Wenn Denationalisierungsprozesse, die Ökonomisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche, die zunehmenden Steuerungs- und Kontrollverluste der nationalen Politik sowie eine technokratische, quasi-aristokratische und eine unzureichend legitimierte Europäische Union die Grundlagen der demokratischen Herrschaft zerstören – wie steht es dann um die Zukunft der Demokratie? Werden wir uns darauf einstellen müssen, in mittelfristiger Zukunft in einer völlig an den Gesetzmäßigkeiten des Marktes orientierten, auf Effizienz ausgerichteten Europäischen Union zu leben, in der eine elitäre Kommission das Gemeinwohl definiert bzw. exekutiert und die national gewählten Führer den Zwängen der kapitalistischen Globalisierungslogik hilflos ausgeliefert sind? Oder gibt es in der „postnationalen Konstellation“ eine realistische (!) Aussicht, die modernen demokratischen Elemente wie Sozialstaatlichkeit, Bürgerpartizipation, Solidarität, öffentliche Deliberation sowie kollektive Identität zu erhalten und auszubauen?
Aufbauend auf den Vorleistungen moderner Demokratietheoretiker wie Max Weber, Ernst Fraenkel, Fritz Scharpf, Jürgen Habermas und Michal Zürn werden die Bausteine der modernen westlichen Demokratie vorgestellt, anschließend wird dargestellt, wie aktuelle Entwicklungen auf internationaler Ebene den Bestand der Demokratie gefährden.
Die Pfadabhängigkeit der europäischen Integration und das internationale politökonomische Klima in einer interdependenten Welt lassen es sehr unwahrscheinlich aussehen, dass wir die moderne Demokratie kontinentaleuropäischen Zuschnitts in noch lange werden genießen können. Die Spannungen zwischen Effizienz und Legitimität, zwischen Freiheit und Gleichheit und zwischen sozialstaatlicher Integration und kapitalistischer Wachstumslogik sind auf nationaler, theoretisch (jedoch nicht praktisch) auch auf europäischer Ebene beherrschbar, im internationalen Wettbewerb aber nicht. Zu befürchten ist, dass sich die Demokratie nach liberalem angelsächsischem Vorbild normativ ermäßigen wird. Der Schutz der Menschenwürde, bürgerliche Freiheiten und Rechtstaatlichkeit werden sich sicher weiter verbreiten im Zuge der Globalisierung. Aber die Ökonomisierung der Weltgesellschaft und der Abbau der Wohlfahrtssysteme werden die Demokratie ihrer sozialen Dimension berauben und damit die Integrität der Gesellschaft in Frage stellen.
Inhalt
1.) Einleitung
2.) Bestandsaufnahme: Bausteine moderner Demokratien
3.) Demokratieverlust durch Globalisierung und Denationalisierung
4.) Die Europäische Union – Retter oder Totengräber der Demokratie?
5.) Zusammenfassung und Fazit
Anhang: Literatur- und Quellenverzeichnis
1.) Einleitung
Es sieht mal wieder düster aus für die Demokratie, zumindest, wenn man einen pessimistischen Standpunkt einnimmt und die Situation der europäischen Gesellschaften mit einem Maßstab analysiert, der sich an hohen normativen Erwartungen an den demokratischen Rechts- und Sozialstaat anlehnt. In zahlreichen europäischen Ländern, besonders in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, kämpfen Gewerkschaften und soziale Bündnisse gegen den Umbau des Wohlfahrtsstaates, den die nationalen Regierungen vornehmen, um die Ökonomien im verschärften Standortwettbewerb konkurrenzfähig zu machen. Die Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2004 lag unter 50%[1], und die rechtsextreme, fremdenfeindliche NPD kann dank eines Ergebnisses von über 9% bei den Landtagswahlen in Sachsen in das Parlament in Dresden einziehen.[2] Die Meinungsseiten der seriösen Tages- und Wochenzeitungen überbieten sich mit skeptischen Kommentaren zum Zustand der nationalen oder europäischen Demokratie.[3] Anlass zur Sorge gibt es also genug.
Die vorliegende Arbeit soll sich kritisch mit der Zukunftsperspektive der modernen Demokratie westlicher Ausprägung auseinandersetzen und untersuchen, ob und gegebenenfalls wie diese hoch geschätzte Form der gesellschaftlichen Ordnung im Zeitalter der Globalisierung bewahrt und weiterentwickelt werden kann bzw. muss.
Die Fragestellung ist damit eigentlich bereits vorweggenommen. Wenn Denationalisierungsprozesse, die Ökonomisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche, die zunehmenden Steuerungs- und Kontrollverluste der nationalen Politik sowie eine technokratische, quasi-aristokratische und eine unzureichend legitimierte Europäische Union die Grundlagen der demokratischen Herrschaft zerstören – wie steht es dann um die Zukunft der Demokratie? Werden wir uns darauf einstellen müssen, in mittelfristiger Zukunft in einer völlig an den Gesetzmäßigkeiten des Marktes orientierten, auf Effizienz ausgerichteten Europäischen Union zu leben, in der eine elitäre Kommission das Gemeinwohl definiert bzw. exekutiert und die national gewählten Führer den Zwängen der kapitalistischen Globalisierungslogik hilflos ausgeliefert sind? Oder gibt es in der „postnationalen Konstellation“ eine realistische (!) Aussicht, die modernen demokratischen Elemente wie Sozialstaatlichkeit, Bürgerpartizipation, Solidarität, öffentliche Deliberation sowie kollektive Identität zu erhalten und auszubauen?
Zuerst werde ich deswegen aufbauend auf den Vorleistungen moderner Demokratietheoretiker wie Max Weber, Ernst Fraenkel[4], Fritz Scharpf[5], Jürgen Habermas[6] und Michal Zürn[7] ohne Anspruch auf Vollständigkeit die Bausteine der modernen westlichen Demokratie vorstellen, die meiner Meinung nach ihren Charakter ausmachen und gleichzeitig besonders sensibel sind gegenüber den Auswirkungen der Globalisierung. Die kontrastierende Diskussion von konkurrierenden Vorstellungen, wie elitentheoretische, systemtheoretische oder radikalpartizipatorische Ansätze, wäre zwar reizvoll, würde aber nichts zur Argumentationslogik dieser Arbeit beitragen, da ich von der Prämisse des oben beschriebenen Demokratietyps als Idealform ausgehe. Anschließend werde ich darstellen, wie aktuelle Entwicklungen auf internationaler Ebene den Bestand der Demokratie gefährden. Dabei werden unterschiedlichste Analysen der großen Veränderungen vorgestellt, wie z.B. von Wilhelm Heitmeyer[8], Hauke Brunkhorst[9] und Klaus Müller[10] als auch von Michael Zürn und Jürgen Habermas[11]. Die letzten beiden haben sich genauso wie Fritz Scharpf[12] und andere[13] Gedanken zum demokratischen Zustand und Potential der Europäischen Union gemacht und sollen helfen, die ambivalenten Auswirkungen dieses eigenartigen Mehrebenensystems auf die Demokratie zu analysieren. Abschließend möchte ich diskutieren ob demokratisches Regieren jenseits des Nationalstaates eine realistische Perspektive ist.
Zusätzlich zu den erwähnten Autoren dienten mir die demokratietheoretischen Überblickswerke von Manfred G. Schmidt[14] sowie Peter Massing und Gotthard Breit[15] als hilfreiche Orientierung.
2.) Bestandsaufnahme: Bausteine moderner Demokratien
Was zeichnet die moderne Demokratie westlicher Ausprägung aus? Auch wenn sich die politischen Systeme in Europa und Amerika von Land zu Land in zahlreichen Punkten unterscheiden, gibt es doch überall jene Gemeinsamkeiten, die in hochkomplexen Gesellschaften des postindustriellen Informationszeitalters das Set von Verfahren, Institutionen und normativen Ansprüchen darstellen, das als Grundvoraussetzung für die Herrschaft des Volkes bezeichnet werden kann.
Der liberale gewaltenteilende Rechts- und Verfassungsstaat samt Repräsentativdemokratie auf Basis der Volkssouveränität ist das Ergebnis revolutionärer Veränderungen in der frühen und späten Neuzeit. Diese sind vor allem dem Wirken von Denkern wie John Locke, Charles de Montesquieu, Jean Jacques Rousseau, den Autoren der Federalist Papers und Alexis de Toqueville und John Stuart Mill zu verdanken.[16] Die moderne Demokratietheorie hat sich deren Vorleistungen angenommen, sie weitergeführt und an die Anforderungen des 20. und 21. Jahrhunderts angepasst. Im Folgenden sollen die Ideen zu den Legitimitäts- und Funktionsvoraussetzungen moderner Demokratien von prominenten Vertretern im deutschsprachigen Raum zusammenfassend dargestellt werden.
Max Webers Beitrag zur modernen Demokratietheorie ist umstritten. Seinem Konzept der „plebiszitären Führerdemokratie“ wurde Elitismus, Reduktion auf Wettbewerb und Hierarchie sowie Eindimensionalität vorgeworfen. In der Tat erscheint seine Vorstellung von Politik unterkomplex und modernen differenzierten Gesellschaften nicht angemessen, seine institutionellen Vorschläge voll von Defiziten. Aber Webers Verdienst war es, die Bedeutung von Massenparteien und repräsentativen Wahlen zur Mobilisierung, Selektion und Herbeiführung von Mehrheitsentscheiden herauszuarbeiten und die Rolle von Arbeitsparlamenten bei der Kontrolle von Exekutive und Verwaltung und der Auswahl von Führungspersönlichkeiten zu beschreiben.[17]
Ernst Fraenkel verteidigte nach dem 2. Weltkrieg den in Deutschland oft skeptisch betrachteten (Neo-)Pluralismus als Bollwerk gegen totalitäre Tendenzen. In einer heterogen-pluralistischen differenzierten Gesellschaft gäbe es kein eindeutig bestimmbares, vorgegebenes Gemeinwohl, sondern dieses könne lediglich ermittelt werden in einem rechtlich abgesicherten, fairen Austauschprozess zwischen den unterschiedlichen Interessen, die sich frei artikulieren und organisieren können und sollen, aber einen gemeinsamen Wertekonsens und „unstreitigen“ Sektor an Grundrechten und Verfahrensregeln als Orientierungsrahmen haben. Das pluralistische Menschen- und Gesellschaftsbild lehnt die Rousseausche Identitätslehre vehement als totalitär ab, sondern akzeptiert die individuellen und vielfältigen Eigeninteressen der Bürger und lobt sie als gemeinwohlbereichernd.[18] Laut Manfred G. Schmidt befürwortet die Pluralismustheorie „nachdrücklich“ die Repräsentativverfassung und die „ verantwortliche Parlaments- und Regierungsherrschaft “ anstatt „majoritäter populistischer Demokratie“. Das wesentliche Qualitätsmerkmal der Demokratie sei für Fraenkel & Co. die „pluralistische Gliederung der Sozialstruktur eines Landes und der Politik sowie die Freiheitlichkeit und der Wettbewerbscharakter der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung.“[19] Ausdrücklich treten sie dafür ein, die autonomen Interessenverbände systematisch im politischen Prozess zu berücksichtigen und weisen dem Staat die Aufgabe zu, „Waffengleichheit“ herzustellen, d.h. als „Hüter gemeinsamer Interessen zu wirken und dem übermäßigen Einfluß oligopolistischer […] Träger sozio-ökonomischer Macht entgegenzutreten.“ Dazu müsse der soziale Rechtsstaat in wirtschaftliche und gesellschaftliche Bereiche eingreifen und „Kampfparität“ zwischen den Bevölkerungskreisen herstellen.[20]
1970 bereicherte Fritz Scharpf die moderne Demokratietheorie um neue Perspektiven, indem er versuchte, über den Tellerrand der eingefahrenen Denkmuster zu schauen. Er verknüpft normative und empirische Elemente seiner Vorgänger und entwickelt ein anspruchsvolles, aber an der Realität orientiertes Modell, welches er komplexe Demokratietheorie nennt. „Zwischen Utopie und Anpassung“ heißt der Untertitel seiner Schrift[21], in der er sowohl die Input- als auch die Output-Seite des politischen Prozesses analysiert und eine „möglichst optimale Mischung von politischer Beteiligung, Legitimation und Effektivität der Problemlösung durch politisches Handeln“[22] anstrebt. Seine Motivation war es, der Kritik an der damaligen demokratietheoretischen Debatte, sie arbeite in dichotomen Denkmustern und habe es versäumt, „auf die Komplexität politischer und sozialer Prozesse zu reagieren“[23], eine adäquate Antwort zu geben. Partizipation, Transparenz und Effizienz sind die gesellschaftlichen Anforderungen, an denen er seine Theorie messen lassen will. Dazu analysiert er einerseits die Eingabeseite (Input) des politischen Prozesses, die aggregierten Interessen, Bedürfnisse und Forderungen und plädiert für mehr Partizipation, um das „zugrunde liegende Axiom des Eigenwertes individueller Selbstentfaltung und Selbstbestimmung, der Mäßigung der Macht, des Minderheitenschutzes, die institutionalisierte Suche nach Konsens“ zu Geltung zu bringen, die „bessere Vertretung der Unterschichtsinteressen in den Entscheidungsprozessen“ zu gewährleisten und das System durch eine „ vitale demokratische Kultur “ zu stabilisieren.[24] Dieser legitimierenden „Herrschaft durch das Volk“, die den „’Willen des Volkes’ widerspiegeln“ solle, setzt er komplementär auch die „Herrschaft für das Volk“ entgegen, die ebenfalls Entscheidungen rechtfertigen könne. Diese Output -Seite der Politik leitet Legitimität von „der Fähigkeit zur Lösung von Problemen ab, die kollektiver Lösungen bedürfen“.[25] Scharpf fordert eine intelligente, vorausschauende politische administrative Steuerung, um mehr Effizienz und Problemlösungsfähigkeit auf der Ausgabe-Seite zu erreichen. Er setzt sich damit klar von radikalpartizipatorische Forderungen ab, mit dem Hinweis auf die Beschränktheit kleinräumiger Gemeinwesen, mangelnder Motivation und zu geringem Zeitbudget der Bürger. Eine realistische Möglichkeit, die politische Partizipation zu fördern sieht er in der Schaffung „gleicher Beteiligungschancen für alle, die fähig und bereit“ sind und setzt auf eine „ aktive Öffentlichkeit “ und den „ständigen personellen Austausch“ in den Eliten.[26] Mit dem Gebot einer „ relativen Autonomie von Regierung und Verwaltung “ und deren Fähigkeit, „kurzfristig reagieren, langfristig planen und gestalten, sowie beherzt verteilen und umverteilen“[27] zu können, widerspricht sie dem pluralistischem Ideal der die Politik beeinflussenden organisierten Interessengruppen und strebt eine „höhere Entscheidungsfähigkeit und ein höheres Wertberücksichtigungspotential“[28] an. Die komplexe Demokratietheorie wurde auch von Fritz Scharpf selbst in den folgenden Jahren immer wieder erweitert und fortentwickelt, und geht auch auf Veränderungen ein, die die Demokratie gefährden. Diese jüngeren Beiträge von ihm werden im nächsten und übernächsten Kapitel ausführlicher dargestellt.
Das soziologische und politisch-philosophische Wirken von Jürgen Habermas, dem bedeutendsten Vertreter der „Kritischen Theorie“ in der linken Sozialwissenschaft[29] ist ebenso umfassend wie vielschichtig. In seinem politikwissenschaftliches Hauptwerk „Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“, 1992 erstmals erschienen[30], beschäftigt er sich auf über 600 Seiten mit philosophischen und soziologischen Überlegungen zum System der Rechte, den Prinzipien des Rechtsstaats, zur Verfassungsrechtsprechung sowie zur Zivilgesellschaft bzw. politischen Öffentlichkeit und führt seine Demokratietheorie ein, die er „deliberative Politik“ nennt.[31] Jeder Versuch, seine hochinteressanten und tiefgehenden Ausführungen hier auch nur ansatzweise vollständig wiederzugeben, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und die Aufmerksamkeit von der Fragestellung ablenken. Wichtig ist jedoch, Habermas’ soziologischen Ansatz hervorzuheben, mit dem er den Problemkomplex Demokratie zu fassen versucht. Ausgehend von der systemtheoretischen Erkenntnis, dass das politische System nur ein Handlungssystem neben vielen anderen in der Gesellschaft ist, welches mit diesen über das Medium Recht kommunizieren können muss, und unter Zusammenfügung des klassischen Dipols vom liberalen oder republikanischen Politikverständnis leitetet er aus der diskurstheoretischen Perspektive[32] ein Demokratiemodell ab, dessen normativer Kern im demokratischen Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung besteht, und das nach verständigungsorientierter Kommunikation, also Deliberation strebt. Vorab postuliert er Minimalanforderungen für Verfahren, die demokratisch sein sollen: Ein politische Beteiligung möglichst vieler interessierter Bürger, die Mehrheitsregel für politische Entscheidungen, abgesicherte Kommunikationsrechte, Auswahl von Programmen und politischen Eliten sowie der Schutz der Privatsphäre. Die diskurstheoretisch normative Aufladung des demokratischen Verfahrens begründe dann die Vermutung, „daß unter Bedingungen eines problembezogenen Informationszuflusses und sachgerechter Informationsverarbeitung vernünftige bzw. faire Ergebnisse erzielt werden.“ Das Gedeihen deliberativer Politik sei abhängig von der Institutionalisierung der anspruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen und Verfahren der demokratischen Meinungs- und Willensbildung, sowie vom Zusammenspiel der institutionalisierten Beratungen mit informell gebildeten politischen Meinungen. Die öffentliche Kommunikation müsse so zu einem rationalen Umgang und zur Aufklärung der Kommunikationsteilnehmer beitragen, die politische Kommunikation anregen und versachlichen, moralisch filtern, Gemeinwohlorientierung fördern, und könne so zu einer höherrangigen Legitimität beitragen. Voraussetzungen dafür sind argumentative Austauschformen in Parlamenten, Parteien und Verbänden, eine aktive Bürger- und Zivilgesellschaft und eine weniger kommerzialisierte Medienlandschaft. Über breite „ autonome Öffentlichkeiten “ – mit möglichst gleich verteilter sozialer Macht, ohne strukturelle Gewalt und systematische Verzerrungen –, in denen interessenfrei, vernunftgeleitet und fair argumentiert wird, und über rechtsstaatlich abgesicherte Verfahren der demokratischen Meinungs- und Willensbildung könne sich die „sozialintegrative Kraft der Solidarität “ gegen die „beiden anderen Mechanismen gesellschaftlicher Integration, Geld und administrative Macht“ behaupten. Die so kommunikativ erzeugte Macht wird über Wahlentscheidungen und Gesetzgebung in „administrativ verwendbare Macht umgeformt“, koppelt diese an sich und kontrolliert bzw. „programmiert“ sie. Die diskursive Struktur, die alle möglicherweise Betroffenen einbezieht und aufgrund dieses Kommunikationsflusses vermutlich rationale und vernünftige Ergebnisse produziert, legitimiert so die deliberative Politik.
Manfred Schmidt listet Habermas’ Modell in der Reihe der partizipatorischen Theorien auf, deren Hauptmerkmal für ihn eine „politische Beteiligung möglichst vieler über möglichst vieles“[33] ist. Meiner Meinung ist diese Kategorisierung aber im Falle der deliberativen Politik irreführend und greift zu kurz, da es sich klar von totalpolitisierenden oder universell demokratisierenden Ansprüchen wie z.B. von Fritz Vilmar abhebt.[34] Zwar sind der demokratiefördernde Eigenwert der politischen Beteiligung und die Rolle des Staatsbürgers in der öffentlichen Meinungsbildung auch hier zentrale Elemente, aber Habermas geht nicht so weit, sämtliche privaten und gesellschaftlichen Räume politisch durchdringen zu wollen. Er weiß zwar, dass seine Theorie recht utopisch klingt und die von ihm mit hohen normativen Ansprüchen versehenen Kommunikationsformen in der Praxis weit weniger ideal ablaufen, aber „wenn man [die deliberative Politik] als einen reflexiv veranstalteten Lernprozeß“ betrachtet, dann verliere sie viel von ihrem „befremdlich-unrealistischen Aussehen.“[35]
[...]
[1] Der Bundeswahlleiter, in:
http://www.bundeswahlleiter.de/wahlen/europawahl2004/ergebnisse/bundesergebnisse/be_tabelle_99.html,
Download am 23. Sep. 2004.
[2] Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, in: http://www.statistik.sachsen.de/pls/wpr_neu/pkg_w04_nav.prc_index?p_anw_kz=LW04, Download am 23. Sep. 2004.
[3] Bsp. sind die Beiträge von Gunter Hofmann: „Europas Unehrlichkeit“, in: DIE ZEIT Nr. 26 vom 17. Juni 2004, zum Demokratiedefizit der EU und von Alexander Thumfart: „Wir sind das Volk. Wofür noch Parteien?“, in: DIE ZEIT Nr. 37 vom 2. September 2004, zum Parteien- und Parlamentsverdruss in Ostdeutschland.
[4] Fraenkel, Ernst: Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, in:
Brünneck, Alexander v. (Hrsg.): Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt am Main 1991,
S. 297-325.
[5] Scharpf, Fritz: Demokratietheorie – Zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz 1970.
[6] Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main
1996 / ebd.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1997.
[7] Zürn, Michael: Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance,
Frankfurt am Main 1998.
[8] Heitmeyer, Wilhelm: Kontrollverluste und Bedrohungsgefühle. Anonymität und Alternativlosigkeit führen zu autoritären Versuchungen, in: Frankfurter Rundschau vom 6. und 8. Mai 2000, jeweils Seite 9.
[9] Brunkhorst, Hauke: Einführung in die Geschichte politischer Ideen, München 2000.
[10] Müller, Klaus: Globalisierung, Bonn 2002.
[11] Habermas, Jürgen: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main 1998.
[12] Scharpf, Fritz: Regieren in Europa, Frankfurt am Main / New York 1999.
[13] Klein, Ansgar u.a. (Hrsg.): Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa, Opladen 2003.
[14] Schmidt, Manfred G.: Demokratietheorien, Opladen 2000.
[15] Massing, Peter / Breit, Gotthard (Hrsg.): Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart,
Schwalbach/Ts. 2001.
[16] Einen guten Überblick über die Theorien der erwähnten Denker bietet Schmidt 2000.
[17] ebd., S. 178ff.
[18] Fraenkel 1991, S. 297-325.
[19] Schmidt, S. 229.
[20] ebd., S. 233f, Hervorhebungen von mir.
[21] Scharpf, 1970.
[22] Schmidt, S. 296.
[23] Massing, Peter: Fritz Scharpf, in: Massing / Breit, S. 275.
[24] ebd.
[25] Scharpf 1999, S. 16ff.
[26] Massing, Peter: Fritz Scharpf, in: Massing / Breit, S. 276f, Hervorhebungen von mir.
[27] Schmidt, S. 297.
[28] Scharpf 1970, S. 75.
[29] Buchstein, Hubertus: Jürgen Habermas, in: Massing / Breit, S. 255.
[30] Viele der demokratietheoretischen Teile aus „Faktizität und Geltung“ hat Habermas später in „Die
Einbeziehung des Anderen“ (1996) übernommen.
[31] Habermas 1997, S. 349. Die folgenden Erläuterungen beziehen sich auf das 7. Kapitel in „Faktizität und
Geltung“, S. 349ff. Hervorhebungen von mir.
[32] Für Habermas beinhaltet der rationale Diskurs die Offenheit für die Ansichten aller möglichen Betroffenen
und die Offenheit der gleichberechtigten und freien Rede für alle Beteiligten ohne Zwang über alle Materien,
die im Interesse aller zu regeln sind.
[33] Schmidt, S. 251.
[34] Vilmar, Fritz: Strategien der Demokratisierung, Darmstadt/Neuwied 1973, zit. in: Schmidt, S. 253.
[35] Habermas 1997, S. 390.
- Arbeit zitieren
- Robert Rädel (Autor:in), 2004, Legitime Volksherrschaft im Europa des 21. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35358
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