In der Wissenschaft geht es häufig um die Frage, ob und wie sich Theorien mit einander verbinden oder verallgemeinern lassen. So ist es z.B. ein Ziel der Physik eine Grand Unified Theory (GUT) zu schaffen, um verschiedene Kraftwirkungen einheitlich erklären zu können. Es wurden auch bereits erfolgreich die Gesetze, die bei der Bewegung von Himmelskörpern beobachtet wurden, mit den Gesetzen für die Bewegung von Körpern auf der Erde zu einer gemeinsamen Theorie vereint. Auch fächerübergreifend wird heute versucht z.B. die Psychologie mit den Gesetzen der (Neuro-)Biologie oder gar der Chemie oder Physik zu erklären. Auch Computersimulationen der menschlichen Intelligenz und des menschlichen Bewusstseins scheinen so nur noch eine Frage der Rechenleistung zu sein, sollte eine vollständige Reduktion der Psychologie auf die Physik gelingen.
Die folgende Arbeit widmet sich der Frage, ob und unter welchen Bedingungen derartige Theorienreduktionen möglich sind. Dazu vergleicht sie die Positionen von Ernest Nagel und Ansgar Beckermann, die in dieser Frage Gegenpositionen vertreten. Trotz der Verschiedenartigkeit der Ansichten gelingt es, die beiden Begriffssysteme zu vergleichen, und den Unterschied und die Gemeinsamkeiten der Positionen mitsamt ihrer Konsequenzen für die Möglichkeit von Theorienreduktionen herauszustellen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung - Der Kapitän in der Flasche
2 Nagel vs. Beckermann
2.1 Ernest Nagel: Die Reduktion von Theorien
2.1.1 Formale Bedingungen
2.1.2 Informelle Bedingungen
2.2 Ansgar Beckermann: Emergenz und reduktive Erklärbarkeit
3 Ein Vergleich beider Positionen
4 Konklusion - Die Rückkehr auf das Schiff in der Flasche
1 Einleitung - Der Kapitän in der Flasche
Neuere Forschungen der Neurobiologie geben uns ein immer präziser werdendes Bild von den Vorgängen im menschlichen Körper. Jeder Teil des Organismus wird in seiner Funktion immer genauer erfasst und in leistungsfähigen Computern derart implementiert, dass eine Computer-Simulation des Verhaltens einzelner Zellen und Organe mit zunehmender Genauigkeit möglich wird. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der gesamte Körper mit all den Wechselwirkungen zwischen seinen Teilen mathematisch simuliert werden kann. Eine derartige Simulation würde die Simulation des menschlichen Gehirns einschließen und könnte Maschinen mit menschlichem Bewusstsein, menschlicher Intelligenz oder gar menschlichen Empfindungen infizieren. Der Versuch der genauen Beschreibung menschlicher Stoffwechselvorgängen könnte in der Schaffung künstlicher Intelligenz und künstlichen (Selbst-) Bewusstseins enden.
Eine solche Simulation eines gesamten Menschen einschließlich seines Bewusstseins beziehungsweise seiner Seele geht allerdings von zwei stillschweigenden Voraussetzungen aus, deren Wahrheit durchaus nicht unmittelbar einsichtig ist.
1. Die These des Physikalismus:Alle Vorgänge sind physikalisch determiniert und werden ausschließlich durch Zustände und Zustandsänderungen der Materie verursacht.
Diese These scheint für die meisten Vorgänge relativ unumstritten zu sein. Bezieht man sie allerdings auch auf mentale Phänomene, scheiden sich die Geister. Schon René Descartes vertrat mit seinem Substanzdualismus[1] eine gegenteilige Position. (vgl. Kunzmann, 1998, S. 107). Wäre, Descartes folgend, unsere Intelligenz oder unser Bewusstsein eine Eigenschaft nicht-materieller Dinge, so würde keine noch so vollständige und genaue Simulation des menschlichen Körpers Intelligenz zeigen oder ein Bewusstsein besitzen. Diese würde dann einfach nicht simuliert werden.
Selbst wenn wir nun die These des Physikalismus als wahr anerkennen, so reicht dies noch nicht hin, um die vollständige Erklärung des Menschen einschließlich seiner mentalen Eigenschaften theoretisch zu ermöglichen. Wir müssen zusätzlich folgendes postulieren:
2. Die These der Erklärbarkeit: Alle materiellen Eigenschaften, Vorgänge und Zustände sind eindeutig beschreibbar und alle Phänomene lassen sich anhand von Naturgesetzen voraussagen.
Diese These ist trivialerweise falsch, sollten wir sie nur auf die Naturgesetze beziehen, die uns zum heutigen Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Ihre Aussage bezieht sich aber auch auf alle Naturgesetze, die im Moment noch unentdeckt sind. In dieser Fassung hat die These in der Philosophie eine heute noch anhaltende Diskussion ausgelöst, die, je nachdem wie sie ausgeht, nicht nur Implikationen für die hier angesprochene Simulation von Intelligenz hat, sondern gleichwohl Verfahrensweisen in der Wissenschaft in Frage stellt und Einfluß auf Bereiche von der Erkenntnistheorie bis hin zur Systemtheorie hat. Im Verlaufe der Diskussion haben sich zwei diffuse Lager gebildet: das der Reduktionisten und das der Emergentisten. Das Ziel dieses Textes ist es nun einen groben Einblick in die Problemstellung zu geben und die Positionen von zwei Vertretern aus unterschiedlichen Lagern miteinander zu vergleichen.
2 Nagel vs. Beckermann
Im folgenden werde ich einen Text von Ernest Nagel referieren, der sich mit der Frage beschäftigt, wie und unter welchen Bedingungen man eine wissenschaftliche Theorie auf eine andere zurückführen (reduzieren) kann. Es sind Theorienreduktionen gemeint, wie beispielsweise die Reduktion der Theorie der Thermodynamik auf die Theorie der statistischen Mechanik. Durch eine geeignete Übersetzung der thermodynamischen Begriffe in Begriffe der statistischen Mechanik wurde die Erklärungskraft der letztgenannten Theorie so erweitert, dass sämtliche thermodynamischen Gesetze fortan in ihr erklärt werden konnten. (vgl. Nagel, 1961, S.339)
Für den Vergleich werde ich weiterhin einen Text von Ansgar Beckermann vorstellen. Dieser spricht nicht von Theorienreduktion, sondern von der reduktiven Erklärbarkeit von Eigenschaften komplexer Systeme. Es geht dabei darum, das Verhalten eines Systems allein aus der Art und Anordnung seiner Teile zu erklären. Ein Beispiel für solch eine reduktive Erklärung wäre, aus der Bauart und Anordnung der Teile Karosserie, Fahrwerk, Motor, u.s.w. das Verhalten eines Autos zu erklären. Ein anderes Beispiel wäre die Schlussfolgerung, dass Wasser unter 0°C fest (gefroren) ist, aus dem Verhalten von H2O- Molekülen.(vgl. Beckermann, 2002, S.124)
Ich strebe nun einen Vergleich dieser beiden Positionen an, doch wie kann ich das, wenn der eine Text das Verhalten wissenschaftlicher Theorien zum Gegenstand hat, der andere aber das Verhalten von Systemen und ihren Teilen untersucht?
[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Wie wir noch detaillierter sehen werden, wird bei der Theorienreduktion eine Theorie auf eine andere Theorie reduziert bzw. in eine andere Theorie übersetzt. Diese andere Theorie nenne ich in Anlehnung an Nagel „primäre Theorie“, während die ursprüngliche Theorie, die übersetzt wird, „sekundäre Theorie“ heißt. (siehe Abb.1) (vgl. Nagel, 1961, S.338)
Übersetzungsregeln
[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] sekundäre Theorie primäre Theorie
(Abb.1)
Nach vollendeter Reduktion sollen alle Gesetze der sekundären Theorie aus den Axiomen[2] der primären Theorie unter Zuhilfenahme bestimmter Annahmen (Übersetzungsregeln) logisch geschlussfolgert werden können.
Bei einer reduktiven Erklärung hingegen wird das Gesamtverhalten eines Systems (z.B. Wasser) aus dem Verhalten seiner Teile (der H2O-Moleküle) gefolgert. Was wir hierbei reduzieren sind jedoch nicht die Moleküle oder die Flüssigkeit. Was wir reduzieren ist die Theorie über das Verhalten von Wasser.[3] Diese agiert dann als sekundäre Theorie, während die Theorie des Verhaltens von H2O-Molekülen die Rolle der primären Theorie übernimmt.[4] Wenn wir reduktiv Erklären, bedeutet das, dass wir die Gesetze, denen Wasser gehorcht, auf die Gesetze zurückführen, denen die H2O-Moleküle unterliegen. Das ist nichts anderes als die (nagelschen) Übersetzungsregeln zu finden, die unsere „sekundäre“ Theorie über Wasser in unsere „primäre“ Theorie über H2O-Moleküle übersetzbar machen.
Das Konzept der reduktiven Erklärung entpuppt sich als Spezialfall der Theorienreduktion.[5] Damit sind die beiden genannten Texte vergleichbar.
2.1 Ernest Nagel: Die Reduktion von Theorien
Als erstes werde ich nun die Position von Ernest Nagel vorstellen. In seinem Text geht es (wie angekündigt) um Theorienreduktion.
Beispiele hierfür hat es in der Geschichte schon mehrfach gegeben. Nagel führt das Beispiel der zwei Galileischen Wissenschaften an: die Wissenschaft der Bewegung der Himmelskörper und die Wissenschaft der Bewegung der Körper auf der Erde. Beide Galileischen Wissenschaften handelten von verschiedenen Arten von Körpern, und gaben sehr unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten für deren Bewegungsverhalten an. Während die irdischen Körper der zweiten Wissenschaft immer nach unten fielen, bewegten sich die Himmelskörper seiner ersten Wissenschaft auf kreisähnlichen Bahnen. Diese Unterscheidung zwischen irdischen und Himmelskörpern wurde überflüssig, als Newton allgemeinere Gesetze fand, die die Bewegung aller Körper beschreiben konnten. Die beiden Wissenschaften Galileos wurden auf die Newtonsche Theorie reduziert. (vgl. Nagel, 1961, S.339)
Diesen Fall der Theorienreduktion nennt Nagel homogen. Er meint damit:
„the laws of the secondary science employ no descriptive terms that are not also used with approximately the same meanings in the primary science.“ (Nagel, 1961, S. 339)
Die beiden sekundären Theorien Galileos beschreiben dieselben Dinge und nutzen dieselben Begriffe, wie Newtons Theorie[6]. Es handelt sich hierbei also um eine homogene Reduktion. Diese Form der Reduktion hält Nagel für unproblematisch und schenkt ihnen deshalb im weiteren Verlauf des Textes keine weitere Beachtung. Dringender erscheint ihm eine nähere Betrachtung des von ihm als „heterogen“ bezeichneten Typs von Reduktionen. Hier beinhaltet die sekundäre Theorie beschreibende Ausdrücke, die die primäre Theorie nicht enthält.[7]
In such cases, the distinctive traits that are the subject matter of the secondary science fall into the province of a theory that may have been initially designed for handling qualitatively different materials and that does not even include some of the characteristic descriptive terms of the secondary science in its own set of basic theoretical distinctions. (Nagel, 1961, S.340)
[...]
[1] Substanzdualismus heißt die Behauptung, die Seele bestünde aus einer zweiten nicht-materiellen Substanz und ist kausal nicht völlig abhängig von physikalischen Vorgängen. „Der Geist aber ist frei “[ vom Körper und seinen physikalischen Beschränkungen.] Descartes räumt aber auch eine gewisse Abhängigkeit beider voneinander ein: „Gott sorgt dafür, dass bei der richtigen Gelegenheit der körperliche und der geistige Prozess parallel laufen“ (beide Zitate bei Kunzmann, 1998, S. 107)
[2] Axiome heißen die Grundannahmen, aus denen eine Theorie besteht. Aus den Axiomen einer Theorie lassen sich alle ihre Aussagen herleiten.
[3] Sie beinhaltet zum Beispiel Sätze, wie „Wasser nimmt bei einer Temperatur über 0°C die Form des Gefäßes an, in dem es sich befindet.“
[4] Welche Sätze enthält, die ungefähr so lauten: „Bei einer mittleren kinetischen Energie der Moleküle, die einer Temperatur von über 0°C entspricht, bilden sich keine starken Bindungen zwischen den Molekülen, so dass diese gegeneinander verschiebbar sind.“
[5] Ein Beispiel für eine Theorienreduktion, die keine reduktive Erklärung ist, ist die Reduktion der zwei Galileischen Wissenschaften (die Theorie der fallenden Körper auf der Erde und die Theorie der Bewegung der Himmelskörper) auf die Theorie der Newtonschen Mechanik mit der Gravitationstheorie. Die letztgenannte kann sowohl das Verhalten irdischer Körper als auch das Verhalten von Himmelskörpern mit den gleichen Gesetzen beschreiben. In diesem Fall wird nämlich von der sekundären Theorie kein System beschrieben, dessen Teile die primäre Theorie zum Gegenstand hat, d.h. beide Theorien befinden sich auf derselben Beschreibungsebene.
[6] Begriffe wie Masse, Geschwindigkeit, Bewegung, Bahngeschwindigkeit, Körper
[7] Homogene Reduktionen sind nach Nagel ein Spezialfall der heterogenen. (Nagel, 1961, S.342)
- Arbeit zitieren
- Franz Wegener (Autor:in), 2002, Reduktive Erklärbarkeit bei Nagel und Beckermann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35223
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