Die Schlacht von Sedan steht wie keine andere im Deutsch-Französischen Krieg für die Überlegenheit und Einigkeit der deutschen Bundestruppen. Sie wurde zum Symbol für den Sieg über den Erbfeind. Der Autor setzt aus unzähligen zeitgenössischen Quellen und Augenzeugenberichten ein vielschichtiges Bild des Schlachtverlaufes selbst und seiner unmittelbaren Reflexion im In- und Ausland zusammen. Dabei wird deutlich, dass bereits mit dem Sieg der Bundestruppen bei Sedan der Traum vom deutschen Nationalstaat endlich Gestalt annehmen sollte, ehe er am 18. Januar 1871 in Versailles Wirklichkeit wurde.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die deutschen Einheitsbestrebungen im 19. Jahrhundert
2.1 Von den Befreiungskriegen bis zur Auflösung der Nationalversammlung
2.2 Die Ära Bismarck und Königgrätz
3. Ursachen und Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges bis zur Schlacht von Sedan
3.1 Die politische Vorgeschichte des Konfliktes
3.2 Zusammenfassung des bisherigen Kriegsverlaufes
3.3 Kräftekonstellationen und Aufmarschgebiete der Kriegsparteien am Vorabend der Schlacht
4. Die Schlacht von Sedan
4.1 Strategische Überlegungen und Ziele vor dem Treffen
4.2 Augenzeugenberichte über Truppenbewegungen und Verlauf der Kampfhandlungen
4.3 Die Kapitulation und Gefangennahme Napoleons III.
4.4 Resümee der Schlacht
5. Die Auswirkungen des deutschen Sieges
5.1 Sedan im zeitgenössischen Urteil
5.2 Die innenpolitische Entwicklung in Frankreich – Ausrufung der Republik
5.3 Stimmungen bei den Bundestruppen und in Deutschland nach der Siegesnachricht – die unmittelbaren Auswirkungen auf die Einheitsbewegung in Deutschland
6. Die nationale und internationale Neuorientierung im Ergebnis der Schlacht von Sedan
6.1 Die Neuverteilung der Macht in Europa nach dem Zerfall des französischen Kaiserreiches
6.2 Der Einfluss des Treffens von Sedan im deutschen Einigungsprozess von 1870/71 (Thesen)
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Krieg ist die Fortsetzung der Politik eines Staates oder einer Nation mit gewaltsamen Mitteln des bewaffneten Kampfes zur Durchsetzung ökonomischer und politischer Ziele. So oder ähnlich ist jener Umstand beschrieben, der aus dem natürlichen Überlebenskampf der Arten über Evolution und Zivilisation bis in die Schützengräben Sarajevos zur perversesten Form menschlicher Konfliktlösung mutierte. Über Ursache und Folgen von Kriegen ist in der Menschheitsgeschichte ebenso viel nachgedacht und philosophiert worden, wie über deren Vermeidung und Beendigung. Wie die täglichen Fernsehbilder aber erschreckend vor Augen führen, bisher ohne den von den meisten Menschen ersehnten Erfolg Kriege als Relikte früherer Gesellschaftskonstellationen zum ausschließlichen Gegenstand historischer Untersuchungen werden zu lassen. Diese augenscheinliche Utopie resultiert sicher aus einer Vielzahl von Gründen. Neben vielen ungenannten und ungeklärten sicher auch aus der rational nicht erfassbaren Faszination des schrecklichen Kriegsgeschehens selbst (nicht nur für Außenstehende) und den in ihrer Form einmaligen Potenzen, im Gefolge eines militärischen Erfolges ökonomische, politische und territoriale Ansprüche durchzusetzen. Geschichte und Gegenwart liefern hierfür hinreichende Argumente und Tatsachen. Und dennoch ist es immer wieder erforderlich und zugleich moralisch zwingend, uns mit Kriegen auseinanderzusetzen, sie nicht nur zu ver-, sondern zu beurteilen. Ihre Entstehungsgeschichte sollte dabei ebenso Gegenstand der Untersuchungen sein, wie ihre Verläufe und Folgen. So, nur so ist das Unbegreifliche zu begreifen, das Vermeidbare nicht unbedingt zu vermeiden, aber doch zu erkennen. Bei der großen Anzahl von Kriegen (gerechter und ungerechter Krieg, Angriffs- und Verteidigungs-, Bürger- und Befreiungskrieg usw.) fällt eine Besonderheit ins Gewicht, die trotz der Vielfalt und den nie identischen Gesichtern der Kriege allen gemeinsam ist. Immer aus der Sicht des Betrachters benannt ist dies die Entscheidungsschlacht, die Wende oder der Untergang. Jeder Krieg hat jenen, den Krieg entscheidend beeinflussenden oder gar entscheidenden Heroensieg für die eine, die Schicksalsschlacht für die andere Seite. So sind die Kämpfe um Stalingrad, Verdun, Waterloo und die Thermophylen Synonyme für kriegsentscheidende Siege oder Niederlagen ihrer Epochen.
Der Schlacht von Sedan, geschlagen am 2. September 1870 im Deutsch-Französischen Krieg, von der ich behaupte, dass sie in ihrer Bedeutung für den Kriegsverlauf und die Nachkriegspolitik den oben genannten ebenbürtig ist, gilt meine im Zuge des Staatsexamens aufgenommene Untersuchung. Neben den eingangs beschriebenen Motiven bei der Wahl meines Themas: „Die Schlacht von Sedan und ihre Auswirkungen auf die deutschen Einheitsbestrebungen 1870/71 – eine Untersuchung“ drängt sich der historische Bezug über die vollzogene Vereinigung deutscher Staaten zum Deutschen Reich im Jahr 3 der Wiedervereinigung zur heutigen Bundesrepublik in den Vordergrund. Neben einer genauen Analyse der Ursachen und des Verlaufes der Schlacht, lege ich einen weiteren Schwerpunkt auf die unmittelbar im Anschluss an die Schlacht aufgetretenen Reaktionen. Um Authentizität und Objektivität bemüht, beschränke ich mich bei der Darstellung von Begebenheiten und Reaktionen ausschließlich auf Augenzeugenberichte und zeitgenössische Dokumente. Dabei klar hervortretende tendenziöse Meinungsbilder sind unvermeidlich, geben aber zugleich einen interessanten Rückschluss auf das zeitgenössische politische Bewusstsein und Formen des Dialoges. Soweit die überraschend reichhaltige Quellenlage – meist Tagebücher, Feldpostbriefsammlungen und auf der Basis persönlicher Aufzeichnungen entstandene Erinnerungsbände – es ermöglicht, versuche ich neben dem Inhalt an Fakten und Darstellungen, auch die sozialgeschichtlich-psychologischen Werte der Dokumente, sowohl von deutscher als auch französischer Seite, aufzubereiten. Zum aktuellen Forschungsstand den Deutsch-Französischen Krieg betreffend ist anzumerken, dass detaillierte Untersuchungen und Darstellungen fast ausnahmslos in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg fallen. Ausnahmen sind die Forschungen Kolb`s (1989) UND DIE Untersuchungen der 60-er und 70-er Jahre der DDR Militärhistoriker Helmert und Usczeck. Doch liegt bei allen Publikationen der Schwerpunkt auf der Darstellung politischer und ökologischer bzw. militärisch-strategischer Zusammenhänge.
Grob gliedert sich die Arbeit in drei wesentliche Abschnitte. Bis zum Kapitel 3.2. ist es der Versuch, einen Abriss über die Einheitsbestrebungen Deutschlands im 19. Jahrhundert zu geben. Anhand der politischen und ökonomischen Ursachen in Deutschland, Frankreich und im übrigen Europa, möchte ich darstellen, warum dieser Konflikt gewachsen und letztlich unvermeidlich geworden war. Der zweite Teilabschnitt ist ganz der Untersuchung der Schlacht von Sedan zugewandt. Dabei lege ich besonderen Wert auf die Augenzeugenberichte über den Schlachtverlauf. So ist es, denke ich, am ehesten möglich, jene Momente der Schlacht in Erinnerung zu rufen, die womöglich für den späteren Ausgang am bedeutsamsten waren. Im letzten Teil richtet sich mein Hauptaugenmerk im Besonderen auf zwei Sachverhalte. Da sind zum einen die unmittelbar an den deutschen Sieg in ganz Europa und Deutschland aufgetretenen, durch zahlreiche Zeitungsartikel, Depeschen und Telegramme nachgezeichneten, Reaktionen. Zum anderen untersuche ich den Einfluss der Schlacht im Einigungsprozess und auf die Einheitsbewegung Deutschlands und das politische Erbe im Gefolge des Schlachtverlaufes für Europa. Noch ein Hinweis zur Quellenlage. Bei den Tagebüchern, Briefsammlungen, Zeitungen und Telegrammen verwende ich bis auf wenige Ausnahmen vor 1920 erschienene Publikationen. Die Sekundärliteratur reicht vom unmittelbaren Ende des Krieges 1871 bis in das Jahr 1992. Bei der Literatur nach 1945 lege ich bewusst Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis von ost- und westdeutschen Erscheinungen. Über diesen Weg hoffe ich, möglichst viele Denkanstöße, Analysen und epochale Betrachtungsvarianten aufgenommen du eingearbeitet zu haben.
Besonderer Dank gilt den Angestellten der Universitätsbibliothek Jena, der Deutschen Bibliothek Leipzig und all jenen Mitarbeitern des Historischen Institutes der Friedrich-Schiller-Universität, mit deren helfenden und beratenden Hinweisen Schwierigkeiten gemeinsam gelöst werden konnten. Gleiches gilt für die Mitarbeiter des Rechenzentrums der Universität Jena.
2. Die deutschen Einheitsbestrebungen im 19. Jahrhundert
2.1 Von den Befreiungskriegen bis zur Auflösung der Nationalversammlung
Ende des 18. Und am Beginn des vorigen Jahrhunderts stand ein Ereignis, welches Europa in seinen Grundfesten erschütterte und somit auch einen gewaltigen Einfluss auf das damalige, von Kleinstaaten zersplitterte Deutschland hatte: die Französische Revolution.
Die über die Landesgrenzen Frankreichs getragenen Ideale und Reformgedanken der Revolutionäre, später liiert mit dem französischen Nationalinteresse, veränderten die politische Landkarte Europas zunächst radikal.[1] Zwar versuchte Napoleon I. in den von ihm unterworfenen Ländern, zu denen auch Deutschland gehörte, die Besatzung erträglich zu gestalten, und mit seinem ‚Code civil‘ gelang es ihm auch, im eigenen Land wie auch in den besetzten Gebieten, das entstandenen Rechtsvakuum zu verdrängen und die Sicherheit wiederherzustellen. Doch trotz aller Zugeständnisse wurde in ganz Europa die Vorherrschaft Frankreichs außerhalb seiner angestammten Grenzen, als Fremdherrschaft empfunden. So erhoben sich noch auf dem Höhepunkt der Macht Napoleons I. 1808 die Spanier und im folgenden Jahr die Österreicher gegen das Joch der Unterdrückung.
In Deutschland war die Situation in den Jahren 1807/08 die: Die einzelnen Teile Deutschlands waren, wenn auch in verschiedenem Grade, Frankreich abhängig. Heinz Heitzer unterscheidet im Wesentlichen vier Arten der Abhängigkeit:
1. Die von Frankreich annektierten, linksrheinischen deutschen Gebiete bildeten vier Departements des Kaiserreiches.
2. Im Königreich Westfalen und den Großherzogtümern Berg und Frankfurt wurden die Fürsten von Napoleon eingesetzt und versuchten sich mit der Fremdherrschaft zu arrangieren.
3. In den übrigen Mittel- und Kleinstaaten des Rheinbundes regierten zwar noch deutsche Fürsten, doch gelang es Napoleon bis zum Herbst 1808, alle außer Preußen und Österreich dem französischen Protektorat anzuschließen.
4. Bleibt noch das nach dem Tilsiter Frieden um mehr als die Hälfte seines Territoriums verkleinerte Preußen, besetzt von französischen Soldaten und unter schwersten Lasten und scharfen Bestimmungen kaum noch lebensfähig.[2]
Daher wundert es nicht, dass gerade in Preußen die aufkeimende nationale Befreiungsbewegung ihr Zentrum fand. Freiheit, das war allen klar, konnte nur erreicht werden, wenn es gelang, gemeinsam, sozusagen auf nationaler Ebene, die Franzosen aus den deutschen Gebieten zu vertreiben. Franzosenhass, Freiheit und nationale Einheit waren nicht nur emotional nicht mehr voneinander zu trennen, auch rational schienen diese drei Eckpunkte miteinander verflochten. So forderte bereits 1806 der in Wien lebende, vorher im preußischen Staatsdienst beschäftigte Publizist Friedrich von Gentz:
„…Wenn wir uns vereinigen, wenn wir unsere Familienfehden vergessen, wenn wir in der Stunde der Gefahr, in der Stunde gemeinschaftlicher Not uns entschließen konnten, Deutsche zu sein, so trotzen wir jeglichem Sturme, so wurden nie eine Fußbreite deutschen Gebietes den übermütigen Fremden zum Raube, so fiel nicht ein einziges Glied, nein auch nicht das geschiedenste und schwächste von dem wohlgebauten lebensvollen Körper des europäische Staatensystems ab…
Wenn wir aus diesem Abgrunde der Ohnmacht, worin wir heute unsere Vergehungen büßen, noch irgend etwas in uns zu reißen vermag, so ist es immer nur derselbe Entschluß, wodurch wir früher ihm entgangen sein würden. Getrennt wurden wir niedergeworfen; nur vereint können wir uns wieder erheben. Diesen einzigen Rettungsweg zu betreten, ist freilich jetzt viel schwerer als sonst; aber soviel ist unumstößlich gewiß: sollen die Staatskräfte Deutschlands je eins werden, so muß zuvor der Nationalwille eins sein.“[3]
Dieses Hinwenden zum Nationalstaat, übrigens schon Jahrzehnte vorher von Lessing, Schiller und Mozart in ihrem Streben nach Nationaltheater und Nationaloper vorgedacht, wuchs schon 1807 bei Johann Gottlieb Fichte zum ausgeprägten Nationalismus aus. Seine ‚Reden an die deutsche Nation‘ gipfelten in der Aussage: „…Charakter haben, und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend.“[4]
Nach der Niederlage und dem Zerfall der ‚Großen Armee‘ in Rußland erfuhr die nationale Befreiungsbewegung 1813 einen weiteren Höhepunkt. Fußend auf die Reformgedanken des Freiherrn von und zum Stein und des General Yorck, erließ der preußische König Friedrich Wilhelm III. am 17. März 1813 ein Landwehrgesetz und rief auf zum Kampf gegen die Franzosen:
„…Es ist der letzte, entscheidende Kampf, den wir bestehen für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unseren Wohlstand; keinen anderen Ausweg gibt es als einen ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. Auch diesem würdet ihr getrost entgegennehmen um der Ehre willen, weil ehrlos der Preuße und der Deutsche nicht zu leben vermag.“[5]
Mit dem Sieg der Koalitionstruppen bei Leipzig und dem Zurückwerfen Napoleons hinter den Rhein waren vorerst die territorialen Grenzen wiederhergestellt, doch das geistige und politische Chaos der nachnapoleonischen Ära zwang die Regierenden in Europa zu einer Neukonstitution ihrer Machtverhältnisse. Ende September 1814 versammelten sich in Wien die meisten europäischen Herrscher und leitenden Staatsmänner. Die Furcht vor einem erneuten Aufschwung der bürgerlich demokratischen Bewegung war die Ursache für das Ansinnen des Kongresses, einen Konsens trotz vielfach divergierender Interessen zu erreichen. Dem monatelangen Länderschacher machte Napoleon, ob mit Absicht oder nicht sei dahingestellt, mit seinem ‚Combeback‘ ein unverhofft schnelles Ende. Im Ergebnis bekam Preußen als Entschädigung für die an Rußland verlorenen Teile Polens einen Teil Sachsens. Am 08. Juni wurde von den Vertretern der Teilnehmerstaaten die Schlussakte des Wiener Kongresses unterzeichnet.[6]
Einen Tag später wurde in Wien durch die Unterzeichnung der Bundesakte der Deutsche Bund gegründet.[7] Ihm gehörten nach dem späteren Beitritt von Baden und Würtemberg insgesamt 41 (!) deutsche Staaten an. In diese Phase der Restauration der alten Hierarchien fiel die auf Vorschlag des Zaren Alexander I. gegründete ‚Heilige Allianz‘ zwischen Rußland, Österreich und Preußen, die zum gegenseitigen Beistand bei der Aufrechterhaltung der monarchischen Ordnung in Europa verpflichtete.[8] Der ‚Status quo‘ war so für den Augenblick wieder hergestellt. In Deutschland aber löste das Ergebnis der Wiener Verhandlungen bei den bürgerlich-demokratischen als auch den konservativ-nationalistischen Kreisen, insbesondere auch bei den 1815 in Jena von Studenten gegründeten und ganz auf nationale Einheit fixierten Burschenschaften Empörung, Wut und Trauer aus. Mit der maßgeblichen Unterstützung Rußlands war es zwar gelungen, die Fremdherrschaft abzuschütteln, doch das Errichten eines Nationalstaates unterblieb. Der Student Arminius Riemann fasst auf dem Wartburgfest 1817 die Stimmung großer Teile der Bevölkerung zusammen:
„…Das deutsche Volk hatte schöne Hoffnungen gefaßt, sie sind alle vereitelt; alles ist anders gekommen, als wir erwartet haben; viel Großes und Herrliches, was geschehen konnte, ist unterblieben; mit manchem heiligen und edlem Gefühl ist Spott und Hohn getrieben worden.“[9]
Wie weit man mit der Gründung des Deutschen Bundes vom Nationalstaat entfernt war, wird bei näherer Betrachtung deutlich. So war der Bund nichtmehr als ein loser Staatenbund ohne gemeinsames Exekutivorgan, ohne gesetzgebende Versammlung, ohne Verfassung und Gerichtshof. Die Mitgliedstaaten verband nur das Ziel der „Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten.“[10] Einziges Organ des Bundes war lediglich die Bundesversammlung in Frankfurt am Main unter Vorsitz der Österreicher – immer darauf bedacht, einen nationalen Zusammenschluss Deutschlands zu verhindern, welcher für den Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn eine große Gefahr darstellen konnte. Überhaupt sollte die künftige Bundespolitik geprägt sein vom Verhältnis der beiden Großmächte Preußen und Österreich.
Die oben bereits angeführte Unzufriedenheit führte zum maßgeblich von den Burschenschaften initiierten Wartburgfest 1817 am vierten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig. Aus ganz Deutschland fand man sich in Eisenach zusammen, um der Völkerschlacht und der Reformation zu gedenken und gleichzeitig die politischen Forderungen nach Einheit und Freiheit öffentlich vorzutragen. Solcherlei Tun, u.a. die Forderung nach einem Umsturz des bestehenden Systems inklusive Bücherverbrennungen, musste die regierenden zum Handeln zwingen. Insbesondere der österreichische Staatskanzler, Klemens Fürst von Metternich, sah seine Ziele bedroht, fürchtete um das europäische Gleichgewicht, sollte sich der Funke des Wartburgfeuers wie ein Flächenbrand über Deutschland ausbreiten.
Die Situation in Deutschland war entsprechend gespannt. Der Mord des Studenten Karl Ludwig Sand an dem Dichter und Staatsmann August von Kotzebue am 23. März 1819 war willkommener Anlass, um mit rigorosen Gesetzen gegen jede Bewegung liberalen, demokratischen und nationalen Charakters vorzugehen.[11] Nach Rücksprache mit Wilhelm III. setzte Metternich daraufhin am 20. September 1819 im Deutschen Bund die Karlsbader Beschlüsse durch. Diese beinhalteten die Entwürfe für vier Bundesgesetze – des Untersuchungsgesetzes, des Universitätsgesetzes, des Pressgesetzes und der vorläufigen Exekutionsordnung.
In großen Teilen Deutschlands wurden diese Beschlüsse jedoch weitestgehend großzügig ausgelegt, doch in Preußen und Österreich versuchte man mit zum Teil brutalem Polizeiterror die patriotische Bewegung einzudämmen, was im Großen und Ganzen gelang.[12]
Nicht allein in Deutschland war die Reaktion nur noch mit Repressionsmitteln in der Lage, den gewaltsam errichteten Damm um Europa aufrecht zu erhalten. Kopf der Restauration in Frankreich, der Wiege freiheitlich-liberaler Bestrebungen, war der Nachfolger Ludwigs XVIII. (1814-1824), Karl X. Mit seiner Politik geriet der jedoch schnell mit dem staatstragenden Bürgertum Frankreichs in Konflikte, dessen Unzufriedenheit zwischen dem 27. Und 29. Juli 1830 in Paris mit der Julirevolution eskalierte. Der König musste fliehen, an seine Stelle trat der Herzog Louis Philippe von Orleans. „ Le Roi régue, mais ne gouverne pas.“ (franz. Der König herrscht, aber er regiert nicht.) hieß es bezeichnenderweise für Frankreichs Modell einer parlamentarischen Monarchie.[13]
Wie fast überall in Europa erhielt auch die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung in Folge der Ereignisse in Frankreich neuen Antrieb. Am 27. Mai 1832 zogen mehr als 30 000 Teilnehmer zu einer Kundgebung auf das Hambacher Schloss. Geladen hatten die liberalen Publizisten Johann Georg August Wirth und Phillip Jakob Siebenpfeiffer. Das Hambacher Fest war die erste parteipolitische, radikal-liberale Volkskundgebung auf deutschem Boden. Die flammende Rede Siebenpfeiffers, voll von Kritik an den bestehenden politischen Verhältnissen Deutschlands, und die gewaltige Teilnehmerschar zwangen die Reaktion, wie schon 1817 nach dem Wartburgfest, zum Handeln. Und wieder, wie bei der Ermordung Kotzebues, bot sich mit dem Frankfurter Studentenputsch vom 03. April 1833 Gelegenheit, die Presse schärfer zu zensieren, Liberale und Demokraten zu verfolgen du abzuurteilen.[14] Doch ungeachtet aller Verfolgungen und Repressalien konnte sich die Opposition, auf Grund ihres breiten Spektrums, aus welchem sie sich rekrutierte, behaupten. Die Überlegungen konkretisierten sich soweit, dass bei der Frage nach dem Wie der deutschen Einheit sowohl eine kleindeutsche (ohne Österreich) als auch eine großdeutsche (mit Österreich) Lösung durchdacht wurde. 1833 und 1834 bei der zwingend notwendig gewordenen Errichtung eines Deutschen Zollvereins ohne die Beteiligung Österreichs schien diese Frage vorläufig beantwortet.
Und selbst in Preußen im Gegensatz zum immer stärker stagnierenden Österreich zeichnete sich mit der Machtübernahme Friedrich Wilhelms IV. (Juni 1840) eine Wende ab. Ausgerechnet seine konservative Haltung – das bedingungslose Festhalten am Gottesgnadentum – verschärfte den Widerstand im Land und stärkte die Opposition. Überhaupt führten enttäuschte Hoffnungen im Bereich der Verfassungsentwicklung und den Forderungen nach staatlicher Einheit in großen Teilen Deutschlands sowie wachsende soziale Spannungen im Zuge der Industrialisierung das Land in die Situation des Vormärz.[15]
Diese Lageeinschätzung war Mitte des 19. Jahrhunderts typisch für Westeuropa und im Angesicht der Tatsache, dass wieder Frankreich der Ausgangspunkt für die folgenden sozialen Auseinandersetzungen in ganz West- und Mitteleuropa sein sollte, entstanden meiner Meinung nach Ursachen und Motive für die entstehende marxistische Geschichtsschreibung und ihrer Theorie vom Revolutionsexport.
Der oben erwähnte Louis Philippe wurde in Frankreich im Februar 1848 des Amtes enthoben, das allgemeine Wahlrecht erlassen und das Menschenrecht auf Arbeit, ein Novum, durchgesetzt. Hauptträger dieser Umwälzung waren erstmals nicht die Bürgerlichen allein, sondern die Angehörigen des Vierten Standes – die Kleinbürger und Lohnarbeiter. Auch in Preußen mündete die sich verschärfende Krise in bewaffneten Auseinandersetzungen. Arbeiter, Handwerker, Studenten du Bürger jedweder coleur gingen am 18./19. März in Berlin auf die Barrikaden. Friedrich Wilhelm kostete die Niederschlagung 50 Soldaten. Auf der Seite der Aufständischen fielen etwa 200 Mann. Die preußische Führung zeigte sich überrascht. Man wusste zwar, dass Metternich in Österreich gestürzt worden war, hoffte jedoch über das Zugeständnis des Vereinigten Landtages vom Vorjahr[16] die Lage unter Kontrolle zu halten. Noch am Morgen des 18. März versuchte Friedrich Wilhelm IV., den Vereinigten Landtag zum 02. April wieder einzuberufen und bekannte sich für ein Preußen in Deutschland. Um eine weitere Eskalation der Gewalt zu vermeiden, befahl er den siegreichen Truppen den Rückzug. In einer Proklamation vom 21. März ‚An mein Volk und die deutsche Nation‘ stellt er u.a. fest:
„…Mit Vertrauen spreche ich heute, im Augenblick, wo das Vaterland in höchster Gefahr schwebt, zu der deutschen Nation, unter deren edelste Stämme sich mein Volk mit Stolz rechnen darf. Deutschland ist von innerer Gärung ergriffen und kann durch äußere Gefahr von mehr als einer Seite bedroht werden. Rettung aus dieser doppelten, dringenden Gefahr kann nur aus der innigsten Vereinigung der deutschen Fürsten und Völker unter einer Leitung hervorgehen. Ich übernehme heute diese Leitung für die Tage der Gefahr. Mein Volk, das Gefahr nicht scheut, wird mich nicht verlassen und Deutschland wird sich mir mit Vertrauen anschließen. Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und Mich und Mein Volk unter das ehrwürdige Banner des Deutschen Reiches gestellt. Preußen geht fortan in Deutschland auf.“[17]
Nach wochenlangem Bemühen konnte dann endlich am 18. Mai 1848 von der Opposition die verfassungsgebende Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche einberufen werden. Die Delegierten waren in der Mehrzahl Professoren, Juristen, höhere Verwaltungsbeamte, Literaten, Kaufleute, Gutsbesitzer, nur wenige Handwerker und ein einziger Kleinbauer. Arbeiter waren in diesem Gremium nicht vertreten. Lange hatten viele auf diesen Tag gewartet, der in der deutschen Geschichte einen Wendepunkt markieren sollte und es unzweifelhaft auch tat. Ziel war es, Deutschland zu einem modernen Verfassungsstaat zu entwickeln und zugleich die nationale Frage mit der Herstellung der deutschen Einheit zu lösen.[18]
Ein erster Prüfstein der Nationalversammlung war die zum Jahreswechsel 1848/49 anstehende Verfassungsdebatte. Ohnehin Anfeindungen von außen, seitens der rechten, preußischen Reaktion als auch der linken Hardliner ausgesetzt, spaltete sich das Parlament über die Debatte in ein großdeutsches und ein kleindeutsches Lager. Wie schon Mitte der 30-er Jahre gab es Überlegungen, ob Österreich (großdeutsche Lösung) in ein einheitliches Deutschland integriert wird oder nicht. Im März 1849 setzte sich das kleindeutsche Lager – unter Protest des österreichischen Ministerpräsidenten Felix Fürst zu Schwarzenberg – durch.[19] Beschlossen wurde eine Reichsverfassung, die auf der Grundlage der kleindeutschen Lösung ein Erbkaisertum mit einer starken Einheitsgewalt tragen sollte. Am 28. März 1849 erfolgte mit 290 Stimmen und 240 Enthaltungen die Wahl König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen zum Deutschen Kaiser. Es sah also alles danach aus, als ob die Nationalversammlung ihre Ziele erreicht hatte und kurz vor dem wahrhaft krönenden Abschluss ihrer Verfassung stand.
Friedrich Wilhelm IV. hatte aber das vergangene Jahr genutzt, seine Position in Preußen wiederherzustellen, ja er war gestärkt aus den Auseinandersetzungen hervorgegangen. Und der dachte gar nicht daran, sich das „Hundehalsband, mit dem man Mich an die Revolution von 1848 ketten wolle“[20] anlegen zu lassen. Überhaupt hatte er seine eigene Auffassung über den Vergabemodus der deutschen Kaiserkrone. Bereits am 13. Dezember 1848 schreib er an den preußischen Gesandten in Bern, Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen:
„…Ich sage es Ihnen rundheraus: Soll die tausendjährige Krone deutscher Nation, die 42 Jahre geruht hat, wieder einmal vergeben werden, so bin ICH es und Meines Gleichen, die sie vergeben werden. Und wehe dem, der sich anmaßt, was ihm nicht zukommt!“[21]
Die Drohung kam nicht von ungefähr, ja sie hatte in diesem Falle prophetischen Charakter. Mit der Abberufung der preußischen Abgeordneten sowie dem Austritt weiterer enttäuschter Abgeordneter stand das Parlament vor seiner Auflösung. Zunächst als Rumpfparlament nach Stuttgart umgezogen, wurde es dort am 17. Juni ausgewiesen und löste sich vollends auf.
Den deutschen Liberalen du Demokraten war es also nicht vergönnt gewesen, über die Verfassungsentwicklung ihre Ziele durchzusetzen. Es stand nun fest, dass eine Reichseinigung, wenn überhaupt, nur unter gänzlich anderen Bedingungen zustande kommen würde.
2.2 Die Ära Bismarck und Königgrätz
Die Stühle in der Paulskirche waren noch warm, da trat die preußische Politik bereits in die Periode der Restauration. Der Ausbau des Polizeisystems unter Otto von Manteuffel, eine Presseverbot, die Einführung des Dreiklassenwahlrechtes, all dies diente dazu, die Errungenschaften und Ideen der Revolution zu beseitigen. Als 1851 der Deutsche Bund wiederhergestellt wurde, entsandte Preußen mit Otto von Bismarck einen Mann als Abgeordneten, der wie kaum ein anderer prägend sein sollte für Preußens Politik im 19. Jahrhundert. Begonnen hatte er seine politische Laufbahn bereits 1847 als Abgeordneter des preußisch-vereinigten Landtages. Bismarck, damals 32 Jahre alt, gehörte der Junkerpartei an und gab sich als unerbittlicher Interessenvertreter seines Standes. Als solcher verlebte er auch die Zeit der Revolution. Über die Nationalversammlung hatte er eine ähnliche Meinung wie sein damalige König Friedrich Wilhelm IV. und die deutsche Frage behandelte er bereits im Sommer 1849 mit einer beeindruckenden Sachkenntnis, mit dem, wie ich glaube, ihm eigenen Instinkt. 22 Jahre im Voraus schreibt er am 27. August an seine Frau:
„…Die (deutsche) Frage wird überhaupt nicht in unseren Kammern, sondern in der Diplomatie und im Felde entschieden, und alles, was wir darüber schwatzen und beschließen, hat nicht mehr Wert als die Mondscheinbetrachtungen eines sentimentalen Jünglings, der Luftschlösser baut und denkt, daß irgendein unverhofftes Ereignis ihn zum großen Manne machen werde. Je m’en moque (franz. Ich spotte darüber), und die farce langweilt mich oft recht tief, weil ich kein vernünftiges Ziel dieses Strohdreschenns vor Augen sehe.[22]
So richtig konfrontiert mit der deutschen Frage wurde er aber erst als preußischer Gesandter des Bundestages in Frankfurt zwei Jahre darauf. Das Problem des preußisch-österreichischen Dualismus, mit der Neugründung des Deutschen Bundes wieder aktuell, konnte nach seinem Dafürhalten nur mit einem Ausscheiden Österreichs gelöst werden.
1858 sorgte eine nervliche Erkrankung Friedrich Wilhelms IV. für Bewegung in der preußischen Politik. Die Regentschaft übergab er seinem Bruder Wilhelm, der durch sein rigoroses Auftreten während der Revolution (Kartätschenprinz) als Repräsentant des konservativ-monarchischen Preußens galt. Hauptanliegen Wilhelms war es, dass unter seiner Regentschaft die Armee reorganisiert werden sollte, um letzte demokratische Elemente der Heeresorganisation, noch basierend auf der Reform von 1808, aufzulösen. Darüber entbrannte dann auch alsbald ein Konflikt mit der bürgerlich-oppositionellen Mehrheit des Abgeordnetenhauses.[23] Aber dazu später.
Mit dem Wechsel des Regenten ging erstaunlicherweise und entgegen allen Befürchtungen zunächst eine Lockerung des Pressegesetzes einher. Und nach der Niederlage Österreichs im Krieg gegen Italien 1859 schien man der kleindeutschen Lösung der Nationalstaatsdebatte gegenüber wesentlich aufgeschlossener zu sein. Erneut wurden die Rufe nach Einheit, Reform der Bundesverfassung und einem auf Volkswahlen begründeten deutschen Parlament laut.
1861 wurde Wilhelm dann als Wilhelm I. zum König von Preußen gekürt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der König schon gehörig Ärger mit seiner oben angeführten Heeresreform. Die Sache ging so weit, dass der frisch Gekrönte bereits erwog abzudanken, als Albrecht Graf von Roon, damaliger Kriegsminister, ihn zum Ausharren überredete und die Ernennung Bismarcks zum Ministerpräsidenten vorschlug.[24] Bismarck, der wegen seiner antiösterreichischen Gesinnung während des österreichisch-italienischen Krieges von Wilhelm 1859 als Gesandter nach Rußland auf`s ‚Abstellgleis‘ geschickt worden war, nahm die Berufung an, doch nur unter dem Vorbehalt, sich nur dann rückhaltlos für die Durchführung der Heeresreform einzusetzen, wenn er vom König freie Hand für die künftige Politik bekäme.[25]
Die Rücksichtslosigkeit, mit der Bismarck von da ab seine Politik dem Abgeordnetenhaus aufdoktruierte, führte in der Folge zum preußischen Verfassungskonflikt. Doch die Opposition war zu schwach und auch zu inkonsequent, um die Staatsgewalt an sich zu reißen. Da Bismarck in dieser Phase auch kein Rezept hatte, die innenpolitische Krise zu entschärfen, stellte er sich stur, ignorierte seine Kritiker und ging unverzüglich daran, seine außenpolitischen Zielsetzungen in die Tat umzusetzen. Gemeinsam mit Österreich besiegte er die Dänen 1864 und beendete den seit 1848 schwelenden Konflikt mit Dänemark auf seine Weise. Doch diese Bundesgenossenschaft mit Österreich im Feld täuschte. Schon länger hatte Bismarck ja den Plan, den preußisch-österreichischen Dualismus im Bund mit dem Herausdrängen Österreichs zu beenden. Nun kam freilich die Verständigungsbereitschaft Österreichs in der dänischen Frage solchen Plänen ungelegen. Im Gefolge des Sieges unterzeichneten Preußen und Österreich den Gasteiner Vertrag – man vereinbarte eine Verwaltungsteilung der von Dänemark eroberten Gebiete Schleswig, Holstein und Luxemburg, wobei Österreich die Verwaltung für Holstein zugesprochen wurde.
Bismarck handelte schnell, in dem er am 09. April 1866 im Frankfurter Bundestag einen Antrag auf Bundesreform im Sinne einer kleindeutschen Lösung stellte. Österreich forderte daraufhin eine Entscheidung des Bundes über die Hoheit von Schleswig und Holstein, was aus preußischer Sicht den Vertrag von Gastein brach. Sofort ließ Bismarck Holstein von preußischen Truppen besetzen, worauf Österreich mit einer Mobilmachung reagierte. Das Verhältnis zwischen beiden Großmächten war nun derart gespannt, dass ein Krieg nicht mehr abzuwenden war.[26] Bezeichnend für die Stimmung in Preußen und Norddeutschland im Vorfeld des Konfliktes ist die Tagebucheintragung des Generalfeldmarschalls Graf von Blumenthal vom 04. Mai 1866:
„Es sieht jetzt wieder einmal so kriegerisch aus, daß ich mir bald mein Bündel werde schnüren können; ich will daher auch ein Tagebuch beginnen, obgleich ich noch nichts niederzuschreiben habe. Die politische Situation von Preußen ist eine ganz eigenthümliche und scheint so recht eine von denen zu sein, wo es schwer sein dürfte, bestimmt nachzuweisen, was denn nun eigentlich die Veranlassung zu der großen Verwicklung und Verwirrung gewesen ist, in die wir gerathen sind. Der Grund und das bewegende Prinzip dabei liegen so tief und so fest in der preußische Geschichte und in dem ganzen Entwicklungsgange von Deutschland, daß es eigentlich auch ganz gleichgültig ist, wer jetzt Alles so zum Bruch treibt und wodurch der Bruch so beschleunigt wird. Kommen muß er ja doch. Es ist weder Schleswig-Holstein, noch Graf Bismarck oder Italien, es sind auch nicht die inneren Verhältnisse, sondern dies Alles zusammen, was nach einer Entscheidung drängt; recht interessant ist es aber, wie Alles sich so allmählich besonders und auch unerwartet gestaltet, und wie auch die feinsten Berechner nicht mehr auf acht Tage vorhersagen können, wie es kommen wird. In den letzten vier Wochen schreit Alles über Graf Bismarck, der nun einmal der allgemeine Sündenbock sein sollte, er sollte übermüthig sein und Krieg um jeden Preis wollen; er verweigere Österreich jede Compensation für Schleswig-Holstein usw. – kurz, er müßte womöglich geköpft, gerädert oder gespießt werden; jetzt, nachdem sich klar herausstellt, daß Österreich das Karnickel ist und die Rüstungen in so großem Maße betreibt, wird man Bismarck bald abbitten und ihn auf Händen tragen…“[27]
Österreichs Mobilmachung nahm Bismarck zu Anlass, um mit seiner Idee einer ‚Revolution von oben‘ die Nationalstaatsfrage ein für alle Mal zu beantworten. Preußen trat entgegen den Bestimmungen der Gründungsakte aus dem Bundestag aus, und die bewaffnete Auseinandersetzung nahm ihren Lauf. Nach wenigen Wochen entschied Preußen am 03. Juli 1866 mit der Schlacht bei Königgrätz den Kampf für sich. Die österreichischen Truppen wurden vernichtend geschlagen, die militärische Stärke Preußens für alle in Europa erkennbar, der innenpolitische Verfassungskonflikt endlich beigelegt. Der Weg zur deutschen Einheit unter preußischer Regie und durch Bismarck ‚von oben‘ geführt, schien geebnet. Die Einheit war für die meisten, die im bis dahin vielgeschähten Bismarck nun ihren Heilsbringer sahen, nur noch eine Frage der Zeit.
3. Ursachen und Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges bis zur Schlacht von Sedan
3.1 Die politische Vorgeschichte des Konfliktes
Durch Österreichs Annahme der Friedensbedingungen hatte Bismarck sein politisches Ziel erreicht. Preußen besaß sowohl militärische als auch politische Vorherrschaft in Deutschland. Trotz des Sieges verzichtete Bismarck jedoch darauf, einen einheitlichen Staat zu bilden, sondern er hielt die Errichtung eines Bundesstaates, beschränkt auf Nord- und Mitteldeutschland, als vorerst einzig praktikabel. Seine Idee war es, durch den föderativen Charakter des neuen Staates den späteren Beitritt der süddeutschen Staaten zu erleichtern.[28]
Am 17. April 1867 wurde die Verfassung des Norddeutschen Bundes, deren wichtigste Aussage die beherrschende Stellung Preußens war, von den 21 Mitgliedsstaaten und Freien Städten angenommen.[29] Außerdem war es Bismarck neben den innenpolitischen und außenpolitischen Erfolgen gelungen, die Entscheidungsfindung des Königs auf ausschließlich militärische Fragen zu beschränken. Er konnte von jetzt an – und nutzte dies auch weitestgehend – selbständig entscheiden und regieren, was im weiteren Verlauf der aufziehenden Wolken über dem Verhältnis zwischen dem Norddeutschen Bund und dem französischen Kaiserreich nicht unerheblich sein sollte. Denn der Hauptgegner seines Zieles von der Vollendung der nationalen Einigung war nunmehr das Frankreich Napoleons III. 1866 schon legte es Einspruch gegen einen Zusammenschluss der nichtösterreichischen Gebiete des Deutschen Bundes ein, befürwortete aber die Teilung in Nordbund und Südbund sowie das Herauslösen Österreichs aus dem Bundesverhältnis, wohl weil man in Frankreich glaubte, auf diese Weise einen gesamtdeutschen Nationalstaat langfristig ausschließen zu können. So unterbreitete im August 1866 der französische Botschafter Graf Benedetti in Berlin die Forderungen seiner Regierung für die beim Friedensschluss gezeigte Zurückhaltung. Man verlangte einen Teil des Saargebietes, die bayrische Pfalz und Rheinhessen, dazu noch die Stadt Mainz.[30] Natürlich lehnte Preußen ab. Daraufhin verlangte der französische Außenminister die preußische Zustimmung für eine Annexion Luxemburgs und Belgiens und bot dafür das Einverständnis für eine Vereinigung des Süddeutschen- und des Norddeutschen Bundes. Bismarck verzögerte die Verhandlungen und da Preußen ja der Vorkämpfer nationaler Interessen war, konnte einer Annexion des ehemaligen Bundesmitgliedes Luxemburg unmöglich zugestimmt werden. Mittels einer demagogischen Agitation wurde in ganz Deutschland ein Sturm der Entrüstung gegen die französische ‚Anmaßung‘ entfacht. Zugleich veröffentlichte Bismarck geheime Schutz- und Trutzbündnisse zwischen dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten. Wieder erhielt Napoleon III. einen empfindlichen Schlag durch Preußen. Die scharfen Gegensätze zwischen Preußendeutschland und Frankreich waren nun überdeutlich hervorgetreten, es bestand kaum Aussicht auf absehbare Entspannung, eher rechnete man allerorts mit dem Gegenteil.[31]
Napoleon und seine Minister zeigten von da ab deutlich, dass jeder Vereinigungsversuch zwischen Nord- und Süddeutschland einen Kriegsausbruch zur Folge hätte. Genau dahin wollte Bismarck seine Gegner bringen, denn schon länger reifte in ihm der Gedanke der Ausnutzung äußerer Gefahren, um das deutsche Volk im nationalen Abwehrkampf unter preußischer Führung zu vereinen.[32]
Jetzt, nachdem die Krisensituation entstanden war, fehlte nur noch der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen sollte – ein in der Geschichte ja immer wiederkehrender Prozess. Bald schon bot sich für Bismarck die Gelegenheit dazu. Nämlich mit der spanischen Thronkandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen. Bei der Empfehlung des Prinzen Leopold als Kandidaten für den Thron in Spanien verfolgte der Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes weitgesteckte Ziele. Nachdem 1866 bereits ein jüngerer Bruder Leopolds zum Fürsten Rumäniens gewählt worden war, hätte die Besetzung des Thrones in Madrid die Hohenzollern in Europa zu einem gewaltigen Machtfaktor werden lassen.[33] Der Gedanke einer solchen Konstellation rief in Frankreich eine Welle der Empörung und des Chauvinismus hervor. Die ohnehin auch innenpolitisch mehr und mehr unter Druck geratene Regierung Napoleons III. musste handeln. Der französische Botschafter Benedetti begann in Bad Ems Verhandlungen mit dem dort weilenden Wilhelm I. Dieser, wie oben angesprochen, war natürlich in keiner Weise mit den Plänen Bismarcks vertraut und zeigte sich verständigungsbereit. Daraufhin zog Leopold seine Kandidatur zurück. Jetzt wollte Napoleon die Situation ausnutzend, mehr und verlangte von Wilhelm die Garantie, dass der preußische König auch in Zukunft niemals der Kandidatur eines Hohenzollern zustimmen werde. Dies lehnte Wilhelm ab und schickte am 13. Juli 1870 an Bismarck ein Telegramm mit dem Inhalt seiner Unterredung mit Benedetti. Bismarck las, kürzte und publizierte seine Version der Unterredung in der Presse, denn die so gekürzte ‚Emser Depesche‘ beleidigte die französische Regierung derart, dass sie durch die akute Krise im Land gedrängt, mit einer Kriegserklärung antworten musste, um nicht schon wieder eine außenpolitische Ohrfeige Preußens zu bekommen.[34]
3.2 Zusammenfassung des bisherigen Kriegsverlaufes
Am 19. Juli überreichte Frankreich die Kriegserklärung an Preußen. Laut Bundesverfassung und gemäß den Bündnisverträgen mit den süddeutschen Staaten bedeutete dies den Kriegszustand Frankreichs mit allen deutschen Staaten. Doch schon vorher hatten beide Kriegsparteien ihre außenpolitischen Aktivitäten verstärkt. Klar war, dass Frankreich die Sympathien von Dänemark und Österreich genoss. Aber wie weit würden dieses Sympathiebekundungen gehen? Außerdem gab es da ja noch Rußland, welches sich drohend gegen ein Bündnis Österreichs mit Frankreich stellte, weil sonst seine eigenen Interessen bedroht worden wären. Italien schließlich trat nicht an Frankreichs Seite, weil noch immer französische Truppen in Rom den Kirchenstaat stützten und so eine völlige Einigung Italiens blockierten.[35]
Und England? Wenn man eine französische Niederlage bedachte, wäre das für die Stellung Frankreichs in Europa und in den Kolonien nur zum Besten des Inselreiches. Blieb den Franzosen noch die Hoffnung auf ein Abdriften einzelner süddeutscher Staaten aus dem Schutz- und Trutzbund. Doch hier machte die süddeutsche Bevölkerung Napoleon III. einen Strich durch die Rechnung. Ein französischer Sieg, so viel war allen klar, hätte den deutschen Nationalstaat auf Jahr e in die unterste Schublade deutscher Politik geworfen. Da arrangierte man sich lieber mit dem Militarismus Preußens.
Die Gegner standen sich also Auge in Auge gegenüber, und bei aller Hoffnung aus beiden Seiten war nicht abzusehen, wer letztlich die Oberhand würde behalten können[36] Vom preußischen Generalsstab waren die Erfahrungen von 1866 aufgenommen und in die Planung des anstehenden Feldzuges einbezogen worden. Zu Kriegsbeginn belief sich die Stärke der deutschen Feldarmee auf 520 000 Mann Infanterie und Kavallerie. Denen stellte Frankreich anfangs 360 000 Mann gegenüber.[37] Gemäß dem Aufmarschplan des preußischen Generalstabes konzentrierte sich das Bundesheer – gegliedert in drei Armeen – in der Pfalz und im Gebiet von Saar und Mosel. Das Kommando der stärksten, der 2. Armee, führte Prinz Friedrich Karl, das der 3. Armee, welcher neben den preußischen alle süddeutschen Einheiten angehörten, der Kronprinz Friedrich. Die 1. Armee führte der König von Preußen selbst.[38] Das Ziel der preußischen Kriegsführung bestand darin, eine französische Offensive wirksam abzuwehren und den Gegner möglichst auf eigenem Territorium zu schlagen.
[...]
[1] Vgl. Vogler, Günther / Vetter , Klaus: Preußen. Berlin. 1979.S. 118
[2] Vgl. Streisand, Joachim: Deutschland 1789-1815. Berlin. 1981. S. 146
[3] Görtemaker, Manfred: Deutschland im 19. Jahrhundert. Bonn. 1989. S. 52 / Alle, auch nachfolgend in der Darstellung im Text verwendeten Quellen und Darstellungen folgen der Rechtschreibung im Original.
[4] Ebenda. S. 54
[5] Ebenda. S. 59 / Aus Breslau von Wilhelm III. erlassen, da Berlin noch von den Franzosen besetzt war.
[6] Vgl. Vogler / Vetter. a.a.O. S. 175. / In der Vereinigung des protestantischen Hohenzollernstaates mit dem katholischen Rheinland – wenn auch vorübergehend und ohne territoriale Verbindung, sieht Marion Gräfin Dönhoff die entscheidende Ausgangsposition für en weg zur deutschen Einheit. VGL. auch Dönhoff, Marion Gräfin v.: Preußen. Maß und Maßlosigkeit. Berlin. 1987. S. 54
[7] Ebenda. / Die Angaben hierzu sind verschieden. Görtemaker führt den 08. Juni an S. 76, Vogler / Vetter den 10. Juni
[8] Vgl. Görtemaker. a.a.O. S. 74
[9] Vogler / Vetter. a.a.O. S. 176
[10] Siehe Deutscher Bundestag (Hrsg.): Fragen an die deutsche Geschichte. Bonn. 1990 S. 48/49
[11] Ebenda. S. 55
[12] VGL. Görtemaker. a.a.O. S. 87
[13] Ebenda. S. 91
[14] VGl. Ebenda. S. 94
[15] Hinzu kam eine gewaltige Bevölkerungsexplosion in Europa, die gewaltigen Einfluss auf die sozialen Verhältnisse der untersten Schichten haben sollte. Nur durch die parallel verlaufende explosive Industrialisierung in West- und Mitteleuropa konnten damals Zustände, wie sie heute i Somalia oder Äthiopien anzutreffen sind, verhindert und aufgefangen werden. Ausdruck der sozialen Auseinandersetzung sind die Aufstände der schlesischen Weber 1844 gewesen. Siehe auch Schulze, Hagen: Der Weg zum Nationalstaat. München. 1986 S. 49 ff.
[16] Vgl. Görtemaker. a.a.O. S. 105 / Der Vereinigte Landtag wurde von Friedrich Wilhelm IV. erstmals am 11. April 1847 einberufen. Schon am 26. Juli, nach Differenzen mit den bürgerlich-oppositionellen Abgeordneten, wurde er wieder geschlossen. Siehe dazu auch Vogler / Vetter. a.a.O. S. 206
[17] Ebenda. S. 107
[18] Ebenda. S. 113
[19] Ebenda. S. 129
[20] Ebenda. S. 138
[21] Schulze. a.a.O. S. 164
[22] Wolter, Heinz: Otto von Bismarck. Dokumente seines Lebens. Leipzig. 1986. S. 94
[23] Vgl. Börner, Karl Heinz: Wilhelm I. Berlin. 1984. S. 128 ff.
[24] Vgl. Görtemaker. a.a.O. S. 227
[25] Darüber berichtet Bismarck folgende köstliche Episode: Im Zug nach Berlin unterrichtet er den König über seine politischen Absichten, unabhängig vom Landtag seine Vorstellungen durchzusetzen und zu verwirklichen. Daraufhin äußert der König, dass es dann nicht lange dauern wird, bis erst Bismarcks und dann sein eigener Kopf rollen werden. Bismarck erwiderte die Floskel: „Et aprés? (franz. Und dann?) „Aprés lieber Bismarck, aprés sind wir tot“, antwortet ihm Wilhelm.
[26] Vgl. Görtemaker. a.a.O. S. 232
[27] Blumenthal, Albrecht v.: Tagebücher des Generalfeldmarschalls Graf von Blumenthal 1866 und 1870/71. Berlin. 1902. S. 3
[28] Vgl. Görtemaker. a.a.O. S. 241
[29] Siehe Vogler / Vetter. a.a.O. S. 277
[30] Vgl. Börner. a.a.O. S. 199/200
[31] Vgl. Helmert, Heinz / Usczeck, Hans-Jürgen: Preußischdeutsche Kriege 1864 bis 1871. Berlin. 1967. S. 174
[32] Ebenda. S. 175
[33] Vgl. Börner. a.a.O. S. 201
[34] Ebenda. S. 202 ff.
[35] Vgl. Helmert / Usczeck. a.a.O. S. 179
[36] Man darf in diesem Zusammenhang zwei Dinge nicht unterschätzen. Bis dato galt die kaiserliche Monarchie Frankreichs als stärkste militärische und politische Macht in Europa. Ihre Armeen hatten den Nimbus der Unbesiegbarkeit inne. Außerdem konnte keine Gewähr gegebenen werden, dass die oben angeführten Kräfte- und Bündniskonstellationen so würden bestehen bleiben.
[37] Vgl. Börner. a.a.O. S. 204 / Insgesamt wurde im Verlauf des Krieges die Friedensstärke des Norddeutschen Bundesheeres von 382 000 Mann über Mobilmachung und Anschluss der süddeutschen Streitkräfte auf 1,2 Millionen Soldaten aufgestockt. Für Frankreich sind genaue Zahlenangaben schwieriger zu erstellen. Bis zum zweiten September kämpften etwa 500 000 bis 600 000 reguläre Truppen auf französischer Seite. Über die Zahl der Truppenaushebungen unter republikanischer Regie liegen keine genauen Angaben vor. Schätzungen belaufen sich auf ca. 800 000 Soldaten.
[38] Ebenda.
- Citation du texte
- Jens Holger Fidelak (Auteur), 1992, Die Schlacht von Sedan und ihre Auswirkungen auf die deutschen Einheitsbestrebungen 1870/71, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/353178
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