestehen charakteristische Unterschiede hinsichtlich der verwendeten Bewälti-gungskompetenzen bei heranwachsenden Männern und Frauen.Jungen verfügen tendenziell nicht über gleichermaßen ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten wie das gleichaltrige weibliche Geschlecht. (vgl. Herwartz-Emden et al. 2010: 64) Sie greifen in ausgeprägterem Maße auf exteriorisierende Verhaltensweisen zurück, während Mädchen eher interiorisierende Verhaltensweisen praktizieren (vgl. Raithel 2011: 106). Dies äußert sich auch in ihrem Risikoverhalten. Für Jungen haben sich dabei Erfahrungen von Körpergrenzen durch Gewalt als funktional erwiesen, wie auch Strategien der Abhärtung, Schmerz- und Extremerlebnisse (vgl. Helferrich 2001). Erfahrungen kultureller Andersartigkeit überlagern dabei die geschlechtsspezifischen Entwicklungsaufgaben. Von daher muss ein fremdartiges Aussehen, Diskriminierung aufgrund von Kleidung und Sprachgebrauch und die daraus resultierende fehlende Anerkennung zusätzlich verarbeitet werden. Hinzu kommt, dass insbesondere junge Männer mit Migrationshintergrund im öffentlichen Raum häufiger mit Abwertungen konfrontiert sind, da ihnen bspw. nicht selten von Türstehern an Diskotheken der Eintritt verwehrt wird. Formen von Diskriminierung erwidern sie in der Form, dass sie gemessen an weiblichen Jugendlichen, häufiger mit nach außen gerichteten Gegenbewegungen und aggressiverem Verhalten reagieren. (vgl. Herwartz-Emden et al. 2010: 68f.)In der Aufnahmegesellschaft werden die männlichen Jugendlichen allgegenwärtig mit einer Norm von Männlichkeit konfrontiert, die different zu ihrer eigenen ist und damit gleichermaßen ihre Form von Männlichkeit negativ konnotiert. Ihnen wird ein Portrait von überlegener Männlichkeit präsentiert, welches den Großteil von Männern und insbesondere Minderheiten ausschließt. Die überlegene bzw. hegemoniale[2] Männlichkeit ist eines von vier Männlichkeitsmustern[3], welches auf der höchsten Hierarchieebene angesiedelt ist und sich durch hohes ökonomisches und soziales Kapital auszeichnet (vgl. Connel 2015: 129-134). Angehörige von Minderheiten erreichen nur in äußerst seltenen Fällen jene Macht und den gesellschaftlichen Status (vgl. Herwartz-Emden et al. 2010: 70). Dies in Kombination mit wenig Perspektiven macht die unteren sozialen Schichten und die männlichen Migrantenjugendlichen anfällig, Gewalt als Mittel ihrer eingeschränkten Möglichkeiten[4] zu nutzen, sich als überlegen und männlich zu präsentieren (vgl. Herwartz-Emden et al. 2010: 70).
2.5 Gefahr der Posttraumatischen Belastungsstörung
Die BAG der Landesjugendämter (vgl. 2014: 24) konstatieren in ihren Handlungs-empfehlungen zum Umgang mit UMF, dass die Minderjährigen aufgrund ihrer mehrheitlich traumatischen Erlebnisse unter einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden können. Dabei stützen sie sich auf viele wissenschaftliche Studien. Bspw. haben die Forscher von REFUGIO München (vgl. 2010: 1ff.) von September 2009 bis August 2010 59 unbegleitete Jugendliche in einer Erstaufnahmeeinrichtung in München befragt und nach den Kriterien von ICD-10 (International Classification of Diseases) diagnostiziert. Dieses Klassifikationssystem verfügt dabei über eine gesonderte Kategorie für Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) (vgl. Ehlers 1999: 3). Die Studie kam dabei zu dem Ergebnis, dass 12 % der diagnostizierten Jugendlichen unter einer akuten Belastungsstörung (F43.0) litten und 62,7% unter einer PTBS (F43.1). 20% erfüllten die Kriterien einer PTBS nicht und bei den restlichen war die Datenlage für eine Diagnostik nicht ausreichend. Bedeutend war das Ergebnis dahingehend, dass die Mehrheit der befragten Jugendlichen sogar mehrere Traumata erlebt hatten. (vgl. REFUGIO München 2010: 1ff.)Eine Studie in den Niederlanden kam zu dem Ergebnis, dass die von ihnen untersuchten UMF viermal so viele Traumaerlebnisse erfahren haben wie die von ihnen untersuchten begleiteten minderjährigen Flüchtlinge (vgl. Pinto Wiese & Burhorst 2007 zit. in Hargasser 2015: 95f.).
Angenommen bei einer PTBS wird, dass die Symptome psychischer Art als direkte Folge der akuten schweren Belastung oder des kontinuierlichen Traumas eintreten und ohne den Kausalfaktor bzw. das belastende Ereignis, die Störung nicht entstanden wäre. Charakteristisches Symptom einer PTBS ist das Wiedererleben des Traumas mitsamt der gleichen sensorischen Empfindungen und körperlichen Reaktionen, wie die Betroffenen es während des Traumas erlebt haben. (vgl. Ehlers 1999: 3) Jene Symptomatik nach erschütternden Erlebnissen äußert sich unabhängig vom soziokulturellen Kontext der Betroffenen (vgl. Meier 2010: 171). Die starken körperlichen Reaktionen führen dazu, dass Personen oder Situation, die an die traumatischen Erfahrungen erinnern, gemieden werden (vgl. Ehlers 1999: 4). Die Betroffenen versuchen ihre Erinnerungen zu unterdrücken, verfallen ins Grübeln und überlegen, wie die traumatische Situation zustande kam, wie sie hätte verhindert werden können und mit welcher Konsequenz das Geschehene nun ihr weiteres Leben beeinträchtigt. Dabei empfinden sie starke Emotionen, die von hochgradiger Furcht, über Ärger, Schuld und Trauer bis hin zu emotionaler Taubheit reichen können. Auf der anderen Seite sind sie leicht reizbar, unruhig, schreckhaft und leiden unter Konzentrations- und Schlafstörungen. (vgl. Ehlers 1999: 4) Die Wahrscheinlichkeit, dass emotionale Probleme oder Entwicklungsstörungen auftreten, ist beim weiblichen Geschlecht oder bei Minderjährigen, die mehrere traumatische Erfahrungen durchlebt haben, besonders hoch (vgl. Hargasser 2015: 96).
Der unsichere Aufenthaltsstatus der jungen Flüchtlinge verschärft ihre psychische Belastung zusätzlich. Die BAG der Landesjugendämter (vgl. 2014: 24) empfiehlt jedoch, den Kindern bzw. Jugendlichen erst dann eine psychotherapeutische Unterstützung anzubieten, wenn sie mehr Sicherheit in Bezug auf den Aufenthaltsstatus und die Wohnsituation gewonnen haben. Dies wird damit begründet, dass es ihnen häufig erst dann möglich ist, sich auf eine Therapie einzulassen. Die Ausnahme bilden Traumatisierungen in Form von fremd- und/ oder selbstverletzenden Verhaltensweisen, die eine möglichst zeitnahe psychische Behandlung nach sich ziehen sollen. Allerdings kann eine psychologische Begleitung initiiert werden, die bei der Stabilisierung der Psyche unterstützend wirkt (vgl. BAG Landesjugendämter 2014: 24). Zu bedenken bleibt bei dieser Vorgehensweise, dass sich die psychischen Belastungen bei Flüchtlingen verschärfen, je länger sie bspw. unter ungünstigen Bedingungen in Aufnahmeeinrichtungen verweilen und unter einem unsicheren Aufenthaltsstatus leiden (vgl. Kilian & Zito 2013: 246). Da die Aufnahmephase und die Gestaltung der Inobhutnahme einen erheblichen Einfluss auf die weitere psychische Entwicklung der UMF haben, erhalten Qualitätsstandards in den vorläufigen und regulären Inobhutnahme- Einrichtungen eine besondere Relevanz.
2.6 Resilienz
Neben den soeben genannten psychosozial begründeten Risikofaktoren und der vorangegangenen Defizitorientierung darf nicht vergessen werden, dass es sich bei den UMF um kompetente, aktiv handelnde Heranwachsende handelt. Sie haben schwierige Situationen erlebt und erfolgreich bewältigt, sodass man davon ausgehen kann, dass sie über verschiedene Bewältigungsstrategien verfügen, um mit verschiedenen Herausforderungen ihres Lebens umzugehen. Sie ausschließlich auf ihre Verletzlichkeit und ihr Schutzbedürfnis zu reduzieren und sie als Opfer zu definieren, wäre zu kurz gegriffen.
Bei der genauen Definition des Begriffes Resilienz ist sich die Wissenschaft uneinig. Beispielsweisenimmt Murphy (1974 zit. in. Welter-Enderlin 2010: 9) in seiner Begriffsbestimmung Bezug auf das resiliente Kind, welches in jedem Menschen angelegt sei. Murphy erfasst Resilienz mit den Worten „ something underneath“, was mit einmaligen, persönlichen Stärken umschrieben werden kann, von denen resiliente Menschen Gebrauch machen, um mit Erschwernissen physischer, psychischer oder sozialer Art umgehen zu können (vgl. ebd.: 11). Eine aktuellere Definition vor dem Hintergrund von Migration und Flucht liefert Lanfranchi (2010: 134):
Resilienz als relationales Konstrukt ist die Aufrechterhaltung der biopsychosozialen Gesundheit trotz hoher Störungsrisiken, die Entwicklung von Kompetenz unter aktueller Belastung, die Fähigkeit, sich von Traumata zu erholen und sich trotz Stress erfolgreich in der Gesellschaft zu integrieren.
Je mehr Risikofaktoren dabei zusammenwirken, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese gegenseitig aufschaukeln und sich die bio-psycho-soziale Gesundheit eines Menschen auf einem Kontinuum zwischen gesund und krank in Richtung des Pols krank verschiebt. Gleiches gilt für die Schutzfaktoren in umgekehrter Weise, denn je mehr Schutzfaktoren einem Menschen zur Verfügung stehen, desto höher ist die Wahr-scheinlichkeit, dass er kritische Lebensumstände positiv bewältigen und Erfahrungen machen kann, auf die er später bei einer erneuten Herausforderungen zurückgreifen kann. (vgl. Hartung 2008: 140f.) Schutzfaktoren setzen sich dabei aus individuellen (positiven Eigenschaften), umweltbedingten (harmonisches Umfeld) und familiären Merkmalen (gute Bindung zu Bezugspersonen) zusammen und können mit dem Ziel vermehrt werden, dass sich die Widerstandskraft und Resilienzfähigkeit des Einzelnen erhöht (vgl. Lanfranchi 2010: 134). Förderlich für den Aufbau von Resilienz sind konkret eine hohe Intelligenz, positive Erfahrungen, stabile Beziehungen sowie ein soziales Netzwerk (vgl. Hartung 2008: 142f).
Dies impliziert, dass Resilienz nicht einem genetischem Modell gleicht und vererbt werden kann, sondern dass es sich um persönliche Ressourcen handelt, die in der Auseinandersetzung mit der Umwelt und in der Interaktion mit anderen Menschen über das gesamte Leben hinweg entwickelt werden können. Aufgrund der Fähigkeit jedes Menschen, im Laufe seines Lebens immer wieder neue positive sowie negative Erfahrungen zu machen, verändert sich seine Fähigkeit von Resilienz stetig, sodass diese ihm jedoch auch gänzlich verloren gehen kann (vgl. Lösel & Bender 2008 zit. in Fröhlich-Gildhoff & Rönau-Böse 2009: 10).
Godman (2004 zit. in Hargasser 2015: 102) interviewte 14 sudanesische unbegleitete Jugendliche in den USA und erkannte im Wesentlichen vier Bewältigungsstrategien:
- Fokus auf Kollektivität und das gemeinschaftsbezogene Selbst
- Verdrängung und Ablenkung
- Sinngebung
- aus der Hoffnungslosigkeit wieder in den Zustand der Hoffnung kommen.
Eine weitere qualitative Studie von Ni Raghallaigh und Gilligan (2010: 226 zit. in Hargasser 2015: 103) kam zu dem Ergebnis, dass die interviewten UMF aus einer Vielzahl von Bewältigungsstrategien Gebrauch machten, abhängig davon, welche sie in einer bestimmten Situation als sinnvoll erachteten:
- Die Sicherstellung von Kontinuität in einem veränderten Kontext
- Anpassung durch Lernen und Verändern
- Die Annahme eines positiven Ausblicks
- Das Unterdrücken von Emotionen und Suchen von Zerstreuung
- Unabhängiges Agieren
- Misstrauen
Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass religiöse Überzeugungen (vgl. Ni Raghallaigh und Gilligan 2010: 234 zit. in Hargasser 2015: 103) und bewusst eingesetzte Sportmaßnahmen bei der Aufarbeitung von traumatischen Erfahrungen behilflich sein können (vgl. Meier 2010: 170). Zudem gilt die Schule als eine resilienzfördernde strukturgebende Institution, in der idealerweise kompetente Lehrer als emotional stützende Bezugspersonen agieren. Die Möglichkeit eine sichere Bindung eingehen zu können ist generell bei Kindern und Jugendlichen schützend, insbesondere für diejenigen, die sich im Rahmen eines unsicheren Aufenthaltsstatus bewegen. (Lanfranchi 2010: 119f.)
Allerdings sollte ein resilienzförderderndes Klima und die Stärkung der Jugendlichen auf individueller Ebene nicht von dem Aspekt ablenken, dass ihre Situation und damit auch ihre Symptome oftmals auch politischen und schulischen Rahmenbedingungen geschuldet sind. Aus diesem Grund müssen entsprechende Konzepte, die den Kindern Kontinuität und Zugehörigkeit vermitteln, in angemessenen Rahmenbedingungen (bspw. auf politischer und schulischer Ebene) verankert werden. Vordegründig sind dabei jedoch nicht einzelne Trainingsprogramme und erzieherische Maßnahmen gefragt, vielmehr geht es darum, den Heranwachsenden Möglichkeiten der (individuellen) Begegnung zu bieten (vgl. Lanfranchi 2010: 135).
2.7 Positionierung im deutschen Bildungsraum
Bildung ist ein universelles Grund- und Menschenrecht, welches in Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert ist. Ohne einen entsprechenden Bildungsabschluss gelingt generell keine erfolgreiche Positionierung im Beschäftigungssystem der deutschen Wissensgesellschaft[5]. Daher werden folgend die informellen Bildungskompetenzen der UMF (bspw. in Form ihrer Überlebensstrategien) außen vor gelassen, sodass der Begriff der Bildung im Sinne von Bourdieu als institutionalisiertes Kulturkapital verwendet wird. Dies meint Bildungskapital, dass anhand von formalen Bildungszertifikaten legitimiert wird, sodass es nicht ständig unter Beweiszwang steht. (Bourdieu 1997: 59f.) Der Zugang zu dieser Kapitalform in Form von Titeln ist eng an gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse[6] geknüpft (Bourdieu 1997: 59f.)
Die jugendlichen Flüchtlinge unterscheiden sich hinsichtlich ihres sozialen Status im Herkunftsland und den erworbenen Bildungsvoraussetzungen in Form ihres inkorporierten Kulturkapital (verinnerlichte Bildung) , welches in Sozialisationsprozessen in Familie und Schule erworben wird (vgl. Müller 2014: S. 53). Grundsätzlich kann ein positiver Wert dessen verzeichnet werden, wenn ein Kind innerhalb der schulischen Institution einen Vorteil aufgrund der familiär getätigten Investitionen vorweisen kann. Inkorporiertes Kulturkapital hat insofern einen exklusiven Wert, da es nicht für alle Familien (ganz gleich welcher Herkunft) darstellbar ist, ihren Kindern optimale Bildungsbedingungen zu bieten. (vgl. Bourdieu 1997: 65.) Zusätzlich variieren diese erzieherischen Handlungsabsichten auch je nach Gesellschaft und sozialer Klasse und werden sowohl bewusst als auch unbewusst praktiziert (vgl. ebd.: 57f.). Erreichen sie Deutschland, ist es abhängig ihres Milieus im Herkunftsland sowie ihres ggf. familiären Auftrages, ob sie möglichst schnell arbeiten möchten bzw. müssen, um Geld zu verdienen.
Bourdieu bezeichnet diese körperliche wie mentale, innere, wie äußere Grundhaltung als Habitus, der jeweils geprägt ist von den jeweils verinnerlichten gesellschaftlichen Strukturen und Sozialisationsprozessen der jeweiligen Klasse (vgl. Müller 2014: 39). Aufgrund der Einverleibung und Inkorporierung von gesellschaftlichen Strukturen entsteht lt. Bourdieu und Waquant (1996 zit. in Müller 2014: 38ff.) eine sozialisierte Subjektivität, die sich in einem System von Dispositionen niederschlägt und verschiedene Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata erzeugt. Der jeweilige Akteur bildet somit klassenspezifische Einstellungen aus, sodass alltägliches Handeln im Normalfall der Struktur angepasst und die Reproduktion der sozialen Ordnung gewährleistet wird. Im Rahmen der für sie neuen gesellschaftlichen Strukturen des Aufnahmelandes, können jedoch ihre Dispositionen nach und nach zu unterschiedlichen Handlungen führen. Dies wird damit begründet, dass sich der Habitusunaufhörlich ändert, jedoch nur ganz allmählich, da ihm ein gewisses Trägheitsmoment innewohnt. (Bourdieu & Waquant, 1996 zit. in Müller 2014: 38ff.)
Es kann einerseits angenommen werden, dass die Familien der UMF Mittel für eine gute Schulbildung ihrer Kinder im Herkunftsland zur Verfügung hatten, da sie i. d. R. auch viel Geld für ihre Flucht aufgewendet haben (vgl. Goddar 2015: 13). Andererseits verfügen viele UMF angesichts der prekären Situationen in den Herkunftsländern lediglich über eine bruchstückhafte Schulbiographie. Hinzu kommt ihre oftmals monate- oder jahrelange Flucht, die ihre Schulbiographie erneut unterbricht. In Deutschland angekommen ist es ihnen nahezu unmöglich, ihren schulischen Werdegang aufgrund fehlender Dokumente zu belegen. Das deutsche Schulsystem ist zudem oftmals nicht mit dem des Herkunftslandes zu vergleichen, sodass letztlich von einem unterschiedlichen Bildungsstand auszugehen ist (vgl. BAG Landesjugendämter 2014: 26). Für UMF, die nach Deutschland kommen, gilt in 14 von 16 Bundesländern die Schulpflicht, allerdings tritt diese Regel erst nach einer Wartefrist von drei (bzw. in Baden Württemberg sechs) Monaten nach Ankunft aus dem Ausland ein. In Sachsen und Sachsen-Anhalt wird den UMF hingegen nur das Recht gewährt, eine Schule zu besuchen. (vgl. Goddar 2015: 12) Das Schulbesuchsrecht unterscheidet sich von der Schulbesuchspflicht insofern, dass nur im Falle der Schulpflicht finanzielle Mittel für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf dem Schulweg sowie für Bücher und andere Lehrmittel zur Verfügung gestellt werden (vgl. BAMF 2009: 59).
Der Spracherwerb startet gewöhnlich in der Phase der Erstversorgung, sodass die ersten Sprachförderangebote schon fernab schulischer Einrichtungen angeboten werden. Durchgeführt werden diese entweder durch die stationäre KJHG oder durch auswärtige Akteure. (vgl. Stauf 2012: 42) Hinzu kommen verschiedene Formen von Willkommens- oder Sprachklassen, in dessen Rahmen die UMF nach ihrer Ankunft in Deutschland bestenfalls ein Jahr gemeinsam mit Gleichaltrigen unterrichtet werden können. In ländlichen Regionen, wo altersgleiche Klassen nicht zustande kommen und sich die Schulverbünde nicht zusammenschließen, wird entweder jahrgangsübergreifender oder gar kein Unterricht in dieser Form angeboten. (vgl. Goddar 2015: 12)
Insofern ist für die UMF neben der Nutzung der Sprachförderangebote eine Integration in die Regelschule sowie -klasse ein zentrales Ziel. Die Erreichung dessen hängt ebenso von den Bedingungen vor Ort sowie von den Kooperationen ab, die zwischen der Jugendhilfe und den schulischen Akteuren bestehen (vgl. Stauf 2012: 43). Die Herausforderungen bestehen insbesondere darin, dass den allgemeinbildenden Schulen häufig die Kapazitäten fehlen und sich die Verantwortlichen, häufig nicht mehr zuständig fühlen, wenn es um die Beschulung von 16 bis 17-jährigen Schuleinsteigern geht (vgl. Studnitz 2011: 4). Zudem endet die allgemeine Schulpflicht i. d. R. mit 18 Jahren, es sei denn, der junge Flüchtling befindet sich in Bayern, wo die Berufsschulpflicht im Jahr 2011 bis zum vollendeten 21. Lebensjahr ausgeweitet wurde (vgl. Goddar 2015: 12.). Vor dem Hintergrund, dass die berufsbildenden Schulen jedoch häufig nur zum Schul- oder Halbjahr aufnehmen und die Jugendlichen erst sprachliche Grundkenntnisse beherrschen müssen, bevor sie am Regelunterricht teilnehmen können, bleibt den meisten Jugendlichen nicht mehr allzu viel Zeit, von ihrem Recht auf Bildung Gebrauch zu machen. Hinzukommt, dass weder die allgemeinbildenden Schulen noch die Berufsschulen über inklusive Konzepte verfügen, sodass generell wenig Raum bleibt, auf die Bedürfnisse der UMF individuell einzugehen (vgl. Studnitz 2011: 4, 7).
Ebenso werden UMF häufig Opfer von Diskriminierung in Form einer klassenspezifischen Bildungsauslese der Lehrer (vgl. Bourdieu 1992). Diesekonnotieren - meist irrational - den Habitus der deutschen Mittelschicht positiv und drängen damit automatisch Minderheitsgruppen an den Rand. (vgl. Jungk 2014: 80) Die schulischen Quereinsteiger besuchen daher überwiegend Hauptschulen und verfügen in der Konsequenz über schlechtere Abschlussnoten als ihre Mitbewerber (vgl. BAMF 2009: 59). Sie schließen diese dann entweder mit niedrigeren Abschlüssen als gleichaltrige deutsche Jugendliche ab oder ganz ohne Abschluss (vgl. Ehring 2008: 78 zit. in BAMF 2009: 60). Da die Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems wenig ausgeprägt ist, erlangen diese Schüler auch schlechtere Berufe oder werden arbeitslos und bestätigen somit die These der sozial vererbten Lage (vgl. Reichwein 2010: 113). Zudem kommt erschwerend hinzu, dass bei gleichen Zensuren verschiedener Bewerber häufiger Kandidaten ohne Migrationshintergrund eingestellt werden (vgl. Wirtz 2013: 144). Für viele Heranwachsende ist auch der Übergang von schulischer zu beruflicher Ausbildung an Hindernisse gekoppelt, bspw. wenn sie einen Aufenthaltsstatus nachweisen, der sie lediglich duldet oder ihren Aufenthalt gestattet. Eine Duldung [AufenthG § 60 a Abs. (2)] ist eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung und dieser Status muss abhängig vom Kreis und Sachbearbeiter i. d. R. alle zwei bis drei Monate bei der Ausländerbehörde erneuert werden (vgl. Seckler 2015: 4). Dieses permanente Erleben von Unsicherheit in Bezug auf den Aufenthaltsstatus kann sich bei jungen Flüchtlingen negativ auf ihren Lernerfolg auswirken. Ebenso ist das Schriftstück der Duldung (was keinen Aufenthaltstitel darstellt) verbunden mit einer räumlichen Beschränkung (sog. Residenzpflicht), sodass ein vorgegebener Radius nur mittels Genehmigung der Ausländerbehörde verlassen werden darf. Mit Ausnahme von Bayern, Thüringen und Sachsen, die die Residenzpflicht auf ihren jeweiligen Regierungsbezirk eingegrenzt haben, haben alle übrigen Bundesländer die Residenzpflicht auf ihr jeweiliges Landesgebiet ausgeweitet. Befindet sich die Berufsschule oder der Ausbildungsbetrieb außerhalb des kritischen Radius, könnte dies zu Schwierigkeiten führen bzw. die Person schon vorab daran hindern, außerhalb der gestatteten Reichweite zu suchen. (vgl. Studnitz 2011: 3f) Ebenso wäre ein Arbeitgeber einem hohen Risiko ausgesetzt, würde er sich entscheiden, einen Ausbildungsplatz an eine Person ohne einen gesicherten Aufenthalt zu vergeben. Deshalb würde er sich tendenziell eher für einen Bewerber mit gesichertem Aufenthaltsstatus entscheiden. (vgl. ebd.: 3; BAMF 2009: 59)
Neben einer Vielzahl von Restriktionen gibt es jedoch auch einzelne Beispiele im Bereich der Bildungsförderung, die es UMF ermöglichen, ihre Ressourcen optimal zu nutzen. Wenn ein Jugendlicher ab 16 Jahren Glück hat, dann trifft er oder sie bspw. auf die SchlaU-Schule in München, eine staatliche anerkannte Ergänzungsschule, die schulanalogen Unterricht für UMF anbietet. Diese Initiative führte bspw. im Jahr 2010 85 Schüler- und Schülerinnen zum Schulabschluss, wobei alle Abgänger anschließend in Ausbildungen oder weiterführende Schulen vermittelt werden konnten. Das Interesse an den Plätzen ist mittlerweile weitaus höher als das Angebot des Vereins. (vgl. Müller 2010: 1) Derartige Angebote vorzuhalten müsste Aufgabe des Staates sein, um die Schulbildung aller Jugendlichen gleichermaßen (und spätestens seit der Rücknahme der Vorbehalte der UN- Kinderrechtskonvention im Jahr 2010)zu unterstützen (vgl. Kap. 3.1.2).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass den UMF zwar Bildungsmöglichkeiten durch den Schulbesuch in Deutschland eröffnet werden, jedoch zahlreiche strukturelle Restriktionen und Machtmechanismen in der Form zum Tragen kommen, dass höhere Bildungswege beschnitten werden. Langfristige Perspektiven beruhen daher (zum jetzigen Zeitpunkt) auf persönlichem Engagement in Kombination mit glücklichen Umständen.
3 Zwischenstaatliche und nationale Abkommen zum Schutz von Minderjährigen
3.1 Zwischenstaatliche Regelungen
Die Schutzabkommen für Flüchtlinge sind vielschichtig und für Laien oftmals nicht leichtverständlich. Alle in Deutschland lebenden UMF sind hauptsächlich durch fünf zwischenstaatliche Abkommen (Genfer Flüchtlingskonvention, Haager Minderjährigen-schutzabkommen, UN-Kinderrechtskonvention, Entschließung des Rates der Europäischen Union vom 26. Juni 1997 und die Dublin- III- Verordnung) geschützt (vgl. BAMF 2009:14ff.). Diese internationalen bzw. europäischen Regelungen gehen dabei dem nationalen Recht vor (vgl. BAG Landesjugendämter 2014: 8).
3.1.1 Die Genfer Flüchtlingskonvention
Der allgemein rechtliche Flüchtlingsschutz basiert auf der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951, die mittlerweile von über 140 Mitgliedsstaaten unterzeichnet worden ist (vgl. UNHCR 2015: 1). Im Rahmen der Regelungen wird zwar nicht detailliert auf UMF eingegangen, ihr rechtlicher Schutz ist jedoch inbegriffen, da die Regelungen alle Menschen betreffen. Ein zentrales Element der GFK ist Art. 3, der besagt, dass die beigetretenen Staaten sich dazu bereit erklären, Schutz zu gewähren ohne eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des Herkunftslandes oder der Religion des Flüchtlings vorzunehmen (vgl. UNHCR 2011: 4). In Art. 4 ist die konkrete Gleichstellung der Flüchtlinge mit den eigenen Staatsangehörigen in Bezug auf die Freiheit der Religionsausübung gesichert und Art. 16 ermöglicht dem Flüchtling einen freien Zugang zu den Gerichten (vgl. ebd.: 8). Darüber hinaus ist auch Art. 33 mit dem Non-Refoulement-Prinzip maßgeblich, da es ein Verbot der Aus- oder Zurückweisung des Flüchtlings bei Bedrohung seines Lebens oder seiner Freiheit vorschreibt (vgl. ebd.: 15).
3.1.2 Die UN-Kinderrechtskonvention
Bei der Bezeichnung der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) handelt es sich um ein Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Es ist das wichtigste internationale Menschenrechtsinstrumentarium für Kinder und wurde 1989 von den Vereinten Nationen verabschiedet. 1992 trat es in der BRD in Kraft, wobei darüber hinaus eine Vorbehaltsklausel abgegeben wurde. Diese wurde von zahlreichen Organisationen, Politikern und Experten mit der Begründung kritisiert, dass Deutschland ausländerrechtliche Verfahren vor dem Kindeswohl positioniere (vgl. Nickels 2004 zit. in BAMF 2009: 16). Die Forderung, die Vorbehaltsklausel zurückzunehmen wurde von Seiten der Bundesregierung 2008 mit der Begründung abgelehnt, dass ohne die Klausel die Gefahr bestünde, die KRK könne überinterpretiert werden (vgl. BAMF 2009: 8). 2010 wurde dieser Passus schließlich zurückgenommen, sodass die Konvention seitdem uneingeschränkt in Deutschland gilt (BAG Landesjugendämter 2014: 8). Rein rechtlich betrachtet müssten seitdem alle Minderjährigen unabhängig ihrer Herkunft und ihres Aufenthaltsstatus in Deutschland gleichgestellt sein, in der Praxis wird jedoch weiterhin differenziert.
Der charakteristische Artikel in der KRK ist Art. 3, demnach das Wohl des Kindesvorrangig zu berücksichtigen ist, unabhängig davon, ob dies in öffentlichen oder privaten Einrichtungen, in Gerichten, Behörden oder im Rahmen von Gesetzgebungsorganen geschieht (BAMF 2014a: 15). Ein wichtiger Punkt ist ebenso Art. 6, im Rahmen dessen die Vertragsstaaten anerkennen, dass jedes Kind ein angeborenes Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung hat (vgl. BAG Landesjugendämter 2014: 8). In Art. 10 wird festgehalten, dass Anträge auf Familienzusammenführung von Minderjährigen wohlwollend, human und beschleunigt bearbeiten werden müssen. Bedingung hierfür ist jedoch, dass der UMF einen anerkannten Flüchtlingsstatus in Deutschland vorweisen muss. Handelt es sich im Gegenteil bspw. um einen UMF, dem lediglich ein subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, gilt eine Aussetzung des Familiennachzugs auf europäischem Terrain für zwei Jahre. (BAMF 2009: 15). Diese Regelung widerspricht jedoch Art. 3 KRK, da die Aspekte des Kindeswohls zweitrangig bewertet bzw. nicht berücksichtigt werden. Zudem bezieht sich eine Familienzusammenführung lediglich auf Eltern und nicht auf Geschwister, sodass Eltern im Falle eines Nachzuges ihre weiteren Kinder im Herkunftsland zurücklassen müssten (vgl. BumF 2013: 19).
Auch bei der Entscheidung, wo und wie bspw. eine Familienzusammenführung stattfindet, muss lt. Art. 12 KRK das Interesse des Heranwachsenden entsprechend seines Alters und seiner Reife berücksichtigt werden, vorausgesetzt, dass das Kind oder der Jugendliche fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Anhörung müsste in sämtlichen die minderjährige Person berührenden Angelegenheiten entweder unmittelbar oder alternativ durch einen Vertreter geschehen. (BMFSFJ 2014: 15) Auch an dieser Stelle geht die Wissenschaft davon aus, dass das Interesse des Heranwachsenden nicht immer vorrangig gegenüber den ausländerrechtlichen Verfahren behandelt wird, zumal es auch ein bürokratisches Ziel ist, Kosten zu minimieren (vgl. BumF 2016: 1).
3.1.3 Das Haager Kinderschutzübereinkommen
Das Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern, kurz Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ), ist ein internationales Abkommen. Es wurde 1996 mit dem Ziel verabschiedet, einen grenzüberschreitenden Kinderschutz mit standardisierten Regelungen zu schaffen. Das Übereinkommen hat im Vergleich zu seinem Vorgänger nicht mehr vorrangig die Absicht, verschiedene rechtliche Systeme aneinander anpassen zu wollen, sondern orientiert sich schlicht vor dem Hintergrund der Kinderrechtskonvention (KRK) am Kindeswohl(vgl. Hargasser 2015: 61). Art. 11, Abs. 1 besagt dabei, dass die Behörden, in dessen Hoheitsgebiet sich die Kinder und Jugendlichen befinden, für ihre Schutzmaßnahmen zuständig sind, wobei Art. 15 Abs. 1 konkretisiert, dass die Vertragsstaaten verpflichtet sind, ihre eigenen Recht- und Verfahrensvorschriften anzuwenden (vgl. HCCH 1996: 4f.).
3.1.4 Die Entschließung des Rates der Europäischen Union
1997 hat der Rat der EU für UMF aus Drittstaaten gemeinsame Standards hinsichtlich der Bereiche der Einreise, des Aufenthalts, der Unterbringung, Betreuung und Versorgung, des Asylverfahrens sowie der Rückführung verabschiedet. Bspw. zählt dazu, dass UMF an der gesamten sozialen Infrastruktur teilhaben. (vgl. BAMF 2009: 16) In welchem Umfang ihnen jedoch in der Praxis Teilhabe gewährt wird, ist von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status abhängig. Unterschieden werden dabei Leistungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), Leistungen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und Leistungen, die sich an beiden Richtlinien orientieren. (vgl. ebd.: 55)
3.1.5 Die Dublin III-Verordnung
Das Dubliner Übereinkommen regelt, welcher Mitgliedsstaat der EU für die Prüfung eines Asylantrages zuständig ist. Die Dublin III-Verordnung stellt sicher, dass innerhalb der EU, sowie in Norwegen, Island, der Schweiz und Liechtenstein nur ein Asylantrag pro Person gestellt werden kann. (vgl. BAMF 2014b: 17f.) Bei volljährigen Asylbewerbern greift im Gegensatz dazu die Regel der Zuständigkeit, d. h. der Staat ist für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in dem der Asylbewerber zuerst legal eingereist ist und einen Asylantrag gestellt hat (vgl. Hargasser 2015: 71). Dies führt dazu, dass die Länder, die eine geographische Nähe zu den Flüchtlingsstaaten aufweisen bzw. die gemeinsame Grenzen verbindet, häufiger belastet sind als Deutschland, das von anderen EU-Ländern umgeben ist.
Diese Regel gilt allerdings nicht bei UMF. Bei ihnen hat ein vorangegangener Asylantrag in einem anderen Mitgliedsstaat der EU keine Konsequenz, da immer das Land zuständig ist, in dem sich ein Familienangehöriger des UMF rechtmäßig aufhält und eine Zusammenführung das Wohl des Kindes nicht beeinträchtigen würde. Gibt es keine Familienangehörigen in den Mitgliedsstaaten der EU, so ist das Land zuständig, in dem ein aktuelles Schutzersuchen gestellt wurde. (vgl. BAMF 2014b: 18)
3.2 Nationale Rahmenbedingungen
Nationale Gesetze, die dem Schutz von Minderjährigen gelten, greifen bei der Einreise in die BRD. Im Folgenden wird kurz die rechtliche und politische Verfassung der BRD in Form eines Grundrechtes skizziert, welches sich ausschließlich an Ausländer richtet. Darüber hinaus wird das Zuwanderungsrecht (in Form des AsylG und AufenthG) sowie das KJHG vertieft, die gemeinsam die rechtliche Situation, die Betreuungs-, Wohn- als auch die Versorgungssituation der UMF determinieren (vgl. BAMF 2014b: 33ff). Beide Rechtsgebiete haben sich dabei der Beachtung des Kindeswohls verpflichtet. Allerdings kann der Bereich des Zuwanderungsrecht dem Ordnungsrecht zugeschrieben werden, während das KJHG ein Leistungsrecht darstellt. Während es bei erstgenanntem vordergründig um den Grenzschutz geht, stellt das KJHG die individuelle Schutzbedürftigkeit des UMF in den Vordergrund (vgl. BAMF 2014b: 5).
3.2.1 Das Grundgesetz
Im Art. 16a Abs. 1 GG ist verankert, dass politisch Verfolgte Asyl genießen. Es ist zwar das einzige Grundrecht das Ausländern zusteht (vgl. BAMF 2016a: 1), allerdings ist es deutlich enger gefasst als die GFK, was in der Konsequenz dazu führt, dass kaum ein Flüchtling die Bedingungen erfüllt, Asyl aufgrund politischer Verfolgung zu erlangen (vgl. BAMF 2011: 6f). Bspw. gewährt Art. 16a GG keinen Schutz bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat und da Deutschland von diesen sowie der Nord- und Ostsee umgeben ist, müsste der Flüchtling per Flugzeug einreisen oder den Seeweg nehmen, was jedoch ohne entsprechende Ausweispapiere nahezu unmöglich ist. Der weit häufigere Fall ist, dass Flüchtlinge ihre Ausweispapiere als Nachweis ihres Reiseweges vernichten, um damit eine Abschiebung zu verzögern bzw. zu verhindern (vgl. Hargasser 2015: 72f.). Zudem gewährt das GG grundsätzlich nur dann Schutz, wenn eine staatliche Verfolgung belegt werden kann, was Fluchtgründe wie eine nichtstaatliche Verfolgung, Bürgerkriege oder Notsituationen nichtig machen (vgl. BAMF 2011: 6f.).
3.2.2 Das Asyl- und Aufenthaltsgesetz
Das AsylG regelt das Asylverfahren der Bundesrepublik und sieht zusammen mit dem AufenthG für Drittstaatenangehörige oder Staatenlose, die eine Migration hinter sich haben, unterschiedliche Aufenthaltstitel vor. Eine mögliche Erwerbstätigkeit ist dabei immer an den jeweiligen Aufenthaltstitel geknüpft. Mit dem Stichtag des 24. Oktober 2015 wurden Änderungen der Allgemeinen Verfahrensvorschriften im Asylgesetz vorgenommen, wodurch die Handlungsfähigkeit im aufenthaltsrechtlichen Verfahren von 16 auf 18 Jahre angehoben wurde (vgl. BT-Drs. 18/5921: 18). Damit wurde ein amKindeswohl orientiertes Vorgehen auch für die 16- 18 -jährigen deutlich herausgearbeitet, da es bedeutet, dass ein UMF bis 18 Jahre nur noch in Begleitung eines Vormundes ein aufenthaltsrechtliches Verfahren bestreiten kann. Da für einen rechtmäßigen einPass (§ 3 AufenthG) und ein Aufenthaltstitel (§ 4 AufenthG) benötigt wird, stellen eine Duldung oder eine Aufenthaltsgestattung keine regulären Aufenthaltstitel dar. Dabeihandelt es sich lediglich um Schriftstücke, die einer Übergangszeit dienen sollen (vgl. Bender 2015: 2). Neben einem rechtmäßigen Aufenthalt und einer Übergangszeit besteht ebenso die Möglichkeit eines zeitlich befristeten oder eines illegalen Aufenthaltes. Nachfolgend werden die drei häufigsten Aufenthaltstitel von UMF kurz skizziert (vgl. BAMF 2014b: 24):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Häufigste Aufenthaltstitel von UMF
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an BAMF (2014b).
Die Anhörung der UMF erfolgt (hier und folgend nach dem BAMF: 2014b: 16-30) i. d. R. nach einer formlosen Antragstellung des Jugendamtes oder Vormundes und wird vor dem Hintergrund des AsylG in der zuständigen Außenstelle des BAMF von speziell geschulten sonderbeauftragten Entscheidern durchgeführt. Jede Außenstelle hat sich dabei auf ein bestimmtes Herkunftsland spezialisiert. Für UMF gelten bei der Beurteilung ihres Flüchtlingsschutzes zwar die gleichen Gesetze wie für volljährige Antragsteller, allerdings sollten wenn möglich an der Anhörung sowohl ein Vormund als auch ein Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung teilnehmen. Wenn dem Heranwachsenden die belastende Wartedauer eines Asylantrages erspart werden soll, weil seine Chancen im Asylverfahren als zu gering eingeschätzt werden, besteht die Möglichkeit, direkt bei der Ausländerbehörde subsidiären Schutz oder ein nationales Abschiebungsverbot zu erwirken. Obendrein bedeutet eine Ablehnung des Asylantrages beim BAMF nicht, dass der UMF umgehend das Land verlassen muss, denn in jenem Fall kann die Ausländerbehörde immer noch Abschiebungshindernisse benennen und eine Duldung aussprechen. In manchen Bundesländern stellt die Ausländerbehörde häufig auch unabhängig vom Antrag auf Asyl einem UMF, der gerade in Deutschland angekommen ist, erst einmal eine Duldung aus. Dies wird im Rahmen der unten betrachteten Clearingeinrichtung genauso gehandhabt.Ziel dieses Vorgehens ist es, die Minderjährigen nach ihrer beschwerlichen Reise nicht unmittelbar erneut belasten zu müssen und ihnen die notwendige Ruhe zu gönnen, um weitere aufenhaltsrechliche Schritte im Rahmen des Clearingverfahrens planen zu können. Darüber hinaus kann ein UMF bei einem negativ verlaufenem Asylgesuch nur in sein Heimatland abgeschoben werden, wenn er an einen Personensorgeberechtigten oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung (§ 58 Abs. 1 a AufenthG) übergeben werden kann. Ist beides bis zur Volljährigkeit nicht gegeben, stellt die Ausländerbehörde ebenso in aller Regel für die Übergangszeit eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG aus (vgl. BAMF 2014b: 31).
Möchte das ausländische Kind oder der Jugendliche eine Familienzusammenführung anstreben, so ist die rechtliche Voraussetzung dafür, einen Aufenthaltsstatus als anerkannter Flüchtling oder international Schutzberechtigter inne zu haben. Eine weitere Voraussetzung ist, dass der Jugendliche zum Zeitpunkt der Einreise der Eltern noch minderjährig sein muss. (vgl. BumF 2015b: 13)Wenngleich die Anerkennungsrate von UMF deutlich höher ist als von Erwachsenen, dauerte die Bearbeitungszeit eines Asylantrages im Jahr 2014 durchschnittlich 10,4 Monate (vgl. BT-Drs. 18/7248). Möchte der Minderjährige, dass die Möglichkeit einer Familienzusammenführung geprüft wird, sollte das Asylverfahren demnach möglichst rasch bearbeitet werden. Aus diesem Grund sollte das Jugendamt, gemäß Espenhorst und Schwarz (2015: 410) schon während der vorläufigen Inobhutnahme schnellstmöglich einen Asylantrag stellen, zumindest für die UMF, die aus Herkunftsländern mit einer hohen Schutzquote stammen.
3.2.3 Das SGB VIII
Vor dem Hintergrund des staatlichen Wächteramtes und auf Basis des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII) werden bei einer Einreise eines UMF alle Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls ergriffen. Jener Maßnahmenkatalog basiert auf dem Leitgedanken des § 1 Abs. 1 SGB VIII, dem zu entnehmen ist, dass jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Im Folgenden wird der Erstkontakt eines UMF im Rahmen des jüngst geschaffenen Prozess der vorl äufigen Inobhutnahme dargestellt. Im Anschluss daran wird die Fremdunterbringung und Sicherung seiner Grundbedürfnisse in einer regul ären Inobhutnahmeeinrichtung skizziert. Der Leistungsumfang beider Angebote sowie die jeweils einzuhaltenden Qualitätsstandards sind im SGB VIII verankert.
3.2.3.1 Vorläufige Inobhutnahme und Verteilungsverfahren
Am 1. November 2015 ist das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher in Kraft getreten (vgl. Espenhorst & Schwarz 2015: 408). Damit einher geht eine gesetzlich geregelte Aufnahmepflicht der Länder, ein bundesweites Verteilungsverfahren sowie Revisionen im SGB VIII (vgl. BT-Drs. 18/5921: 1). Im Wesentlichen änderte sich (im SGB VIII), dass das Jugendamt nun der regulären Inobhutnahme voraus von der Möglichkeit der vorläufigen Inobhutnahme (§ 42a) Gebrauch machen kann (vgl. Espenhorst & Schwarz 2015: 408). Die vorläufige Inobhutnahme besagt, dass UMF entweder bei einer Person, in einer Einrichtung oder sonstigen Wohnform vorläufig untergebracht werden können, die den Standards der Jugendhilfe als auch den Schutzbedürfnissen des Minderjährigen entspricht (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII). Das Jugendamt hat im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42f SGB VIII die Aufgabe, für den Unterhalt und das Wohl des UMF zu sorgen, das Alter festzustellen sowie bei Bedarf medizinische Hilfeleistungen bereit zu stellen (vgl. Espenhorst & Schwarz 2015: 408). Zudem wird ein ärztliches Gutachten zum Gesundheitszustand des UMF in Auftrag gegeben (vgl. MFKJKS 2015: 12f.).
Vordergründig ist es jedoch gemäß § 42a Abs. 2 SGB VIII Aufgabe des Jugendamtes zu klären, ob es berechtigte Einwände gibt, die gegen eine Verteilung nach dem Quotenprinzip sprechen (vgl. BT-Drs. 18/5921: 8). Ein Grund gegen das Verteilungsverfahren aus Sicht des Jugendamtes wäre bspw. wenn der Minderjährige sich vehement gegen seine Verteilung wehrt. In diesem Fall muss von dem Verfahren Abstand genommen werden, da eine Zwangsdurchführung trotz Ablehnung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer (Re-)Traumatisierung führen und das Wohl des betroffenen UMF dabei gefährden könnte. (vgl. Espenhorst & Schwarz 2015: 409) Zudem wird geklärt, ob der UMF Verwandte im In- oder Ausland hat, sodass anstatt einer Verteilung eine Familienzusammenführung angestrebt werden könnte (vgl. MFKJKS 2015: 11f.). Wird über die Verteilung positiv entschieden, schließt sich eine Überprüfung der sozialen Beziehung zu anderen UMF an, sodass sie im Falle dessen gemeinsam verteilt werden könnten (vgl. MFKJKS 2015: 11f.). Dabei wird möglichst eine Kommune in der näheren Umgebung oder zumindest im gleichen Bundesland gewählt. Wenn das angrenzende Bundesland allerdings die Quote nach dem Königssteiner Schlüssel ebenfalls erfüllt hat, soll das nächstgelegene Land gewählt werden, dessen Quote noch nicht erfüllt ist. (vgl. Espenhorst & Schwarz 2015: 410) Mit dem Stand vom 15.07.2016 haben Bremen (360%), Bayern (136%), Hamburg (129%), Hessen (126%), das Saarland (121%), Berlin (111%) und Schleswig-Holstein (105%) ihre Quote bereits übererfüllt. Die meisten UMF müssten demnach die Länder Sachsen-Anhalt (55%), Sachsen (68%), Brandenburg (71%), Thüringen (74%), Rheinland-Pfalz (74%) und Mecklenburg-Vorpommern (74%) aufnehmen. (vgl. LVR 2016: 1; siehe Abb. 4)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5: Erfüllung der Aufnahmequote der Bundesländer anhand des Königssteiner Schlüssels (Stand: 15.04. 2016)
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an den LVR (2016: 1).
[...]
[1] Es handelt sich entweder um eine Flucht- oder um eine Arbeitsmigration. Von Migration wird gesprochen wenn Menschen ihren Lebensmittelpunkt verlagern oder zum alten Lebensmittelpunkt ein neuer hinzukommt (vgl. Treibel 2008: 295)
[2] Das Konzept der Hegemonie stammt aus der Untersuchung der Klassenbeziehungen von Gramsci. Er unter-schied in der Praxis der Machtausübung zwischen Hegemonie und Herrschaft. Hegemonie war vor allem in der sozialen und Herrschafft in der politischen Gesellschaft angesiedelt (vgl. Neubert 2000: 65).
[3] Weitere Männlichkeitsformen, neben dem hegemonialen Modell, sind nach Connell (2015) die komplizenhafte, untergeordnete und marginalisierte Männlichkeit.
[4] Die Armutsquote von Migranten liegt bei 33 % und ist damit annähernd doppelt so hoch wie die des bundesdeutschen Durchschnitts (vgl. Schulz 2010: 169). Diese Korrelation zwischen ökonomischem Status und Migrationshintergrund ist dabei in keinem europäischen Land so ausgeprägt wie in Deutschland (vgl. Herwartz-Emden 2011: 236).
[5] Die Korrelation von Armut und Migration mit einem geringen Bildungsabschluss und schlechteren Bildungschancen in der Bundesrepublik Deutschland ist evident (vgl. Schulz 2010: 169), allerdings müssen im Verlaufe der Abhandlung, der Forschungsfrage Rechnung tragende, Reduktionen vorgenommen werden.
[6] Dieser Blickwinkel ist im Zusammenhang mit Bildung insbesondere vor dem Hintergrund ihrer sozial marginalisierten und stigmatisierten Lebenslagen bedeutend.
- Quote paper
- Nicole Reddemann (Author), 2016, Die Lebenssituation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in einer Clearingstelle, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354194
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