Nachdem der Text von dem heiligen Leben der Gertrud von Ortenberg in der einzigen überlieferten Handschrift über Jahrhunderte hin unbeachtet geblieben war, wurde er durch Hans Derkits in seiner (maschinenschriftlichen) Dissertation vom Jahr 1990 erstmals wieder der Forschung und dadurch dann auch einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgemacht. Eine Drucklegung ist in den über 25 Jahren seither leider noch nicht gelungen; das Bedürfnis, zumindest in einer neuhochdeutschen Übersetzung den Text verfügbar zu haben, ist hingegen ständig gestiegen.
Diesem Bedürfnis soll nun Rechnung getragen werden, ohne damit einer von Hans Derkits geplanten endgültigen kritischen Edition samt Übersetzung vorgreifen zu wollen. Ziel ist es, einerseits den Originaltext – solange er noch nicht ediert vorliegt – so weit wie möglich erkennbar zu belassen, andererseits einen Text bereitzustellen, der auch für nicht Fachkundige lesbar und zugleich - durch hinzugefügte Überschriften – auch in seinen Einzelheiten gut zugänglich ist.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einführung
Überlieferung des Textes
Die Schreiberin der Vita
Die Hauptperson
Realhistorische Aspekte der Vita
Die Vita als Frauenliteratur
Die Vita als Gnadenvita
Die Gnadenvita als mystischer Weg
Probleme des heutigen Verständnisses
Aspekte der Forschung
Ein menschenfreundliches Gottes- und Menschenbild
Zur Übersetzung
Nähe zum Originaltext
Interpretierende Eingriffe
Erschließung des Textes für heutige LeserInnen
Der Titel der Vita
Umgang mit dem Text
Text Von dem heiligen Leben der Gertrud von Ortenberg
Das Vor-Leben in der Welt
Prolog – Herkunft der Gertrud von Ortenberg
Kindheit und Jugendzeit
[Früher Tod der Eltern]
[Harte Kinderjahre]
[Erste geistliche Erfahrungen]
[Gebetsleben und Zuwendung zu den Armen]
[Schlimme Erfahrungen mit den Geschwistern]
[Überlegungen über Gertruds Zukunft]
Ehe und Leben in der Welt
[Heirat mit Ritter Rickeldegen]
[Geistliches Leben in der Ehe]
[Geburten und ihre Komplikationen]
[Frömmigkeitsleben und Tugenden]
[Geringschätzung alles Weltlichen]
[Tod des Ehemanns]
[Aufenthalt auf der Schauenburg]
[Umzug nach Offenburg zu einer Begine]
[Geburt des vierten Kindes und Abschied vom weltlichen Leben]
[Versorgung der Kinder]
Die Anfänge des geistlichen Lebens – Weg der Reinigung – verwundet von gotte
Übungen zur Überwindung der Eigennatur
[Gottgefälliger Lebenswandel]
[Geistliche Fastnacht]
[Ausrichtung des ganzen Lebens auf Gott]
[Reue und Beichte]
[Mitempfinden mit dem Leiden Christi]
[Flucht der Heilke von Staufenberg und Aufnahme bei Gertrud]
[Aufnahme in den Dritten Orden der Franziskaner; Kleidung einer Begine; Tod des letzten Kindes]
[Kampf gegen die Fehler der Eigennatur]
[Körperliche und religiöse Krise in der Fastenzeit]
[Unfähigkeit zu körperlicher Askese]
[Übungen in Askese des Geistes; übermäßiges Weinen]
[Exkurs: Die Lebensgemeinschaft Gertruds und Heilkes]
[Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme; Gliederbeben]
[Exkurs: Entstehung und Wirklichkeitsgehalt der Niederschrift]
[Weitere Übungen des Geistes: Armenpflege]
[Kasteiungen wegen weltlicher Schönheitspflege]
[Zustände von Lachen und Singen]
[Demütigender Aufenthalt in einer Stallung]
[Außergewöhnliche geistig-körperliche Zustände]
[Exkurs: Ungenügen der Niederschrift]
[Harte Übungen, um den Leib gehorsam zu machen]
[Begierde nach Marter und Leiden]
[Zustände von Freude und Wonne]
[Wechselnde Zustände von Lachen und Weinen]
Fortschreiten im geistlichen Leben – Weg der Erleuchtung – gebunden zuͦ got
Ausrichtung auf ein Leben einzig nach dem Willen Gottes
[Das Ziel der Vollkommenheit]
[Ausrichtung des ganzen Lebens auf Gott]
[Vorbildlichkeit von Gertruds Leben, in demütiger Gottergebenheit]
[Leben einzig nach dem Willen Gottes]
Gnadenerfahrungen
[Predigt von der alles erfüllenden Gnade Gottes]
[Gespräche mit Vertrauten über die Gnadenerfahrungen]
[Rasches Aufmerken auf die Gegenwart der Gnade]
[Über die Liebe von Gott und Mensch]
Erfahrungen der Gegenwart Gottes
[Hinwendung des Herzens einzig zu Gott]
[Berührtsein von der Gegenwart Gottes]
[Erfahrung der Gegenwart Gottes besonders während der Messe]
[Erscheinen göttlichen Lichts]
Entfaltung eines demutsvollen Tugendlebens
[Liebe zu einem keuschen, weltabgewandten Leben; Werben für ein Leben in geistlichem Stand]
[Bedachtsames Einwirken auf die Mitmenschen]
[Gertruds Demut]
[Sich „lassen“ auf Gott hin, im Vertrauen auf die Güte Gottes]
[Demütiges Sich-Ergeben in den Willen Gottes]
[Demut gegenüber Menschen und Gott]
[Liebevoller und demütiger Umgang, auch mit Sündern und Armen]
[Demut in Lebensverhältnissen und Lebensweise, in der Nachfolge Christi]
[Demütiges Einwirken auf andere, durch Zureden und Vorbild]
[Demütiges Abwehren von Ehrerbietungen; Freisein von Dünkel]
Barmherzige und milde Fürsorge für Bedürftige
[Barmherzigkeit und Milde gegenüber den Armen; Fürsorge für Kinder]
[Rückhaltlose Fürsorge für Kranke]
[Liebevolle Pflege von Aussätzigen]
[Betteln zugunsten der Armen]
Seelsorgerisches Wirken
[Bemühen um Sünder und Säumige]
[Gebets-Seelsorge]
Abkehr von allem Äußeren und Zuwendung zu allen Geschöpfen
[Belastende Rücksichtnahme auf Verwandte und Lehensleute]
[Streben, ein armer verlassener Mensch zu sein]
[Erbarmen mit allen Geschöpfen, auch den Tieren]
[Liebevolle Zuwendung zu kleinen Kindern]
Liebe zu den Heiligen, und geistliche Vermählung
[Verehrung Marias und der anderen Heiligen durch Fasten und Gebet]
[Sankt Johannes Evangelist als Eigenapostel; geistliche Vermählung]
[Feier eines Geistlichen Mai]
[Die allgegenwärtige Güte Gottes]
Todeswunsch und Ergebung in den Willen Gottes; Armut in der Nachfolge Christi als Lebensziel
[Todessehnsucht und Ergebung in die Vorsehung Gottes]
[Armut, in der Nachfolge Christi]
Unabhängigwerden von körperlichen Bedürfnissen, und Aufgeben des Eigenwillens
[Askese im Essen]
[Ablassen vom Eigenwillen]
[Widerstand gegen jede Bequemlichkeit und die Freuden des Hörens und Sehens]
Unter der Herrschaft des Geistes
[Herrschaft des Geistes über alles Denken und Tun]
[Ausrichtung allen Denkens und Tuns hin auf Gott]
[Hören auf den Geist, die innere Stimme]
Differenzierter Umgang mit Fehlern
[Erbarmungsvolles Verständnis für Sünder]
[Hohe Tugendforderung an Nahestehende]
[Hohe Maßstäbe in der Regelung eigener Angelegenheiten]
Blick für das Befinden anderer und Bemühen um ihr Seelenheil
[Die Gabe weitreichender Wahrnehmung]
[Wahrnehmung des Seelenzustands anderer, und Sorge für ihr Seelenheil]
[Beilegung von tödlichen Feindschaften]
[Feindesliebe]
Überwindung der Eigennatur und geduldiges Ertragen von Leiden
[Überwindung der Eigennatur, und Übung in allen Tugenden]
[Geduldiges Ertragen von Leiden]
[Betrachtung des Leidens Christi]
Auf der Höhe des geistlichen Lebens: mit und in Gott – Weg der Einung – minnensuͤch vnd vereinet mit gotte
Geistlicher Tod und neues, gottgemäßes Leben
[Vertraute Begegnungen mit Gott; geistlicher Tod]
Erfahrungen der Gottesfremde und der Gegenwärtigkeit Gottes
[Erfahrung der Gottesfremde, in Einwilligung in den Willen Gottes]
[Unmäßige Freuden beim Erleben der Gegenwart Gottes]
Verzückungen, und Vereinigung mit Gott
[Zustände von Verzückungen]
[Vereinigung mit Gott]
[Weitere Zustände von Verzückungen]
[Liebe zu den Engeln, und Vereinigung mit den Personen der Gottheit]
Abwendung von allem Äußeren, und Zustand der Gelassenheit
[Abtötung der Eigennatur, und Abwendung von allem Äußeren; Exkurs: Grenzen der Niederschrift]
[Stille Ruhe und innerer Friede; Bildlosigkeit; mystische Gelassenheit]
Überschreiten der Grenzen des Körpers und des Selbst
[Freiwerden des Körpers in der Gnade]
[Selbstvergessenheit im Gebet]
[Minnebrand des Herzens]
Fortdauerndes Bewusstsein der menschlichen Unzulänglichkeit
[Grenzen der Vertrautheit mit Gott]
[Selbstkritische Sicht Gertruds auf ihre geistliche Ehe]
Leben und Wirken in der Gegenwärtigkeit Gottes – vs geslagen in die doͤrffelin dirre welt
Das Vorbild des Lebens Jesu Christi
[Betrachtung des menschlichen Lebens Jesu Christi]
Sorge für das Seelenheil Verstorbener und Sterbender
[Gebetsfürsorge für die Armen Seelen]
[Miterleiden der Todesfurcht Sterbender]
[Aufopferung guter Werke und unermüdliches Wirken für das Seelenheil Verstorbener]
Sorge für das Seelenheil der in der Welt Lebenden
[Einfühlsame Seelsorge für die Lebenden]
[Blick auf das törichte Treiben in der Welt; Miterleben der Passionstage]
Blick für das Leben und den Seelenzustand der Menschen
[Vielfalt der Annäherung an Gott, mit den Kräften der Natur oder des Geistes]
[Einblick in das Leben anderer Menschen]
[Einblick in das eigene Seelenleben]
[Einblick in den Seelenzustand anderer Menschen]
[Die Kraft von Gertruds gutem Rat und Gebet]
Körperliche Erscheinungsformen des inneren Erlebens
[Außergewöhnliche körperliche Zustände; Exkurs, mit dem Gleichnis vom gütigen Vater: Witwen und Jungfrauen]
Intensivierung des geistlichen Lebens und Wirkens
Sehnsucht nach der vollkommenen Armut
[Betteln, in Sehnsucht nach Armut]
Eingehende Gewissenserforschung, Buße, und Wiedergutmachung der Sünden
[Vertiefte Gewissenserforschung]
[Abbüßen der Sünden und Wiedergutmachung durch zahllose Gebete]
[Innere Zweifel, und Vision des Jüngsten Gerichts]
[Grenzen und Erleichterungen in den Bußübungen]
[Brunnenvision; Ablegen einer allumfassenden Generalbeichte]
[Über den Wert und die Art dieser Beichte]
Umzug nach Straßburg in Hinblick auf die Vertiefung des geistlichen Lebens
[Umzugspläne; Festlegung des Vermögens]
[Kauf eines kleinen Hauses in Straßburg]
[Abschied von Offenburg]
Streben nach Schlichtheit, und Einsatz für die Hilfsbedürftigen
[Demütige Zurückhaltung]
[Verzicht auf Überflüssiges, und Einsatz der materiellen Mittel in Notzeiten]
[Erlösung des sündigen Ehegemahls aus dem Fegefeuer]
Sakramentenempfang in innerer Freiheit
[Außergewöhnlich häufiger Empfang des Eucharistiesakraments]
[Die Minne zu Gott überwiegt die Furcht vor Gott; Freiheit des Tuns]
[Innerer Frieden auch in den Einschränkungen während der Beginenverfolgung]
Die Verwirklichung eines Lebens in vollkommener äußerer und innerer Armut
Der vollkommene Verzicht auf Besitz
[Sehnsucht nach uneingeschränkter Armut]
[Verzicht auf Besitzdenken]
[Verzicht auf Eigentum]
[Verzicht auf alle persönlichen Dinge]
Verzicht auf jede Sicherheit, und Erfahrung der Verlassenheit
[Absicht, auch auf den letzten, der Lebensabsicherung dienenden Besitz zu verzichten]
[Auseinandersetzung um die rechte Art der Armut]
[Verlassenheit durch das Abstandnehmen vertrauter Ratgeber]
[Entschlossenes Beharren auf völliger Besitzlosigkeit]
[Unwiderstehliches innerstes Bedürfnis nach völliger Besitzlosigkeit]
[Rechtliche Regelung der Besitzübergabe]
[Sterben der Eigennatur, Selbstfindung und innerer Friede im Verzicht auf alles Eigene]
Leben in Fremdsein und in Unterordnung
[Bereitschaft zum Verzicht auch auf die vertraute Lebenswelt und zum ungesicherten Bettlerleben in der Fremde]
[Fremdsein auch in der vertrauten Lebenswelt, in größter Armut]
[Fremdsein auch gegenüber der engsten Vertrauten, in unbedingtem Gehorsam gegenüber Gott]
[Erlaubnis von Ausnahmen in bestimmten Situationen]
[Fortwährende Überprüfung der Richtigkeit des eigenen Handelns, und Leben in bedingter Sicherheit]
[Leben in völliger Unterordnung]
[Ablehnung von Wohltaten, und Blick auf noch Ärmere]
Vollkommener Friede im Zustand der wahren Armut, und Sinken in die Gottheit
[In der wahren Armut des Geistes]
[In vollkommenem Frieden mit Gott, mit sich selbst, mit allen Geschöpfen]
[In der wahren Vergessenheit]
[Sinken in die Gottheit]
Die Bestätigung und Vollendung des heiligen Lebens
Spiegelung des Lebens in mystischer Predigt
[Predigt über ein Leben in Innerlichkeit]
Die Heilswege Gottes
[Gedanken über das Schicksal Ungerechter und Gerechter]
[Ein seliger Tod]
Mystische Predigt über die Geheimnisse Gottes
[Predigt über Sankt Johannes Evangelist, den Adler auf dem Berg Libanon]
[Tiefe Wirkung der Predigt auf Gertruds Innerstes]
Lebensgestaltung im Sinne des franziskanischen Armutsideals
[Ablehnung jeder materiellen Vorsorge und Absicherung]
[Leben nach dem Ideal franziskanischer Armut]
Endgültige Regelung der Lebensverhältnisse, und Epilog
Rückkehr nach Offenburg, und Leben in einer kleinen Schwesterngemeinschaft
[Rückkehr von Straßburg nach Offenburg]
[Endgültige Regelung der Lebensverhältnisse, im Zusammenleben mit zwei Regelschwestern]
Epilog
Textauszüge
Ich will in die Stadt
Der blühende Zweig
Das liebliche Antlitz
Die scherzende Freundin
Der feste Pflock
Die liebe Sonne
Der Baum
Der Adel der Tugend
Die verwahrlosten Kinder
Der zertretene Wurm
Das hübsche Trinkgläschen
Ein Ja zum Leben
Die hoffärtige Dienerin
Als ob es fliegen wolle
Verzückt
Im Innern kein Bild
Unterschiedliche Wege zu Gott
Die adelige Natur des Menschen
Die Blumen der Armen
Die widerlegte männliche Autorität
Freundschaft
Die wahre Armut des Geistes
In vollkommenem Frieden
Sinken in die Gottheit
Ein armer Mensch sein
Eine Auswahl weiterer bemerkenswerter Stellen:
Literatur
Texte und Übersetzungen
Forschungsliteratur
Vorwort
Nachdem der Text von dem heiligen Leben der Gertrud von Ortenberg in der einzigen überlieferten Handschrift über Jahrhunderte hin unbeachtet geblieben war, wurde er durch Hans Derkits in seiner (maschinenschriftlichen) Dissertation vom Jahr 1990 erstmals wieder der Forschung und dadurch dann auch einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgemacht. Eine Drucklegung ist in den über 25 Jahren seither leider noch nicht gelungen; das Bedürfnis, zumindest in einer neuhochdeutschen Übersetzung den Text verfügbar zu haben, ist hingegen ständig gestiegen. Diesem Bedürfnis soll nun Rechnung getragen werden, ohne damit einer von Hans Derkits geplanten endgültigen kritischen Edition samt Übersetzung vorgreifen zu wollen. Ziel ist es, einerseits den Originaltext – solange er noch nicht ediert vorliegt – so weit wie möglich erkennbar zu belassen, andererseits einen Text bereitzustellen, der auch für nicht Fachkundige lesbar und zugleich - durch hinzugefügte Überschriften – auch in seinen Einzelheiten gut zugänglich ist.
Zu danken habe ich zuallererst der Bibliothèque Royale de Belgique für die Bereitstellung eines Digitalisats der Handschrift Ms 8507-09 und die Erlaubnis zur Übersetzung des Textes. Anneke B. Mulder-Bakker hat mir den Text der englischen Übersetzung von Gertrud Jaron Lewis freundlicherweise zur Verfügung gestellt und meine Arbeit mit Auskünften unterstützt; für sachkundige Hilfen danke ich auch Eugen Hillenbrand, Balázs J. Nemes und besonders Werner Williams.
Essen, im Januar 2017
Siegfried Ringler
Einführung
Der Text von dem heiligen Leben der Gertrud von Ortenberg gehört gewiss zu den wichtigsten Zeugnissen deutschsprachiger Frauenliteratur im 14. Jahrhundert; er ist ebenso als realhistorisches wie auch als literarisches Dokument in vielerlei Hinsicht einzigartig. Schon Kurt Ruh sprach von einer „ganz ungewöhnlichen, wirklich ‚sensationellen‘ Entdeckung“.[1] Geschrieben und überliefert ohne Zutaten oder Eingriffe männlicher Autoren, weist er als durchaus stilisierter Text geistlicher Literatur doch eine ganz ungewöhnliche Nähe zu realen Gegebenheiten auf; er gibt unverfälschte Einblicke in mancherlei Bereiche mittelalterlichen Lebens, besonders in die Lebenswelt und die Spiritualität der Beginen. Literarisch folgt er dem Muster einer Gnadenvita[2], verzichtet jedoch auf eine Schilderung des leiblichen Todes der Hauptperson und die damit gewöhnlich verbundene hagiographische Überhöhung; zudem setzt er eindeutig den Akzent auf die Armutsfrage und die 'abgescheidenheit'. Somit ist der Text gewissermaßen die realhistorisch fundierte Gnadenvita einer Begine unter dem Einfluss franziskanischer und dominikanischer Spiritualität.
Überlieferung des Textes
Überliefert ist die Vita einzig in einer Sammelhandschrift aus der frühen zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, geschrieben im Straßburger Kloster St. Nikolaus in undis. Durch die Sammeltätigkeit der Bollandisten kam sie nach Brüssel, wo sie heute in der Königlichen Bibliothek, Ms 8507-09, aufbewahrt wird.[3] Die Gertrud-Vita steht hier zwischen zwei Werken, die berühmte Heilige betreffen: einer deutschsprachigen Fassung des 'Legatus divinae pietatis' Gertruds von Helfta und der deutschsprachigen Fassung von Raimunds von Capua 'Leben der heiligen Katharina von Siena'.
Die Schreiberin der Vita
Verfasst wurde die Vita schon bald nach Gertruds Tod (vgl. f.198r) von einer Schreiberin, die Gertrud noch persönlich gekannt hat (f.178r-179r). Sie greift vor allem auf Berichte von Gertruds Freundin Heilke zurück (vgl. f.146r), die als Hauptquelle zu gelten hat; Textpassagen in der Ich- oder Wir-Form könnten dafür ein Zeugnis sein (f.188r; 212v). Die Schreiberin der Endfassung war zweifellos belesen und literarisch begabt, sie hat das vorhandene Material gesichtet und konsequent in Form einer Gnadenvita strukturiert. Beachtlich ist auch ihr stilistisches Können. Mag der Erzählton der Vita zuerst auch recht schlicht erscheinen, so zeigt die nähere Betrachtung, dass dies durchaus gewollt ist, bis hin zu umgangssprachlich gebrochenen Satzkonstruktionen. Ein geradezu an Leitmotive erinnernder Gebrauch zentraler Wörter, eine höchst anschauliche, sinnenhaft realistische Erfassung von Situationen und Gemütszuständen, und dazu auch die Kenntnis wichtiger Motive der mystischen Tradition: dies alles zeugt von durchaus beachtlicher literarischer Qualität.
Die Hauptperson
Die Hauptperson dieser Vita, Gertrud von Ortenberg, ist historisch beglaubigt, die biographischen Aussagen des Textes lassen sich weitgehend mit Hilfe anderer Quellen belegen.[4] Geboren wurde sie vermutlich zwischen 1275 und 1285 auf der Burg Ortenberg, als Tochter einer Freifrau von Wildenstein und deren Ehemanns, des Ritters Erkenbold von Ortenberg. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern wird Gertrud zuerst bei verschiedenen Bauern aufgezogen und wächst dann, als Belastung empfunden, unter harten Lebensbedingungen auf der Burg ihrer Verwandten auf. Schließlich wird sie (zwischen 1296 und 1298) mit dem Ritter Heinrich von Rickeldey/Rückeldegen verheiratet und bekommt in kürzester Zeit vier Kinder. Nach dem baldigen Tod ihres Ehemanns (um 1301/02) zieht sie nach Offenburg, um dort als Begine ein ausschließlich geistliches Leben zu führen. Nachdem kurz darauf auch all ihre Kinder verstorben sind, wird sie Mitglied des Dritten Ordens des hl. Franziskus, geistlich beraten von Brüdern des Franziskaner- und Dominikanerordens. Heilke von Staufenberg, die vor ihren Brüdern geflohen ist, wird ihre vertraute Freundin. 1317/18 ziehen beide um nach Straßburg, nachdem sie schon zuvor des öfteren dorthin gegangen waren, um Predigten zu hören und am anregenden religiösen Klima der Stadt teilzuhaben. Nachdem zehn Jahre später ihr dort erworbenes Haus in einem Stadtbrand 1327 vernichtet worden war, kehren beide nach Offenburg zurück, wo sie schließlich bei zwei Regelschwestern Wohnung nehmen. Am 23. Februar 1335 stirbt Gertrud und wird auf dem Friedhof des Offenburger Franziskanerklosters begraben. Die Grabinschrift und zwei Stellen der Vita (f.165r; 199r) zeigen, dass sie in Offenburg als Helferin der Stadt und ihrer Menschen Verehrung fand. Ihr Grab wurde 1689 durch Kriegseinwirkung zerstört.
Realhistorische Aspekte der Vita
Inhaltlich ist die Vita Gertruds gekennzeichnet durch eine Vielzahl von realhistorischen Angaben. Vielfältige Einblicke in die Welt der Beginen zeigen Einzelheiten ihres Gemeinschaftslebens ebenso wie ihres Wirkens in der Öffentlichkeit, bis hin zu Fragen der Kleiderordnung. Die Beginen stehen in engem Kontakt sowohl mit Franziskanern als auch mit Dominikanern, ohne dass je eine Konkurrenzsituation der beiden Bettelorden angedeutet wäre. Die Welt des Adels erscheint keineswegs „edel“, sondern ist vorwiegend geprägt von Gewalttätigkeit, Verschwendung und ökonomischem Eigennutz. In der städtischen Welt kommt vor allem die Unterschicht in den Blick: die oft trostlos prekäre Situation der Bettler, der Kranken und der Kinder der Armen. Zugleich wird deutlich, wie die Stadt Straßburg geradezu als Magnet auf religiös bewegte Frauen wirkte. Gertrud und Heilke selbst werden dabei durchgehend nicht nur in ihrem religiösen Streben gezeigt, sondern behalten bis zuletzt einen nüchternen Sinn für die ökonomischen Aspekte ihres Lebens: in erbrechtlichen Angelegenheiten ebenso wie in der Regelung von Vermögensfragen verfolgen sie konsequent das Ziel wirtschaftlicher Unabhängigkeit.
Die Vita als Frauenliteratur
So ist die Vita auch für die Frauenforschung von gar nicht zu überschätzender Bedeutung. Gegen Widerstände jeder Art geht Gertrud mit größter Selbständigkeit ihren eigenen Weg. Sie sucht sich ihre Geistlichen selbst aus, zieht diese zu Rate, ohne sich je von ihnen abhängig zu machen, regelt mit Nüchternheit ihre ökonomischen Angelegenheiten und versucht, Fragen des Alltags ebenso wie die des geistlichen Lebens letztlich im Dialog mit ihrer Freundin Heilke zu lösen. Dabei scheut sie auch nicht Konflikte mit hochstehenden, gelehrten männlichen Persönlichkeiten (z. B. f.219vf.). Zugleich liefert die Vita einen Beleg für die These, dass Viten von Frauen über Frauen anders sind als die von Männern redigierten[5]: Wesentlich ist die konkrete Gestaltung des religiösen Lebens; Gertrud wird nicht zur Heiligen stilisiert, so sehr, dass sogar die Schilderung des seligen Todes entfallen kann.
Die Vita als Gnadenvita
Für die gesamte Vitenforschung bietet der Text vielfältiges Material, und zwar ebenso in Hinblick auf die Entstehung einer Vita wie auch auf die Gattungstypologie. Bei aller Nähe zu biographischer und realhistorischer Wirklichkeit ist er doch deutlich in Art einer Gnadenvita strukturiert. Wesentlich ist das seelische Geschehen, ihm wird letztlich auch die Chronologie untergeordnet (z. B. f.199r); einzelne Geschehnisse werden zudem unter wechselnden Gesichtspunkten zweimal berichtet (z. B. f.167v/229v). Mehrfach verschieben Vorhinweise ein Motiv auf später (z. B. f.142r). Insgesamt ist durchgehend eine konsequente Strukturierung des Geschehens erkennbar.
Nach dem auf das Nötigste beschränkten Vor-Leben in der „Welt“ entspricht die Entwicklung des eigentlichen Gnadenlebens offensichtlich dem bekannten Stufen-Modell des Dreifachen Wegs der Anfangenden, Fortschreitenden und Vollendeten (incipientes, proficientes, perfecti), der mit den Stufen der Reinigung, Erleuchtung, Einigung (purgatio, illuminatio, unio) auch als Weg des mystischen Aufstiegs bekannt war; im wesentlichen stimmen damit auch die drei ersten Teile der mystischen Predigt gegen Ende der Vita überein. Diese mögliche Dreiteilung muss allerdings nicht unbedingt auf Vorbilder zurückgehen, sie spiegelt ja gewissermaßen eine naturgemäß naheliegende Entwicklung geistlichen Lebens.
Entscheidend ist aber , dass die Vita, ebenso wie die in ihr zitierte mystische Predigt, darüber hinausgeht mit einem vierten Schritt, der umfangmäßig fast die zweite Hälfte des Textes einnimmt: das Gnadenwirken in der Welt. Es kann geradezu als Kennzeichen echter Mystik gelten, dass auf Erden die Gottesbegegnung nicht Ende, sondern Mitte des Wegs ist, der dann von Gott wieder zurück zum – von der Gottesbegegnung geprägten – Wirken unter den Menschen führt.
Die Gnadenvita als mystischer Weg
Der mystische Weg, den die Gnadenvita beschreibt, beginnt mit Übungen zur Überwindung der Eigennatur. Das Aufgeben des Eigenwillens, das heißt des auf das eigene Ich gerichteten Willens, führt zur Ausrichtung auf ein Leben einzig nach dem Willen Gottes. In zunehmenden Gnadenerfahrungen entfaltet sich zugleich Gertruds Tugendleben, das besonders von den Tugenden der Demut, Barmherzigkeit und Milde geprägt ist, wobei Güte, Barmherzigkeit und Milde auch kennzeichnende Eigenschaften Gottes sind. Der Todeswunsch bedeutet zugleich den Beginn eines neuen Lebens, das nun ausschließlich unter der Herrschaft des „Geistes“ steht und die Armut in der Nachfolge Christi zum Ziel hat. Das für die Gertrud-Vita besonders charakteristische Wort „Geist“ meint die maßgebende Kraft ihres Inneren; in manchem erinnert es an das sokratische „Daimonion“. Daneben steht auch das für Gnadenviten so charakteristische „brennende Herz“[6] (f.134rf.; 188v). Endgültig führen dann das Erleben von geistlichem Tod, Entfremdung und Verzückungen hin zur Unio mit Gott. Dem folgt eine Intensivierung des geistlichen Lebens und Wirkens, gipfelnd in der vollkommenen äußeren und inneren Armut, der „wahren Armut des Geistes“ (f.230r), verbunden mit dem Zustand vollkommenen Friedens.
Ähnlichkeiten mit Gedanken Meister Eckharts sind hier überdeutlich, ohne dass bis jetzt zu klären ist, wie weit sie von ihm selbst oder aus seinem Umfeld stammen. Auf die Nähe zu Marguerite Porète hat bereits Kurt Ruh hingewiesen.[7]
Grundsätzlich verbietet es die literarische Struktur der Gnadenvita, die Abfolge der geschilderten Ereignisse mit der realen biographischen Abfolge gleichzusetzen. Wenn etwa zum Schluss der Vita hin Gertrud sich immer mehr von der „Welt“ zurückzieht, so entspricht das der Absicht des Textes, ein Ideal völliger Armut – auch in den sozialen Beziehungen – deutlich zu machen, vielleicht sogar im Sinne der „vernichtigten Seele“ (l’âme adneantie) der Marguerite Porète. Ob es auch das Ideal der Begine Gertrud zu ihrem Lebensende hin war, ihr soziales Wirken zugunsten einer vergeistigten Innerlichkeit aufzugeben, ist dem Text einer solchen Gnadenvita grundsätzlich nicht zu entnehmen.
Probleme des heutigen Verständnisses
Heutigen LeserInnen wird aber auch noch einiges mehr an dieser mystischen Vita schwer zugänglich sein.
Harte körperliche Askese, im Sinn der Kasteiung, findet bei Gertrud zwar schon bald an ihrer körperlichen Schwäche eine Grenze, wird aber durchaus von ihr versucht. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass man im Europa der damaligen Zeit Formen der Askese, wie sie etwa in Asien üblich waren, nicht kannte; so strebte man durch „Versuch und Irrtum“ danach, den Leib dem Geist gehorsam zu machen (f.144r; 149r). Dieses Ziel ist in der Gertrud-Vita stets maßgebend; hier dient die Kasteiung nicht wie in manchen anderen Frauenviten dem Abbüßen von Sündenschuld, und sie wird auch nicht im Sinne der Imitatio der Passion Christi nahezu zum eigenen Wert geistlichen Strebens. Dass es nicht um asketische Härte geht, sondern darum, vom Eigenwillen abzulassen, zeigt sich auch darin, dass Gertrud bereit sein muss, gegen ihren Willen sogar luxuriöses Essen zu sich zu nehmen (f.171v).
Ebenso wie die Kasteiung wird auch die exzessive Gebetsaskese, mit der Gertrud nach innerer Reinigung strebt, uns Heutigen fremd sein. Hier ist zu denken an ihre zweifellos traumatischen Erlebnisse in Kindheit und Ehe, ebenso wie an die nicht selten offensichtliche Ungeduld ihres Charakters, wobei ihr Wille oft heftig mit der Wirklichkeit ihrer Lebensumstände in Konfrontation geriet. Da gelang es ihr nun, ohne dass sie die Hilfen heutiger Psychotherapie gehabt hätte, durch Gebet und intensive geistliche Beratung zu innerem Frieden zu gelangen.
Schließlich werden dann auch Gertruds Versuche, wahre Armut zu realisieren, in manchem Unverständnis erregen; so können etwa die verschiedenen Regelungen, die für ihr Leben in und zugleich außerhalb der Hausgemeinschaft getroffen werden, doch recht „gewollt“ und künstlich erscheinen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Gertrud damit nicht irgendein erdachtes Ideal der Armut erzwingen wollte, sondern nur das praktizierte, was die konkrete Realität der damals allgegenwärtigen Armen war (vgl. f.170r; 171r; 225r u. ö.). Sie hatte durchschaut, dass auch die Armut der Beginen, der „Armen Schwestern“, soweit sie in Gemeinschaften lebten, nur die begrenzte Armut der höheren Schichten war.
Aspekte der Forschung
Für die wissenschaftliche Forschung bietet die Vita vielfältiges Material und wirft zugleich zahlreiche neue Fragestellungen auf. Ebenso wie Lokalgeschichte, Ordensgeschichte, Frauen- und Genderforschung sind hier Literatur- und Gattungsgeschichte, Theologie und Mystikforschung angesprochen. Dabei wären beispielsweise im Bereich der Beginenforschung insbesondere auch Parallelen oder mögliche Bezüge zur Mystik der Marguerite Porète zu klären.
Ein menschenfreundliches Gottes- und Menschenbild
Bei aller Vielfalt heutiger Annäherung an diese Beginenvita kann jedoch kein Zweifel sein, dass die Vita Gertruds letztlich in allem ein Zeugnis geben will vom Glauben an einen menschenfreundlichen Gott, der den Menschen „edel“ (f.154v; 197v) geschaffen hat, und von einem den leiblich und geistlich Bedürftigen aller Schichten menschen-freundlich zugewandten Leben, in dem Gertrud auf andere einwirkt, ohne sie unter Druck zu setzen, mehr mit milden Worten als mit Härte (f.164r), und in dem sie, über ihren eigenen Weg hinaus, auch andere Wege des Heils anerkennt (f.197rf.).
Zur Übersetzung
Nähe zum Originaltext
Grundlegend für die Übersetzung ist das Faktum, dass der Originaltext noch nicht gedruckt vorliegt; die Übersetzung, die ja immer auch Interpretation ist, kann also nicht mit dem Blick auf das Original überprüft werden. Deshalb wird eine „freie“ Übersetzung vermieden, der Originaltext soll, soweit irgend möglich, erkennbar sein. Zumeist ist das auch erreichbar, da das Mittelhochdeutsch der Gertrud-Vita in bemerkenswerter Weise dem heutigen Deutsch bereits nahe ist. Die meisten Wörter sind auch heutigen LeserInnen bekannt, selbst wenn sich ihr spezifischer Gebrauch inzwischen verschoben hat. Wörter wie z. B. andaht, ernst, fride, geist, heilig, selig, trost, oder auch ding, die für den Text kennzeichnend sind, werden deshalb belassen und nicht nach Gutdünken unterschiedlich wiedergegeben, damit auch ihre oft geradezu leitmotivische Funktion erkennbar bleibt, ebenso wie die texttypische Schlichtheit der Diktion. Damit auch der sehr charakteristische Erzählton der Vita vernehmlich sein kann, werden zudem die oft weit ausholenden dz -Sätze meist übernommen und nicht durch Infinitiv-Konstruktionen oder logisch-rationale Konjunktionen, wie weil und damit, der heutigen Sprechweise angepasst. Aus dem gleichen Grund werden auch Ausrufe- und Fragezeichen nur selten verwendet; denn auch die Dialoge sind zumeist erzählend, und ihr ruhiger narrativer Ton des Sprechens sollte nicht dramatisiert werden. Ebenso bleiben inkonsequente Satzkonstruktionen erhalten, selbst auf Kosten heutiger grammatischer Korrektheit, entsprechend der Spontaneität des Originals und seiner Nähe zu umgangssprachlicher Rede. Genauso werden dann auch wechselnde Genera der Pronomina beibehalten, so etwa in den maskulinen Formen des Originals (z. B. einer), selbst wenn eindeutig eine weibliche Person gemeint ist, und die häufigen Wortwiederholungen werden nicht durch ersatzweise gesetzte Pronomina nivelliert.
Interpretierende Eingriffe
Umgekehrt bleiben Personalpronomina auch dann stehen, wenn sie in ihrer Zuordnung zu bestimmten Personen verwirrend sind; soweit nötig, wird die gemeinte Person dann in runder Klammer genannt, z. B sú / sie (Heilke). Solche interpretierenden Eingriffe sollen jedoch auf das Nötigste beschränkt sein. So stehen dann in runder Klammer auch Texterweiterungen, die den originalen Wortlaut in den seltenen Fällen, in denen er nicht hinreichend verständlich ist, ergänzen. Wo dagegen ein Wort mehrere Deutungen haben kann, ermöglicht in eckiger Klammer das mittelhochdeutsche Wort ein eigenes Urteil. Zu rechtfertigen ist auch die Entscheidung, das mittelhochdeutsche sprach durch das neuhochdeutsche sagte wiederzugeben, abweichend von der Regel, verständliche Wörter zu belassen. Der Text unterscheidet genau zwischen sprechen, das wörtliche Reden einleitet, und sagen, das Formen des Berichtens (erzählen, darlegen, sprechen, reden, sagen) bezeichnet. In heutigem Deutsch würde jedoch der Ausdruck sprach das, was Gertrud und deren Freundin Heilke einander sagen, auf eine zu „hohe“ Ebene bringen; der scheinbar anspruchslose Gesprächston wäre dann nicht mehr zu vernehmen. Auch der Ausdruck jungfrowe wird bei Heilke speziell übersetzt; er erschient bei ihr geradezu als Namenszusatz und wird deshalb standardisiert durch Jungfer wiedergegeben, in Unterscheidung zu den sonst gebrauchten Übersetzungen Jungfrau, junge Frau oder Dienerin. Der Ausdruck vnser herre / vnser lieber herre wird im Text wie ein Name verwendet; dies soll durch die Großschreibung Unser Herr / Unser Lieber Herr erkennbar sein, vergleichbar der bekannten Schreibweise Unsere Liebe Frau.
Erschließung des Textes für heutige LeserInnen
Neben der soweit wie möglich authentischen Wiedergabe von Wortlaut und Sprachton ist es jedoch auch ein Hauptziel der Übersetzung, den Text für heutige LeserInnen zugänglich zu machen. Dies soll vor allem durch hinzugefügte Überschriften erreicht werden. Mittig gesetzte Überschriften sollen die Struktur des Textes erkennbar machen, vor allem in den durch Fettdruck herausgehobenen Hauptüberschriften. Diese deuten die Vita entsprechend den drei Stufen des mystischen Aufstiegs als Via purgativa (Weg der Reinigung), Via illuminativa (Weg der Erleuchtung) und Via unitiva (Weg der Einung), den die Incipientes (Anfangenden), Proficientes (Fortschreitenden) und Perfecti (Vollkommenen) zurücklegen. Dieser dreifache Weg entspricht zugleich den Stufen des inneren Lebens, wie sie in der Predigt gegen Ende der Vita (f.232r) gekennzeichnet sind, nur dass diesen dann über die Stufe der Einung hinaus eine vierte Stufe folgt, die dem Wirken in der Welt gilt.[8] Diese vier Stufen der Predigt werden in Kursivschrift zitiert. Weiterhin sollen in eckige Klammern gesetzte Teilüberschriften kleinschrittig die einzelnen Teilthemen benennen und so zugleich auch den Zugriff auf den Text unter spezifischen Fragestellungen erleichtern. Um auch ein wissenschaftliches Zitieren zu ermöglichen, werden in eckiger Klammer und Fettdruck die Folioangaben eingesetzt. Eine Zeilenzählung unterbleibt; sie würde hinfällig, sobald eine Edition des Originaltextes mit entsprechender Zeilenzählung vorliegt.
Anmerkungen sind auf das Nötigste beschränkt und betreffen zumeist nur mögliche Übersetzungsvarianten sowie nicht unmittelbar eingängige Parallelen zur Mystik oder zur „mystischen“ geistlichen Literatur. Sie sollen auf die durchgehend aufscheinenden mystisch-theologischen Dimensionen wenigstens punktuell hinweisen. Die angeführten Belegstellen beschränken sich zumeist auf ein einziges Werk (Ringler 1980), das hinreicht, den Motivgebrauch zu belegen, aber selbstverständlich nicht eine Beschäftigung mit der sonstigen Forschungsliteratur erübrigt. In dieser Hinsicht verdient die Vita eigene Studien, die den vielfältigen real- und geistesgeschichtlichen Hintergrund des Textes erschließen.
Der Titel der Vita
Der Titel des Werks – „Von dem heiligen Leben“ – ist dem Text selbst entnommen (f.133r; 146r; 239v). Als Name der Hauptperson wird der bislang in der Forschung übliche Name „Gertrud von Ortenberg“ beibehalten, so wie Gertrud schon in der frühesten wissenschaftlichen Erwähnung ihrer Vita in den Acta Sanctorum heißt: „Gertrudis Ortenbergica“[9]. Zwar wird Gertrud in ihrer Vita mehrfach mit dem angeheirateten Namen „Rickeldey / Rickeldegen“ benannt, doch in ihrem Leben war die kurzzeitige Ehe eher nur eine – traumatisch belastete – Episode. Wesentlich prägender war ihre Herkunft von Ortenberg, so wie auch „Ortenberg“ auf den „Sitz im Leben“ dieser Vita verweist, falls man nicht den möglichen, bislang jedoch gänzlich unüblichen Zunamen „von Offenburg“ vorziehen wollte.
Umgang mit dem Text
Sollten dem Text einzelne Passagen entnommen werden, um aktuellen Zwecken zu dienen, so spricht nichts dagegen, bei solchen Auszügen die Wortwahl ebenso wie den Satzbau stärker dem heutigem Sprachgebrauch anzupassen. Einzelne Beispiele hierfür sind der eigentlichen Übersetzung angefügt im Abschnitt „Textauszüge“. Diese Textauswahl soll für diejenigen, die mit heutigen Fragestellungen an den Text herangehen, einen ersten Einblick geben in die Lebensverhältnisse der Zeit und die spirituellen Grundlagen dieser Vita. Die unverstellte Unmittelbarkeit der Szenen und der lebensvolle Realismus der Sprache lassen die literarische Qualität dieser Stücke erkennen. Hier wie auch sonst erweist sich der Text als eindrucksvolles Zeugnis von Frauenliteratur ebenso wie als mystische Literatur beachtlichen Rangs.
Text Von dem heiligen Leben der Gertrud von Ortenberg
Das Vor-Leben in der Welt
Prolog – Herkunft der Gertrud von Ortenberg
[133r] Dieses Buch handelt [ dis ist ] von dem heiligen Leben der seligen Frau, genannt die Rückeldegen, und davon, was an großen Wundern Unser lieber Herr mit ihr gewirkt hat. Mit ihrem eigenen Namen war sie Gertrud genannt.
Es lebte ein wackerer Ritter auf einer Burg namens Ortenberg, die nahe bei einer Stadt namens Offenburg liegt Der Ritter hatte eine Ehefrau und mehrere Kinder von ihr, sowohl Söhne als auch Töchter. Nun starb die Frau des Ritters. Da geschah es nun, dass der Ritter eine andere Frau zur Ehe nahm; diese war weit vornehmer und von höherem Adel als die erste, denn sie war eine Freigeborene [ sú wz friges geslehtes ], gebürtig von den Freiherren von Wildenstein. Nun schenkte Unser Lieber Herr dem Ritter und seiner Frau ebenfalls mehrere gemeinsame Kinder. Vor allem war da ein Töchterlein; diesem Kind war in seinem ganzem Leben und sein ganzes Leben hindurch Unser Herr gar vertraut; und Unser Herr hat ihm gar viel von seinen vertraulichen Geheimnissen und seiner großen Güte gezeigt und geoffenbart. In allem und ihr ganzes Leben hindurch da war Unser Herr vertraut mit ihr und stand ihr in besonderer Freundschaft nahe. Etwas davon werdet ihr im Folgenden hören.
Kindheit und Jugendzeit
[Früher Tod der Eltern]
Als das Kind geboren war, da ging der Ritter, der Vater des Kindes, zu dem Bad, in dem man das Kind badete, und sagte: „Es soll mein Kind und meine Tochter sein.“ Nun wollte Unser Herr dem Kinde die Liebe seines Vaters nicht vergönnen und nahm ihm den Vater hinweg von dieser Welt, als das Kind gerade sieben Wochen alt war. Zwei Jahre danach oder etwas früher, da nahm die Frau, die Mutter des Kindes, ihr Hab und Gut und was ihr zukam, und sie begab sich wieder [133v] nach Hause zu ihren Angehörigen. Denn die Stiefkinder und ihr Vermögen ließen es nicht zu, dass sie bei ihren Kindern blieb. Einige Zeit danach da überkam sie gar schlimmer Jammer nach ihren Kindern, und sie begab sich wieder zurück und wollte sie sehen. Da schlossen die Stiefkinder die Kinder dieser Frau in eine Kammer ein, dass sie sie nicht sehen konnte. Nur durch die Türspalten und unter der Türe hindurch erblickte sie ihre Kinder, soweit sie da etwas sehen konnte. Und da sich ihre Stiefkinder so misslich [ vntugentlich ] zu ihr verhielten, da begab sie sich wieder nach Hause und starb auch kurz danach.
[Harte Kinderjahre]
Nun war dieses Kind das kleinste und jüngste, und es hätte unbedingt gebraucht, dass man es mit Güte und Wohlwollen behandelte. Denn es war von Kindheit an ein schwaches, krankes, bejammernswertes Kindlein, und schwach an Körper und Kraft bis zu seinem Tod. Man gab nun das Kind außer Haus in die Täler (unterhalb der Burg) [ in die telre ], um es aufzuziehen, und zwar zu einem Bauern nach dem andern. Besonders war da ein Mann, der es aufzog; wie dem gelohnt wurde, das werdet ihr noch hören.
Als das Kind eine zeitlang so aufgezogen worden war, da holten es die Stiefgeschwister wieder heim in ihr Haus und zogen es da auf mit gar großer Härte und ohne Güte. Und wenn das Kind weinte und es ihm an etwas mangelte, da packte die Magd es von hinten an seinem Kleidchen oder sie erwischte es an einem Arm und stieß es gegen die Tür an die Erde, dass ihm gar weh geschah. Und wenn es nicht sofort ruhig war oder es aus Schwäche oder durch sein kindliches Alter sich nicht brav [ súnerlich ] verhalten konnte oder mochte, da lief die Magd herbei und machte einen dicken, harten Strohwisch und verbleute und verdrosch [ zerreip vnd zerzerrete ] das Kind an seinem kleinen Körper. Und das machte sie so oft, dass das Kind an seinem Körperchen sehr wund und entzündet wurde, bis man darauf aufmerksam wurde. Das Kind hatte einen Stiefbruder, der war zu ihm entgegenkommender [ milter ] als die anderen; der [134r] erzürnte und hatte Erbarmen mit dem Kind. Er zwang die junge Frau und die anderen, dass sie das nicht mehr zu tun wagten, und er zwang sie, dass sie das Kind heilten. Und mit Mühen und Schmerzen heilten sie das Körperchen des Kindes.
Nun redete dieses Kind nicht, bis dass es ein großes Töchterlein wurde; es vergingen wohl drei Jahre oder mehr, dass es nie ein Wort sprach. Und als es das erste Mal zu reden anfing, da hörte es ein Ritter, und vor Staunen und voller Freude sagte er: „Ei, das Töchterlein hat angefangen zu reden.“ Da behielt es den Namen Töchterlein, bis es ein großes junges Fräulein wurde. Bei diesem zeichenhaften Geschehen, dass es nicht so frühzeitig redete so wie ein anderes Kind, da kann man wahrnehmen, dass Unser Herr irgendetwas Besonderes mit ihm wirken wollte, so wie er auch früh anfing, es bei ihm zu tun.
[Erste geistliche Erfahrungen]
Als es noch ein kleines Töchterlein war, da lebte die Frau eines Ritters auf der selben Burg. Sie war eine gute Frau und sprach gerne von Gott und vom Leiden Unseres Herrn. Zu der ging es, und wenn es diese derart sprechen hörte, da hörte es das so gerne, dass es sich stets zu der Frau begab, wenn es dies konnte oder sich getraute. So gerne hörte es über Unseren Herrn sprechen. Als es so groß geworden war, dass es tätig sein[10] [ wúrcken ] konnte, da getraute es sich nicht, müßig zu gehen. Da nahm es seinen kleinen Spinnrocken, oder was man ihm sonst zu tun gab, und war sehr froh, wenn man es ihm erlaubte, und lief rasch hin zu der Frau und bat sie, sie solle zu ihm über Unseren Herrn und besonders über das Leiden Unseres Herrn sprechen. Nun sprach die Frau aber nur gar schlicht und in einfachen Worten über das Leiden Unseres Herrn. Da hörte das Kind das so recht gerne, und sobald es von der Marter Unseres Herrn sprechen hörte, da wurde es stets in seinem Herzen so entzündet, dass es den Eindruck hatte, dass ihm so recht eine eigenartige Hitze und eine Flamme von dem Herzen und der Seite ausgingen. Deshalb legte es zuweilen seine [134v] Hand vorne auf sein Herz und drückte sein Herz mit seiner Hand hin zu sich. So sehr schlugen ihm eine Hitze und ein Feuer vom Herzen her entgegen. Und das geschah ihm gewöhnlich, ohne dass es darüber etwas wusste; denn es wusste da noch nicht, wovon das kam oder wovon es ihm geschah oder wie ihm dabei zumute war, außer dass es das genau wahrnahm und eine eigenartige Hitze an dem Herzen empfand und merkte, dass ihm anders zumute war als zu einer anderen Zeit. Es wusste aber nicht, wovon das kam, bis später, als es verständig wurde. Da erkannte sie da wohl, dass dies durch die Minne verursacht war und durch das Mitleiden mit der Marter Unseres Herrn.
Darin hat sie auch ihr ganzes Leben so ganz verzehrt, in dem Elend und der Armut und entsprechend dem demütigen Vorbild und Leben, das er ihr aus Minne vorgelebt hat. Das vergaß sie ihr ganzes Leben lang nicht, denn gar getreulich behielt sie es allezeit in ihrer Betrachtung und in ihrem Herzen und in ihren Sinnen. In großer Minne betrachtete sie die Mühsal, das Leiden, die menschliche Natur und das Leben Unseres Herrn Jesus Christus. Und all das, was er ihretwillen getan hatte, das war ihr alles so ganz unmittelbar [ eigenlich ] gegenwärtig, als hätte sie es mit den Augen gesehen. Und in ihrer Jugend stand es ihr so unmittelbar vor Augen, und das Bild der Marter Unseres Herrn prägte sich dem Kinde so ganz unmittelbar in seinem Herzen und in seinen Sinnen ein. Das, wovon es da noch nie etwas hatte sagen hören, das prägte sich bildlich [ dz bildet sich ] in seinem Herzen und in seiner Betrachtung ein. Denn es betrachtete die Marter und das Leiden Unseres Herrn so, dass es sich später verwunderte, als es das zu verstehen fähig wurde. Und sie nahm da wohl wahr, dass sie es von Gott hatte und von nichts anderem, weder vom Hörensagen noch von irgendetwas Sonstigem. Denn es hatte ja nichts über Gott sagen hören, weder Predigten [135r] noch irgendetwas sonst. Nur die Frau, die sprach zu ihm in gar einfachen Worten von der Mühsal Unseres Herrn. Und da war dem Kind das Leiden unmittelbarer gegenwärtig, als ihm die Frau darüber sagen konnte.
[Gebetsleben und Zuwendung zu den Armen]
Nun lehrte man es den Psalter, als es neun Jahre alt war. Als es den Psalter soweit gelernt hatte, dass es ihn gut beten konnte, da las es alle Tage seine Sieben Tagzeiten und die Fünfzehn (Gradual-)Psalmen, die Sieben (Buß-)Psalmen[11], die Vesper für die Seelen der Verstorbenen und die Litanei; darüber hinaus las es alle Tage so viel, dass es einen Psalter in einer Woche zu Ende las, dazu noch ziemlich viele andere Gebete zu Unserer Lieben Frau und anderen Heiligen. Und stets, wenn es danach aufstand, im Sommer wie im Winter, kam es nie aus seiner Kammer, bis man essen gehen wollte. Und wenn es kalt war, so nahm es eine gefütterte Decke, die es über seinem Bett hatte; die wickelte es um sich und betete, bis dass man essen gehen wollte. Und wenn es merkte, dass Essenszeit war, so machte es sich auf, und sobald man eben gegessen hatte, da war es froh, dass es herausgehen durfte, um zu den armen Kindern zu kommen, die auf die Burg gingen, um Brot zu erbetteln. Und da setzte es sich hin zu ihnen, mitten unter sie, und blickte um sich. Und da spürte es, wie ihm gar wohl war in der Gesellschaft der armen Kinder. Und es lachte bei sich selber, und es war ihm gar wohl bei seinen armen kleinen Gespielen, das spürte es. Und es stahl Brot und was es heimlich erlangen konnte und gab es ihnen. Da brachten sie ihm Blumen, und so erlebte es bis zu seinem Tod viel Liebes mit den Armen.
[Schlimme Erfahrungen mit den Geschwistern]
Nun wuchs dieses Kind schnell und wurde alsbald eine große junge Frau. Das war den Stiefgeschwistern zuwider, denn sie hätten gerne gesehen, dass es tot wäre. Und wenn es krank war und den Anschein erweckte, dass es sterben wollte, da waren sie recht froh, wenn sie den Eindruck hatten, dass es [135v] sterben wollte. Und dann taten sie ihm gegenüber recht freundlich. Und wenn es dann aber wieder glücklich genas, so wurden sie wiederum sehr widerwärtig. Denn sie war nach deren Maßstäben sehr arm, dass man mit ihr nicht viel erreichen [ gefaren ] konnte, so wie sie es gerne gehabt hätten. Das also war ihre Furcht, weil sie nicht viel an Gütern besaß.
Und das war daran schuld: Sie hatte einen Bruder, der war ihr richtiger Bruder, und als man ihnen ihr (Erb-)Gut zuteilte, da teilte man ihnen beiden das Gut zusammen zu. Und der Jungherr war jung und wüst und verschwenderisch und verzehrte das Gut, das ihre wie das seine, zusammen. Der Jungherr starb auch jung, doch da hatte er verzehrt, was sie gehabt hatten. Als man ihr berechnete, was an Geld geschuldet war, da blieben ihr nicht mehr als vierzehn Mark von allem ihrem Gut.
[Überlegungen über Gertruds Zukunft]
Nun war sie aber über all diesen Geschehnissen eine wohl gewachsene große junge Frau geworden, gar züchtig und zurückhaltend [ schemmig ], von gar edlem Gebaren [ wol geborende ] und gar tugendlich, hoch und groß gewachsen. So saß sie da (auf der Burg), und man wusste nicht, was man mit ihr anfangen sollte. Denn es war da ja niemand in geistlichem Stand als in den Klöstern. Nun besaß sie aber kein Gut, um in ein Kloster gehen zu können. So ließ man sie also da sitzen, bis dass ihnen Unser Herr dazu verhelfe, mit ihr etwas anzufangen.
Und wären da geistliche Leute gewesen, sie hätte nicht um alles in der Welt ein weltliches Leben geführt; eher wäre sie außer Landes gegangen, wo niemand sie gekannt hätte, als dass sie ein weltliches Leben geführt hätte. Nun hatte sie kein Gut, um in ein Kloster gehen zu können, und hielt sich ansonsten in guter Zucht und gar tugendlich, dass ihr alle Leute hold waren. Und dabei ging sie in weltlichen Kleidern, solange [ bitz ] sie auch ein weltliches Leben führte. Und doch, als sie weltliche Kleider trug und weltlich lebte und eine Ehe führte, da waren doch [136r] ihr Herz und ihr Sinn und ihr Wille und ihr Gemüt gänzlich und vollständig aufs Geistliche gerichtet, sodass ihre Lebensführung und die Gnade des Herrn bei ihr durchaus sicherstellten, dass ihr das weltliche Leben und alle weltlichen Dinge widerwärtig waren.
Ehe und Leben in der Welt
[Heirat mit Ritter Rickeldegen]
Als diese junge Frau derart groß geworden und wohl gewachsen war und ihre Verwandten Sorge um sie hatten, was sie mit ihr anfangen wollten, da hatte sie nun eine Schwester, die war ihre richtige Schwester. Die hatte einen wackeren Ritter auf einer anderen Burg, namens Schauenburg. Der sagte eines Tages zu seiner Frau, ihrer Schwester: „Mir fällt nichts ein, was wir mit deiner Schwester anfangen können. Es sei denn, dem Rickeldegen sterbe seine Frau dahin, dann geben wir sie ihm.“ Das war ein Ritter und er saß auf einer anderen Burg, namens Ullenburg. Nun war aber seine Frau eine kräftige junge, wohlgefällige Frau, gesund und tüchtig. Da plötzlich, so wie es Gott wollte, da starb dem Ritter seine Frau dahin. Kurz danach erbat sich der Ritter, Herr Rickeldegen, diese junge Frau zu einer Ehefrau. Ihr Verwandten gingen zu Rate und gaben sie ihm sogleich. Aber er musste sie ohne Gut nehmen. Er besorgte ihr nun Kleidung in jeder Hinsicht, Schuhe an die Füße und alles, was sie brauchte, Kleines und Großes. All das musste er ihr kaufen.
[Geistliches Leben in der Ehe]
Nun war sie verheiratet und lebte in der Ehe mit großem Widerstreben ihres Herzens und ihres Willens. Und gegen allen ihren Willen lebte sie weltlich und musste da leben; lieber als eine Königin oder Kaiserin zu sein wäre sie in geistlichem Stand gewesen, hätte es sein können. Nun lebte sie in der Ehe, und da war ihr Unser Herr gar gegenwärtig und auch gar vertraut, denn sie lebte in Furcht und in großer Minne zu Unserem Herrn; und sie betete [136v] viel und war eine gute andächtige Frau. Nun war ihre Pfarrei wohl eine Viertelmeile oder mehr von der Burg entfernt; da musste sie dorthin zur Messe, wenn sie die Messe hören wollte. Wenn sie dann die Messe hörte, so war sie gewöhnlich so andächtig in der Messe, besonders dann, wenn es zur Kanonstille kam und man Unseren Herrn (sc. in der Hostie) bald hochheben sollte, dass sie sich sicher war, dass Unser Lieber Herr da gegenwärtig sei. Das war dann in ihrem Glauben gar sicher ohne jeden Zweifel. Und da wurden ihre Minne und ihre Andacht so groß, und Unser Herr wurde ihr so gegenwärtig mit so großer Süßigkeit und mit solcher Lust. Und die Süßigkeit und die Lust währten bis zum Ende der Messe und danach noch so lange, bis sie wieder nach Hause ging auf die Burg und bis sie bei Tische saß, und zuweilen, bis man mitten beim Essen war oder zu Ende gegessen hatte. In dieser Süßigkeit saß sie bei Tische und aß mit den anderen und war doch in großer Süßigkeit und Gnade mit Unserem Herrn. Dies geschah ihr gewöhnlich, wenn sie die Messe hörte.
[Geburten und ihre Komplikationen]
Sie war auch die ganze Zeit über schwach und mit Kindern belastet [ beheftet ]. Denn sie führte nur vier Jahre lang ein weltliches Leben, und Unser Herr gab ihr vier Kinder; aber eines hatte sie gerade drei Wochen lang getragen, als Gott sie von dem weltlichen Leben und der Ehe frei machte. Sie litt auch große Mühsal, wenn sie eines Kindes schwanger war, und sie wurde oft und heftig [ vil ] ohnmächtig vor Schwäche. So behielt sie selten die Speise bei sich, und die Schwangerschaft bereitete ihr Schmerzen. Und besonders hatte sie Schmerzen, wenn sie die Kinder gebären sollte. Besonders bei einem Male, als sie schwanger war und die Schwangerschaft sich ihrem Ende näherte, da hatte sie so große Schmerzen, dass ihr dünkte, dass sie sterben müsse. Sie meinte, dass es aber noch nicht an der Zeit war, dass sie das Kind gebären sollte, und gebot, dass man für sie rasch [137r] einen Priester hole, dass sie zu beichten begehre und er ihr Unseren Herrn (sc. die Kommunion) gebe, dass sie, wenn sie also sterben würde, nicht so jäh ohne Unseren Herrn aus dem Leben ginge. Der Priester kam mit Unserem Herrn, und sie fing an und wollte, so umfassend sie es vermochte, das gebeichtet haben, dessen sie sich damals schuldig wusste. Der Priester war ein eigensinniger alter Mann und wurde gar zornig und sagte, er wolle ihr Unseren Herrn nicht geben, wenn sie ihm nicht eine vollständige Beichte (sc. eine Generalbeichte) ablegen würde. Das vermochte sie um alles in der Welt nicht zu tun, und auch wenn sie sich damit das Himmelreich verdient hätte, sie hätte es nicht zu tun vermocht. Da wollte er ihr Unseren Herrn nicht geben und ging hinweg; und er behielt Unseren Herrn bei ihr im Hause, ob sie sich doch anders besinnen würde, dass sie eine vollständige Beichte ablegen wolle; und dass er dann wieder zu ihr gekommen wäre und ihr Unseren Herrn gegeben hätte. Als der Priester weggegangen war, da kamen unterdessen zwei Ordensbrüder dorthin, ihr Beichtvater und sein Gefährte, so wie es Gott wollte. Sie gebot rasch, dass sie zu ihr kämen. Und da er zu ihr kam und sich noch kaum zu ihr gesetzt hatte, da schwanden alle ihre Schmerzen so gänzlich, als ob sie nie welche gehabt hätte. Und sie beichtete ganz nach ihrem Willen, und er gab ihr da Unseren Herrn und versah sie mit dem Sterbe-sakrament; und dann ging er hinweg. Eine kleine Weile danach bekam sie wieder Schmerzen und gebar sofort das Kind, einen Sohn. Als der Priester kam, da war es so geschehen, und da trug er Unseren Herrn wieder nach Hause.
[Frömmigkeitsleben und Tugenden]
Diese selige Frau war auch ein so ganz und gar bescheidener [ einvaltiger ] Mensch. Wenn ihr so viel Gnaden und Süßigkeit von Gott entgegengebracht wurden, und wenn sie zuweilen so voll göttlicher Süßigkeit war, dass ihr dünkte, sie fließe über von Gnaden und von Süßigkeit, da war sie so ganz und gar bescheiden, dass sie meinte und dachte, der Grund dafür sei, dass sie an diesem Tage die Messe gehört habe, [137v] und sie meinte, wer die Messe hörte, dem geschehe ebenso. Sie hatte oft bei der Messe das Befinden, dass ihr dünkte, wie durch die Gegenwart Unseres Herrn alles an ihr überfließe von Gnaden und Süßigkeit. Sie erkannte wohl, dass sie es von Gnaden und von Gott hatte; aber sie meinte, das geschehe allen Leuten, die Messe hörten.
Sie war auch ein gar weisheitsvoller Mensch; göttliche und natürliche Weisheit hatte sie zur Genüge. Ihr war auch das Leiden Unseres Herrn gar gegenwärtig. Und ihr Ehemann war ein reicher Mann und hatte viel Geld und Gut. Und stets an Ostern, wenn man die kleinen Lämmer zu ihnen auf die Burg brachte und man dann die Lämmchen abschlachtete [ abenam ] und sie ihren Tod so geduldig litten, da wurde sie dadurch gemahnt an das geduldige Leiden Unseres Herrn und an seinen bitteren Tod, den er so sanftmütig und so geduldig litt wie ein Schäfchen und ein Lämmchen. Und das ging ihr dann so nahe und lag ihr so tief im Herzen, dass sie stets zu Ostern so recht zu einem Armseligen [ dúrftigen ] wurde durch das Mitleiden mit der Marter Unseres Herrn.
[Geringschätzung alles Weltlichen]
Nun war sie so ganz und gar ernsthaft, und die Sinne waren ihr so ganz und gar nach innen gerichtet, dass sie nicht viel Beachtung schenkte dem großen Reichtum und den Ehren und dem Gut, in das sie Unser Herr versetzt hatte. Das achtete sie so wenig und freute sich dessen gar nicht, sodass ihre Verwandten sie deshalb tadelten und zu ihr sagten: „Weiß Gott, es ist schade, dass dir Gott je Ehre oder Gut verlieh, denn du weißt nicht damit zu leben und kannst dich auch nicht seiner erfreuen. Wie ist dir denn zumute? Richte dein Haupt auf und mach deine Augen auf und sieh dich um und tu so wie die anderen Leute und verhalte dich fröhlich und tu so wie ein Mensch, dem Gott Ehre und Gut verliehen hat.“ Da sagte sie: „Wie soll ich tun, oder was meint ihr, dass ich tue?“ Und sie hob dann ihr Haupt [138r] in die Höhe und machte ihre Augen weit auf und sah überall um sich her und hin und sagte: „Soll ich so tun, oder wie soll ich tun?“ Und dabei ließ sie die Augen und das Haupt wieder niedersinken und konnte noch mochte sich nach ihrem Willen verhalten. Deshalb tadelten sie sie und taten ihr deshalb viel an. Und doch half es ihnen nichts, denn sie wollte und mochte ihre Sinne durch nichts nach außen richten so wie andere Leute. Denn sie hatte in ihrem Innern so viel zu tun, dass ihr die Sinne allezeit nach innen gezogen und niedergeschlagen wurden, sodass sie sich nicht nach dem in der Welt Üblichen [ der welte l oͮf ] verhalten konnte oder mochte. Sie war allezeit so wie ein Mensch, der halb tot ist. Weder an der Welt noch an Ehre noch an dem Gut, das ihr Gott gegeben hatte, mochte noch konnte sie sich je erfreuen, denn die Welt und alle weltlichen Dinge und alles, was zur Welt gehört [ dz die welt ist ], das war ihr zuwider und dem Tode zugehörig [ gemeine ]. Und doch musste sie in der Ehe und in der Welt leben, solange bis dass Gott sie vom Leben in der Welt befreite. Sie konnte es auch kaum erwarten, dass Gott sie aus dem weltlichen Leben löste.
[Tod des Ehemanns]
Sie erlitt auch viel Widriges von ihrem Eheherrn, ihrem Herrn und Meister; denn er war ein auf die Welt gerichteter, unverständiger Mann und nicht von ihrer Sinnesart. Er war ein harter Mann, und sie fürchtete ihn sehr heftig [ v́bel ] und sehr leidvoll [ ser ]. Nun war Unser Herr ihr Freund und ließ sie nicht lange im weltlichen Leben. Sie war nur vier Jahre im weltlichen Leben, und Gott gab ihr vier Kinder, und auch mit denen wurde ihr das Leben in der Welt durchaus zu bitter. Wo sie doch bei ihrem Leben in der Welt schon nie ein Vergnügen gehabt hatte, wie klein es auch war [ der doch lútzel wz ].
Nun wurde der Ritter, ihr Herr und Meister, krank, wie es Gott wollte. Und als er sich so verhielt, dass ihr dünkte, dass er sterben wolle, [138v] da überkam sie ein Lachen. Wie sie sich so verhielt, dass sie lachen musste, da biss sie sich in die Finger, als sie vor ihm saß oder wenn jemand anderes es sah. Der Ritter starb, und als sie bei dem Sarg saß und um ihn klagen sollte, da mochte sie nicht viel weinen. Und ihre Schwester saß neben ihr; zu der wendete sie sich irgendwann nach einer Weile und sagte zu ihr: „Liebe Schwester, weine ich nicht fest genug?“ Diese sagte: „Es ist gut, meine Liebe.“ Sie hätte es gerne gesehen, dass sie um der Leute willen ein wenig mehr geklagt und geweint hätte, doch sie wollte es ihr nicht gebieten und so ließ sie diese tun, wie sie wollte. Denn sie (Gertrud) hätte lieber gelacht als geweint.
[Aufenthalt auf der Schauenburg]
Als er begraben worden war, da führten ihre Schwester und der Mann ihrer Schwester, ein Ritter, sie mit sich nach Hause auf eine andere Burg, namens Schauenburg: sie und ihre Kinder. Und alles Gut verblieb da noch ihren Stiefkindern. Nun musste sie dem Abt von Schuttern die Abgabe, die bei einem Todesfall zu leisten ist, geben: ein Pferd, das wohl sieben Pfund wert war. Nun forderte man sie auf, dass sie sich dorthin begebe und ihn bitte, dass er ihr in Hinblick auf diese Abgabe gnädig sei. Sie und der Ritter, der Mann ihrer Schwester, und ein Knecht begaben sich dort hin. Und als sie zurückkehrten, da begaben sie sich bis vor die Stadt Offenburg. Und als sie in die Nähe der Stadt kam, da brach sie in ein Weinen aus, dass sie vor Weinen geradezu dahinfloss. So fiel sie in einen Jammer, dass sie gerne allezeit in der Stadt gewesen wäre. Und sie ließ auch nie davon ab, bis sie in die Stadt zog. Nun aber begab sie sich doch wieder mit dem Mann ihrer Schwester zurück auf die Burg.
[Umzug nach Offenburg zu einer Begine]
Nun war sie nicht lange auf der Burg, und als man sie fragte, wo sie bleiben wolle, und ob sie da bleiben wolle, da sagte sie: „Nein, ich nicht. Ihr habt mit euch selber genug zu tun. Ich will durchaus in die Stadt ziehen.“ Da wurden sie gar zornig und tadelten sie und sagten [139r] zu ihr: „Was willst du da tun? Willst du unter fremde Leute ziehen, die nicht wissen, wer du bist? Man wird sagen, das Kind, das du trägst, sei das eines Pfaffen oder eines Mönchs.“ Denn sie hatte gerade nur drei Wochen ein Kind getragen, als ihr Ehemann starb. Und sie sagte: „Weiß Gott, es kann nicht anders sein, ich will es wagen. Unser Herr lässt mich nicht im Stich, darin will ich ihm vertrauen.“ Und gleich sofort machte sie sich auf und setzte sich auf einen Karren, sie und ihre zwei Kinder. Denn sie hatte da nur noch zwei Kinder; eines ihrer Kinder war gestorben und mit einem war sie da noch schwanger. Die zwei nahm sie und was sie hatte, was aber nicht viel war, und legte es auf einen Karren und fuhr nach Offenburg in die Stadt zu einer Armen Schwester[12], die sie gut kannte. Bei der blieb sie da und lebte bei ihr, und sie trug einen schwarzen Mantel und gewebte Tücher.
[Geburt des vierten Kindes und Abschied vom weltlichen Leben]
Und so ging sie, bis sie ihr Kind gebar. Und zu der Zeit, als sie dieses Kind gebären sollte, da hatte sie gar so unmäßige Schmerzen, und viel schlimmer als sie es je bei einem Kinde gehabt hatte. Und sie dachte: „Unser Herr will durchaus, dass du die Welt fahren lässt und dass du dich gänzlich von ihr abwendest, wenn du nun solche Schmerzen hast.“ Und sie sagte sich in ihrem Herzen von der Welt los und von allen weltlichen Dingen. Es war ja auch so, dass sie zuvor doch nur ungern ein weltliches Leben geführt hatte und von Herzen froh war, dass Gott sie vom weltlichen Leben und von der Ehe freigemacht hatte. Wie froh war sie doch, dass sie sich von der Welt gelöst hatte. Und so sagte sie sich auch in ihrem Herzen gänzlich von der Welt los. Könige und Kronen waren ihr allesamt in ihrem Herzen zuwider, denn sie wollte sich allein Unserem Herrn vermählen, wie sie es auch tat: Leib und Seele und Herz und ihren Willen und das Gemüt gab sie gänzlich Unserem Herrn, wie es auch ihr Leben wohl bewiesen hat.
[Versorgung der Kinder]
Als sie das Kind geboren hatte [139v] und wieder das Haus verließ, da nahm sie die Kinder, kleine und große, und setzte sie auf einen Karren, und zu ihnen eine Frau, und schickte sie zu ihren Stiefkindern, die auch ihr (sc. Gertruds) Gut hatten, und ließ sie diese (sc. die Kinder) großziehen, bis dass jene ihr ihr Gut herausgeben mussten. Nun starben alsbald zwei von den Kindern, und es blieb ihr nur noch ein Knäblein. Und als ihre Verwandten ihr Gut für sie wiedererlangten von ihren Stiefkindern, da nahm sie das Knäblein wieder zu sich.
Die Anfänge des geistlichen Lebens – Weg der Reinigung – verwundet von gotte
Übungen zur Überwindung der Eigennatur
[Gottgefälliger Lebenswandel]
Nun war sie so ganz zurückhaltend und ganz von guten weiblichen Sitten und ganz bedacht in ihren Worten. Als sie noch ein weltliches Leben führte, da wollte sie auf keinen Fall, dass irgendeiner aus ihrem Gesinde oder sonst jemand irgendeine böse Sache oder etwas Boshaftes über jemanden redete oder sagte. Sie war so zurückhaltend und wohlgefällig in ihrem Lebenswandel, dass ihr die Leute gar gut gesinnt waren. Und besonders die geistlichen Brüder: denen gefiel ihr Lebenswandel so gut, dass viele Brüder mit ihr Umgang pflegten und ihr etwas über Unseren Herrn sagten. Und dabei fühlte sie sich wohl, denn sie hörte gerne, wenn über Unseren Herrn gesprochen wurde. Und wenn nun ihr Lebenswandel so heiligmäßig war, so sahen darum die Brüder auch desto öfter nach ihr. Sie fühlten sich wohl bei ihr wegen ihres heiligmäßigen wohlgefälligen Lebenswandels. Da sie nun gerne ein vollkommener Mensch gewesen wäre und sich von allen ihren Verwandten gelöst hatte, dass sie sich auf Gott einlassen [ f uͤgen ] wollte, wie sie es vermöge, da sagte die Arme Schwester, bei der sie lebte, als die Brüder einstmals von ihr kamen: „Frau, ihr könntet wohl etwas Besseres vollbringen [ schaffen ].“ Sobald sie das hörte, da sagte sie: „Ist das wahr?“ Und als danach die Brüder zu ihr kamen, da sagte sie kühn: „Ihr Herren, ich will mich allein um meinen Gemahl kümmern [140r] und um niemand sonst.“ Dies tat sie nur aufgrund des Worts, das die Arme Schwester zu ihr gesagt hatte. Damit war ihr genug gesagt, als sie hörte, sie könne wohl etwas Besseres tun. Wie es doch eine gar gute Sache sei, und im Sinne Unseres Herrn, und nichts anderes. So folgte sie freilich dem Nächsten und dem Besten und ließ ab von all dem, was sie von Gott fernhalten könnte. Und sie wandte sich mit vollem Vertrauen zu Unserem Herrn, und Unser Herr war ihr gar lieb und er erwies ihr seine Liebe [ liebte ir ] von Tag zu Tag.
[Geistliche Fastnacht]
In diesen Zeiten, an Fastnacht[13], als alle Leute sangen und tanzten und fröhlich waren, so wie man es gewöhnlich an Fastnacht ist, da entfernte sie sich von allen Leuten und begehrte, einzig Fastnacht mit Unserem Herrn zu haben. Und sie ging, um sich in einen Stall zu setzen hinter eine Bretterwand [ t uͤle ], die in einem Winkel an der (Außen-)Wand lehnte. Darunter saß sie und verbarg sich da vor allen Leuten und sagte mit großer Begierde: „Ach, lieber Herr, für alles Vergnügen und für die Freude der ganzen Welt, die die Welt bieten könnte und die ich haben könnte oder jemals gewinnen könnte, so begehre ich, einzig Fastnacht mit dir zu haben, lieber Herr und getreuer guter Gott, liebes Lieb und lieber Gemahl. Ich begehre, einzig Fastnacht mit dir zu haben.“ Und sie flehte liebevoll zu Unserem Herrn und sprach zärtlich und liebreich mit ihm [ zartete im g uͤtlich ] und bat ihn, dass er zu ihr komme, sie begehre einzig ihn. Und Unser Herr tat das Seine dazu, als sie einzig ihn begehrte. Da kam er zu ihr unter die Bretterwand und hatte Fastnacht mit ihr und bereitete ihr eine so hohe, trostvolle überreiche Fastnacht, die ihr alle Freude und alles Vergnügen, das alle Welt leisten oder erweisen kann, ersetzte, sodass sie in dieser Stunde kein besseres Himmelreich begehrte.
[Ausrichtung des ganzen Lebens auf Gott]
[140v] Als sie da Unseren Herrn so recht wahrgenommen hatte, da ließ sie ab von allem, was sie da von ihrem Lieb und ihrem Herrn abirren lassen könnte, und sie hütete sich davor. Und wo sie etwas erkannte, was sie selbst und Unseres Herrn Lob und seine Ehre fördern könnte, das unterließ sie weder in Rücksicht auf Freunde noch auf Feinde, weder durch Liebes noch durch Leid. Sie vollbrachte den Willen Unseres Herrn in allen Dingen, soweit sie es nur konnte. Und worin sie den Willen Unseres Herrn erkannte, und was und wie und alles, was er von ihr wollte, das galt für sie mehr als Leib und Gut, ganz frei und ohne jedes Zuwarten [ turen ]. Sie achtete nicht auf Ehre noch Leib noch Leben noch Gut. Wann und wo sie es im Willen Unsres Herrn hingeben [ verzeren ] sollte, tat sie das, soweit sie das erkannte, und vollbrachte es in gutem Vertrauen, soweit ihr der Wille Unseres Herrn geoffenbart wurde; darauf richtete sie ihr Leben [ dem lebete sú ], soweit sie es konnte.
[Reue und Beichte]
Nun ging sie wohl zwei Jahre so wie eine Witwe, bevor sie geistliches Gewand anlegte. In diesen zwei Jahren überkam sie Reue über ihre Sünden, sodass sie große Reue darüber empfand, dass sie ihren lieben Herrn je erzürnt hatte mit irgendwelchen Sünden. Die Reue war oft so groß, dass ihr dünkte, dass vor Reue keinem Menschen schlechter zumute werden könnte. Solchen Schmerz empfand sie oft vor Reue, und diese wich auch nie von ihr bis an ihren Tod. Ihr bereitete es allezeit Leid, dass sie je irgendeine Zeit während ihres ganzen Lebens gegen den Willen Gottes verbrachte. Aber das soll man nicht so verstehen, dass ihre Reue allezeit bis an ihren Tod so bitter gewesen wäre, denn das könnte kein Mensch lange erleiden. Die große Reue währte bei ihr, bis dass der Güte Unseres Herrn ihre Reue genügte und Unser Herr sie da zu höher hinauf [ fúrbas ] führen wollte. In diesen zwei [141r] Jahren entschloss sie sich zu einer vollständigen Beichte, und legte diese vollständige Beichte ab, wie sie es aufs beste konnte. Und wenn sie dann die vollständige Beichte abgelegt hatte, so fiel ihr wieder eine andere Beichte ein, in noch größerer Lauterkeit als die erste. So legte sie dann wieder eine vollständige Beichte ab, und so legte sie gar manche nacheinander ab, und jede in noch größerer Lauterkeit als die andere. Und Unser Herr ließ sie [ gap ir ] jede in noch größerer Lauterkeit erkennen und beichten als die andere, und gab ihr jetzt einen Beichtvater und dann einen anderen, so wie ihr dünkte, dass es in der größten Lauterkeit sein könne.
[Mitempfinden mit dem Leiden Christi]
In diesen selben Zeiten ging ihr das Leiden Unseres Lieben Herrn nahe [ viel ir z uͦ ], obwohl es doch so war, dass ihr das Leiden und die Marter Unseres Herrn nie aus ihrem Herzen wichen von Kindheit an. So ging ihr in dieser Zeit aber doch in besonderer Weise das Leben und das Leiden Unseres Herrn mit solcher Last zu Herzen, dass sie oft in ihrem Geist empfand, wie man Unseren Herrn vor ihr dahinführte, so wie er von seinen Feinden zur Marter geführt worden war. Und besonders die Wunden Unseres Herrn lagen ihr sehr am Herzen, und nicht nur zu dieser Zeit, sondern mehr noch während ihres ganzen Lebens. Wenn sie jemand bei den Wunden Unseres Herrn schwören hörte, so wich alle Kraft von ihr; wo sie auch war, sie musste sich niedersetzen, so sehr wurde sie aller ihrer Kraft beraubt bei dem Schwur. So nahe lagen ihr die Wunden Unseres Herrn, und sie weinte oft und viel so manche heiße Minneträne, dass man nicht alles wohl aufschreiben kann und mag. Denn es geschah oft und viel, von Mitternacht an bis zum Tage oder vom Abend an bis in die Nacht, dass sie manch heiße von Herzen gehende Träne weinte.
[Flucht der Heilke von Staufenberg und Aufnahme bei Gertrud]
In diesen selben Zeiten lebte da eine adlige junge Frau; dieser starben Vater und Mutter. Sie [141v] hatte Brüder, Ritter und Knappen [ kneht ], die hätten sie gerne in ein weltliches Leben gebracht. Als sie das hörte, dass man sie in ein weltliches Leben bringen wollte, da machte sie sich rasch auf und floh hinweg nach Straßburg zu einigen ihrer Freunde[14] [ frúnden ], die sie da kannte, und voller Betrübnis verbarg sie sich nur schwerlich vor ihren Brüdern. Zuletzt wurde diesen gesagt, wo sie war; da musste man sie vor ihnen in einer Kiste verschließen, als man sie in demselben Haus suchte, in dem sie auch drinnen war.
Nun war, solange sie lebte, die Mutter dieser jungen Frau eine gute Freundin[15] dieser Frau (sc. Gertrud von Ortenberg) gewesen. Und daraufhin floh diese junge Frau, die Jungfer Heilke von Staufenberg, zu dieser seligen Frau, der Rickeldey. Und da diese Frau auch von der Ernsthaftigkeit dieser Jungfer sagen hörte, da schickte sie ihr Nachricht, sie solle zu ihr kommen; sie wolle ihr helfen, in den geistlichen Stand einzutreten.
Da machte sich die Jungfer auf, und nahm Knechte und Dienerinnen [ kneht vnd jungfrowen ] mit sich. Und am Abend, als es finster wurde, da ging sie los und ging durch einen großen Wald, da sie fürchtete, dass man sie entdecken würde, ginge sie die rechten Wege. Als der Tag begann, da war sie vor der Stadt Offenburg. Sie kam zu dieser Frau; die empfing sie mit Freuden, da sie in geistlichen Stand eintreten wollte. Die Jungfer war auch gar froh, denn sie vertraute darauf, dass sie bei dieser Frau Frieden hätte und ihre Brüder ihr bei dieser weniger antun würden als anderswo. Und so verhielten sich diese auch, denn sie war eine adlige ehrbare und wohl geehrte Frau, und ihre (Heilkes) Verwandten würden ihr (Heilke) nicht gerne in deren Gegenwart [ an ir ] einen Schimpf antun; das wusste sie wohl. So wie Unser Herr die Seinen nicht verlässt und freundlich für sie sorgt, so sorgte er für diese Frau und diese Jungfer [142r] miteinander, denn jede war auf die andere angewiesen, wie ihr noch hören werdet.
Nun blieb diese Jungfer ein Jahr bei dieser Frau in weltlichen Kleidern. Das gebot man ihr, denn wäre sie sofort in den geistlichen Stand eingetreten, hätten ihre Brüder ihr nicht ihr Gut gegeben. Deshalb wartete sie, bis ihr ihre Brüder ihr Gut geben mussten. Als sie gerade neun Wochen bei dieser Frau gewesen war, da begab sie sich nach Straßburg, um das zu regeln, was sie brauchte, und war achtzehn Wochen dort.
[Aufnahme in den Dritten Orden der Franziskaner; Kleidung einer Begine; Tod des letzten Kindes]
Als sie zurückkam, da hatte diese Frau (Gertrud) geistliches Gewand angelegt, aus grauem Wollstoff [ berwer ], und hatte die Dritte Regel des heiligen Franziskus angenommen. Und sie war in großem Ernst und in großer Andacht und in häufiger Übung[16] ihres Geistes. Und zuerst, als sie so in den geistlichen Stand eintrat, da gebot man ihr, dass sie auch einen Mantel aus Kamelhaar kaufte. Denn sie hatte viel Hab und Gut und musste sich viel umtun [ wandelen ] und unterwegs sein wegen ihres Gutes. Sie hatte damals noch ein Kind, einen kleinen Knaben, der starb alsbald auch. Den beweinte sie nie auch nur etwas. Deshalb tadelten sie ihre Verwandten heftig, denn ihr entging ein Lehen, das ihm gehörte, wohl hundert Mark wert. Weiß Gott, darauf achtete sie wenig; sie war froh, dass Gott sie frei gemacht hatte von allen ihren Sorgen.
In diesen Zeiten nahm sie ihren Mantel aus Kamelhaar, sobald sie von der Kirche kam, und warf ihn aus Zorn auf eine Kiste oder zur Erde; so ungern trug sie ihn. Und zuweilen trat sie mit den Füßen darauf, so sehr war er ihr zuwider. Sie trug ihn auch nicht lange und verkaufte ihn. Und danach trug sie noch den grauen Wollmantel. Und nicht lange danach trug sie bis zu ihrem Tod Kleid [ r oͤck ] und Mantel aus grauem grobem Tuch von Leinen und Wolle [ wifeling ]. Und [142v] gar schlicht geschnittene weite Ärmel und steife und wie bei einem Sack [ sackeht ] enge Öffnungen für den Kopf, dazu kurze Überhänge [ mentel ], die mit einem kleinen Knopf an den Halsausschnitt des Kleides geheftet waren. Und all das, was zu anspruchsloser Form [ vngestaltnis ] und zu Schlichtheit und zu geistlichem Stand gehörte, das verwirklichte sie bei sich vollständig.
[Kampf gegen die Fehler der Eigennatur]
Sie lebte gar heiligmäßig und selig. Als sie eben erst in den geistlichen Stand eingetreten war, da war es ihr so ganz und gar ernst, dass sie gerne ein recht guter Mensch geworden wäre. Da war sie in Furcht, dass sie zu alt geworden sei und ihre Fehler [ gebresten ], die sie hatte, an Stärke zugenommen hätten, und dass dies sie zu sehr beirren würde. Und als sie das dann so beklagte, da sagte man einst zu ihr, sie sei dazu noch nicht zu alt, sie könne gewiss noch ein guter Mensch werden. Sie solle ihre Natur bezwingen [ die nattur brechen ] und die Fehler überwinden. Als sie das hörte, dass man die Natur bezwingen könne, da war sie gar froh und tat es mit gutem Vertrauen. Und es dünkte ihr da nicht mehr, wie ihr irgendetwas fehle, als sie wusste, dass man die Natur bezwingen könne. Und danach sagte sie zu der Jungfer Heilke: „Sieh, Heilke, mir ist so recht, wie wenn mir nichts mehr fehlt, seit ich weiß, dass man so die Natur bezwingen kann, und dass ich also dadurch von meinen Fehlern wegkommen kann.“ So gering und so leicht war es ihr, die Natur zu bezwingen.
Sie bezwang ihre Natur in all dem, was ihrer Natur Lust bereitete. Sie gönnte ihrem Leib ihr ganzes Leben hindurch, falls sie gesund war, nie so viel Annehmlichkeit, sich nach vorne oder zur Seite anzulehnen, wenn sie in der Kirche saß und betete; sie wollte sich selber nicht einmal so viel Annehmlichkeit bieten, den Kopf [143r] mit einer Hand zu unterstützen. Ihr dünkte, dass es dem Leib zu angenehm wäre. Dabei wäre ihr doch viel Annehmlichkeit notwendig gewesen aufgrund ihrer körperlichen Schwäche.
Sie war zu allen Leuten mild und entgegenkommend [ gl oͤibig ] und besonders zu jungen Leuten, die gerne in Lauterkeit lebten; zu denen war sie milde und entgegenkommend, und zu sich selbst hart, soweit es ihre körperliche Schwäche leisten konnte. Und was sie ihrem Leib zu dessen Annehmlichkeit tat oder notgedrungen tun musste, das missgönnte sie ihm so wie ihrem Todfeind, obwohl sie es nur tat, um bei Kräften zu sein und Unserem Herrn zu Ehren und deshalb, um ihm desto besser dienen zu können.
[Körperliche und religiöse Krise in der Fastenzeit]
In diesen Anfangszeiten, als sie eine Regelschwester wurde, da hatte sie allezeit so großen Ernst in all dem, wovon sie wusste, dass sie damit Unserem Herrn gefallen könne. Und an dem Montag nach der Pfaffenfastnacht, wenn die Regelschwestern fasten sollen, da machte sie an diesem selben Montag und am Dienstag für sich selbst einen Haferbrei; davon aß sie am Montag und am Dienstag zur Fastnacht und fastete. Und sie bat die Jungfer Heilke und die anderen, dass sie es sich nicht schwer sein ließen und es ihr um Gottes willen im Guten erlaubten. Und damit es ihnen desto leichter sei, da backte sie selber mit ihren Händen kleine Kuchen für sie und gebot, sie zu kochen und zu braten und recht genug davon auszuteilen. Und sie war in großem Ernst die ganze Fastenzeit hindurch bis hin zu Mittfasten (sc. Sonntag Laetare, oder kurz vorher); da hinterging sie der Ernst [ hinder kam sú ] und brachte sie dazu, dass sie es nicht mehr vermochte. Und sie wurde gar schwach, und in der Schwäche überfiel sie eine Hitze wie ein kleines Fieber.
Und in dem Ernst, den sie in dieser Zeit hatte, da wurde von Gott ihrem Geist so viel Wunderbares vor Augen geführt [143v] und gezeigt, was ihr danach erst nach langer Zeit unverhüllt geoffenbart wurde. Und ihr Geist konnte es da noch nicht so unverhüllt begreifen wie später, denn er war da noch nicht voll geübt und ganz auf das hin freigemacht [ ab gescheiden dar z uͦ ]. Und da stand noch zu viel Trennendes zwischen ihr und Gott, und dies Trennende [ dz mittel ] war dem Geist zuwider und war ihm so schwerwiegend und groß, dass ihr in dem Schwächezustand zu Sinn kam, dass die ganze Welt untergehen müsse wegen ihrer Sünde. In diesem Schwächezustand lag sie in guter Selbstbeherrschung [ zúhten ] und in guter Sinnesart, nur [ denn allein ] dass ihr dünkte, dass ihre Sünden so groß seien und es so viele seien, dass die ganze Welt dafür büßen müsse und untergehen müsse.
Nun kamen die Ordensbrüder zu ihr und sprachen zu ihr von der Güte Unseres Herrn und wie großmütig er sei, die Sünde zu vergeben. Und wenn sie zu ihr von der Güte Unseres Herrn sprachen, dann sagte sie: „Ihr Herren, das weiß ich wohl. Aber seine Gerechtigkeit ist auch groß, die macht sich stets dabei geltend [ loͮffet alles mitte ].“ Unterdessen beichtete sie und empfing Unseren Herrn wohl zwei Mal; und das geboten ihr die Brüder und ihr Beichtvater. Nun wollten ihre Verwandten sie besuchen, als sie in ihrem Schwächezustand war. Das war ihr zuwider, und sie stellte sich vor, wie sie keine Verwandten oder Freunde auf Erden habe, und gebot ihnen, von ihr wegzugehen. Als dies geschah [ in disen dingen ], brach Jungfer Heilke einen blühenden Zweig von einem Baum und hielt ihn ihr vor Augen. Da wurde sie gar froh, dass es die Welt noch gab, und sie bedachte, dass Unser Herr seinen Zorn auf sie vergessen wolle. Dies währte bis zum Tag Mariä Verkündigung; da gab ihr Unser Herr die Verfügung über ihre Sinne [144r] und die Kraft zurück. Und sie gelangte da geradezu zu neuem Leben [ wart ernuwet ] und wurde bestärkt an Tugenden und darin, den Willen Unseres Herrn leichter [ geringer ] als zuvor zu vollbringen. Sie gelangte geradezu zu neuem Leben und wurde erleuchtet in Gnaden, und sie wurde ein anderer Mensch als zuvor, wie gut sie doch auch vorher schon gewesen war.
[Unfähigkeit zu körperlicher Askese]
In diesen Zeiten wirkte der Geist sein Werk an ihr, und er brachte den Leib dazu, dass er dem Geist untertänig wurde. Unser Herr gab dem Geist Gewalt über den Leib, dass er den Leib dem Geist untertänig machte. Sie war so ganz und gar schwach an dem Leib, dass sie keine körperliche Askese [ liplich uͤbung ] durchstehen konnte, wie sie es begehrt hätte. Als sie sah, dass die anderen auf Strohsäcken lagen, da hätte auch sie das gerne gemacht. Und sie lag nicht mehr als nur neun Nächte auf einem Strohsack, das machte ihr solche Schmerzen, dass sie das drei Jahre lang an ihrem Leib spürte. Da nahm sie einstmals ein Brett und legte es vor ihr Bett und lag nicht mehr als nur eine Nacht darauf; da warf sie am Morgen Blut aus. Nun hätte sie auch gerne Disciplinen[17] genommen (sc. sich gegeißelt), so wie die anderen sie nahmen. Und als sie es auch nur versuchen wollte, da hatte sie gar große Schmerzen. Einstmals hätte sie gerne ein Hemd (sc. ein Bußhemd) getragen; danach sehnte [ jomerte ] sie sich und sie sagte zu sich selber: „Herr Leib, wolltet ihr ein Hemd tragen, so soll ich euch eines anlegen.“ Und sie legte ein härenes Hemd an und trug es nicht lange Zeit; da geschah ihr solcher Schmerz, dass sie ihn neun Tage lang spürte. Sie konnte in keiner Weise irgendeine solche Askese durchstehen. Da ließ dennoch der Geist den Leib Übungen tun [ uͤbete ], dass er dem Geist gänzlich untertänig und gehorsam wurde.
[Übungen in Askese des Geistes; übermäßiges Weinen]
Einstmals in diesen Anfangszeiten war sie nur zwei Tage weniger als fünf Wochen in der asketischen Übung [144v] ihres Geistes und hatte alle Tage eine neue Übung. Die erste hindurch weinte sie unaufhörlich [ gentzlich ] und vergoss so viele Tränen, dass, wäre es ein natürliches Weinen gewesen, sie davon stets umso größere Schwäche gehabt hätte; so unmäßig viele Tränen waren es. Nun kam ihr Beichtvater mit einem fremden Ordensbruder und wollte aus großer Liebe den Bruder die gute Frau sehen lassen; und er kam während dieses Weinens zu ihr. Als Jungfer Heilke sah, dass er kam, da ging sie ihm entgegen und sagte: „Herr, ihr könnt meine Gertrud nicht haben.“ Denn dieser war sehr zuwider, dass jemand wusste, was ihr im Verborgenen geschah, oder dass es offenbar wurde. Da waren sie betrübt. Der Beichtvater bat sie (Heilke), wenn sie ihm einen Gefallen tun wolle [ also liep sú im wer ], so solle sie diese bitten, dass sie sich wenigstens eine kleine Weile zu ihnen setze. Jungfer Heilke sagte also zu ihr, dass sie es machen solle. wie sie es vermöge, und eine kleine Weile zu ihnen käme; das hatte er ihr aufgetragen, sie darum zu bitten. Sie (Gertrud) tat es gar ungern, denn sie fürchtete, dass sie die Weile nicht ohne zu weinen sein könne. Und sie tat, so gut sie es nur konnte, und ging zu ihnen hinunter und hängte einen Schleier vor ihre Augen, dass man sie umso weniger wahrnehmen könne. Und als sie sich zu ihnen hinsetzte und eine Weile bei ihnen sitzen wollte, da brach sie sofort in ein Weinen aus, dass sie rasch aufstand und vor ihnen entfloh, und sie gab noch an [ zoch ], dass sie das Stundengebet [ stúndelin ][18] versäumt habe.
[Exkurs: Die Lebensgemeinschaft Gertruds und Heilkes]
Die Ordensbrüder gingen hinweg. Da ging Jungfer Heilke zu ihr und nahm sich ihrer an, so wie Gott sie ihr zugesellt hatte; denn Unser Lieber Herr hatte sie besonders ausersehen und erwählt, dass sie beieinander sein sollten, damit diese Jungfer sich dieser Freundin Unseres Herrn annehmen solle und ihr zu Hilfe kommen solle, wenn sie sie nötig hatte. So tat sie es auch in guter uneingeschränkter Treue Tag und Nacht. Denn kein Ding auf Erden war ihr da wichtiger; [145r] wenn diese sie nötig hatte, so ließ sie alles stehen und bediente sie und nahm sich ihrer an in aller Treue. Denn ihr dünkte, sie könne derweilen kaum etwas Besseres und Gottgefälligeres tun; das wusste sie wohl. Deshalb tat sie es auch von ganzem Herzen und in großer Treue und mit Freuden ihres Herzens ihr ganzes Leben hindurch, solange sie (Gertrud) auf Erden lebte.
Aber als die Zeit vollbracht war, die Unser Herr vorgesehen hatte, dass diese Frau auf Erden sein sollte, und als er sie zu sich nahm, da war das das größte Leid, das dieser Jungfer je geschah oder geschehen konnte, nämlich dass sie deren heiligen Lebenswandel entbehren musste und dass sie ihr nicht mehr dienen sollte, so wie sie ihr diente, solange diese lebte, sei es gesund oder krank. Und zu dem, wie diese sie nötig hatte, war sie allezeit willig bereit. Und das hatte diese Frau auch nötig für ihren Körper und Geist, und es war eine große Hilfe für ihren Körper, dass er die asketische Übung des Geistes und das Werk Unseres Herrn desto besser ertragen konnte. Denn hätte sie nicht solche Hilfe gehabt, dann hätte die Schwäche ihres Körpers es nicht lange leisten können, es sei denn, Gott, dem alle Dinge möglich sind, hätte sie mit besonderer Kraft aufrecht gehalten. Anders hätte sie die wunderbaren Werke, die Gott mit ihrem Geiste wirkte, nicht leisten können. Und deshalb gesellte Unser Herr diese Frau und diese Jungfer zueinander, und dass diese Jungfer all dies ewiglich mit ihr genießen und nutzen solle in der ewigen Seligkeit, was sie von Gott in gutem Vertrauen erhoffen will.
Unser Herr hatte sie auch deshalb einander zugesellt, dass die Gnade Unseres Herrn desto verborgener bleiben könne. Hätte diese (Gertrud) sie (Heilke) nicht gehabt, so hätte sie oft ins Gerede kommen müssen oder sie wäre zuweilen von ihren Sinnen gekommen. Es wäre manches Werk Unseres [145v] Herrn, das er mit ihr wirkte, verhindert worden, das durch sie und ihre Hilfe gefördert wurde. Denn sie war eine gar sinnreiche junge Frau, doch mochte sie dies nicht so ganz von natürlichen Sinnen haben. Sie hatte es auch noch nicht in ihrem Leben gesehen oder gehört, bevor sie zu ihr (Getrud) kam [ noch vor ir ], denn sie war eine in der Welt lebende junge Frau und ging in weltlichen Kleidern und war auch sonst nie bei geistlichen Leuten gewesen. Denn Gott, der dies alles an dieser Frau (Gertrud) vollbrachte, der ließ es auch diese Jungfer erkennen und tun.
Diese Jungfer hatte Ehre und Gut und wurde hernach alsbald ein geistlicher Mensch. Und sie waren dreißig Jahre und achtundzwanzig Wochen beieinander und führten den Haushalt miteinander und ertrugen Lieb und Leid miteinander, gleich als ob es sie beide beträfe. Was der einen fehlte, das fehlte auch der anderen, soweit sie es vor Gott sich zutrauen durften [ getursten ]. Denn sie hatten oft großes Leid von ihren Brüdern und von anderen ihrer Verwandten. Das zu ertragen halfen sie einander in Freundschaft vor Gott, und sie lebten in guter Gesinnung und segensreich [ seliklich ] miteinander.
[Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme; Gliederbeben]
Wie nun hier zuvor geschrieben ist, dass sie (Gertrud) die zwei ersten Tage durchweinte, so war das so viel, dass ihre Natur in ihren Kräften gar erschöpft war. Wenn sie auch ohne das sehr wenig an natürlichen Kräften hatte, so wurde sie davon noch umso schwächer. Die Jungfer Heilke, die Gott ihr zu einer Pflegerin gegeben hatte, die sah deshalb bei der jungen Frau, die ihnen diente, stets darauf, dass sie stets etwas da habe, ein wenig Brühe von Hühnerfleisch oder von anderem Fleisch, das man ihr von Zeit zu Zeit anbot zu essen, dass sie so etwas kräftiger werde.
Nun wurde sie oft so schwach, dass sie nach einer solchen Übung nicht bald essen konnte. Wenn sie sofort aß, so [146r] blieb das Essen nicht bei ihr; sie musste nach der Übung eine Weile warten, dass sie die Speise zu sich nehmen konnte. Diese Zeit musste diese junge Frau abwarten, denn wenn man da gewartet hätte, dass sie es selber geboten hätte, so wäre sie zu schwach geworden. Dessen mussten sie sich stets vorsehen wegen des für sie Lebensnotwendigen [ von ir notdurft ] und ihrer Schwäche.
Dann nach dem Weinen ließ der Geist den Leib so erbeben, dass sie zu zittern begann, als ob sie das Schüttelfieber hätte; so bebten alle ihre Glieder. Das konnten sie nicht anders verstehen, als dass die Begierde des Geistes gegenüber dem Leib so groß war, ihn unter sich zu biegen und zu brechen und ihn gehorsam und untertänig zu machen, dass er ihn dazu bringe, dass der Geist in seinem Werk nicht von der Grobheit des Leibes irregemacht werde. Deshalb ließ der Geist den Leib erbeben, und der Leib erbebte von den Begierden des Geistes.
[Exkurs: Entstehung und Wirklichkeitsgehalt der Niederschrift]
Nun kann ich nicht alle die Übungen wissen, mit denen der Geist sie übte in diesen fünf Wochen. Ich weiß auch nicht, welche nacheinander geschahen. Ich schreibe es so auf, wie es mir Jungfer Heilke sagte; aber sie hatte selber einen Teil davon vergessen. Und so wie ich, der ich nicht in geistlichem Stande lebe,[19] [ ich vngeistlicher m oͤnsch an dem lebende ], es so gut wie möglich von Jungfer Heilke verstehen konnte, so habe ich es aufgeschrieben. Aber wo ich es nicht so recht, wie es eigentlich war, aufgeschrieben habe, da liegt der Fehler an meiner Unwissenheit und an meiner unerleuchteten blinden Vernunft und ebensolchem Verständnis, dass ich es nicht so verstehen konnte, wie Jungfer Heilke es mir nach dem Tod dieser Frau berichtete und wie es auch in Wahrheit war.
Das heilige Leben dieser Frau könnten alle Menschen nicht aufschreiben oder zu Wort bringen. Denn hochstehende bedeutende [ hohe grosse ] Lesemeister[20], die bedeutende Kleriker waren und innerlich erleuchtet lebten, die haben sich oft über ihr Leben gewundert [146v] und über ihr wundersames, von allem Äußerlichen losgelöstes [ ab gescheidenheit ] Leben und über die wundersamen Wege, durch die Gott sie geführt hat, und über die verborgene Vertrautheit [ heimlicheit ], die Gott mit ihrer Seele gehabt hat, und über die großen verborgenen Wunder, die ihr Gott geoffenbart und erzeigt hat. Das konnte sie selber nicht in Worte fassen, denn es war ihr und danach allen Menschen unmöglich, es in Worte zu fassen und mit Sinnen zu begreifen. Und wisst, dass all das, was man von ihrem Leben aufschreiben kann und mag, so recht wie ein Tropfen gegenüber dem Meer ist; genauso ist das, was man von ihr aufschreibt, gegenüber dem, was man nicht aufschreiben kann noch mag.
[Weitere Übungen des Geistes: Armenpflege]
Danach an einem anderen Tag begehrte der Geist wiederum, sich zu üben, und da wurde dem Menschen derart angst, dass sie mit Händen und mit Füßen und mit den Armen um sich schlug [ vaht ] und den Kopf kratzte vor rechten Ängsten, und vor Ängsten vermochte sie nirgends zu bleiben und wusste dennoch nicht, worauf sich die Angst richtete. Da die Jungfer die Angst dieser Frau sah, da sagte sie: „Ich weiß [ enweis ], was du hast; es ist nichts anderes als dass der Geist begehrt und will, dass du dich übst und einem Bedürftigen nach dem anderen seinen Kopf wäschst und ihnen den Grind heilst und ihnen ihre Kleidung säuberst und ausschüttelst und dir dazu ein Pflegehaus [ spittal ] nach dem anderen vornimmst.“ Und als sie dies gesagt hatte, da war es genau das selbe, was der Geist damals begehrte und wollte. Da willigte sie mit großer Begierde darin ein und begehrte von Herzen, dass sie das alles vollbringen könne. So kam dann der Geist zur Ruhe und verspürte [147r] dann durch diese Begierde eine Lust wie durch das getane Werk selbst. Denn die Begierde war so groß und vollkommen vor Gott, als hätte sie das alles mit den Werken vollbracht. Sie wurde auch von Zeit zu Zeit nach solcher Übung so schwach, dass sie zu Bett liegen musste; da trieb sie der Geist aus dem Bett heraus hin auf die Erde, um Unserem Herrn zu danken. Dieses Danksagen vollbrachte der Geist stets nach einer jeden Übung.
[Kasteiungen wegen weltlicher Schönheitspflege]
Nach dieser Übung folgte, dass sie sich selber schlagen musste mit den Händen und mit den Fäusten, und sie schlug auf die Beine, an die Arme, vor das Herz und an den Kopf, so viel, das es wunderte, dass ihr ihre Sinne blieben. Sie musste auch die Finger in ihren Kopf und in ihr Haar krampfen [ krammen ], dafür dass sie, als sie in der Welt lebte, ihren Kopf und das Haar glattgestrichen und schöngepflegt [ gestreichelt ] hatte. Denn sie hatte, als sie in der Welt lebte, gar wohlgefällige Haare, die ihr gut standen. Alle die Glieder, die sie während ihres Weltlebens geziert hatte oder zu weltlicher Lust gezeigt hatte, die musste sie nun schlagen und kasteien. Das musste sie alles entgelten [ erarnen ]: die Arme, die sie nach der Mode eingeschnürt hatte, die Hände und Finger, an denen sie die Ringe getragen hatte. Die Finger rieb sie so sehr und so kräftig, dass es wunderte, dass ihr noch irgendetwas Haut an den Fingern blieb. Sie schlug sich so sehr, dass ihr die Hände schwollen und dass sie große Blutergüsse an ihnen bekam, ebenso an ihrem Körper. Das schwächte sie nun gar sehr, aber nach dieser großen Übung war ihr so recht zumute, als ob ihr nie etwas fehle. Und wenn die Übung ein Ende hatte, da schwollen ihr die Hände sofort ab und es vergingen ihr die Blutergüsse, und es war ihr durchaus so wie zuvor. Nach dieser Übung dankte der Geist wiederum Unserem Herrn und trieb den Leib aus dem Bett und bog ihn hin zu der Erde, Gott zu einem Dank und einem Lob. Von [147v] diesen Dingen wusste niemand als sie und Jungfer Heilke. Vor der jungen Frau, die ihr diente, verheimlichten sie es, dass sie nichts davon wusste.
[Zustände von Lachen und Singen]
Nach dieser Übung überkam sie ein Lachen, und sie lachte und lachte so recht wie ein Mensch, der aus dem Inneren heraus [ jnneklichen ] über etwas lacht und dem gar wohl ist zu lachen. So lachte sie so recht viel einen Tag lang und das schickte sich so recht wohl und so gut zu ihr, denn alles Lachen passte gut zu ihr, besonders aber dieses Lachen war gar so lieblich und lustvoll und so vertraulich und zärtlich, dass Jungfer Heilke so recht besonderes Vergnügen empfand an ihrem Lachen. Nun schwächte aber das Lachen sie mehr als manche andere Übung, die doch schmerzvoller war.
Nach dieser Übung kam es dazu, dass sie sang, und sie sang und sang so wohl und so fröhlich, denn sie musste singen und sang so wohl und so süßklingend, denn sie hatte von Natur aus eine gar gute süßklingende Stimme. Und wenn sie dann so sang in einem Jubel[21] und in solcher Süßigkeit und mit Lust, da war das Singen gar so süßklingend und lustvoll, dass es geradezu ein Jubel war für die, die es hörten. Aber es hörte dies niemand als Jungfer Heilke, die allezeit bei ihr war. Nun waren all ihre Nachbarn (zu einer Prozession) mit Kreuzen [ mit krútzen ] gegangen. Denn sie sang zuweilen so laut, dass man sie wohl hätte hören können. Und das war ihnen ein besonderer Trost, dass niemand da war, der das wahrnahm, als einzig Jungfer Heilke. Für die war es auch über jedes Vergnügen hinaus fröhlich anzuhören; so recht lustvoll war die Stimme zu hören und die Gebärde zu sehen.
[Demütigender Aufenthalt in einer Stallung]
Eines Tages führte Jungfer Heilke sie herunter aus dem kleinen Haus. Es war ein altes schlechtes Häuschen, in dem sie damals waren und wo sie im Obergeschoß wohnten. Und da führte Jungfer Heilke sie herab in eine Stallung wegen ihrer Notdurft [ vmb ir notdurft ]. Und da sie in die [148r] Stallung kam, da war es dem Geist so genehm, da zu bleiben, und ihr dünkte in rechter Demut, sie sei dessen wahrhaftig unwürdig. Und dadurch gewann der Geist einen Gefallen daran, da drinnen zu wohnen. Und als Jungfer Heilke das sah, da half sie ihr dabei so gut wie sie es nur konnte, so wie sie es stets tat, und sie nahm diese und führte sie hinter die Türe und ließ sie da niedersitzen und stieß sie (sc. die Türe) mit dem Fuß zu und sagte: „Nun sitz da, Schwester Täusche [ toͤise ], ihr habt es ganz gut; sitzt hier und kommt nicht heraus, bis dass man euch ruft, und lasst die Leute hier draußen ungestört.“ Das empfing sie in gar so großer Demut und sie dankte Unserem Herrn und auch der Jungfer für die schmähliche Herberge, dass sie ihr die gönnte. Und sie blieb da drinnen hinter der Tür, bis Jungfer Heilke zu ihr kam, dass sie zum Essen gehen sollte, und sie sagte zu ihr: „Wohl heraus, Schwester Täusche, lasst euch Gott zuliebe den Imbiss geben. Ich will heute noch Gott durch den Dienst an euch ehren und will euch zu essen geben. Man muss Gott durch den Dienst an euch ehren, denn ihr habt den Imbiss durch nichts verdient. Wollt ihr den Imbiss Gott zuliebe von mir nehmen?“ Und sie sagte in großer Demut: „Ja.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Dann also kommt mit mir.“ Sie stand auf und legte ihre Hände zusammen und schlug ihre Augen und ihr Antlitz nieder in rechter Demut, und sie dünkte sich wahrlich unwürdig. Und demütig dankte sie Unserem Herrn und der Jungfer und ging heraus aus der Stallung. Und sie war gar so demütig beschaffen und so selig, dass ein rechter Sünder, hätte er sie zu dieser Zeit gesehen, sich durch sie gebessert haben müsste. Jungfer Heilke nahm sie und führte sie in die Wohnung und setzte einen kleinen Tisch vor sie und legte ihr ein kleines Tischtuch [ quehelin ] dar-auf und gab ihr darauf das, was sie essen sollte. Sie setzte sich nieder und war gar [148v] froh über den Tisch. Dies tat ihr Jungfer Heilke nicht aus Geringschätzung [ vnwerde ] oder aus irgendeinem Übermut [ verlossenheit ], sondern weil sie die Begierde ihres (Gertruds) Geistes erfüllen wollte.
[Außergewöhnliche geistig-körperliche Zustände]
Eines Tages war sie so schwach, dass sie in ihrem Bett lag. Da nahm sie der Geist und schleuderte sie von einem Ende ans andere und warf sie im Bett hin und her, dass Jungfer Heilke große Sorge hatte, wie sie ihr den Kopf schütze, dass er ihr heil bleibe, zumal vor den Wänden. Jedesmal wenn der Geist sie so hin und her warf, so fing sie ihr den Kopf mit den Händen oder mit einem kleinen Kissen auf, und tat so gut sie es nur konnte. Diese Übung musste sie (Gertrud) erleiden, sei es ihr lieb oder leid. Aber was Gott mit ihr tat, das war ihr lieb; wieviel Schmerz ihr auch davon geschah, da achtete sie nicht darauf. Nun trieb sie der Geist wiederum heraus (aus dem Bett) und sie musste sich hinab zur Erde neigen, so tief, dass sie sich nicht von selbst wieder aufrichten konnte; sie war so schwach, dass Jungfer Heilke ihr aufhelfen musste.
Eines Tages stand ihr wiederum irgendeine Übung bevor, und sie wusste nicht, worauf der Geist hinauswolle [ geroten wolle ]. Nur dass sie nirgends bei sich selber [ vf ir selber ] bleiben konnte. Und Jungfer Heilke musste sie in dem Hause hin und her führen, und sie sagte zu ihr: „Ich weiß, was du hast. Ich meine, der Geist wolle sich so recht in der göttlichen Luft aufschwingen und da seine Weide suchen.“ Genau so war es, was der Geist wollte und begehrte. Und ihr war dann so wohl zumute, und er tat jetzt, als ob er hinwegfliegen wolle vor Leichtigkeit und Behendigkeit [ geringheit ] und aus Begierde ihres Geistes.
[Exkurs: Ungenügen der Niederschrift]
Das, was hier aufgeschrieben ist, und alles, was man aufschreiben kann von der Übung ihres Geistes, das ist recht so wie ein kleines Pünktchen gegenüber dem allesamt [ wider dem miteinander ], was niemand aufschreiben kann oder vermag. Denn man weiß auch nicht [149r] all das und vermag es auch nicht zu wissen. Denn sie war allezeit in ihrem Innern in Übung [ in jnnerer uͤbung ] des Geistes, und davon konnte niemand etwas wissen als nur soviel, wie man an ihren äußeren Gebärden sah, und was ihr auch Jungfer Heilke oft mit ungewöhnlichen verdeckten [ fr oͤmden ] Worten und schlauer List abgewann, so wie ihr es noch hören werdet. Aber es ist alles, wie viel davon auch aufgeschrieben wäre und aufgeschrieben ist, gering gegenüber dem, was es in Wahrheit ist.
[Harte Übungen, um den Leib gehorsam zu machen]
Eines Tages übte sie der Geist mit einer solchen Übung: Er zog alle ihre Kraft an sich, und er zog ihre Sehnen [ oderen ] an sich, dass ihre Sehnen sich spannten, und die Hände krümmten sich ihr geradezu, und die Finger wurden ihr zu Höckern an den Händen, sodass sie die Finger durchaus nicht strecken konnte; und hätte jemand sie strecken wollen, so hätte er sie ihr gebrochen. So kräftig hatte der Geist die Sehnen an sich gezogen, und so, wie es ihm gut dünkte, dass er den Leib untertänig und gehorsam machen könne. Das war er (der Leib) ihm dann auch, und zwar gehorsamer als in unseren Zeiten je irgendein Leib irgendeinem Geist; so war ihr Leib in vollkommenem Gehorsam gegenüber Gott und dem Geist. Obwohl es dem Leib zuweilen sehr bitter und schwer war, so war er doch gehorsam. Manche Übung war ihr bisweilen so hart, dass sie selber zu Jungfer Heilke sagte: „Es ist hart, es ist hart.“ Aber dadurch unterließ sie trotzdem nichts von dem, was sie tun sollte. Sie hätte es auch nicht unterlassen können, selbst wenn sie es gerne getan hätte, es sei denn, sie hätte sich mit Kraft Unserem Herrn und ihrem Gewissen widersetzen wollen. Weiß Gott, das tat sie nicht, und ihr Geist hätte es ihr auch nicht gestattet. Leib und Leben war allezeit bereit zu all dem, was Unser Herr mit ihr wirken wollte. Diese Übung [149v] und auch die anderen währten so lange, bis es Unserem Herrn, dem Meister dieses Werks, Zeit dünkte.
[Begierde nach Marter und Leiden]
Ein andermal saß sie da und es war ihr gar angst, und sie tat so wie ein Mensch, der voller Angst war. Und Jungfer Heilke sagte: „Was hast du nun?“ Und sie sagte: „Ich weiß noch nicht, was er (sc. der Geist) will.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Was wollte er anders als dass man dich martere und dir die Haut über die Ohren abziehe.“ Das war genau dasselbe, was der Geist begehrte, nämlich dass der Leib gemartert werde und all die Marter aller Heiligen und aller Menschen erleiden solle. Und sie versenkte sich [ gap sich ] von da an mit Begierde in alle die Marter und in alles Leiden, dass sie das alles gerne erleiden wollte. Und wäre es möglich, so wollte sie es gerne alles erleiden und erlitten haben um Gottes willen. Und sie versenkte sich mit solcher von Herzen kommenden Begierde in das Leiden, und so begierig, dass der Geist seine Lust empfand an der Begierde, als ob es zu den Werken (sc. der Marter) gekommen und mit den Werken vollbracht wäre. Denn die Begierde war so groß vor Gott, dass sie dem Geist genügte. Und da trieb der Geist sie aufzustehen, und sie fiel hin auf die Erde und dankte Unserem Herrn so ganz und gar demütig und dankbar, so wie es ihr Herz und ihre Begierde erzeigen konnten; mit so innerlichem Ernst dankte sie Gott.
[Zustände von Freude und Wonne]
Wiederum an einem anderen Tag kam der Geist in solche Wonne und Freude und solches Vergnügen mit Gott, wovon ich nicht wirklich schreiben oder sagen kann und auch niemand sonst, außer allein diejenigen, die es in der Wahrheit erlebt [ befunden ] haben; die wissen es wahrlich. Solcher Jubel und solche Freude wurden ihr da in dem Geiste erwiesen und geoffenbart, dass auch der Leib sich danach verhalten musste. Und sie lag da und ihr Antlitz wurde gar so minniglich und wohlgefällig, mit so freundlichem Ausdruck [ also g uͤtlich geschaffen ], weiß und rot [150r] wie eine hübsche Rose.[22] Ihre Augen wurden ihr so ganz rein und licht und so klar, dass kein Falke noch Adler je zu so klaren Augen kam wie sie in dieser Zeit. Sie lag da und hatte die Augen wohl halb offen, und von der maßlosen Süßigkeit, die sie innerlich im Geiste empfand, da war der Leib in solcher Freude, wie bei einem Menschen, den man mit jeglichem Saitenspiel und Vergnügungen unterhält: so minniglich und voller Freude war ihr Gebaren. So viel wie dies süßer und lustvoller ist als alle körperliche Freude, so viel mehr war auch das Gebaren zarter und wohlgefälliger und minniglicher. Und das, was man hier davon aufschreiben kann, ist so recht wie ein Tropfen gegenüber einem großen Meer. Die Freuden und Wonnen waren so zahlreich, dass sie es nicht verbergen konnte; sie musste es nach außen hin mit Gebärden zeigen, und auch die Gebärden waren so lustvoll anzusehen, dass alle die, die es sahen, in geradezu jubelnde Freude ausbrachen und eine süße Andacht empfanden. Und es war aber doch keine Verzückung[23] [ verzucken ], so wie sie doch danach oft und oft verzückt wurde. Danach dankte sie wiederum demütig Unserem Herrn und dünkte sich all dessen unwürdig.
[Wechselnde Zustände von Lachen und Weinen]
Eines Tages fiel sie wieder in ein Lachen und sie lachte gar inniglich aus herzlicher inniglicher Freude, die sie innerlich [ jn der jnnerkeit ] in ihrem Geist und ihrer Seele hatte. Da freute sich alles an ihr: ihre Augen begannen gar so fröhlich zu blicken, und ihr Mund begann gar so freundlich zu lachen, und alles in ihrem Gesicht drückte vollkommene Freude aus und sah so fröhlich aus, dass man sein Vergnügen haben konnte an ihrem fröhlichen Lachen, das ihr aus innerer herzlicher Freude kam. Die hatte sie durch die göttliche Gegenwärtigkeit, [150v] in der Gott in ihrer Seele und ihrem Geist war, wodurch sie sich auch mit Recht freuen sollte und musste.
Und wenn sich jetzt alles an ihr in Freude zeigte, da begann sie dabei zugleich auch inniglich zu weinen, und alles, das sich vorher an ihr als Freude gezeigt hatte, das zeigte sich nun an ihr gewandelt zu Jammer und zu Traurigkeit und zu Herzeleid. Das währte an ihr nahezu einen halben Tag, dass sie je von Herzen inniglich lachte und dann von Herzen inniglich weinte.
Danach fragte einstmals Jungfer Heilke sie, wie ihr zumute sei, wenn sie zuweilen so inniglich lache und alsdann so inniglich weine. Und sie sagte: „Ach, Unser Herr zeigt sich der Seele und dem Geist gar so freundlich, und von der Gegenwärtigkeit Unseres Herrn werden der Geist und das Innere so voll Freude, dass diese überfließt und nicht in mir bleiben kann; ich muss es nach außen hin mit solchem Gebaren zeigen. Aber wie er sich der Seele erzeigt und in welcher Weise er sich zu ihr kehrt, darüber kann ich nichts sagen. Und wenn er, nachdem er sich freundlich gezeigt hat, sich der Seele verbirgt, so ersteht dann in der Seele so große Bedrängnis und so großer Jammer und so großes Leid nach Unserem Herrn. Denn sie wähnt, ihn verloren zu haben. So werden der Geist und die Seele so voller Leid und Traurigkeit und so betrübt, dass ich es nach außen hin zeigen muss. Und ich kann mich durch nichts darüber hinwegsetzen, weder in den Freuden noch auch in der Betrübnis, sondern ich muss es nach außen hin zeigen. Denn es ist in meinem Inneren so groß, dass ich es nicht bei mir behalten kann.“ So sagte sie es zu Jungfer Heilke.
Zuweilen kam sie in solche Freude, und die Freude war so groß im Innern ihres Geistes, dass sie die Hände zusammenlegte und dann wieder auseinanderriss vor Freude. Und sie sagte: [151r] „Ich muss fortan immer froh sein jeden Tag, den ich fortan jemals lebe, und kann nimmermehr traurig werden.“ Eine kleine Weile später war ihre Betrübnis so groß, dass ihr dünkte, dass sie nimmermehr froh werden könne. Und sie legte ihre Hände zusammen aus rechtem Leid und sagte: „O weh, ich muss fortan immer traurig sein und ich kann nie mehr froh werden.“
Fortschreiten im geistlichen Leben – Weg der Erleuchtung – gebunden zuͦ got
Ausrichtung auf ein Leben einzig nach dem Willen Gottes
[Das Ziel der Vollkommenheit]
All diese Gnade war nur eine Vorbereitung, dass Unser Herr die Seele und den Geist dadurch verständig [ wise ] und stark machte. Und sie (die Gnade) war so recht eine Vorbereitung und eine Lehre, mit der sie (Gertrud) verständig gemacht und belehrt und vorbereitet wurde, dass Unser Herr noch etwas Größeres mit ihrem Geist und ihrer Seele gewirkt hat. So wie ja auch Unser Herr mit dieser seligen Frau sein Werk wirkte, eines stets größer und wundersamer als das andere, und den Geist je weiter und weiter führte, bis dass er sie dazu brachte, dass ihr auch kein Pünktchen mehr zu ganzer Vollkommenheit fehlte, soweit man jemanden als einen in allen Dingen vollkommenen Menschen ansehen [ bekennen ] kann und vermag. Und nicht allein einfache [ gemeine ] Leute, auch hochstehende bedeutende Kleriker, bedeutende Lesemeister, die ihre Beichtväter waren und denen sie ihr Herz ganz eröffnete und denen sie ihr ganzes Leben vorlegte, die haben sich darüber verwundert. Denn Unser Herr gab ihr die Verständigkeit [ wisheit ]. Wenn große wundersame Dinge, die es vielfach gab, ihr begegneten, die ihr von Gott geoffenbart wurden, und manch wundersame Werke, die Gott ihr Leben hindurch mit ihrem Geist gewirkt hatte, so legte sie das alles einem hochstehenden Lesemeister vor, der ihr damals vertraut war, Meister Heinrich von Talheim. Er war ein Oberer [ minister ] der Minderbrüder (sc. Franziskanerminoriten) und ein bewährter Meister der Heiligen Schrift. Oder einem anderen, der ihr damals vertraut war und bei dem sie sich sicher fühlen konnte: dem legte sie ihr Leben vor und die verborgenen Werke, die Gott mit ihr wirkte. Und das tat sie deshalb, dass sie sich sicher sein wollte über ihr ganzes Leben, wie sicher [151v] sie sich auch darüber war und ohne Zweifel wusste, dass es Gottes Werk war. Doch es wurde ihr durch diese umso sicherer und umso besser bestätigt. Hätten sie auch irgendeine Unvollkommenheit in ihrem Leben gefunden, so hätte sie sich in allem Vertrauen rasch davon abgewendet nach deren Ratschlag. Aber durch die Gnade Unseres Herrn da war dies doch alles richtig [ gereht ] und lautere Wahrheit. Dafür dankte sie Unserem Herrn demütig. Und sie rechnete es ihm zu [ gap es im wider ] und erkannte wohl, dass sie dessen unwürdig war und dass Gott es aus seiner lauteren Güte mit ihr wirkte. Ihr dünkte, dass sie Unseren Herrn niemals voll loben noch minnen noch ehren konnte für das Gut, das er in sich selber ist[24], und auch für seine große Güte, die er so vollkommen an ihr erzeigte, so wie es seiner großen Güte recht wohl ziemte. Denn ihr Herz war nur um das besorgt und beflissen, wie sie all seinen Willen vollbringe.
[Ausrichtung des ganzen Lebens auf Gott]
Ihr Herz richtete sich allezeit unwandelbar auf Gott von Anbeginn ihres geistlichen Lebens an; so war sie mit Fleiß darauf bedacht, dass sie nie auf ihn vergesse. Wenn er ihr nicht mit besonderem Trost gegenwärtig war, so war sie doch mit Fleiß darauf bedacht, dass sie den Namen Gottes in ihrem Herzen hatte[25] und dass sie so zu keiner Zeit jemals auf ihn vergaß. Sie dachte unwandelbar an ihn. Sie ließ nicht zu, dass ihr Herz mit Lust irgendein äußerliches Ding besitze, sei es klein oder groß. Sie widerstand sich selber und gestattete dies (sc. lustvollen Besitz) sich selber nicht. Alle leiblichen Dinge, Ehre und Gut und besonders das Wohlbehagen des Körpers, so wie es dem Körper lustvoll war; das war ihr zuwider außer nur insoweit, als sie dabei Unseren Herrn im Sinn hatte.
[Vorbildlichkeit von Gertruds Leben, in demütiger Gottergebenheit]
Sie führte auch ein so heiligmäßiges, auch andere besserndes Leben, und ihr Lebenswandel war so gut, dass man für sich Besserung finden konnte bei all dem, was sie tat, sodass Jungfer Heilke manchmal im Scherz sagte: „Gertrud, dir ist Gutes widerfahren, die Leute [152r] bessern sich bei all dem, was du tust, und wäre es sogar zuweilen böse.“ Da sagte sie in großer Demut: „Es tut mir leid. Ich wollte gern, dass alle Leute meine Fehler erkennen würden, ohne dass sie Schaden davon haben, auf dass sie desto besser wüssten, dass sie es nicht nötig haben, bei mir Besserung für sich zu finden.“
So empfand sie oft großes Leid, dass man sie für gut hielt und für etwas Besonderes. Das konnte ihr Jungfer Heilke kaum ausreden mit großem Ernst. Sie wollte nicht, dass jemand sie rühme, und es tat ihr von Herzen leid, wenn man es tat, obgleich sie doch dazu schwieg. Denn sie ließ es dann und wann unwidersprochen [ vngeandet ] aus rechter Demut und auch deshalb, dass man umso eher darüber schweige; so schwieg sie oft. Für alle ihre guten Werke begehrte sie nie irgendeinen Lohn von Gott; sie begehrte allein, dass es Gott gefalle. Und wenn man zu ihr sagte: „Ach, Frau, was für einen großen Lohn wird Euch Gott geben“, da erschrak sie allezeit und sagte: „Ich begehre, dass mein Leben so sei, dass es ihm gefalle; das ist mir Lohn genug.“
[Leben einzig nach dem Willen Gottes]
Ihr Wille war so ganz und gar mit Gott vereint, dass sie nichts zu wollen vermochte als das, was er wollte und wie er es wollte; das war ihr allezeit das Liebste, ob es nun sie anging oder andere Leute. Sie war ein solcher Mensch, dass ein bedeutender Lesemeister, der ihr Leben wohl kannte, sagte, dass er in allen Büchern nie etwas gefunden habe, das ihrem Leben gleiche. Und das entsprach recht wohl der großen grundlosen Güte Unseres Herrn, dass er diese Güte in aller Fülle an ihr erzeigte. Denn all das, was Unser Herr je von ihr forderte und was ihr von Gott in ihrem Innern zu erkennen gegeben wurde, und wie und wo sie Gottes Willen erkannte, sei es klein oder groß, Verzichten und Leiden, Tun und Lassen: da war sie allezeit bereit, dies zu tun und völlig dem Willen Gottes gehorsam zu sein in allen Sachen, sodass nie irgendein Werk Unseres Herrn ihrer Versäumnis wegen [152v] unterlassen blieb, soweit es ihre Schwäche zu erfüllen [erzúgen ] und zu leisten vermochte.
Gnadenerfahrungen
[Predigt von der alles erfüllenden Gnade Gottes]
Einstmals in der Zeit ihres Anfangs war sie allezeit in ganz hitziger, inbrünstiger, ungestümer Minne und Begierde, und kam einstmals in einer hitzigen Begierde von der Kirche und sagte zu Jungfer Heilke: „Heilke, mach rasch, dass Gott es dir lohne, und sage mir etwas von Unserem Herrn. Und schweig und sprich kein Wort dagegen und sage mir etwas.“ Als Jungfer Heilke sah, dass ihr damit gar so ernst war, und dass sie so voll von Minne und hitziger Begierde war, da setzte sie sich zu ihr hernieder und gab ihr eine Rede wieder [ seite ir ], die sie einstmals von einem Ordensbruder gehört hatte. Und sie hob an und sagte: „Unser Herr tut so recht wie die belebende [ lipliche ] Luft, die all das erfüllt, was da leer ist. Wenn ein Fass voll von Wein oder voll von etwas anderem ist, und wenn dann einer das herauslässt und das Fass leer macht, so wird es in einem Augenblick von der Luft gefüllt. Genauso tut der gute milde Gott. Der ist so wahrhaft [ rehte ] gut, dass er des Menschen Herz und Seele erfüllt mit der ewigen himmlischen lauteren Luft seiner göttlichen Gnaden. Und er lässt kein Winkelchen, so klein es auch sei, das er leer findet: er erfüllt es allesamt und durchgießt Seele und Herz und Leib, dass der Mensch so leicht und so behend und so geschwinde wird, dass es ihm leicht wird, all das zu tun, was Unserem Herrn zugehört.“ Durch diese Rede wurde sie so voller Gnaden und so voller geistlicher Freuden, dass die Gnade sie überwältigte, dass sie in eine Ohnmacht fiel, sodass sie neben sich hinsank und dabei während dieser Zeit aller ihrer Kraft beraubt war.
Danach sagte sie einstmals zu Jungfer Heilke: „Ach, Heilke, von wo ist dir die Rede zugekommen? Wie war es doch gar alles das, was meine Begierde begehrte. Gott soll [153r] es dir ewiglich danken, dass du so ganz genau gemäß all meiner Begierde auf mich eingingst. Ich will es einzig Unserem Herrn zuschreiben [ von vnserem herren nemen ]; der gab es dir ein, davon zu reden, und dass du daran dachtest.“
[Gespräche mit Vertrauten über die Gnadenerfahrungen]
Wenn nun die selige Frau so voll von Licht und Gnaden war, und das Innere ihres Geistes so voll von hitzigen Begierden und Minne war, und ihr Geist so voll von Wundern und göttlichen Wonnen war, dass sie es kaum bei sich selbst behalten konnte, so nahm Jungfer Heilke es allezeit an ihr wahr und fragte sie, wie ihr zumute sei, und sagte: „Sag mir, liebe Gertrud, was ist dir jetzt gegenwärtig, oder was hast du denn jetzt [ vnderhanden ]?“ Aber so wagemutig wagte sie es nicht jederzeit, sie zu fragen. Wenn anfangs, als diese gute Frau die Gnade und die göttlichen Wunder und die Süßigkeit, die Gott ihr zu dieser Zeit gab, nicht gut bei sich behalten konnte zu dieser Zeit, obwohl sie doch danach noch viel und weit Größeres tat, da war sie froh, dass sie jemanden hatte, bei dem sie ohne Besorgnis es wagte und vermochte, mit ihm zu reden. Und sie redete dann mit Jungfer Heilke darüber und sagte ihr alles, was sie wollte, und sagte dann: „Nun lohne es dir Gott, liebe Heilke. Siehe, ich glaube, es wäre mir an die Sinne gegangen oder an alle meine Kraft, hätte ich nicht mit dir darüber geredet. Siehe, es ist mir eine so große Hilfe und gibt mir eine so große Kraft, dass ich mit dir darüber rede. Es bringt mir geradezu eine Erleichterung [ liberung ], dass mir so weit ums Herz wird: mir wird geradezu so, wie wenn man einen vollen Sack ausleert und den erleichtert [ entlibet ]; so werde auch ich erleichtert, wenn ich mit dir darüber rede. Und ich kann dabei auch überhaupt nicht wahrnehmen, dass es gegen Unseren Herrn gerichtet sei, wenn ich dir darüber etwas sage: Ich erkenne nichts und nehme auch nichts wahr, das dabei hindern könnte.“
Denn sie führte nie irgendein Ding aus, und sei es noch so gering, das gegen Gott gerichtet war; sofort sah sie darin ein Hindernis. [153v] Sie konnte aber kein Hindernis dulden zwischen sich und Unserem Herrn, und Unser Herr der konnte auch keines dulden zwischen sich und ihr; sofort ließ er es sie erkennen. Und als Jungfer Heilke diese Rede von ihr hörte, da wurde sie gar von Herzen froh und dankte gar voll Vertrauen Unserem Herrn, dass er es ihr vergönne, und sagte: „Ach, liebe Gertrud, wie hörte ich das nun so herzlich gern. Denn du wolltest mit mir darüber reden, seit dir und mir Unser Lieber Herr das vergönnte, dass du mit mir bereden kannst, was du willst. Ich kann es Gott nimmermehr voll danken, dass er mir vergönnte, dass ich es hören soll.“
Alle ihre Rede und Vertraulichkeit, die sie hatte, die hatte sie mit Jungfer Heilke und einigen ausgesuchten [ sunderen ] Lehrern, denen sie auch ihr Leben im Einzelnen [ sunderlich ] geoffenbart hat. Sie sprach weder vertraulich noch öffentlich zu irgendjemand irgendein überschwänglich hochgreifendes Wort über die Gottheit oder über große Gnaden. Ihre Worte waren allezeit demütig und doch zuweilen gar tiefgehend in ihrer Wahrheit. Und doch gebrauchte sie demütige schickliche Worte, wenn sie über hochgreifende Dinge fragen oder reden wollte.
[Rasches Aufmerken auf die Gegenwart der Gnade]
Diese selige Frau war allezeit auf das Innere ihres Geistes hin ausgerichtet, und da nahm sie allezeit die Aufforderung [ vermanung ] und den Willen ihres Herrn wahr, und das führte sie gänzlich in der Weise aus, wie Gott es von ihr wollte. Sie war in nichts säumig; allezeit war sie beflissen, die Gnade festzuhalten, wie plötzlich und schnell auch sie ihrem Geiste zugeworfen wurde. Das war aber manchmal so plötzlich wie ein Augenblick. Auf das richtete sie ihr Augenmerk so lange hin [ sach noch ], bis es ihr ganz nach ihrem Willen zuteil wurde, und so lange, bis ihr Geist Tröstung verspürte und das fand, was er da begehrte und was ihm hilfreich sein konnte für die ewige Seligkeit und für rechte Erkenntnis und [154r] für ein rechtes nach Gottes Willen geordnetes Leben [ zuͦ einem rehten goͤtlichen geordenten leben ].
Aber zuweilen, wenn ihr die Sinne so träge waren, dass sie (Gertrud) sich nicht schnell genug auf das Licht und die Gnaden hin ausrichtete [ noch fuͦr ] und sie in sich aufnahm, da war ihr Geist so behende und dafür aufnahmebereit, dass das Licht gar nicht so schnell vorweglaufen konnte. Wenn es ihr nicht gegenwärtig blieb, so blieb ihr doch im Innern eine Mahnung, die sie mahnte, dass sie ihm schnell nachsah, und zwar so lange, dass es ihr gegenwärtig und spürbar wurde, und dass ihr Geist daraus ein geistliches, nach Gottes Willen geordnetes Leben entnahm [ schoͤpfete ] und das, was dazu gehört, um die ewige Seligkeit zu erlangen. Darüber redete sie manchmal mit Jungfer Heilke und sagte: „Ach, Heilke, wie ist es so nötig, dass der Mensch, der den Willen Unseres Herrn wahrnehmen will, allezeit bei sich selber ist.“ Und sie sagte: „Sieh, dem Geist und dem Inneren wird zuweilen das Licht der Gnaden so plötzlich zugeworfen, und in einem Augenblick läuft es vorweg.[26] Wer ihm behende nachblickt und es in sich aufnimmt, der kann viel Gutes daraus entnehmen. Und du sollst wissen, dass es gar schädlich ist, wenn einer es ganz und gar vorweglaufen lässt und es nicht wahrnimmt.“
Da sagte Jungfer Heilke: „Ach, liebe Gertrud, so sehe ich wohl, dass es nicht die Schuld Unseres Herrn ist, dass wir keine Gnade haben, wenn wir das Licht der Gnaden so leichtfertig und so unaufmerksam vorweglaufen lassen und es so wenig wahrnehmen. Es geschieht oft, dass mir ein solches Licht gar so plötzlich begegnet, und ich bin dabei bisweilen leider gar so unbehende, dass es mir ganz und gar entläuft. Und wenn es zuweilen gar so lustvoll ist, und ich dann so zur Einsicht komme [ mich verston ], so jammert es mich nach ihm gar so schlimm, dass ich gerne wüsste, was es gewesen war, und ich blicke ihm nach. Doch da ist es mir schon zu weit vorausgegangen und vorweggelaufen, und ich habe zu [154v] lange zugewartet, sodass ich ihm nicht behende nachsehe und es mir also entläuft, sodass ich es zuweilen nicht finden kann.
Deshalb glaube ich wohl, der Mensch, der allezeit so bei sich selber ist und sich in Acht nimmt [ des gewarnet ist ], dass er die Gnade behende empfängt und sie nicht so vorweglaufen lässt: dieser Mensch kann, wie ich glaube, viel Gutes und viel Seligkeit daraus entnehmen. Wenn uns das fehlt, so liegt das leider an uns. Unser Herr ist allezeit bereit und gibt dem Menschen Gnade, noch ehe es der Mensch selber weiß, der es nur noch nicht [ núwent ] wahrnehmen konnte.“
[Über die Liebe von Gott und Mensch]
Von solchen Dingen redeten sie gewöhnlich miteinander. Sie sagte auch manchmal: „Ach, Heilke, wie sollten wir uns doch so sehr freuen, dass Unser Herr uns gar so edel erschaffen hat, dass wir ihn, der da ist die allerhöchste Höhe, minnen sollen. Wie sollten wir darüber so froh sein, dass er uns dazu erschaffen hat. Nun ist dies recht: Wenn Unser Herr so geminnt hat hin in die Tiefe und bis zum Grund des Erdenreichs der Menschheit, so sollen wir minnen in die Höhe der Gottheit.“ Viele solche wundersamen und schönen Dinge, die ihr allezeit einfielen: über die redete sie oft nichts als nur zuweilen mit Jungfer Heilke; denn die hörte es allezeit gerne und verstand das auch wohl, was sie mit ihr redete. Auch redete sie (Gertrud) gern mit ihr über solche Dinge, die Unseren Herrn betrafen, damit sie diese, da sie ja noch jung war, hierdurch mitreiße [ reissete ] und hinziehe zu Unserem Herrn, ihn zu minnen und liebzuhaben.
Erfahrungen der Gegenwart Gottes
[Hinwendung des Herzens einzig zu Gott]
Manchmal da klagten die anderen, die bei ihr waren, dass sie ihr Herz nicht bei Unserem Herrn behalten könnten, und wenn sie gerade ihre Gedanken auf Unseren Herrn richten wollten, da sei ihr Herz schon anderswo. Und sie [155r] könnten keinen Trost bei Unserem Herrn haben. Da sagte sie: „Liebe Kinder, man darf nicht ablassen von Unserem Herrn. Wenn ihr eure Herzen nicht bei Unserem Herrn findet, soll euch das leid tun und ihr sollt das Herz rasch wieder heranholen und an Unseren Herrn gewöhnen und nicht mehr davon ablassen. Der Mensch soll es so machen wie ein Mensch, der einen sehr fest steckenden Pflock herausziehen will: er bewegt und bewegt den Pflock so lange, bis er ihn schließlich herauszieht. Genauso soll es der Mensch machen: Er soll sein Herz allezeit wieder auf Unseren Herrn richten und zwar so oft und so viel, bis dass er es an Unseren Herrn gewöhnt. Und gleich dann soll er bitten, dann flehen, dann liebkosen, und das so lange, bis dass ihr von ihm all das erwerbt, was ihr wollt. Denn Unser Herr, der ist so recht voller Tugend, dass er allezeit für den Menschen bereitwillig da ist und sich so gerne bitten lässt um alles, was der Mensch will, der so voller Vertrauen an ihm haftet und seiner begehrt und ihn allein im Sinn hat.“
[Berührtsein von der Gegenwart Gottes]
Dieser seligen Frau war Unser Herr allezeit so ganz gegenwärtig im Herzen und in den Sinnen, und er war ihr auch in ihrem Inneren während ihres ganzen Lebens so ganz nahe, dass sie von Anfang ihres geistlichen Lebens an allezeit in ihrem Inneren so göttlich von Gott berührt war. Als sie kaum ein Jahr oder eineinhalb Jahre in geistlichem Stand gelebt hatte, da hatte sie diese Gnade: Wenn man Unseren Herrn zu einem Kranken tragen wollte und man ihn gerade aus der Kirche hertrug und sie das noch nicht wusste, da wurde sie, noch ehe sie auch nur das Glöckchen gehört hatte[27], so in ihrem Herzen berührt von einer innerlichen Freude, dass Jungfer Heilke es an ihren äußeren Gebärden wahrnahm‚ [155v] ohne da noch zu wissen, was es war oder wovon sie so berührt war. Da sagte Jungfer Heilke, wenn sie beide allein waren: „Was geschieht dir? Was hast du nun gerade jetzt?“ Da sagte sie: „Ich weiß es nicht. Es ist irgendetwas.“ Im selben Moment da kam es, dass Unser Herr nahte, sodass sie in der Lage waren, das Glöckchen zu hören. Da merkte sie wohl, dass es davon kam, dass ihr Unser Herr so nahe und so gegenwärtig war. Dies geschah ihr oft und viel in ihrem Leben. Und besonders in der ersten Zeit, da war sie so in hitziger Minne und Unser Herr war ihr in ihrem Innern gar so nahe in Herz und in Sinnen, dass sie von ihm allezeit so ganz bis zum Grund berührt wurde mit großen Dingen und zuweilen auch mit geringfügigen kleinen Dingen. Das was zu Gott gehörte oder was ihr von ihm begegnete, das lag ihr ganz nah und tief im Herzen. Sie war allezeit in hitziger minnender Begierde nach Gott. Und viele Jahre vor ihrem Tod, da wirkte Unser Herr viele wundersame und große und verborgene Werke mit ihr, von denen ihr auch einen Teil hören werdet. Aber in dieser noch gar frühen Zeit ihres Lebens, da geschahen ihr solche verborgenen Dinge von Gott, die ich gänzlich unerwähnt lassen will wegen der einfachen [ gemeiner ] Leute, die es nicht verstehen können. So bleibt also ziemlich viel davon unerwähnt.
[Erfahrung der Gegenwart Gottes besonders während der Messe]
In den ersten Zeiten war sie in einer Übung, dass der Geist allezeit gern in der Gegenwart Unseres Herrn gewesen wäre während der Messe sowie an den Stätten, wo Unser Herr gegenwärtig war. Und es wurde ihrem Geist so ganz ernst damit, dass sie es kaum erwarten konnte, dass es anfing zu tagen. Wenn es dann Tag wurde, so wartete sie noch ungeduldiger [ noch kumer ], dass man bei den Ordensbrüdern [156r] aufmachte (sc. die Türen); gar so ernst war es ihr damit. Und wenn die Kirche kaum geöffnet war, so konnte sie es wieder kaum mit Not erwarten, dass sie läuteten und dass man die Messe sprechen würde und, wenn man die Messe zu sprechen begann, dass die Zeit kam, dass Unser Herr gegenwärtig war[28]. Was der Geist dann an Trost und Wonnen hatte von der Gegenwärtigkeit Unseres Herrn, davon kann ich nicht schreiben noch reden. Diese Übung währte wohl vier Wochen, dass sie so besonderen drängenden Ernst hatte für die Messe und die Gegenwärtigkeit Unseres Herrn, wie ernst es ihr doch auch alle Zeit vorher und nachher war mit der Messe, denn die hörte sie allezeit mit großer Andacht.
[Erscheinen göttlichen Lichts]
Einstmals in der ersten Zeit, da sie nicht mehr als nur drei Jahre in geistlichem Stand gewesen war, da saß sie einstmals bei dem Grab ihrer Schwester auf dem (Fried-)Hof der Ordensbrüder; es war an ihrem Jahrgedächtnis [jorgezit]. Wo sie war, da oder anderswo unter den Leuten, da war ihr Herz allezeit bei Gott und Gott war allezeit bei ihr mit besonderen Gnaden. Und als sie so bei dem Grab saß mit nach innen gerichteten Sinnen, und den Mantel hatte sie vor ihre Augen hochgeschlagen und alle ihre Sinne waren nach innen gerichtet hin auf Unseren Herrn, da kam ein wonnevolles göttliches klares Licht auf sie zu und umgab sie innen und außen, und das währte fortdauernd drei Tage und Nächte ohne Unterbrechung, ob sie schlief oder wachte, aß oder trank oder tätig war[29] [ wúrckte ]. Und was sie auch machte, da währte das Licht fortdauernd, und all diese ganze Weile da hatte sie einen so ganz und gar wohlgefälligen Lebenswandel. Sie redete wenig, und wenn man etwas mit ihr redete, so antwortete sie auf gute Weise und sinnierte darüber so recht wie ein Mensch, der ein Ding im Sinn hat, von dem nur er allein weiß und worüber er sich wohl freuen kann; und dem es leid wäre, wenn es jemand sonst wüsste. So vertraulich und wohlgefällig war ihr Lebenswandel in dieser Zeit. Aber nach dem dritten Tag verging das Licht.
Dies nahm Jungfer Heilke aber wohl an ihr wahr, dass etwas [156v] in ihrem Inneren war, und sie wagte durchaus nicht, sie zu fragen. Nun war es in denselben Zeiten gar dunkel, denn die Sonne hatte lange Zeit nicht mehr geschienen, und als die Sonne dann endlich schien, da machte sie (Gertrud) ein Fenster auf und sagte voller Sehnsucht: „Ach, liebe Sonne.“ Und Jungfer Heilke sagte: „Was meinst du damit, wenn du der Sonne gar so freundlich schmeichelst?“ Und sie sagte: „Ich bin ihr hold.“ Denn mit der Sonne wurde sie erinnert an das klare göttliche Licht, in dem sie zuvor gewesen war. Und nach langer Frage und Bitte sagte sie es endlich Jungfer Heilke, wie dieses Licht auf sie zugekommen war.
Entfaltung eines demutsvollen Tugendlebens
[Liebe zu einem keuschen, weltabgewandten Leben; Werben für ein Leben in geistlichem Stand]
Gott hatte so viele Gnaden an sie gewendet, dass es nicht möglich wäre, alles aufzuschreiben. Sie liebte [ minnete ] bei allen Menschen von Herzen Keuschheit, und sie wahrte auch die Keuschheit völlig bei sich selbst, im Herzen, an Seele und Leib, nachdem sie aus dem weltlichen Leben geschieden war. Und auch während ihres weltlichen Lebens liebte sie die Keuschheit von Herzen, denn sie wäre gerne, hätte es sein sollen, keusch gewesen, und ohne weltlich zu leben [ on die welt ]. Sie war ihr ganzes Leben hindurch so ganz und gar schamvoll und keusch, und wenn sie auch nur gar arglose [ einveltige ] Dinge über weltliche Sachen reden hörte, da entbrannte sie gleich unter ihren Augen, mehr als die, die nie in weltlichem Stand gelebt hatten. Sie konnte nichts hören über das weltliche Leben und auch nicht über irgendwelche weltlichen Sachen und sagte: „Ach, ihr Lieben, sprecht zu uns über Unseren Herrn.“
Wen sie auch dazu bringen konnte, ein geistliches Leben zu führen, da machte sie das in gutem Vertrauen. Und zu den Bürgerkindern aus der Stadt und auch zu anderen jungen Leuten [ kint ] aus den Dörfern, armen und reichen, da sagte in aller Güte: „Liebes Kind, willst du nicht ein Nönnchen werden? Ach, liebes Kind, [157r] sieh her, hüte dich vor der bösen Welt. Du weißt nicht, wie lieb es dir sein wird, denn du weißt nicht, wie bitter das Leben in der Welt ist und wie unrein; deshalb hüte dich davor.“ Dies machte sie nicht nur bei Kindern reicher Leute; vielmehr zog sie arme und reiche hin zum Leben in geistlichem Stand, soviele wie sie konnte. Und dasjenige (sc. Kind], welches ihr folgen wollte, das lehrte sie, wie es sich um Gott kümmern solle und an ihn denken und ihn allein minnen und im Sinn haben und mit ihm reden und von ihm begehren und dringend bitten und ihn von Herzen liebhaben. Und wenn sie bei jemand fand, dass er diese Dinge befolgte, da war sie froh, dass ihr dünkte, dass eines Unserem Herrn dienen wollte. Dem half sie weiter mit ihrer minnereichen Lehre. Und alle ihre Lehre war die, dass der Mensch niemals vergesse das demütige, in Elend und Verlassenheit verbrachte [ ellende ], verachtete Leben Unseres Herrn Jesus Christus, und dazu seine große Armut und sein vielfältiges Leiden. Hätte sie es den Menschen eindrücken können in den Grund ihres Herzens und ihrer Seele, so hätte sie das gerne getan. Hätte sie alle Menschen bringen können zu einem demütigen, tugendreichen, andächtigen Leben, so hätte sie das gerne getan.
Arme Kinder, die in den geistlichen Stand eintreten wollten, unterstützte sie mit Geld [ stúrete sú ], dass sie desto besser das graue Gewand kaufen könnten, und dem einen gab sie einen kleinen Schleier [ slegerlin ], einem andern ein kleines Stück Tuch und manchen einen Pelzrock. Und dazu gab sie ihnen viele Gebete mit und war zu ihnen so zärtlich und gut wie eine Mutter zu ihrem lieben Kind. Sie vermachte ihnen ihr altes Gewand; sie war bis dahin noch nicht gewillt es wegzulegen, und gab es nun ihnen, dass sie desto eher in geistlichen Stand eintreten würden. Und dass sie behütet würden vor dem Leben in der Welt, und dass sie rein und keusch blieben und Unserem Herrn dienten, das war ihr Begehren.
Sie liebte die Keuschheit gar sehr; deshalb war ihr all das zuwider, was mit Ausgelassenheit [ verlossenheit ] zu tun hatte: weltliche [157v] Dinge zu sehen und zu hören, Worte und Werke, ausgelassenes Gebaren und alles, was mit der Welt zu tun hat: das war ihr ganz und gar zuwider. Sie liebte die Keuschheit so sehr, dass sie sich in sich zusammenzog [ rampf ] und sich abwendete, wenn sie irgendetwas vom weltlichen Leben sagen hörte. Auch Dinge, über die zu reden für andere Leute belanglos war, waren ihr so zuwider, dass sie deswegen ausspuckte. Und besonders als sie in den geistlichen Stand eingetreten war und davor und auch danach und jederzeit war sie so ganz bedachtsam [ behuͦt ] in Worten und Werken und Gebärden. Als sie noch in weltlichem Leben war, eignete sie sich nie eine Gebärde oder ein Wort an so wie andere Leute, und sie war jederzeit schamhaft und erschrocken über weltliche Dinge; sie erschrak darüber und entfärbte sich sogleich. Sie war so schamhaft und so bedacht auf das, was man jetzt bei geistlichen Leuten vorbildlich fände [ fúr guͦt nem ], die ein gar heiligmäßiges Leben führen wollen.
[Bedachtsames Einwirken auf die Mitmenschen]
Aber als sie in den geistlichen Stand eintrat, da war ihr Leben noch seliger und heiligmäßiger und noch mehr bedachtsam. Alle ihre Worte und Werke waren danach auf das Lob und die Ehre Unseres Herrn gerichtet und auf das, was ihr zu Nutzen war, und auf die Bedürfnisse ihres Mitmenschen. Und damit hatte sie das Lob Unseres Herrn und seine Ehre im Sinn. Sie redete nicht mutwillig noch sprach sie harte oder ungebührliche Worte zu irgendjemand, auch wenn sie ihm zürnen wollte. Wenn ein Mensch etwas machte, das ihr missfiel, so sagte sie: „Ach, du guter [ seliger ] Mensch, wozu hast du das gemacht, oder wozu machst du das?“ Wen sie aber ernsthaft zurechtweisen [ stroffen ] wollte, den nahm sie beiseite und wies ihn mit so bedachtsamen Worten zurecht, und doch gar so ernsthaft, dass ihm dünkte, er sei wohl zurechtgewiesen worden, und zwar mehr als wenn ihn ein anderer Mensch gar übel behandelt hätte.
Sie wies die Leute in einem milden Ernst zurecht, doch so, dass [158r] niemand darüber erzürnt sein oder es übelnehmen konnte. Denn manche Leute wären froh gewesen, dass sie sich so viel um sie gekümmert hätte, um sie zurechtzuweisen. Denn den Leuten dünkte, dass sie umso glücklicher [ seliger ] seien, wenn sie mit ihnen redete. Sei schwur auch nicht, weder in kleinen Sachen noch auch nur in seltenen Fällen [ weder lútzel noch wenig ], wie ernst ihr auch etwas war. Ihre Rede war nicht anders als geradeaus Nein und Ja.[30] Was sie mit einem Wort zurecht-rücken konnte, das tat sie. Sie redete nicht gerne viel, nur soweit nötig das, was unumgänglich war [ dz sú bloͤssiklich bedurfte ].
[Gertruds Demut]
Sie war auch so ganz und gar demütig, dass durchaus ihr ganzes Leben eingepfropft war und sich verzweigte auf dem Fundament rechter wahrer tiefer Demut. Sie war so ganz und gar demütig, als wäre es ihr durchaus angeboren von ihrer wahren [ rehter ] Natur her; so eine unwillkürliche [ vngflissene ] Demut hatte sie zu eigen. Man könnte wohl ein eige-nes Buch abfassen über ihren demütigen Lebenswandel und ihr Leben, das sie in ihrem Innern und nach außen hin vor Gott und gegenüber den Leuten führte. Niemand kann noch vermag es vollständig aufzuschreiben, außer dass ich nur ihre vollkommene Demut in allem ihrem Leben wohl bestätigen und bezeugen will. Zuerst bei [ mit ] Gott, der die Herzen aller Menschen erkennt, danach mit all denen, die ihren Lebenswandel hier auf Erden in ihrem geistlichen Leben gesehen haben.
Wie gar sehr sie sich vor Gott zunichte machte und erniedrigte [ verdruckte ], darüber wäre gar lange zu sprechen, und es wäre auch lustvoll zu hören. Nun aber kann man mit all dem nicht an ein Ende zu kommen; deshalb schreibe ich nur das Wenigste auf und lasse das Meiste und Größte unerwähnt. Und nicht allein von dieser Tugend, mehr noch: von allem ihrem Leben bleibt doch das Beste unerwähnt. Sie war so demütig bei den Gnaden und bei den Werken, die Gott in seiner milden Güte an ihr wirkte, dass sie sich dessen allezeit unwürdig dünkte. Derartiges sagte sie oft zu Jungfer Heilke. Und [158v] wenn Jungfer Heilke irgend-etwas von besonderen Gnaden an ihr wahrnahm, dann hätte sie sehr gerne gewusst, was es sei, und getraute sich doch nicht, sie alsbald zu fragen, und wartete manchmal acht Tage, dass diese es umso weniger bemerken konnte, dass sie etwas Besonderes bei ihr bemerkt hatte.
[Sich „lassen“ auf Gott hin, im Vertrauen auf die Güte Gottes]
Sie (Heilke) wusste auch jederzeit gar gern von ihren besonderen Gnaden, denn ihr dünkte, dass es ihr gar nutzvoll sei und dass sie Unseren Herrn desto mehr lieb habe. Und sie wandte sich oft mit verdeckten [ froͤmden ] Worten an sie (Gertrud), sodass diese nicht merken konnte, was sie damit meinte. Und wenn sie beide allein waren, dann fing Jungfer Heilke an und sagte: „Ach, liebe Gertrud, wenn wir alle Sorge und alle Dinge außer Acht ließen und sie Unserem Herrn anempfehlen und allein seinen Willen wahrnehmen würden, meinst du, ob er dann die Sorge für uns übernähme [ vns besorgete ]? Und wie meinst du, dass er die Sorge übernimmt für die Leute, die ihn allein im Sinn haben und sich ganz und gar ihm überlassen[31] [ an in lont ]?" Mit solchen Worten hatte sie diese dann eingefangen, dass diese dann begann, ihr etwas Besonderes zu sagen. Und sie sagte dann mit ganz einfachen Worten [ vil einveltiklich ]: „Sieh, liebes Kind, Unser Herr ist so recht gut und tugendhaft; wer sich ihm überlässt und seinen Willen allein wahrnimmt, den versorgt Unser Herr freundlich und lässt[32] nimmer von ihm.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ach, meinst du, liebe Gertrud, ob es so ist?“ Dies sagte sie nicht deswegen, weil sie Gott misstraute, denn sie wusste wohl, dass er mit dem sei, der sich ihm überlasse; aber sie getraute sich nicht, so offen zu fragen, und musste es also mit solchen Worten zuwege bringen. Da sagte diese selige Frau: „Wolltest du nun Unseren Herrn noch viel [ dester ] lieber haben, würde ich dir etwas sagen.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ja, ich muss ihn doch noch viel lieber haben. Ich weiß nicht, dass jemals [159r ] irgendein Ding mir die Welt und alle weltlichen Dinge mehr verleidete als das, was du so mit mir redest, und dass ich sehe, dass Unser Herr so freundlich mit den Seinen ist und er seine Güte so voll und ganz an ihnen erzeigt.“ So fing sie (Gertrud) an und sagte ihr ein gut Ding, wovon ihr so manches hören werdet.
Und wenn sie mit ihrer Rede zu Ende gekommen war, so sagte sie: „Sieh, an diesen Sachen bin ich so viel schuld wie der Baum, der da so steht und den Gott im Sommer mehr kleidet als im Winter. Und was kann der Baum dafür? Er ist daran nicht schuld; Gott macht es in seiner Güte. Ebenso bin auch ich nicht schuld an den Werken, die Gott an mir wirkt. Ich bin sein unwürdiges Geschöpf [ creatur ]; durch das, was er an mir stets wirkt [ wúrcken ist ], erzeigt er seine unmäßige überfließende Güte zu mir. Und ich soll es nicht mir zuschreiben [ an nemen ], denn es ist allein das Seine. Das weiß ich wohl. Er könnte noch mehr tun, wenn er wollte, aber ich bin dessen unwürdig und ich habe es nie um ihn verdient. Denn ich habe ihn mehr erzürnt als geliebt oder ihm gedient.“ Und so demütigte sie sich allezeit vor Gott und vor den Leuten.
[Demütiges Sich-Ergeben in den Willen Gottes]
Oft in der Nacht, wenn diese (Gertrud) aufgestanden war, hörte Jungfer Heilke sie gerade [ denn ] beten. Da lag Heilke da und tat, als wenn sie schliefe, und hörte dann, wie diese ihr Gespräch hatte mit Unserem Herrn, und wie gar demütig sie sich erniedrigte und zunichte machte und sich verschmähte [ verwarf ] vor Unserem Herrn, und wie demütig sie sich neigte unter die Füße Unseres Herrn und wie unwürdig aller seiner Gnaden sie sich dünkte, und wie sie Unseren Herrn gar so demütig und ernsthaft bat, dass er ihr erlaube, um die Dinge zu bitten, die sie nötig hatte, und dass er sie darin anweise und lehre, in allen Dingen allein seinen Willen im Sinn zu haben und zu begehren. Wie demütig sie das von ihm forderte und [159v] dringend erbat, und wie demütig sie ihm dankte: ein rechter Sünder, der es gehört hätte, könnte sich dadurch bekehrt haben.
[Demut gegenüber Menschen und Gott]
Aus rechter Demut eignete sie sich keine besondere Verhaltensweise an, weder im Hause noch außerhalb des Hauses. Als manche anderen Leute zuweilen wollten, dass man sie (die Leute) mit Du anspreche und mit ihrem Namen, so wie sie heißen, da verhielt sie (Gertrud) sich keineswegs so gegenüber allen Leuten, denn ihr dünkte, es sei mehr ein Sich-Großtun [ erzeigen ] und ein Sich-Erheben als ein Sich-Verbergen oder ein Sich-Erniedrigen; deshalb unterließ sie es. Sie bat wohl einige Arme Schwestern und andere, die ihr vertraut waren, dass sie sie so ansprechen sollten, wie sie hieß. Wenn man sie auch manchmal fragte, was sie tue oder wie sie es gern habe, so sagte sie: „Ich nehme es gerne für gut, so wie es meiner Gewohnheit oder meiner Schwäche entspricht.“ Sie sagte nicht: „Ich bin ein unnützer Mensch“, oder: „Wäre ich ein guter Mensch, so würde ich gut handeln“.
Sie war schlicht und bescheiden [ einvaltig ] und vollkommen demütig in all ihrem Leben und Lebenswandel. Und wenn Jungfer Heilke zuweilen mit ihr vertraut sprechen wollte, so sagte sie (Heilke) zu ihr: „Andere Leute sagen, wenn man sie fragt, was sie tun, dann sagen sie: Ich bin ein unnützer Mensch. So solltest auch du es machen.“ Da sagte sie: „Weiß Gott, nein. Unser Herr weiß wohl, dass ich nicht gut bin und unnütz. Aber mir dünkte, würde ich das sagen, dann wäre das mehr ein Sich-Erheben als ein Sich-Erniedrigen.“
Ihr dünkte es aus rechter Demut, dass sie so klein und so unwürdig sei vor den Augen Unseres Herrn, dass sie sich nicht würdig dünkte, dass sie Unseren Herrn loben und ehren und anbeten sollte. Und doch ließ sie es deswegen nicht unterbleiben. Sie lobte und ehrte Unseren Herrn allezeit. Sie erkannte ihn als so durchaus gut, dass sie seiner Güte und seinem Erbarmen wohl vertraute, nämlich dass er das, was sie tue, für gut [160r] halte und es ihm genehm sei. Sie erkannte ihn als so recht tugendhaft und milde und so gut, dass sie ihm alles Gute wohl zutraute. Daher bekam sie bei ihm alles, was sie nötig hatte. Sie erkannte wohl, wie freundlich und liebenswürdig er allezeit zu ihr war, doch dünkte sie sich seiner unwürdig und neigte sich demütig unter seine Füße und ergab sich ihm ganz nach seinem Willen. Sie war so ganz demütig von Grund auf in ihrem Herzen, ihrer Seele und ihrem Gemüt. Hätte sie vermocht, sich zu demütigen bis zum Grund des Erdenreichs, so hätte sie das gerne getan, und sie tat es, soweit sie es vermochte. Durch große Demut kam sie oft dazu, dass ihr Geist keine Stätte finden konnte als in der Hölle: da zu wohnen und nirgendwo anders, so dünkte ihr, sei sie würdig.[33]
[Liebevoller und demütiger Umgang, auch mit Sündern und Armen]
Ihr Lebenswandel war mild und liebevoll [minsam] und demütig gegenüber allen Leuten. Allen guten Menschen war sie hold. Wenn man etwas sagte über gute Menschen, so dünkte sie sich allezeit geringer vor Gott als jemand, von dem man sprach. Wenn sie zuweilen Umgang mit den Leuten haben wollte, tat sie das nur mit Armen Schwestern, die Unseren Herrn allerliebst hatten. Mit denen hatte sie besonders gerne Umgang. Aber sie befasste sich wenig mit irgendjemand als nur mit Gott allein.
Sie war auch mild und demütig gegenüber den Sündern. Mit milden liebevollen demütigen Worten zog sie die Sünder zu Gott, sodass sie diese vor mancher Sünde bewahrte, die sie ihretwillen unterließen, wie sie es selbst oft bekundeten [ verjohen ] vor Herren und anderen Leuten. Aber das betrübte sie, dass sie es um ihretwillen unterließen, und sie bat sie, dass sie die Sünde um Gottes willen unterließen; so würde es ihnen Lohn bringen [ lonber ].
Mit armen Leuten hatte sie liebevollen und demütigen Umgang, und sie tröstete sie in ihren Mühen und half ihnen, [160v] ihre Armut zu ertragen, wo sie es vermochte. Sie hielt sich von niemandem fern, wie ekelerregend er auch war durch Krankheiten und wie schlimm er auch stank [ smahte ] durch Unsauberkeit. Sie verhielt sich freundlich zu den Armen und hatte viel Erbarmen mit ihnen. Sie hielt sich von niemand fern, weder von Sündern noch von armen Leuten. Sie war milde und demütig zu allen Geschöpfen
[Demut in Lebensverhältnissen und Lebensweise, in der Nachfolge Christi]
Sie trug auch gar demütige Kleidung: weißen und grauen groben Rock und Mantel aus Leinen und Wolle, kurz und faltenlos[34] [ vngelencket ]; außen und innen mit aufgesetzten Flicken. Wo es nötig war, da setzte sie diese hin, und das tat sie aus Demut. Und doch tat sie es so maßvoll und so bescheiden, dass dadurch kein Gerede aufkam. Wie sie nur konnte war sie eifrig darauf bedacht, dass ihr Leben nicht dazu führte, dass es unter den Leuten gerühmt wurde oder dass man davon weithin redete. Das wäre ihr nämlich wie der Tod gewesen. Sie trug abgestutzte[35] [ stumpfe ] unförmige große Schuhe, und sie legte sich einen großen Schleier aus Leinen um und einen darüber, den hing sie auf [ in ] ihre Augen; doch sie verhüllte sich nicht zu weitgehend, sondern so recht auf eine schlichte Art. Auf recht schlichte Art, das war allezeit ihre Gewohnheit; sie vermochte es nie, sich eine Besonderheit zuzu-legen [ an genemen ]. Sie hätte sich sehr dazu zwingen müssen, hätte sie es tun sollen: so ganz bescheiden und demütig waren ihr Leben und ihr Lebenswandel.
Ihre Bettstatt und ihr Bettzeug und alles was zu ihr gehörte, das war alles bescheiden und demütig. Ihr Gebet und ihr Knien und ihr Verneigen in der Kirche vor der Gegenwart Unseres Herrn, das war gar so andächtig, dass es keinen Mensch gab, der nicht durch sie gebessert werden musste, wenn er sie recht wahrnahm. Und besonders ihr Gebet und ihre Andacht vor der Gegenwart Unseres Herrn, das geschah in so großer Minne [161r] und Begierde und nahm sich doch so bescheiden bei ihr aus, dass man von ihr allezeit gebessert werden musste.
Ihr Gehen und Stehen, ihr Tun und Lassen, ihr Schweigen und ihr Reden, ihr Fragen und ihr Antworten, ihr Weben [ wúrcken ] und ihr Spinnen und alle ihre Werke waren voll rechter Demut und gingen hervor aus dem Grund eines demütigen Herzens. Dadurch nahmen sich alle Leute ein gutes Vorbild an ihr, denn all ihr Leben war nichts anderes als ein vollkommenes Nachfolgen dem Vorbild und dem Leben Unseres Herrn Jesus Christus.
[Demütiges Einwirken auf andere, durch Zureden und Vorbild]
Sie hatte auch die Gewohnheit an großen Festtagen und wenn sie Unseren Herrn empfangen wollte, dass sie dann am Vorabend [oben ], wenn sie zu Bett gehen [ nider gon ] wollte, niederkniete und demütig vor den Schwestern ihre Schuld bekannte, Und sie legte ihre Hände zusammen und neigte sich bis zur Erde und bat sie um Gottes willen, wenn sie irgendeine von ihnen betrübt oder ihr Anstoß gegeben hätte, dass sie ihr das vergäben um Gottes willen. Das tat sie so demütig und so minnereich, dass es die anderen zu Minne und Demut brachte, sodass sie es auch so machten.
Wenn sie einen Menschen allzu hart zurechtwies oder zu hart mit ihm redete, konnte das ihr Geist keineswegs ertragen. Und dabei war doch ihre Rede nicht unbedacht und in keiner Weise zu hart. Auch wenn ein Mensch verschuldet hatte, dass man großen Zorn empfand, und sie mit Recht über ihn erzürnt sein sollte, so war ihre Rede doch nur ein wenig in strengem Ernst, denn auch dann [ noch denn ] konnte sie es in ihrem Innern nicht ertragen. Sie kniete sich vor den Menschen hin und bat ihn, dass er es ihr um Gottes willen vergebe, auch wenn zuvor jener [ gynner ] Mensch es gar nicht beachtet hatte.
Ihre Augen blickten auch allezeit nach unten und waren auf die Erde gerichtet. Wohin sie auch ging oder wo sie auch stand, so blickte sie allezeit nach unten auf ihre Füße. Ihr Antlitz erschien allezeit gar so demütig und sanftmütig und andächtig, und ihr Gebaren war gar so [161v] bescheiden und demütig, dass, wer sie recht ansah, durch sie gebessert werden musste.
Ihr Leben war geradezu eine Zurechtweisung aller Menschen, denn wer ihr Leben recht wahrnahm, der kam durch ihr seliges Leben dazu, auf seine Fehler zu sehen, und zur Selbsterkenntnis vor Gott. Das ist mir selber oft und oft geschehen, dass, wenn ich sie ansah, es mir selber von Herzen leid tat [ dz ich erbarmende wart ], dass ich mich so weit entfernt hatte von Gott, und dass ich von Herzen darüber seufzte, auch wenn sie doch überhaupt kein Wort mit mir geredet hatte. Das habe ich auch von guten Leuten gehört, dass sie sie, als sie lebte, nie angeblickt hätten, ohne durch sie zu besonderer Andacht zu kommen.
[Demütiges Abwehren von Ehrerbietungen; Freisein von Dünkel]
Ihr war es auch recht zuwider, wenn man sie zu Ehren brachte [ zoch ] und ihr im Hause Ehre erbot. Und wenn man vor ihr aufstand, oder wie auch immer man ihr Ehre erbot, das war ihr zuwider. Hätte sie es den Leuten wohl verwehren können, so hätte sie das gerne getan. Sie schwieg oft und tat so, als hätte sie es nicht wahrgenommen, weil es sie verdross, dass die Leute um sie wetteiferten und sie bedrängten [ dz sú des kriegens vnd der bekúmberung verdros ]. Ihr wäre lieb gewesen, dass man sie so wie eine andere Arme Schwester angesehen hätte. Aber wie zuwider es ihr auch war, so erboten ihr doch die Leute Ehre, denn es dünkte ihnen, dass man sie mit Recht ehren solle, und zwar ebenso wegen ihrer leibhaftigen wie wegen ihrer geistlichen Ehrwürdigkeit, die Gott ihr verliehen hatte.
Und wenn die Menschen über ihr edle Abstammung [ edelkeit ] sprachen, so sagte sie: „Ach, ihr Lieben, es ist niemand edel als der, der tugendhaft ist. Der ist edel, den die Tugenden edel machen, und niemand anderes.“ Jungfer Heilke sprach einst über ihre (Heilkes) Mutter und über ihre edle Abstammung und sagte, sie sei aus einem Geschlecht von Freien. Das verwehrte sie ihr mit solchem Ernst, dass sie (Heilke) niemals mehr bis zu ihrem Tod es wagte, daran zu erinnern.
Sie war so demütig, und wenn sie bei den Leuten den Eindruck hatte, dass diese sie für einen [162r] guten Menschen ansehen wollten, dann entzog sie den Leuten ihr Vertrauen [ wz in vnheimlic h] und entfremdete sich ihnen, wo sie es vermochte. Ihr geschah dadurch viel Leid. Schließlich stellte sie es Unserem Herrn anheim; der befreite sie davon, sodass es ihr gleichgültig war, ob die Leute sie rühmten oder tadelten.
Durch ihre von Grund auf rechte wahre Demut da vermochte sie gut und gern [ wol ] gelehrte Leute zu fragen, wenn ihr Unser Herr etwas Besonderes zu verstehen gab, worüber sie sich nicht gut klarwerden [ gerihten ] konnte. Sie schämte sich nicht, dass sie manche Dinge nicht gut verstehen konnte. Ihr dünkte auch, dass es ein großes Vergehen gegen Unseren Herrn gewesen wäre, wenn sie solches ungefragt belassen hätte, und dass sie dadurch sich selbst auf Irrwege begeben [ geirret ] hätte. So wie es oft manche Leute machen, die da meinen, dass sie gar recht gehandelt hätten [ dz in gar reht wer ], und die dann gar nicht recht gehandelt hatten, wenn sie ihr Leben offenlegten. Vor solchen Dingen hütete sie gar klug.
Unser Herr wirkte manch liebevolle wundersame Werke, bei denen es nicht nötig war, dass man über sie nachfragte [ dz sú v́ber hoͤret wurden ]. Über diese Werke verwunderten sich oft hochstehende Lehrer und bedeutende Lesemeister, die doch wohl erkannten, dass es ein lauteres Gut und die Wahrheit war. Und anderes fand man nicht in ihrem Leben.
Barmherzige und milde Fürsorge für Bedürftige
[Barmherzigkeit und Milde gegenüber den Armen; Fürsorge für Kinder]
Barmherzigkeit und Milde, diese zwei Tugenden, hatte sie vollkommen zu eigen, und zwar zu allen Geschöpfen, die des Erbarmens bedurften. Und besonders zu armen Leuten, denen es am Lebensnotwendigen mangelte; diesen gab sie Wein und Brot, Fleisch und Mus, Korn und Mehl, wie es ihr zur Verfügung stand. Sie gab ihnen auch ihre alte Kleidung, Bett und Kissen, Polster [ pfulwen ] und was sie sich versagen konnte: das gab sie armen Leuten. Sie hatte eine Nichte, die Tochter einer Schwester; diese war in geistlichen Stand eingetreten und war auch arm[36]. Der gab sie eine Zuwendung im Wert von gut dreißig Mark, gut zwanzig Jahre vor ihrem Tod. Dabei hatte sie doch gar nicht so viel [162v] übrig und hätte es wohl selber brauchen können; aber sie wurde dazu durch den Geist bezwungen. Doch sie hatte dennoch das Lebensnotwendige.
Sie gab alles das weg, was sie geben konnte, außer dem rein Lebensnotwendigen. Sie nahm Arme Schwestern in ihr Haus auf, um ihnen guttun zu können, und hatte manche von ihnen Jahr und Tag bei sich. Denjenigen aber, die sie nicht bei sich hatte, denen sandte sie nach Hause, was sie Gutes hatte, und lud sie ein und gab ihnen zu essen und zu trinken, vom Besten, das sie hatte: Gesottenes und Gebratenes, Lebkuchen und aus Saft gekochtes Mus [ latwerge ]. Und sie gab ihnen so genug, dass sie zuweilen sehr fröhlich wurden. Und wenn sie das sah, dann wurde ihr so recht wohl zumute, denn all das, was sie gab, das gab sie mit gutem Willen. Und wenn sie die Armen so erfreuen konnte, so freute sie sich mit ihnen, und wenn sie dann endlich von ihr nach Hause gehen wollten, so füllte sie ihnen dazu noch ihr Säckchen mit Fleisch und Brot und was sie sonst noch hatte, und ließ sie sehr fröhlich nach Hause gehen.
Dasselbe tat sie auch den armen Frauen mit kleinen Kindern und den Wöchnerinnen; die führte sie mit sich nach Hause und gab ihnen recht genug zu essen und zu trinken. Und sie nahm die kleinen Kinder und ließ sie unterdessen Kacka machen [ kackerte sú ] und putzte sie ab und wickelte sie wieder in ihre Windelchen. Und wenn diese schlecht [ boͤs e] waren, so gab sie ihnen andere. Und dann gab sie diese (die Kinder) den Müttern zurück. Und die Kinder, die schon etwas groß waren, die zog sie aus und schüttelte ihnen ihr kleines Gewand auf und klopfte ihnen ihre Mützchen [ húdelin ] gegeneinander aus, dass sie diese wieder tragen konnten. Und sie wusch [ quuͦg ] sie dann und heilte denen, die das nötig hatten, ihren Kopf, und tat ihnen viel zugute. Und wenn sie weggingen, so füllte sie auch ihnen ihr Säckchen und ließ sie fröhlich von ihr gehen. Und manches Kind hatte sie zehn Wochen bei sich im [163r] Haus, bis dass sie ihm den Kopf schön und heil gemacht hatte.
[Rückhaltlose Fürsorge für Kranke]
Die Minne und die Liebe Unseres Herrn Jesus Christus machten sie zu einer gar guten Meisterin des selben Handwerks. Und wisst, dass ihr dadurch auch oft Weh geschah, nur dass die Minne Unseres Herrn ihr alles leicht machte. Denn alles, was sie Unserem Herrn zu Ehren erleiden konnte und mochte, das dünkte ihr alles billig und klein, denn die Minne war groß in ihrem Herzen. Sie hatte eine so zarte Natur, wie sie ein Mensch nur haben kann, aber sie richtete ihr Leben nicht nach ihrer Natur. Denn alles, was ihr widerwärtig war, das machte sie, und alles, was ihr lustvoll war, das mied sie. Sie überwand ihre Natur in allen Dingen; das ist wohl bestätigt durch ihr ganzes Leben.
Es lag ein armer Mann krank, nahe bei ihrem Haus, zu dem war sie gar voller Güte; und der Mann war so ganz und gar unrein und so widerwärtig anzusehen. Wenn sie ihm Essen brachte und sich vor ihn hinsetzte und ihm einen vollen Bissen [ mundvoͮl ] in den Mund schob, so kehrte sie sich von ihm weg und sah neben sich; gar so weh geschah ihr von ihm. Sie ging auch in das Siechenhaus [ spittal ] und sah nach den Kranken; und sie schüttelte ihnen die Betten auf und nahm ihr Gewand und untersuchte es ihnen (auf Ungeziefer hin); das machte sie gar heimlich. Aber doch wurden es manche Frauen gewahr, die in dem Siechenhaus lebten [ gesessen worent ]. Und wenn sie da hineinging, so kamen sie und brachten eine feurige Glut, dass man den Kranken ihre Kleider darüber ausschüttele. Und sie halfen ihr und wurden so guter Gesinnung [ andehtig ], dass sie eifrig baten, dass man sie es wissen lasse, wenn sie da hinging. Manche (Kleider) waren so voll Ungeziefer, dass niemand es herausschütteln konnte. Da nahm sie einen Besen und machte es damit weg. Und sie schüttelte ihnen ihr leinenes Betttuch aus und gebot einem jeden, einen Zipfel hochzuheben, und schlug [163v] dann über der Glut mit einer Rute auf sie (sc. die Betttücher), dass der Gestank so groß war, dass es nicht auszuhalten war ihn zu ertragen. Dabei ging sie ohne sich zu schützen [ vnverhaben ] ans Werk, und ihr Antlitz erschien so fröhlich, als sei sie in einem Würzgarten gewesen.
In dem selben Siechenhaus lag eine Frau krank, die war eine der armen niedrigen [ gemeinen ] Frauen[37] gewesen. Und Unser Herr hatte sie gänzlich erlahmen lassen an den Beinen, sodass sie nicht dazu kommen konnte, ihre Notdurft zu verrichten, und was sie verrichtete, das blieb bei ihr im Bett. Der half sie aufzustehen und reinigte sie und wusch sie und ihr Bettleinen. Diese selbe Frau war sogar so erlahmt: wenn sie (Gertrud) anfing diese anzufassen [ handelen ] und hochzuheben, da schrie sie, dass man es weithin hörte; so weh geschah ihr. Sie (Gertrud) wusch sie und die anderen Kranken und wusch ihnen ihre Hände und beschnitt ihnen ihre Nägel an Händen und Füßen. Und sie drückte ihnen ihre Eiterbeulen aus und gab ihnen (Draht-)Faden [ faden ], damit sie sich selber halfen[38] [ buͤsseten ], und tat alles, was sie leisten konnte mit Worten und mit Werken. Wenn sie ihnen nichts anderes gab, so redete sie doch freundlich und liebevoll mit ihnen.
[Liebevolle Pflege von Aussätzigen]
Einstmals ging sie vor das Häuschen eines Aussätzigen, darin war eine ganz von Aussatz befallene [ vnreine ] Frau. Da ließ sie (Gertrud) die, die mit ihr gingen, vorher weggehen, und sie machte langsam, wie sie nur konnte, dass es niemand in Erfahrung bringe. Und sie nahm eine Arme Schwester mit sich und ging zu der aussätzigen Frau und sah nach ihrem Bett und ihrer Wohnung. Nun war da auch eine andere Frau unter ihnen, der hatte die Krankheit die Nase abgefressen und sie war ganz und gar vom Aussatz befallen. Zu der setzte sie sich hin und nahm ihr Kinn in ihre Hand und drückte deren Wange an die ihre und küsste sie auf ihren Mund[39] und bat sie, dass sie ihre Krankheit und ihre Armut und ihr Leiden geduldig leide; es sei nur eine geringe Sache in Hinblick auf [ vmb ] das ewige [164r] Leben. Und sie lehrte sie (sc. die Kranken] das Leid ertragen und war mit ihnen zärtlich und redete so freundlich und so in Güte und liebevoll mit ihnen, dass sie ebenso gut getröstet wurden wie von dem anderen Guten, das sie ihnen tat.
[Betteln zugunsten der Armen]
Sie bettelte auch für die Armen ringsum [ vmb ] bei den Leuten in der Stadt, und wenn eine große Teuerung war und arme Leute Hunger litten, so nahm sie Jungfer Heilke und ihre Bedienstete [ jungfrow ] und ging aufs Feld und beschaffte dort Kraut. Und sie machte damit einen Kessel voll oder großen Häfen; und dann ging sie zu den reichen Frauen in der Stadt und erbettelte Käse und Speck und Schmalz, und machte ein gutes Mus und gab es armen Leuten. Sie hatte ein Mitleiden mit einem jedem, der es nötig hatte und mit dem sie Leid tragen sollte.
Seelsorgerisches Wirken
[Bemühen um Sünder und Säumige]
Mit den Sündern hatte sie viel Leid. Wenn sie sah, dass die Leute ein Leben führten, das gegen Gott und gegen ihr Seelenheil gerichtet war, da wurde sie gar betrübt und bat Unseren Herrn mit großem Ernst für sie, dass Gott ihnen Gnade gebe, dass sie sich besserten. Und diejenigen, mit denen sie vertraut war, die wies sie mit Milde und doch mit Ernst zurecht und erreichte bei ihnen mehr mit ihren milden Worten als mit Härte. Sie bat sie mit Ernst, dass sie nicht bei Gott schwuren[40], sodass sie oft Männer, die in der Welt lebten, vor großen Schwüren und vielen Sünden bewahrte.
Sie hatte ein liebevolles mildes Herz gegenüber allen Menschen und besonders gegen Männer, die in der Welt lebten und sich durch ihre Arbeit ernähren [ begon ] mussten; denn sie wusste wohl, dass diese nicht viel zum Beten kamen [ betten moͤhten ]. Ihre Lehensleute und ihre Hofpächter [ meger ] und wo sie auch war bei solchen Leuten, da fragte sie, was sie beteten. Da sagten diese: „Wir beten nichts. Was sollten wir beten? Wir haben so viel andere Arbeit, dass wir nicht beten können.“ Da sagte mancher von ihnen: „Ich sehe manchen Tag, an dem ich nicht einmal ein Pater Noster gebetet habe.“ Da erschrak sie und sagte: „Ach, lieber Mensch, wolltest du nur ein kleines [164v] Gebet verrichten, das wollte ich dich lehren. Sieh, nur sieben Pater Noster und Ave Maria im Blick auf die sieben Zeiten, zu denen Unser Herr besonders arg litt um deinetwillen. Sieh, das wäre nur einen kleine Sache, dass du Unserem Herrn so viel Zeit gäbest.“ Manchen gebot sie, im Blick auf die fünf Minnezeichen (sc. die fünf Wunden Christi) zu beten. Da sagte manch einer von ihnen, er wolle es tun, da sie es ihm so nahegebracht [ geliebet ] habe. Da war sie froh und dankte ihm, denn es war ihr viel lieber, dass sie solches beteten, als wenn sie ihr viel an persönlichen Diensten [ lipliches dienstes ] erwiesen hätten.
[Gebets-Seelsorge]
Mancher von ihnen war gar so weltlich, dass er nichts beten konnte noch wollte, und dass er Unserem Herrn keine Zeit geben konnte angesichts seines weltlichen wüsten Lebens. Den bat sie, er solle nur so viel tun, dass er, wo er das Bild Unseres Herrn sähe, sich vor ihm verneige und sage: „Herr, ich erinnere dich an die Stunden deines Todes und bitte dich, dass du mir zu Hilfe kommst in der Stunde meines Todes.“ Das tat mancher von ihnen und bekundete ihr danach, dass er zuweilen so lange vor dem Bild stehen bleibe, dass er es vorher nicht geglaubt hätte, dass er es hätte tun können. Da war sie froh um seiner Seligkeit willen, und dass er Unserem Herrn so viel Ehren erwies. Und sie dankte ihm dafür in großem Vertrauen und bat ihn, dass er von der guten Gewohnheit nicht ablasse. Und auch sie bat dann in großem Vertrauen Unseren Herrn für ihn und für alle Menschen.
Auch große Herrn und Grafen (gab es), die sie oft mit großem Ernst baten, dass sie ihrer gedenke. Und dabei kannte sie doch manchen von ihnen gar nicht, bis [ wenn ] dass Unser Herr ihm die Gnade gönnte, dass sie für ihn bete. Und mancher, für den sie besonders bat, bei dem sah man vor seinem Tod große Gnade, dass ihm Unser Herr die Gnade gab, dass er einen Wert von tausend Mark (als Vermächtnis) hinterließ [ lies ] um Gottes und seines Seelenheils [165r] willen. Dabei war sie ihm ein guter Beistand [ stúre ], um das Erbarmen Unseres Herrn zu gewinnen, sodass ich darauf vertraue, dass er großen Nutzen von ihr hatte und alle die, für die sie in besonderer Weise bat. Und dazu alle Welt, die hatte von ihr Nutzen vor Gott.
Man kann auch annehmen, dass die Stadt, in der sie war, solange sie lebte, und wo sie auch begraben ist, dass diese Stadt (sc. Offenburg) oft von ihr Nutzen hatte und noch Nutzen haben soll vor Gott. Denn es entstanden oft manche große Fehden [ vrlúge ] und wundersame seltsame Sachen in der Stadt und in dem Land, wovon die Stadt und die Leute in große Not gekommen wären. Und Unser Herr kam dem zuvor, und der Stadt geschah nie solcher Schaden, wie er anderen Landen geschah. Und wenn ein solcher Unfriede in dem Land entstand, während sie lebte, da trug sie sofort ein Gebet auf, viel tausendfach [ vil tusent ], und gebot, Messen zu stiften und Kerzen anzuzünden, und sie ging in der Stadt von Haus zu Haus und erbettelte Pfennige, dass man Messen stiftete, auf dass Unser Herr seinen Zorn gegen die Stadt vergesse. Und wenn sie betteln ging für dieses Gebet und die Pfennige, die die Messen betrafen, so versagten ihr die reichen Leute das Gebet und auch die Pfennige, wo sie doch großes Gut zu verlieren gehabt hätten. Dadurch wurde aber ihre Minne nicht gehindert, dass sie deshalb irgendwie davon abgelassen hätte, und sie hatte großes Erbarmen mit der Härte der Leute. Und sie war wohl auch oft desto weniger mutig zu bitten. Und man soll nicht meinen [ vnd nit enwenent ], dass diese selige Frau alle Menschen so zu Gebet und zu Andacht verpflichten könne [ twinge ]. Es ist wohl wahr, hätte sie alle Menschen zu Gott bringen können, das hätte sie gerne getan. Aber sie stellte es Unserem Herrn anheim und bat Unseren Herrn mit Fleiß für alle Nöte der Christenheit.
Diese selige Frau richtete ihr Leben so aufs Innere, dass sie sich wenig um irgendwelche Dinge [165v] kümmern mochte außer um Gott allein. Und um andere Dinge kümmerte sie sich nicht mehr als nur insoweit, als sie Gottes Willen darin erkannte und die Seligkeit des Menschen. Wenn jemand von ihren Verwandten oder von den Verwandten Jungfer Heilkes zu ihnen kam und sie da bei ihnen eine Weile sein wollten, dann wollten sie von weltlichen Dingen reden, von Ehre und von Gut. Dem kam sie dann zuvor und sie fragte sie, was sie beteten. Und dann lehrte sie diese beten, und an was sie Unseren Herrn erinnern sollten. Und wenn sie später fragte, ob sie es täten, da sagten sie, es gebe bei dem, was sie unternähmen, nicht viele Sachen, die so bedeutend seien [ sú nement nit vil vnd grosse ding ], dass sie es (sc. das Beten) einen Tag lang unterließen. Da wurde sie dann sehr froh, und sie machte es ihnen lieb, wie sie es nur konnte, dass sie nicht davon abließen.
Abkehr von allem Äußeren und Zuwendung zu allen Geschöpfen
[Belastende Rücksichtnahme auf Verwandte und Lehensleute]
Sie hatte auch gar so großes Weh damit, dass sie sich von ihren Verwandten nicht zurückziehen konnte; sie musste mit ihnen Umgang haben und bei ihnen sitzen und mit ihnen reden, denn es waren adlige Frauen, und sie kamen deshalb her, dass sie sich ihnen (Gertrud und Heilke) lieb machen wollten und mit ihnen sprachen. Hätte sie sich da vor ihnen zurückgezogen, dann hätte es diese gekränkt[41] [ gemuͤget ]. Auch fürchtete sie, diese würden denken, sie lasse es aus Heiligkeit und weil sie eine besondere Art habe [ in einer sunderen wise ]. Deshalb kümmerte sie sich oft um sie weit über ihre Kräfte hinaus, dass sie sich zuweilen deshalb hinlegen musste. Und wenn sie ruhen wollte, so musste sie es damit entgelten, dass nichts bei ihr blieb, was sie an diesem Tag gegessen hatte. Dies geschah ihr auch mit ihren Lehensleuten. Wenn sie mit diesen ernsthaft Besprechungen oder Abrechnungen hatte [ gerette oder gerechent hette ], so wurde all ihre Kraft überwältigt. So zuwider war es ihr, sich um äußerliche Dinge zu kümmern.
[Streben, ein armer verlassener Mensch zu sein]
Und wenn man ihr Pfennige brachte, so wartete sie kaum, bis die Leute weggingen, und holte sie aus dem Rockschoß hervor [ det ir schos vf ] und schüttete sie auf die Erde und sagte: „Was soll mir dieses unselige Gut, um das die Welt sich so große Sorgen [ not ] macht?“ Und sie ließ sie liegen. Das tat sie alles deshalb, weil sie gerne ledig gewesen wäre [166r] aller Dinge und unbekümmert um sie, und dass sie ein rechter armer Mensch gewesen wäre um Gottes willen. Und dass sie auch kein Gut vom Wert auch nur eines Pfennigs gehabt hätte, das ihr gehörte, als nur das, was sie unter den Leuten erbettelt hätte. Und dass sie auch nur so viele schlechte Kleider gehabt hätte, dass sie sich gerade nur hätte bedecken können. Nichts hätte sie mehr (als das) begehrt, wäre es Gottes Wille gewesen. Und was sie darüber hinaus hatte, das hatte sie von ganzem Herzen ungern und musste es doch haben. Sie war beständig in dieser Begierde, wohl sechzehn Jahre lang, ohne dass diese Begierde je von ihr wich. Sie war allezeit in hitziger begehrender Begierde, alle Dinge zu lassen und ein armer Mensch zu werden um Gottes willen. Aber Unser Herr wollte es da noch nicht; aber er konnte es wohl fügen, sobald es ihn dünkte, es sei an der Zeit.
Oft brachte sie der Geist so in solche Not und Bedrängnis, dass sie mit sich selber stritt und focht, sie solle den Mantel in der Kirche fallen lassen und hinweggelaufen sein in ein anderes Land, dass sie niemand erkannt hätte und sie betteln gegangen wäre. Diese Begierde war so kräftig, dass sie oft viele zahlreiche heiße Tränen weinte. Es wäre ihr die größte Freude gewesen, die sie auf Erden hätte haben können, dass sie sich von Ehre und von Gut entfernt hätte. Aber in dieser Begierde ihres Geistes machte sie sich zuweilen zu einer verlassenen[42] [ ellenden ] Armen Schwester, zu einer Pilgerin, so wie sie dahingehen von einer Stadt in die andere, verlassen um Gottes willen. Und wohin sie auch kommen, da sind sie verlassen. So zu sein begehrte auch sie, und sie nahm einen Stab in ihre Hand und warf sich ein schlechtes Mäntelchen um und hängte ein Säckchen über ihren Rücken, so wie sie in der Fremde [ ellende ] gehen sollte. Und sie kehrte sich geschwind um und um und sah sich selber an von rechter Begierde. Und sie erschien dann gar so fröhlich und voller Güte, dass man es gern [166v] gehabt hätte, sie zu sehen.
[Erbarmen mit allen Geschöpfen, auch den Tieren]
Ihren (eigenen) Willen suchte sie nie in ihrem ganzen Leben. Sie hatte allein Unseren Herrn im Sinn und seine Ehre und seinen Willen. Und wo Lust der Natur aufkommen konnte, da hütete sie sich davor. Sie übte sich in allen Tugenden auf vollkommene Weise. Sie übte eine Tugend aus, soweit es eine Tugend war und als solche galt.
Sie hatte ein Herz voller Erbarmen über alle Geschöpfe. Sah sie, wie ein Vieh oder ein Tier, ein Hündchen und dergleichen heftig oder auf üble Weise geschlagen oder gestoßen wurde, so tat ihr das so weh, und sie verwunderte sich, wie die Leute so hart sein konnten, dass sie einem kleinen Vieh so wehtun konnten. Und sie kehrte sich davon weg, dass sie es nicht sehe; sie konnte nicht wohl ertragen, dass man ihm fluchte und es mit Härte vertrieb[43] [ vs treip ]. Sah sie einen Wurm, auf den man getreten hatte: hätte sie ihm wieder zum Leben verhelfen können, dann hätte sie das getan aus rechtem Erbarmen, wenn sie bei sich selber war (sc. wenn ihre Sinne offen waren), dass sie es wahrnahm. Sie war (nämlich) allezeit ganz und gar auf das innere Leben gerichtet, sodass sie kaum irgendwelche Dinge wahrnahm, außer nur ganz selten.
[Liebevolle Zuwendung zu kleinen Kindern]
Sie war so recht liebevoll und tugendhaft. Wenn sie einem armen Menschen nichts anderes gab, so fragte sie diese[44], ob sie trinken wollten. Begegnete ihr ein armes kleines Kind, wenn sie nach Hause gehen wollte und so nach außen gekehrt war, dass sie es wahrnahm, dann blickte sie sich um und achtete darauf, dass es niemand sehe, und setzte sich dann zu ihm nieder und wischte ihm seine Äuglein, sein Näschen und sein Mündchen, und band ihm sein Kopftüchlein [ slegerlin ] richtig um oder setzte ihm das, was es auf dem Kopf hatte; richtig auf und führte es dann mit sich nach Hause und gab ihm etwas (zu essen). Und sie fragte die Kinder, ob sie trinken wollten, und brachte ihnen zu trinken in einem Gläschen oder sonst in einem anderen hübschen kleinen Gefäß [ dingelin ], dass die kleinen Kinder zuweilen so tranken [167r], dass sie nicht wussten, wann sie aufhören sollten, mehr dem Gläschen zuliebe als aus Durst. Und sie musste das Gläschen zuweilen vor ihnen verbergen, weil sie fürchtete, dass sie zu viel trinken und es ihnen dann wehtäte. Manchmal hatte sie mehrere zugleich bei sich und auch ihre Mütter, und gab ihnen zu essen und machte sie so froh, dass sie zuweilen einander an die Hand nahmen [ an einander huͦben ] und sangen und im Kreis rundum gingen als ob sie tanzen wollten. Dann saß sie da und lachte und fühlte sich ganz, wie wenn sie auf einem großen Gastmahl [ wúrtschaft ] wäre; so wohl war ihr zumute, wenn sie die kleinen Kinder so wohlgemut und fröhlich sah.
Sie übte sich nicht allein in dieser Tugend der Sanftmut und Liebenswürdigkeit [ minsamkeit ], sondern sie übte sich mehr noch in allen Tugenden in vollkommener Weise, und alle ihre Werke waren höchst vollkommen. Sie war so demütig, dass manche ihrer Mägde „Gertrud“ sagen mussten (sc. sie mit dem Vornamen anreden mussten), so wie sie hieß.
Liebe zu den Heiligen, und geistliche Vermählung
[Verehrung Marias und der anderen Heiligen durch Fasten und Gebet]
Diese selige tugendhafte Frau liebte auch die Heiligen und deren Feste [ hochzit ] gar sehr in ihrem Herzen. Und vor allen Heiligen da war ihr besonders die Königin Maria gar so ehrwürdig in ihrem Herzen, so wie es allen Menschen angemessen ist. Und alle ihre Feste waren ihr so lobenswert und so willkommen und so bedeutsam, und sie erwies ihnen so viele Ehren. Und vor dem Namen Maria verneigte sie sich, wenn sie ihn nennen hörte, und an ihrem Fest fastete sie und betete eindringlich mit großer Andacht. Sie dünkte sich auch ganz unwürdig, sie zu loben und zu bitten, und sie ließ sich demütig von Unserem Herrn die Erlaubnis geben, seine Mutter zu loben und zu bitten. Und von der Königin Maria ließ sie sich besondere Erlaubnis geben, sie zu ehren, wenn sie sie besonders loben und ehren und würdigen und bitten wollte.
Die Feste der Heiligen und deren Leben waren ihr auch gar ehrwürdig in ihrem [167v] Herzen, und die Gebote Gottes und der heiligen Christenheit hielt sie vollkommen und gänzlich ein in allen Dingen.
Alle die Tage, die man während des Jahres fasten sollte, die fastete sie, sofern sie es vor Schwäche konnte. Wenn sie zuweilen an einem Tag so schwach war, dass sie liegen musste, und man tags darauf fasten sollte, da nahm Unser Herr die Schwäche von ihr und stärkte sie mit besonderer Kraft, sodass sie so gut fasten konnte wie jemand anderes. Wenn sie, und auch die anderen, oftmals meinten, dass sie vor Schwäche zu Bette liegen müsse, so wurde sie von Gott gestärkt mit besonderer Kraft, manche Werke zu vollbringen, die Unser Herr von ihr wollte. Und wenn sie so überaus schwach [v́berkrank ] war, dass sie die Feste Unserer Lieben Frau und der Heiligen nicht ehrenvoll begehen konnte mit Fasten und mit Gebet, da erduldete sie ihre Schwäche Unserem Herrn und seiner würdigen Mutter zu Ehren, danach zu Ehren der lieben Heiligen, deren Fest da gerade war, und aß dann in so großer Minne und in Gedanken an Gott [ in goͤtlicher meinung ], als ob sie gefastet hätte.
[Sankt Johannes Evangelist als Eigenapostel; geistliche Vermählung]
Sie hatte wohl vierundzwanzig Heilige, die sie besonders ehrte und vor anderen Heiligen liebhatte. Und Sankt Johannes Evangelist[45] den erwählte sie in ihrem Herzen zu einem (Eigen-)Apostel und hatte ihn gar lieb. Und einstmals da wollte sie einen Apostel erlosen[46] [ ziehen ]; da hätte sie nun so gerne Sankt Johannes erlost, und erloste Simon und Judas. Das war ihr leid, und sie wollte noch einmal einen erlosen. Da erloste sie wieder Sankt Simon und Judas. Aber sie wollte niemand als nur Sankt Johannes, den hatte sie gar lieb.
Und zuerst, als sie in geistlichen Stand eintrat, da sagte sie zu Unserem Herrn: „Lieber, habe ich mich dir zu eigen gegeben, so soll ich mich mit dir auch vermählen, dass ich nimmermehr von dir geschieden werde.[47] Und (das betrifft) auch deine liebe Mutter, meine Herrin [ frowe ] [168r] und meine liebe Schwiegermutter, die ich mit Recht ehren soll, und auch deinen lieben Jünger, den du, Herr, geliebt [ geminnet ] hast vor den anderen und den ich erwählt habe zu einem Fürsprecher vor dir.“ Und sie suchte die drei besten Ringe, die sie hatte, und opferte die am Tag von Sankt Johannes zu Weihnachten: den besten Unserem Herrn, danach den besten Unserer Lieben Frau, und den dritten Sankt Johannes.
Sankt Johannes der war ihr so recht lieb, und sie hatte so viel Minne zu ihm, dass sie in so manchen Jahren, während sie noch über ihr Gut verfügte, so manchen Kapaun aufzog, von Sankt Martins Tag bis zu Weihnachten am Tag von Sankt Johannes, und dann den Ordensbrüdern eine gute Mahlzeit gab, und waren es zu der Zeit auch zwanzig oder zuweilen vierundzwanzig Brüder. Das tat sie Sankt Johannes zu Ehren an seinem Tag. Sie ehrte ihn auch mit Gebet, mit Opfer und mit anderen guten Werken, und speiste einen Bedürftigen an seinem Tag und entzündete ein Licht am Vorabend seines Festes und ehrte ihn mit vielen Dingen, desgleichen auch andere Heilige.
Diese selige Frau ließ nichts unterbleiben, was gut war und was sie tun sollte; sie tat dies allesamt. Deshalb waren auch Unser Herr und Unsere Liebe Frau ihr zur Hand [ bereit ], und auch die Heiligen und die Engel, wenn sie nach ihr (sc. um ihr zu helfen) begehrten.
[Feier eines Geistlichen Mai]
Die liebe Jungfer Heilke die hatte sich auch gänzlich abgekehrt von ihren Verwandten, derart dass sie in vielen Jahren nie zu ihren Verwandten kam, und es konnte sie auch niemand dazu überreden, dass sie um irgendeiner Kurzweile willen sich zu ihnen begeben wollte. Und einstmals, im Monat Mai [ in einem megen ] ließ sie sich durch große Bitten dazu bringen, dass sie hin zu ihnen abreiste [ fuͦr ]. Nun bat sie (Heilke) diese selige Frau eindringlich, dass sie mit ihr reise. Sie (Gertrud) tat es nicht gerne und bat sie, dass sie es ihr erlasse, und wollte nicht dorthin. Und sie kehrte sich zu dem [168v] wahren Mai[48], während die Jungfer nicht zu Hause war. Das war nur bis zum dritten Tag, denn sie war nicht gerne lange Zeit fern von ihr. Inzwischen hatte sie (Gertrud) mit Gott Mai gefeiert [ sich vermeget ], dass sie gar schwach wurde. Und als Jungfer Heilke kam, da erschrak sie gar schlimm, und einige Zeit danach da fragte sie diese, wodurch sie so schwach geworden sei. Und sie überredete diese, dass sie (Gertrud) es ihr berichtete und sagte: „Ich dachte daran, wie diese Welt den Mai feiert, und wie wenig es ausmacht, davon zu lassen um Gottes willen, der doch ein ewiger Mai ist. Und ich begehrte, allein mit ihm den Mai zu feiern und Kurzweil zu haben.“ Und sie sagte: „Er tut auch das Seine dazu, und ich wurde in einen lustvollen Mai geführt.“ Und sie sagte von dem Mai so viel, wie sie nur konnte: von dem Brunnen, der ihr gezeigt wurde, von den Bäumen und von den Nachtigallen und den Vögeln, von der Wonne und dem Wundervollen, in dem sie da den Mai feierte [ ermegete ], und wie sie dabei volles Glück und Lust empfand [ noch allem irem trost vnd luste], mehr als sie begehren konnte. Sodass sie selber sagte: „Niemand kann noch vermag darüber zu reden; es wäre geradezu so, als wenn man ein Ding verdirbt und tötet, wenn man darüber redet. Denn es kann da niemand darüber reden noch es in Worte bringen, gegenüber dem, wie es in Wahrheit ist und wie es einer Seele gegenwärtig ist.“
[Die allgegenwärtige Güte Gottes]
Einstmals wurde ihr Geist darauf hingewiesen, wie alle Geschöpfe voll sind von der Güte Gottes, und wie es niemanden gibt, der das wahrnehmen wolle so wie man es sollte. Und ihrem Geist wurde so ernst zumute, dass es ihr an die Sinne hätte gehen können. In diesem Ernst sagte sie zu Jungfer Heilke: „Gott fließt über Stock und Strauch [ stude ], und es gibt niemanden, der ihn wahrnehmen will.“ Und sie war in ihrem Innern so hitzig und so ernsthaft darauf gerichtet, dass Jungfer Heilke es ihr aus dem Sinn nehmen [ es vs nemen ] musste.
Todeswunsch und Ergebung in den Willen Gottes; Armut in der Nachfolge Christi als Lebensziel
[Todessehnsucht und Ergebung in die Vorsehung Gottes]
[169r] Unser Herr war ihr stets im Herzen und in den Sinnen. Und am Anfang ihres geistlichen Lebens erhob sich in ihrem Geiste ein heißes schmerzliches Verlangen [ jomer ] nach dem Tod, dass sie gerne unmittelbar bei Gott gewesen wäre.[49] Deshalb begehrte der Geist, dass er des Körpers entledigt [ entladen ] werde. Diese Begierde wurde so groß, dass sie viele Tränen weinte. In dieser Begierde war sie ziemlich lange Zeit, dass sie viel weinte im Verlangen nach dem Tod. Und wenn man einem Toten läutete, so fing sie an, unmäßig zu weinen, sodass sie sich zuweilen kaum von den anderen zurückziehen konnte. Aber wenn sie solches (rechtzeitig) an sich selbst merkte, dann machte sie sich auf, allein zu sein. Dies nahm Jungfer Heilke an ihr wahr, dass sie so viel weinte, und sie wusste wohl, dass sie im Verlangen nach dem Tod weinte. Und das machte ihr Leid, und sie tadelte sie deswegen, denn sie fürchtete, dass Unser Herr ihren heißen Ernst und ihr Begehren ansehe und ihr ihre Bitte gewähre. Und sie sagte zu ihr: „Wehe [ wafen ], Gertrud! Mich nimmt wunder, dass dich das nicht zurechtweist [ stroffet ], dein unmäßiges Weinen und die Not, die du im Verlangen nach dem Tode hast. Meinst du nicht, Unser Herr, wenn er wüsste, dass es dir zunutze wäre, er ließe dich wohl gar schnell sterben. Nun kannst du das mit solchem Ernst bei Unserem Herrn erreichen, dass er es dir gewährt und dir jetzt dein Leben beendet [ ab sleht ]. Und du könntest doch sonst sehr lange leben und viel großen Lohn verdienen. Sieh, das entzieht dir Unser Herr in kurzer Zeit, wenn du das (sc. das Todesverlangen) nicht entbehren willst.“ Da sagte sie: „Was kann ich dafür? Der Geist wäre gerne allezeit bei Gott, dass er ihn allezeit ganz unmittelbar [ on alle mittel ] sehen könnte. Ach, lieber Herr, wie wäre es so gut, da zu sein“, sagte sie und blieb in diesem schmerzlichen Verlangen. Und Jungfer Heilke konnte ihr das nicht nehmen. Und einstmals kurz danach begehrte sie in ihrem Innern wieder von Herzen nach dem Tod. Und Unser [169v] Herr Jesus Christus erschien ihr in dem Geiste, und sie umfing ihn mit beiden Armen und sagte: „O weh, Herr, könnte ich doch allezeit bei dir sein!“ Und er sagte: „Sei unbesorgt [ gehabe dich wol ] und weine nicht und sei dessen gewiss: wenn die Zeit erfüllt sein wird, für die dich mein ewiger Vater vorgesehen hat auf Erden, lasse ich dich nicht einen einzigen Augenblick länger auf Erden, und ich führe dich mit mir in die ewige Freude.“ Danach kam sie nie mehr in ein schmerzliches Verlangen nach dem Tod und empfahl es Gott, bis dass es ihn Zeit dünke.
Viele Jahre danach da lehnte man das Leben in geistlichem Stand ganz heftig ab, und man musste es aufgeben und graues Gewand ablegen.[50] Da sagte Jungfer Heilke: „Ach, lieber Herr, wie wäre es nun so gut zu sterben (für den), der da wohl vorbereitet wäre zu sterben.“ Da sagte sie (Gertrud): „Nein. Es gilt, erst gut zu leben. Es ist jetzt Seelen-Ernte. Der Selige, der lauter und gut in diesem Leiden standhalten kann und stets bei Gott bleibt, was mag dem Unser Herr an ewigem Lohn schuldig werden.“
Sie war so voll von göttlicher Weisheit, dass sie sich verständig [ wise ] in allen Dingen verhalten konnte. Und in allem, was Gott je mit ihr wirkte, wurde sie nie überheblich: sie blieb sich ihrer Fehler allezeit bewusst und dünkte sich unwürdig.
[Armut, in der Nachfolge Christi]
Ihr Geist hatte allezeit im Sinn, stets dem Bilde Christi nachzufolgen: seinem Lebenswandel, seiner Armut, seinen mannigfachen Leiden, seiner nutzbringenden Lehre. Ach, wie war ihr das alles so groß in ihrem Herzen und gar so wert. Und dabei hatte ihr Geist ein hitziges Begehren nach Armut und Verlassenheit [ ellend ] und danach, alles Eigene [ eigenschaft ] gänzlich aufzugeben, auch wenn sie das nicht gänzlich in ihren Werken befolgen konnte, bis es an der Zeit war und Gott es wollte. Aber unterdessen schränkte [ besneit ] der Geist ihr Leben ein, dass sie [170r] weder essen noch trinken noch liegen noch reden noch gehen noch stehen konnte. Und von allen Dingen mochte sie nicht mehr haben oder nehmen als nur das, was ihr unmittelbar not war. Er machte sie arm an ihrem Gut und an allen Dingen, und sie nahm von allen Dingen nicht mehr als so viel, wie dem Geist gefiel. Und was man ihr darüber hinaus tat, wissentlich oder unwissentlich, das litt ihr Geist in keiner Weise, so wie ihr noch hören werdet.
Unabhängigwerden von körperlichen Bedürfnissen, und Aufgeben des Eigenwillens
[Askese im Essen]
Sie wurde von dem Geist geübt und dazu gezwungen, dass sie Jahr und Tag nur Roggenbrot essen durfte, das allergröbste und schwärzeste, das sie hatten, und schwachen roten Wein trinken, den allerärmlichsten, den sie hatten. Und das Fleisch, das sie aß, das musste Hammelfleisch sein, das war geräuchert, dass es durchwegs schwarz war vom Rauch. Dazu gab man ihr Kraut oder etwas anderes. Und in dieser Zeit wagte sie nie, einen vollen Bissen von dem zu essen, was die anderen aßen. Und dass sie so auf besondere Weise aß, das machte ihr mehr aus als das schlechte Essen, in Rücksicht [ wegen ] auf die anderen. Doch sie konnte es nicht anders haben, sie musste dem Geist und nicht sich selbst gehorchend leben. Und wenn ihr die Schüssel mit dem Mus vorgesetzt wurde, so wagte sie nicht, das Mus so warm zu versuchen, und sie nahm sie (die Schüssel) und setzte sie an ein Fenster, bis dass es ringsum an die Schüssel gerann; so aß sie es dann und nicht eher. Dies war die Übung des Geistes, dass sie das Mus esse, so wie es den Armen vor die Tür gegeben wurde, geronnen und kalt. Dies musste sie tun, und alles, wozu sie im Geist angehalten wurde. Und hätte sie dem widerstanden, so wäre es ihr ein großes Hindernis gewesen zwischen ihr und Gott, und ihr Geist hätte nimmer Ruhe gewonnen, bis dass sie ihm Genüge getan hätte.
Sie hatten einst ein Schwein geschlachtet, und von allem, was davon stammte, wagte sie nie nur einen Bissen voll zu versuchen, weder Fleisch [170v] noch Würste noch Braten. Das tat Jungfer Heilke oft sehr weh, wenn sie die guten Braten und Würste aßen und sie nicht wagte, davon zu versuchen. Sie (Gertrud) dachte wohl zuweilen: „Du solltest dich vielleicht dessen erwehren, dieser Eigenart [ sunderen wise ]“, und so versuchte sie es bei sich selber und aß einen Bissen voll von anderen Speisen oder trank ein kleines Gefäß [ lidelin ] voll von anderem Wein. Da konnte sie es keineswegs ertragen; der Geist ließ es ihr zu Kopf steigen, dass sie meinte, wahnsinnig zu werden. Deshalb hütete sie sich davor.
Sie musste auch ihr besonderes Häfchen und Schüsselchen und Löffelchen haben. Und zuweilen[51] kam ohne ihr Wissen zu ihrem Mus ein Löffel, der zum Mus der anderen gehörte, nämlich wenn es die Magd zuweilen vergaß und es auch zuweilen absichtlich machte. Und Jungfer Heilke machte es auch selbst oder gebot, sie auf die Probe zu stellen, und tat auch zuweilen ein klein wenig Schmalz in ihr kleines Mus, so wenig, dass sie es keinesfalls bemerken konnte; und desgleichen goss sie anderen Wein unter ihren Wein und diese wusste hiervon ganz und gar nichts, denn sie machten es, während sie in der Kirche war. Und wenn sie dann nach Hause kam und sich zu Tisch setzte und essen wollte, und man ihr ihr kleines Mus vorsetzte: den ersten Bissen voll, den sie je aß, oder was sie vom Wein versuchte, das konnte sie da nicht zu sich nehmen, es konnte ihr nicht die Kehle hinab. So saß sie da und aß ein kleines Brot und schwieg. Und wenn Jungfer Heilke, die in treuer Hut allezeit auf sie achtete, das sah, dann sagte sie: „Gertrud, warum isst du nicht?“ Da sagte diese: „Ich weiß nicht, was in dem Mus ist oder was mit ihm los ist; es will nicht friedlich zu mir. Ist irgendetwas mit ihm? Habt ihr etwas da hineingetan?“ Da sagte Jungfer Heilke es ihr, dass sie es gemacht habe. Da sagte sie: „Ach, Liebe, warum tut ihr das? Nun wisst ihr doch wohl, wie [171r] weh mir davon geschieht.“
Da sagte Jungfer Heilke: „Liebe Gertrud, mir ist lieber, ich bin mir deiner sicher, als dass ich zweifelte oder dächte, was mit dir los sei.“ Da sagte sie: „Du hast recht, du hast das ganz und gar nötig. Du weißt wohl, dass ich nichts weiß von dem, was ihr mir tut, und doch will das, was im Inneren ist, das nicht ertragen, wie du wohl siehst. Nun schau, liebe Heilke, wie wohl Gott mir getan hat, dass er dich mir gegeben hat. Wäre ich bei fremden Leuten, die nicht bereit wären dies zu verstehen [ ver-ston stunden ]: was sollten die sich denken? Sie könnten meinen, dass mit mir etwas nicht in Ordnung [ vnreht ] sei, und (sich fragen) was mir zu schaffen mache [ mit mir vmb ginge ]. Unser Herr sei ewig gelobt, dass er mich so getreulich versorgt hat, dass du mich umsorgen [ pflegen ] sollst. Er weiß wohl, dass ich dich nötig habe.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Liebe Gertrud, ich tue es gern um Gottes willen. Siehe, ich bin mir deiner nun sicher; du sollst ohne jede Beschwernis sein. Und tu, was dir guttut, und lass es dir nicht schwer sein und sei Unserem Herrn gehorsam und füge dich [ lit dich ] in Geduld.“ Da sagte sie: „Das lohne dir Gott, liebe Heilke.“ Sie (Heilke) neckte [ schimpfete ] sie auch bisweilen und sagte: „Liebe Gertrud, wozu, meinst du, hat dich Gott geschaffen, als dazu, dass er mit dir tun will, was ihm gut scheint? Und dabei sollst du mit Recht ihm gehorsam sein, und sollst deinen Leib und dein Leben und alle deine Kraft verzehren, wie er es nur will. Wem bist du anders zunutze oder wozu dient dir anders dein Leben?“ Dieses Necken nahm sie demütig auf und legte ihre Hände zusammen und sagte: „Du hast wahr gesprochen: Es wäre recht, dass ich für ihn leben würde, wie er es wollte, wenn ich es könnte.“
Danach hatte sie die Übung, dass sie es nicht wagte, irgendein anderes Mus zu essen als das, was den anderen übrigblieb in den Schüsseln; das nahm sie so hungrig und begierig, wie es die armen Leute machen vor der Türe an der Straße. [171v] So strich sie dann das Mus mit den Fingern aus all den Schüsseln in eine Schüssel, bis dass sie genug davon zusammen hatte. Und dann aß sie es und die kleinen Brotrinden und Bröckchen, die sie übrigließen, die aß sie. Und das kam alles von der Begierde, die der Geist nach der Armut hatte.
Und wenn Jungfer Heilke ihr Leben sah, was sie (Gertrud) aß und wie sie handelte, so geschah ihr oft gar weh davon. Wenn sie (Heilke) vom Besten aß, das sie da hatte, und diese essen und trinken lassen musste vom Allerärmlichsten, was in dem Hause war, da tat es ihr weh, wie scherzhaft sie dabei auch tat. Aber wenn sie da doch wusste, dass es das Werk Unseres Herrn war, da wollte sie diese nicht hindern; sie förderte sie allezeit, wo sie es konnte. Manchmal sagte sie in einer Neckerei: „Ach, liebe Gertrud, sieh, es ist völlig gut für dich; wollte Gott, du wärest das wert.“ Da sagte diese: „Du sagst die Wahrheit, es soll so sein. Ich nehme es schon immer so, als sei es sein Wille. Er weiß wohl, dass es bei mir nicht gut behalten würde [ vnbehalten an mir wer ]; deshalb entzieht er es mir.“
[Ablassen vom Eigenwillen]
Und wenn der Geist sie so in solcher Härte übte und sie sich darein fügte, es zu ertragen, und dabei recht zur Ruhe kommen wollte, da musste sie von Stund an etwas anderes unternehmen [ har nemen ]. Und so, wie sie zuvor ärmliche Speise gegessen und getrunken hatte, so musste sie da nun eine zeitlang frisches [ gruͤne ] Fleisch und vollwertiges [ jtel ] Semmelbrot essen und guten Wein trinken. Und wie sie sich zuvor hüten musste vor dem Guten, so musste sie sich da hüten vor dem Argen. Und in dieser Übung mit der guten Speise wurde sie mehr geübt und es war ihr schwerer als mit der argen. Er ließ ihr an keinen Dingen ihren Willen[52], an dem wozu sie Lust gehabt hätte [ an lust ] und an den Dingen, die ihrer Natur hilfreich [ troͤstlic h] gewesen wären. Wenn sie wünschte [ wonde ], eines zu tun, so musste [172r] sie es lassen und etwas anderes tun. Manches davon war ihrer Natur so zuwider, dass sie darüber erschrak, wenn es ihr in den Sinn kam, und dass sie bei sich selber dachte: „Ach, wäre dir dies doch nicht in den Sinn gekommen.“ Doch sie ließ es nicht deswegen unterbleiben, wie schwer und wie zuwider es ihr auch war, und wie weh es ihr tat.
Wenn sie etwas fragen oder zu einer Sache reden und darauf antworten wollte: hatte sie daran etwas Lust, so musste sie es lassen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Wenn sie das Wort im Munde hatte und das Wort halb gesprochen hatte, so wurde es ihr wieder zurückgenommen [ in geslagen ] von dem Geist und sie wagte nicht, es voll auszuspre-chen, sodass sie zuweilen selber sagte: „Es ist mir verboten; ich muss schweigen.“
[Widerstand gegen jede Bequemlichkeit und die Freuden des Hörens und Sehens]
Sie lag auch zuweilen in der Nacht in ihrem Bett und wollte schlafen und konnte nicht schlafen und vermochte es auch nicht. Und sie wendete sich hin und her und wusste nicht, was ihr fehle oder was es bedeute, dass sie nicht zu schlafen vermochte. Da merkte es Jungfer Heilke und sagte zu ihr: „Warum schläfst du nicht?“ Und sie sagte: „Ich weiß nicht, was mit mir ist.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ich weiß wohl, was du hast. Du liegst hier in dem Bett wie eine Edelfrau, so wohl und so herrschaftlich [ herlich ]. Meinst du, dass dem so ist? Nein, du musst aufstehen, wohl aus dem Bett [ wol vf ] und wohl herunter auf den Boden [ abher ]. Ich will dir um Gottes willen ein Kissen leihen und ein Bettleinen und noch etwas dazu.“ Da sagte diese selige Frau: „Das lohne dir Gott, denn ich vermag hier keine Ruhe zu haben.“ Da stand Jungfer Heilke auf und machte ihr ein Bettchen auf der Erde, und in dem lag sie dann. Und sofort war sie eingeschlafen, dass es Jungfer Heilke zuweilen verwunderte, dass sie so rasch eingeschlafen war und doch zuvor im Bett eine halbe Nacht lang nicht einschlafen konnte. Am Morgen in der Frühe, als sie aufstand, da dankte sie Jungfer Heilke [172v] ganz aufrichtig für das gute Wohlbefinden, wozu sie ihr verholfen hatte.
Wenn sie zuweilen schwach war, so legte man ihr noch ein Bett unter, zusätzlich zu dem, das sie vorher hatte, aber dass sie es nicht wusste, und machte ihr das Bett so niedrig wie zuvor, dass sie es nicht merken solle. Und wenn sie sich niederlegte [ nider kam ], da lag sie da und konnte keine Ruhe finden. Und wenn sie da lange so gelegen war und keine Ruhe hatte finden können, da sagte sie zu Heike: „Ach, Liebe, wie habt ihr mich gebettet? Habt ihr mir etwas mehr untergelegt als zuvor, oder was ist mit mir?“ Da sagte Jungfer Heilke: „Liebe Gertrud, ich muss es dir sagen: Ich gebot um deines Wohlbefindens willen, dir noch ein Bett unterzulegen. Mir dünkte, dass du es wohl nötig hättest.“ Da sagte sie: „Ach, dass es dir Gott vergebe. Du weißt doch wohl, wie mir dadurch geschieht, und dass ich es nicht ertragen kann.“ Und sie mussten in der Nacht aufstehen und das Bett wieder wegnehmen, oder sie wäre nicht mehr zur Ruhe gekommen. Dies geschah ihr in allen Dingen.
Wenn die Ordensbrüder Kirchweih hatten und sie schön [ wol ] singen wollten, so wie sie es gewöhnlich bei der Kirchweih machen, nämlich im Diskant und desgleichen, und sie (Gertrud und die anderen) zur Vesper oder zur Complet gehen wollten und sie ihren Mantel umhängte und vor die Türe kam, da konnte sie nicht weiterkommen und musste bleiben und sagte zu Jungfer Heilke: „Geh du hin. Ich will zuhause bleiben.“ Und sie ging wieder ins Haus und hatte ihre Andacht zuhause. Und wenn man feierte und viele Leute zur Vesper und zur Complet gingen, so blieb sie auch oft zuhause, da sie fürchtete, dass jemand auf sie zukäme, der mit ihr reden und ihr ihre Zeit nehmen würde. Das wollte ihr Geist nicht dulden; darum musste sie zuhause bleiben.
Auch wenn sie ein Ding gerne sah oder gerne gesehen hätte, da wurde es ihr vom Innern her verboten. Da unterließ sie es. Und [173r] zuweilen legte sie die Hand vor die Augen und sagte: „Nein, es soll nicht sein, dass ihr da hinschaut.“ Und sie zwang ihre Augen, dass sie da nicht hinblicken durften.
Unter der Herrschaft des Geistes
[Herrschaft des Geistes über alles Denken und Tun]
Ihr Leib war dem Geist so gehorsam, dass der Geist nicht irgendwie durch den Leib abirrte, und dass Gott Ruhe und eine Stätte in ihrer Seele fand[53], wenn er wollte, und sein Werk da wirken konnte, wie er wollte. Der Geist hielt sie in solcher Lauterkeit und Abgeschiedenheit, dass er kein Hindernis hatte zwischen sich und Gott. Diese Dinge kann niemand recht aufschreiben und umfassend [ volle ] sagen. Ich schreibe nur die äußerlichen Hüllen auf, aber das Mark und den Kern, das Innerste und das Beste, das unterbleibt. Denn die Wege, die Gott sie geführt hat, sind wundersam, und die Werke, die er mit ihr gewirkt hat, vertraulich und verborgen; es ist von allen Menschen unerkannt und allein von Gott erkannt.
Ihr Geist war allezeit so voll heißer Begierde und brennender Minne zu Gott, dass sie niemals müßig wurde. Sie übte sich allezeit in Tugenden und guten Werken. Ihr Geist war allezeit dabei, hin zur göttlichen Wahrheit zu eilen und sie zu betrachten [ wz an schowende ]. Wenn ihrem Geist etwas Verborgenes und etwas Vertrauliches von Gott vorgelegt wurde, so wurde der Geist so hitzig und so inbrünstig, dass er nimmer ruhig blieb, und er eilte und jagte dem immer nach, bis dass es ihr [ es enwurde ir denn ] von Gott geoffenbart und unmittelbar [ blos ] zu erkennen gegeben wurde, wie es der Wahrheit entsprach. Und es wurde ihr auch nie irgendein Ding von Gott versagt: es wurde ihr sofort ganz nach ihrem Willen zuteil, dass sie wohl zufrieden war. Sie hatte Gott (bei sich), wenn sie wollte, ganz nach ihrem Willen.
Einstmals an einem Ostertag, als sie zu Tische sitzen wollte und sich hinter den Tisch gesetzt hatte und hoffte, in Ruhe und gutem Frieden zu essen, [173v] da wurde ihr etwas anderes zu tun gegeben. Und so saß sie da und die Tränen fingen an, ihr über die Wangen zu fließen [ wallen ], und da stand sie auf und ging weg von den anderen in das Haus und machte die Türen ringsum in dem Haus zu und ging hinter eine Türe in einen Winkel vor einer Stiege. Und sie kniete nieder und nahm ihren Gürtel und nahm eine Disciplin (sc. geißelte sich). Als sie das so viel gemacht hatte, dass es dem Geist genügte, da stand sie auf und ging wieder hinein und setzte sich nun erst zu Tisch und aß mit den anderen. Und Jungfer Heilke sagte zu ihr: „Wessen hat er dich bezichtigt?“ Da sagte sie: „Ich weiß, mich drängte es vielleicht zu sehr zu Tische; dadurch musste ich dies haben; anders weiß ich nicht, was es war.“
Ihr Geist litt nicht, dass sie irgendein Ding nach ihrer Lust gebrauchte. Ihr Inneres wollte, dass sie Speise und alle Dinge zu sich nehme nur gemäß dem, was notwendig war, und selbst kaum das. Und auch alles ohne Lustempfinden, gleich als ob es ihr zuwider sei. Und wenn sie jemand anderes begierig essen oder trinken sah, und sah, dass seine Natur so damit zufrieden war, so geschah ihr gar weh davon und es war ihr recht so, wie wenn alles das von ihr weg wolle (sc. wie wenn sie all das erbrechen solle), das sie gegessen hatte.
[Ausrichtung allen Denkens und Tuns hin auf Gott]
Sie konnte es überhaupt nicht leiden, dass ihr jemand irgendetwas aus Liebe oder in irgendeiner liebevollen Absicht tat. Auch wenn jemand irgendetwas anders als Gott im Sinn hatte, das erfasste sie sofort. Ihr Geist merkte es auf der Stelle, und das war ihr dann so zuwider und ihr geschah so weh davon, dass sie es nicht ertragen konnte. Und sie trieb den Menschen von sich weg so gut sie es nur konnte, und winkte ihm mit der Hand und gebot ihm wegzugehen. Und Jungfer Heilke die musste sich in ihrem Herzen allezeit vorsehen in dem, was sie für sie tat, dass sie dabei in Lauterkeit Unseren Herrn im Sinn hatte; dann ertrug sie (Gertrud) in guter Ruhe, was man ihr zu dem, [174r] was sie nötig hatte, tat. Wenn aber Jungfer Heilke irgendetwas anderes einfiel, um ihr etwas aus Liebe zu tun: noch bevor sie (Gertrud) es bei sich selbst wahrgenommen hatte, so erfasste sie es sofort im Geiste und duldete es keineswegs von ihr. So verhielt sie sich auch zu den anderen.
Da sah Jungfer Heilke in ihr eigenes Innere [ in sich selber ] und nahm das wahr (sc. reflektierte es) und sagte in ihrem Herzen: „Ach Herr, es macht mich betrübt. Sie hat recht, ich sollte dich allein in allen Dingen im Sinn haben. Herr, nun will ich, wenn ich mich um sie kümmere [ an ir ], allein dich im Sinn haben, und wenn ich sie auch niemals mehr sehen sollte. Und alles, was ich für sie tue, das will ich, lieber Herr, allein um deinetwillen tun.“ Und wenn sie (Heilke) das tat, so duldete diese (Gertrud) wohl in gutem Frieden, was sie ihr Gutes tat. Und sie sagte dann zu ihr: „Nun lohne dir Gott, wie du das für ihn getan hast. Ich ertrage nun wohl, was du für mich tust. Ach, liebe Heilke, mach es stets so und habe, wenn es um mich geht [ an mir ], Unseren Herrn im Sinn; darum bitte ich dich. Und wolltest du irgendetwas anderes im Sinn haben, ich bliebe um alles in der Welt nicht bei dir.“
Sie gab nicht acht auf die Annehmlichkeit des Körpers, wie schwach sie auch war. Sie hätte wegen ihrer Schwäche viel Annehmlichkeit nötig gehabt, und alle die, die bei ihr waren, hätten ihr gerne viel Gutes getan. Davon geschah ihr oft viel Weh, wenn sie durch ihre Schwäche nicht alles rügen [ geanden ] konnte und nicht alles zu Ende gebracht werden konnte.[54] Sie missgönnte ihrem Körper Annehmlichkeiten, so wie ein Mensch es gegenüber seinem Todfeind macht, außer insoweit als sie dabei (sc. bei Annehmlichkeiten) Gott im Sinn hatte, um ihm desto besser dienen zu können.
[Hören auf den Geist, die innere Stimme]
Jungfer Heilke sagte zuweilen zu ihr: „Ich muss dem Geist entsprechend leben genauso gut wie du. Ich habe das aber nicht von Gott, sondern allein von dir. Ich muss mich in Lauterkeit halten, ob ich es gern oder ungern tue; dein Geist zeigt mir offen meine Fehler eher als mein Gewissen. Wenn ich zuweilen ein kleines Ding unbeachtet ließe [ lies v́ber gon ] und es [174v] nicht viel beachten wollte, dann will dein Geist es nicht dulden. Dein Geist lehrt mich, die Natur zu bezwingen [ brechen ] und alle Dinge so wie Gott es will [ in gotte ] im Sinn zu haben. Denn mit dir da muss ich alle Dinge aufgeben, die meiner Natur oft sehr entgegenkommend [ troͤstlich ] wären.“ Da antwortete sie ihr und sagte: „Sieh, nun weiß ich nichts von dem, was du gerade hast, außer wenn mein Inneres es mir sagt und ich dann wohl weiß, dass etwas in dir ist, das meinem Inneren so zuwider ist, dass ich es dir gegenüber nicht erdulden kann. Deshalb hüte dich davor und lasse es um Gottes willen.“ Zuweilen sprach sie auch so: „Liebe Heilke, ist das, was ich sage, allezeit wahr?“ Da antwortete diese: „Ja, sicherlich, Gertrud, du gehst bei mir nie fehl [ du gevellest niemer ], auch kein einziges Mal; es ist immer etwas in meinem Herzen, wenn du es tadelst.“
Sie war allezeit voller Lauterkeit. Wenn Jungfer Heilke oder ein anderer Mensch etwas fragte und sie dann arglos und unbedacht darauf antwortete und etwas Unlauteres in der Antwort war, da trat sofort eine Hemmung [ mittel ] ein und sie konnte keinen Frieden haben, bis dass sie es jenem Menschen gegenüber zurechtgerückt hatte [ wider rette ].
Differenzierter Umgang mit Fehlern
[Erbarmungsvolles Verständnis für Sünder]
Diese selige Frau wendete alle Dinge zum Guten [ beguͤtet ]. Die Dinge, die schimpflich waren, die beschönigte sie, wo sie es konnte. Sagte man über einen Menschen, er sei in Sünde geraten [ vervallen ], so erbarmte sie sich darüber und sagte mit viel Güte und Tugend: „Ach, ihr Lieben, ihr sollt es nicht glauben, das lohne euch Unser Herr. Es ist, wenn Gott will, nicht so, wie man sagt.“ Wenn es aber so offensichtlich war, dass niemand es bestreiten konnte, so sagte sie: „Man soll nicht so offen und so freventlich darüber reden, man soll sich darüber erbarmen. Es ist unter uns nirgends einer (sicher): wir wären vielleicht in viel größere Fehler gefallen als dieser Mensch, wären wir genauso unbehütet wie er. Der, den nun [175r] Gott behütet hat, der soll es ihm danken.“
Wenn man dann über die großen Herren sagte, dass sie so große Gewalt und so großen Frevel an den armen Leuten verübten, oder wenn man über manche sprach, die so schlimme [ gros ] Dinge unternahmen und vollbrachten und davon in so große Schande bei den Leuten kamen, und man sie deswegen so mit Klagen [ jemerlich ] verurteilte: wenn sie das hörte, so überkam sie so großes Erbarmen darüber, und sie schwieg recht darüber, bis man zu Ende gesprochen hatte, und sagte dann: „Ach, liebe Kinder, es soll niemand den anderen gar so freventlich verurteilen. Man soll sich darüber erbarmen und Unseren Herrn für sie bitten, dass er sie bekehre. Es ist nicht ungewöhnlich [ umbelich ], dass sie schlimme Dinge verüben, denn eine Sünde bringt die andere mit sich. Wenn da ein Mensch in Sünden so befangen ist, so kann sich ihm Unser Herr nicht mehr nahen und kann mit seiner Gnade nicht zu ihm kommen.“
Und zu den besonders großen Festen im Jahr, also zu Weihnachten, Ostern und dem Fest Unserer Lieben Frau, da überkam sie ein besonderer Eifer, für die Sünder zu bitten und für ihre guten Freunde, wo sie auch waren, fern oder nah. Sie war auch nie damit befasst [ dar an gelon ], ohne dass ihr allezeit von Gott geoffenbart wurde, wie es um diese stand zwischen ihnen und Gott.[55] Dies wurde ihr von den entfernt Lebenden ebenso kund wie von denen, die anwesend waren. Und wenn ihr kund wurde, dass mancher von ihnen in so großen Fehlern befangen war und ein so großes Hindernis zwischen ihm und Gott war, da sagte sie dies dann Jungfer Heilke und sagte: „Ach, liebe Heilke, bitte Gott für den Menschen.“ Und sie nannte ihr den Menschen, der leicht über vierzig Meilen entfernt war, und sagte: „Der Mensch verhält sich jetzt fehlerhaft und braucht es wohl, dass er auf sich selber achtet; es ist ein großes Hindernis zwischen ihm und Gott.“ Und sie beide merkten sich die Zeit, und als der [175v] Mensch zu ihnen kam, da fragten sie ihn unter anderen Dingen, wie es ihm ergangen sei. Da sagte er: „Gut.“ Da fragten sie ihn dann noch eindringlicher, wie es um ihn stand besonders zu jener Zeit, und nannten ihm die Zeit, als es ihr geoffenbart wurde. Und als der Mensch sah, dass er sich nicht entschuldigen könne, da bekannte er seine Fehler, nämlich dass er in der selben Zeit sich sehr fehlerhaft verhalten habe. Dies geschah ihnen oft bei vielen Leuten.
[Hohe Tugendforderung an Nahestehende]
Stets war das, was sie sagte, wahr, und sie ging niemals bei irgendwelchen Dingen fehl. Sie sagte solches niemandem außer nur Jungfer Heilke. Und wenn sie solche vertraulichen Dinge sagte, tat sie das so im Verborgenen, dass man nicht merken konnte, was sie damit meine. Aber die mit ihr vertraut waren, die mussten allezeit ihretwegen in Lauterkeit leben, denn wie gering etwas manchmal auch war, so konnte sie es keineswegs ertragen.
Die junge Frau, die ihnen diente, die ging einstmals mit ihnen zur Predigt und dachte bei sich selber: „Du giltst fortan desto mehr [ du bist iemer dester besser ], dadurch dass du bei ihnen gewesen bist, wo immer du hiernach noch hinkommst.“ Und sie bekam dadurch eine Hoffart in ihrem Herzen. Und sofort war es dieser Frau gegenwärtig in dem Geiste, und sie kehrte sich zu ihr um und sagte: „Weh mir! Was hast du? O weh, was gibt es? Wie ist es so ungeheuerlich!“ Nun war sie (die junge Frau) aber auch ein einsichtsvoller Mensch [ erkant moͤnsch ] und wusste sofort wohl, was es war, und fing an zu weinen: „O weh, liebe Gertrud, ich will nie mehr so etwas tun, und will es gerne beichten.“ Und das genügte ihr dann, und sie kam zu gutem Frieden mit diesem Menschen, als er in dieser Sache zur Einsicht gelangte.
Und wenn sie etwas an Jungfer Heilke tadelte, so kam diese sofort in ihrem Herzen zur Einsicht und sagte: „Ach, Herr, meine große Schuld. Ich will es gerne beichten und bessern.“ Da sah sie (Gertrud] diese an und [176r] sagte: „Ach, Heilke, wohin hast du dich damit begeben? Wohin hast du es gebracht?[56] Ich habe jetzt guten Frieden mit dir.“ Da sagte sie (Heilke) ihr dann, wie sie ihre Schuld vor Gott bekannt habe. Da dankte sie ihr und bat sie, dass sie es stets so mache. Und wenn ein jeglicher Mensch es so machte, dann kam sie zu gutem Frieden.
[Hohe Maßstäbe in der Regelung eigener Angelegenheiten]
Unser Herr gab ihr auch zu erkennen in dem Geist, dass da ein Mann sei, der hieß Fritag. Und der hatte sie um Lohn erzogen, als sie ein kleines Kindchen war. Und man blieb dem selben Mann neun Scheffel Korn schuldig. Dies offenbarte ihr Unser Herr und wollte, dass der Mann entlohnt [ vergolten ] werde, weil sie da nun eigenständig war und Ehre und Gut hatte, und Unser Herr ihr Leben aufs Allerhöchste und Lauterste hin ausrichten wollte, obwohl sie doch diesem Mann von Rechts wegen nichts schuldig sei. Doch Unser Herr wollte sie in allen Dingen so haben, wie es am allerlautersten und am allergenauesten [ aller nehsten ] war, und er wollte, dass dieser Mann entlohnt werde. Und Unser Herr sagte ihr, dass er Fritag heiße, denn sie wusste nicht, wie er hieß und wer er war. Sie sah es auch für ein besonderes großes Vertrauen von Gott an, dass er sie hier auf Erden [ hie ] in solcher Lauterkeit läuterte und es ihr nicht auf das Jenseits [ dort ] hin aufschieben wollte. Und sie forschte nach dem Mann und gebot, nach ihm zu fragen. Der war nun weggezogen von der Burg in ein anderes Dorf. Er kam zu ihr und wusste nicht, wer sie war oder was sie von ihm wollte. Sie fragte ihn, wie er heiße. Er sagte: „Ich heiße Fritag.“ Sie fragte ihn, ob er jemals für den alten Herrn Erkenbolt von Ortenberg irgendein Kind aufgezogen habe. Er sagte: „Frau, warum fragt ihr das? Ja“, sagte er, „ich zog für ihn ein Kind auf, ein Töchterchen, das allerjüngste, das mein Herr hatte. Und man blieb mir neun Scheffel dafür schuldig.“ Sie sagte: [176v] „Lieber Freund, das Korn soll ich euch geben. Nehmt das hier, wenn ihr wollt.“ Er war froh und nahm sein Korn und dankte ihr in Treue. Und er starb auch kurz danach.
Als sie noch in weltlichem Stand lebte, da hatte sie eine Magd, die ihr diente; die hatte sie gar gern und sie gefiel ihr wohl. Nun hatte sie (die Magd) an etwas ein Ungenügen, sodass sie nicht bleiben wollte. Und sie (Gertrud) bat diese, dass sie bleibe bis zu einem rechten Zeitpunkt, und versprach ihr dafür einen guten Pelz. Die Magd blieb um des Pelzes willen und wollte doch nicht bis zu dem festgesetzten Zeitpunkt bleiben und ging von ihr weg. Da wollte sie ihr den Pelz nicht geben. Das währte auch so bis zu dieser Zeit. Nun wurde ihr das von Gott in dem Geist auch zu erkennen gegeben, dass sie das mit der Magd auch richtigstellen sollte. Und sie wollte sich vor Unserem Herrn dadurch entschuldigt haben, dass die Magd nicht geblieben war bis zu dem festgesetzten Zeitpunkt. Und Unser Herr sagte: „Sie hätte so große Freude an dem Pelz, dass ich will, dass du ihn ihr gibst.“ Sie war Unserem Herrn gehorsam und machte es so.
Blick für das Befinden anderer und Bemühen um ihr Seelenheil
[Die Gabe weitreichender Wahrnehmung]
Einstmals hatten sie und Jungfer Heilke einen Menschen zu einer ernsthaften Sache nötig, und der Mensch war weit weg in einem fremden Land. Und es wurde ihr in dem Geist kund, wann er kommen sollte, und sie sagte zu Jungfer Heilke: „Der Mensch kommt noch an diesem Tage.“ Und Jungfer Heilke sagte: „Weißt du das wohl?“ Da sagte sie: „Ja.“ Er kam, aber es zog sich so spät gegen den Abend hin, dass sie selber dachten, dass er vielleicht nicht komme, und sie beide sich schon damit abgefunden hatten. Gerade da kam er herein. Sie waren froh, und als er kam, da sagte Jungfer Heilke: „Nun schau, Gertrud, wie du wahrsagen kannst.“ „Ja“, sagte sie, „ich würde oft viele Sachen sagen, wenn ich [177r] wollte. Doch ich wehre mich allezeit dagegen und weise es hinweg von mir, denn es mischt sich der böse Geist sehr gern darunter. Und auch die Natur hat Lust darauf und gibt sich auch zu viel damit ab. Und so wehre ich mich dagegen wie gegen eine Sünde." Da sagte Jungfer Heilke: „Wenn du da weißt, dass es wahr ist, und dir darin sicher bist, warum wehrst du dich dann so sehr dagegen?“ Da sagte sie: „Ich weiß wohl, dass es die Wahrheit ist. Und würde ich darauf schauen, so würde es zu viel und würde mich selber dadurch von etwas weit Besserem abbringen.“ Dies wurde ihrem Geist gegeben sofort nach den ersten zwei Jahren. Und sie hatte es beständig bis zu ihrem Tod, aber sie wehrte sich auch beständig dagegen.
[Wahrnehmung des Seelenzustands anderer, und Sorge für ihr Seelenheil]
Ihr Geist und ihr Inneres wurden hingewiesen auf manche, die geistig hochstanden [ die eines hohen geistes woren ] und die das selbe auch (sc. von sich) glauben [ wonen ]. Dies wurde ihr in dem Geist geoffenbart, sodass sie nicht wagte, es dabei zu belassen (sc. nicht Stellung zu nehmen). Und sie tat es gar ungern und es war gegen all ihre Natur; und wenn sie daran dachte, dass sie es tun solle, so erschrak sie darüber. Und als sie sah, dass sie dies tun müsse, da ergab sie sich darein und war Unserem Herrn gehorsam. Und sie ging zu den Leuten, die ihr in dem Geist gezeigt wurden, und kam zu ihnen in so großer Demut und so sanftmütig, dass niemand über sie erzürnt sein konnte. Und sie setzte sich zu ihnen hin und sagte sehr eingeschüchtert: „Lieber Herr, ich habe ein wenig mit euch zu reden. Das sollt ihr nicht übel nehmen, denn das, was ich hier mache, das muss ich machen, und ich bitte um Gottes willen, dass ihr es demütig von mir aufnehmt und geduldig seid. Ich weiß wohl, dass ich zu schwach dazu bin.“ Und dann sagte sie ihm, was an ihm fehlerhaft war [ dz im brast ]. Dies waren manche bewährten Meister der Heiligen Schrift. Sie sagte es ihnen so, dass sie selber es empfanden und die Wahrheit erkannten.
Dies machte sie bei gar manchen Menschen, auf die ihr [177v] Geist hingewiesen wurde, und die alle meinten, dass sie sich durchaus recht verhielten, und die dann alle ihre Fehler selber erkannten, wenn sie zu ihr kamen und sie ihnen sagte, in welchem Bereich [ teil ] sie in die Irre gingen. Und besonders ein Mensch, der fern und nah als ein besonders guter Mensch geachtet war, meinte, dass er sich durchaus recht verhalte. Den führte sie zum Rechten [ rihtete sú uz ], sodass er sagte: „Frau, ich erkenne wohl, wäre ich so dahingefahren (sc. gestorben) mit dieser Lebensweise und wäre tot, ich hätte Gott nimmermehr geschaut. Gott sei euer Lohn.“
Wenn Jungfer Heilke hie und da bei ihren Verwandten gewesen war und sie dann beeindruckt [ verbildet ] war durch die leichtfertigen Worte und Werke, die sie unter den Leuten gehört hatte, und wenn sie dann wieder nach Hause kam, da sagte sie (Gertrud) dann zu ihr: „Ach, Heilke, was hat sich dir eingeprägt? Glaube mir, Heilke, beichtest du nicht, so meine ich, dass ich nicht bei dir in dem Haus bleiben kann.“ Da ging sie (Heilke) hinweg und beichtete. Da hatte sie (Gertrud) dann guten Frieden mit ihr.
Die junge Frau, die ihnen diente, die wollte einstmals Fische kaufen und sagte zu dem Fischer, dass er sie umso besser bediene mit den Fischen: „Ich will sie für meine Frau und die Jungfer“, und nannte ihren Namen. Indessen kommt [ kunt ] ein Mann und kauft die Fische vor ihr weg [dinget abe]. Dadurch war sie bekümmert [ gemuͤget ] und ihr dünkte, wie man ihre Frau und die Jungfer damit entehrt habe. Und als sie nach Hause kam, da verhielt sich die Frau zu ihr wie auch zu den anderen, worüber hier zuvor geschrieben ist, und sie konnte den Zorn und die Hoffart, die in ihrem (sc, der Dienerin) Herzen gewesen waren, nicht ertragen.
[Beilegung von tödlichen Feindschaften]
Diese selige Frau wurde in dem Geist auch hingewiesen auf die Leute, die einander feind waren und tödliche Feindschaft gegeneinander hatten. Und auf manche, die willens waren, darin [178r] zu sterben und nimmer davon abzulassen, wurde ihr Geist hingewiesen, dass sie diese versöhnen solle, soweit [ wie ] sie es vermöge. Und darüber wurde ihrem Geist so ernst zumute, und es war ihr dies auch so von Herzen zuwider und sie wurde damit auch so bis ins Herz heftig gepeinigt. Doch als sie sah, dass es sein musste, da machte sie, was sie sollte. Und sie trachtete nun danach, dass sie zu denen kam oder diese zu ihr, und fing mit irgendetwas an, sodass sie mit den Leuten ins Gespräch kam. Da waren etliche gar verhärtet in der Angelegenheit [ dar an ] und verhielten sich zu ihr gar heftig ablehnend und wollten da von keiner Aussöhnung wissen noch davon sprechen. Da bat sie diese und flehte sie an gar demütig und tugendhaft und voller Ernst, dass sie von der Feindschaft abließen. Und sie sprach zu ihnen über den Schaden, den der Mensch von der Feindschaft nehme. Wenn sie ihr dann folgen wollten, so war sie gar froh und dankte ihnen voller Vertrauen und ließ nicht ab, bis dass sie die beidseitige Schuld gegeneinander bekannt hatten und bis dass sie gegenseitig alles, was sie wider einander hatten, fahren ließen. Und sie bat sie, dass sie freundlich miteinander lebten.
Die das aber nicht tun wollten, und die sie mit ihrer Güte nicht dafür gewinnen konnte, zu denen sagte sie: „Ihr sollt wissen, dass ich es nicht gerne mache und dass es das Werk Unseres Herrn ist. Deshalb achtet selber auf euch, so wie ich das Meine tue und tue, was ich tun soll; dann bin ich der Sache ledig und habe guten Frieden.“
Dies ist mir selbst mit ihr begegnet, mir, die ich diese Legende zum ersten Mal aufgeschrieben habe. Ich hatte einen Oheim, den Bruder meiner Mutter, der tat uns gar viel Leid an, und er tat es an alledem und mit alledem, womit ein Mensch dem anderen Leid antun kann. Dem waren wir alle gar feindselig und sprachen nicht mit ihm und auch nicht mit seiner Frau, und hatten ganz und gar keine Freundschaft zusammen. Und besonders ich war dabei am allerhärtesten und [178v] allerstrengsten. Ich war gänzlich gewillt, dass ich ihm, weder ihm zu Liebe noch zu Leide, zu seinem Leben und Sterben, nimmermehr nahekommen wollte. Und so war es auch bei meiner Mutter und den anderen Geschwistern. Das währte ziemlich lange. Da wurde ihr Geist von Gott auf uns hingewiesen. Sie redete zuerst mit ihm. Er war froh darüber und bot ihr ganze Aussöhnung [ frúntschaft ] mit uns an, und das immer mehr, dass sie nur danach trachte, dass wir uns mit ihm aussöhnten [ sin frúnt wurdent ]. Sie beredete es danach mit meiner Mutter und mit meiner Schwester; mit denen redete sie so viel, dass sie sofort abließen und ihr folgen wollten. Als ich das in Erfahrung brachte, da wurde ich gar zornig und handelte gar unrecht, und besonders gegenüber meiner Mutter: mit der zürnte ich gar sehr, dass sie sich mit ihm aussöhnen wolle. Und ich sagte: „Käme die Rickeldegen und brächte Gott auf dem Rücken, ich würde mich nimmermehr mit ihm aussöhnen.“ Diese selige Frau schickte nach mir; ich wollte aber nicht zu ihr. Da schickte sie wieder nach mir. Ich ging zu ihr und sie fängt an[57] und redet mit mir so wie mit den anderen. Ich wollte es keineswegs tun und dachte voll Zorn in meinem Herzen, womit sie sich befasse, und es machte mir viel Ärger [ muͦte mich vil v́bel ], dass sie sich darum kümmerte. Ich wusste nicht, in welcher Absicht sie es tat; ich meinte, sie tue es eben [ sust ] aus Tugend. Und als sie mir in nichts etwas abgewinnen konnte, da sprach sie zu mir und sagte: „Wisse, was ich hier tue, das muss ich tun, und wisse, dass es Gottes Werk ist. Deshalb mache, was du willst.“ Wahrlich, als ich hörte, dass es Gottes Werk war und Unser Herr es durch sie wirkte, da erschrak ich und es befiel mich eine Furcht, dass, würde ich es nicht tun, Unser Herr es schwer an mir rächen würde. Und so folgte ich ihr und söhnte mich mit ihm aus, so wie die anderen. Dafür [179r] dankte sie mir. Und oft danach, wenn sie mich sah, da bat sie mich sehr ernsthaft, dass ich es gänzlich aus meinem Herzen ließe; denn das erkannte sie wohl, dass ich das noch nicht getan hatte; das machte sie betrübt, dass ich mich damit hindere an meiner ewigen Seligkeit.
[Feindesliebe]
Von niemandem, der bei ihr war oder über den sie Verfügungsgewalt hatte (sc. der ihr untergeben war), konnte sie irgendeinen Unfrieden ertragen. Sie liebte [ minnete ] selbst ihre Feinde und die, die sie im Herzen betrübten und die ihr Leid antaten, und bat Gott ernsthaft und vertrauensvoll für sie. Sie sagte zuweilen zu Jungfer Heilke, wenn sie so darüber redeten: „Mir dünkt, dass man, nach dem Maßstab des Edelsten und Lautersten und Besten, mehr verpflichtet [ gebunden ] sei, den Feind zu lieben, als den Freund. Denn den Freund zu lieben, das hat der Mensch von Natur aus und es fällt dem Menschen von selbst zu. Aber den Feind zu lieben, dazu muss man die Natur überwinden, denn es ist ihr zuwider. Deshalb ist es besser, den Feind zu lieben, als den Freund.“
Überwindung der Eigennatur und geduldiges Ertragen von Leiden
[Überwindung der Eigennatur, und Übung in allen Tugenden]
Sie achtete nicht darauf, wie weh es der Natur tat, und überwand ihre Natur in allen Dingen. Wenn man zuweilen sagte, wie doch alle Menschen von Natur aus fehlerhaft seien und dass man die Natur wohl überwinden könne, wenn es einer wolle, da sagte sie: „Ich will über meine Fehler nimmermehr so schlimm erschrecken, wie ich es getan habe, seit ich weiß, dass man die Natur überwinden kann, und dass ich von meinen Fehlern somit wegkommen kann.“
Sie hielt sich ganz und gar an rechte Ordnung [ wz geordent ] in all ihrem Leben und in allen Dingen. In Tugenden übte sie sich liebevoll, soweit Tugend Tugend ist und Tugend genannt werden kann. So übte sie sich in den Tugenden aufs allerhöchste und vollkommenste, so wie sie sich weiterhin auch in Weisheit [ wislich ] in der Gnade Unseres Herrn hielt und in der [179v] Gegenwärtigkeit, die Gott in ihrem Geist hatte.
Sie übte sich in allen Tugenden, in Beten, in Wachen, in Weinen, in Fasten, in Demut, in Barmherzigkeit, in Liebenswürdigkeit gegenüber den Leuten. Und in äußeren Werken übte sie sich, so wie es nützlich war und besonnen, und nicht danach, ob sie Lust dazu hatte oder ob es ihr selber oder anderen Leuten gefiel. Sie sprach oft zu Unserem Herrn und sagte: „Ach, Herr, hätte ich die körperlichen Fähigkeiten [ lip ] und Kraft, wie wollte ich dir so gerne dienen, und wohl erst richtig anfangen dir zu dienen. Nun kann mir dieser wertlose [ boͤse ] Sack (sc. der Körper) nicht helfen.“
Ihr wurden auch alle Tugenden so zur Gewohnheit, als hätte sie diese von Natur gehabt, sodass sie zuweilen zu Jungfer Heilke sagte: „Ich meine, dass ein Mensch, für den es im Himmelreich ewigen Lohn geben soll [ der im himelrich vnd ewigen lon gebe ], das wohl erreichen kann, dass er eine richtige Untugend nicht ausüben könne.“[58] Sie war nicht nur ein Mensch, der sich nur vor Sünden und Fehlern hütete, sondern sie kam vielmehr so weit, dass sie es nicht hätte ausführen können, wenn sie gerne Untugenden und Fehler verübt hätte; denn der Geist ließ sie keine Untugend und keine Fehler verüben. Sie hatte an ihrem Geist einen solchen Meister und Schirmherrn [ voͮg t], der es allezeit fügte [ det ], dass sie nach dem Willen Unseres Herrn lebte und sich in allen Dingen gemäß der rechten Ordnung und besonnen verhielt.
[Geduldiges Ertragen von Leiden]
Diese selige Frau konnte sich auch in Leiden[59] gar verständig und so geduldig verhalten, dass nie irgendein Mensch sie ungeduldig sah. Und dabei kam doch viel Leid über sie aus mancherlei Ursachen: Durch ihr Gut und durch manche ihrer nächsten Verwandten, die sie beraubten und es ihr wegnahmen, weil sie wohl wussten, dass sie sich nicht wehrte und es ihnen auch nicht verwehren konnte. Und auch, dass ihre Verwandten oft in Zwietracht [ krieg ] und in anderem [180r] leidvollem Tun befangen waren. Und auch durch große schwere Krankheiten und große Schwäche, die sie hatte. Und durch viele andere Sachen, durch die sie großes Leid hatte. Doch in all dem verhielt sie sich so ganz tugendhaft und geduldig und wandte sich in ihrem Leiden mit großem Ernst zu Unserem Herrn und gab es Unserem Herrn anheim in großer Minne. Und wie groß auch das Leiden war, so wollte sie es doch nicht anders als wie es Unser Herr wollte.
Über diese selige Frau und auch über Jungfer Heilke kam einstmals ein großes Leiden, und es kam in gleicher Weise über sie beide. Und einstmals war Jungfer Heilke betrübt und seufzte gar sehr, und das hörte diese selige Frau und sagte zu Heilke: „Was ist mit dir? Was seufzt du so sehr?“ Und sie antwortete ihr und sagte: „Was soll schon mit mir sein? Mit mir ist folgendes: Nähme mir Unser Herr dieses Leiden ab, so wollte ich ein gar guter Mensch werden.“ Da sagte sie: „Wolltest du dann erst gut werden, wenn dir Unser Herr Leiden abnähme?“ Da sagte sie: „Ja, es belastet mich so sehr und verwirrt mich so heftig, dass mir dünkt, dass ich mich mit meinem Herzen nicht so uneingeschränkt [ lideklich ] und lauter zu Unserem Herrn wenden kann, wie wenn es nicht wäre.“ Da sagte sie: „Nein, Heilke, so soll es damit nicht sein. Du sollst dich allezeit in dem Leiden mit Ernst zu Unserem Herrn und zu frommer Hingabe [ andaht ] wenden; sonst hinderst du dich selber an deiner ewigen Seligkeit, wenn du warten wolltest, bis dir Unser Herr das Leiden abnähme. Nein, so soll es damit nicht sein. Denn wisse: Wenn das aufhört, so fängt ein anderes Leiden an.“ So hielt sie sich also in Leiden entschlossen [ mit ernste ] an Unseren Herrn, und in Leiden wuchs ihre Minne zu Gott allezeit, und in Leiden kam ihr ihre ewige Seligkeit allezeit näher. Gar so tugendhaft und verständig und angemessen verhielt sie sich in Leiden.
[Betrachtung des Leidens Christi]
Über Jungfer Heilke kam einstmals ein großes Leiden, das sie heftig im Innern bewegte. Nun konnte ihr damals niemand [180v] einen Rat geben als nur ein einziger Mensch. Zu dem ging sie und klagte ihm ihre Betrübnis und ihr Leiden und bat ihn vertrauensvoll und ernsthaft, dass er ihr dabei um Gottes willen behilflich sei. Und er lachte und gab nichts darauf. Und je ernsthafter ihr zumute war, umso mehr nahm er es nicht ernst [ ie schúmpflicher es im wz ]. Und das tat ihr gar weh, dass er ihr so guten Rat wohl hätte geben können und es nicht tun wollte und dazu über sie spottete. Eben dadurch wurde sie erinnert, wie weh Unserem Herrn geschah, als er in seinem Leiden verspottet wurde. Und sie klagte ernsthaft darüber bei dieser seligen Frau und bat sie, dass sie Unseren Herrn bitte, dass er ihr dabei zu Hilfe komme. Sie tat das gerne und bat Unseren Herrn vertrauensvoll für sie.
Nun verrichtete Jungfer Heilke alle Tage ein besonderes Gebet zu all den Liebeswunden, die Unser Herr um des Menschen willen aus Liebe empfing. Und da bat sie ihn mit Begierde, dass er sie durch Herz und durch Seele und durch alle ihre Kräfte hindurch verwunden solle, auf dass ihm durch sie auf diese Weise für sein Leiden gedankt werde.[60] Und als diese selige Frau Unseren Herrn so ernsthaft für sie bat um das, worum sie (Heilke) gebeten hatte, da sagte Unser Herr ihr (Gertrud) dieses Gebet, das Heilke alle Tage verrichtete, und sprach es vor, und sagte: „Sie bittet mich, dass ich sie durch Herz und durch Seele und durch alle ihre Kräfte hindurch verwunde. Will sie, dass das geschehe, so muss sie dafür noch gar manches leiden.“ Von diesem Gebet wusste sie (Gertrud) gar nichts, bis dass es ihr von Gott geoffenbart wurde. Und da fragte sie Jungfer Heilke, was für ein Gebet sie verrichte zu den Wunden Unseres Herrn. Und diese wusste nicht, was sie meinte, und sagte: „Ich verrichte alle Tage ein Gebet zu den Fünf Wunden Unseres Herrn.“ Und sie (Gertrud) sagte: „Das meine ich nicht. Betest du kein anderes Gebet?“ Da verstand diese wohl, dass sie dieses Gebet meinte. Als sie (Heilke) hörte, dass sie (Gertrud) das von Unserem Herrn erfahren habe, da war sie darüber froh und es machte ihr das Leiden trostvoll [181r] und desto leichter, und sie dankte dafür Unserem Herrn, dass er ihr das vergönne.
Auf der Höhe des geistlichen Lebens: mit und in Gott – Weg der Einung – minnensuͤch vnd vereinet mit gotte
Geistlicher Tod und neues, gottgemäßes Leben
[Vertraute Begegnungen mit Gott; geistlicher Tod]
Einstmals war diese Frau ziemlich lange in Begierden und schmerzlichem Verlangen, dass sie Unseren Herrn gerne gesehen hätte, so wie er ein kleines Kind war.[61] Und so wie ihr Unser Herr kein Ding versagte, da gab sich ihr Unser Herr hin in dem Geist ganz nach ihrer Begierde, und er gab sich ihr hin in ihren Schoß, so wie er ein kleines Kind war. Und er ließ sie alles Genügen [ trost ] mit ihm haben ganz nach ihrem Willen und ganz nach ihrer Begierde.
Einstmals wirkte Unser Herr wiederum sein Werk mit ihr, und das war gar so innerlich und gar so vertraulich und eine so nahe Verbindung [ zuͦ fuͤgung ][62] Gottes und der Seele, dass es nicht gut zu Wort zu bringen ist. Und die Seele wurde da von Gott vertraulicher berührt, als ihr davor jemals sonst geschehen war. Und er erbot sich der Seele so minniglich, so wie sie solches nie zuvor erfahren hatte. Und es wurde auch ihre Kraft dabei gar so verzehrt, dass sie zu Bett liegen musste, und man musste sie heben und tragen und ihr zu essen geben, so wie bei einem Menschen, der nicht über sich selbst verfügen kann.[63] Sie wurde so schwach, dass sie selber meinte und auch die anderen, dass sie sterben müsse. Da gab ihr Unser Herr Kraft, dass sie wieder zu sich kam. Und dabei wurde ihr von Gott zu verstehen gegeben, dass sie eines geistlichen Todes gestorben sei.[64] Damit verhielt es sich so: Alles was da noch an Leiblichem an ihr war, das wurde ganz und gar geistlich und wurde recht verändert und neu gemacht, sodass sie Gottes Willen leichter erkannte als zuvor, und ihr Lebenswandel und ihr Wort und ihr Werk und ihr ganzes Leben wurden wiederum mehr als zuvor gottgemäß [ goͤtlich ] und geistlich bis zu ihrem Tod, wie selig und wie gut sie doch schon vorher war.
Erfahrungen der Gottesfremde und der Gegenwärtigkeit Gottes
[Erfahrung der Gottesfremde, in Einwilligung in den Willen Gottes]
Als ihr Unser Herr nun gar so vertraulich war, da wollte er sie auch sein Fremdsein [ froͤmde ][65] erfahren lassen und [181v] entzog sich ihr einstmals wohl ein halbes Jahr lang mit all seinem Trost und mit all seiner Gegenwärtigkeit und Süßigkeit und Vertraulichkeit, dass sie so recht einherging wie ein Mensch, der nie geistliche Erfahrungen hatte oder göttlichen Trost erfuhr. So freudlos [ liebelos ] war sie ohne jeden Trost von Unserem Herrn. Und Jungfer Heilke nahm es an ihr wahr und sagte zu ihr: „Liebe Gertrud, mir dünkt, dass dir Unser Herr jetzt gar fremd sei. Er will sein Ding vollbringen [ schaffen ] und dich auch das deine vollbringen lassen.“ Sie sagte: „Ach, liebe Heilke, kannst du es an mir merken?“ Sie sagte: „Ja, wohl.“ Da sagte sie: „Das ist sehr wahr, was du sagst. Er ist mir ganz und gar fremd. Er ist für mich so wie für einen anderen, der ihn nie erfahren hat.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ach, liebe Gertrud, wie verhältst aber du dich?“ Da sagte sie: „Wie sollte ich mich verhalten? Ich verhalte mich wie eine ehrbare Frau, deren Ehemann [ wurt ] in ferne fremde Lande gefahren ist, und sie weiß nicht, wann er wieder zurückkommen will. Die Frau ist nun darum besorgt und beflissen, dass sie all das tue, das wohl und recht getan ist, dass, wenn ihr Ehemann kommt, alles nach seinem Willen gemacht sei und dass ihm alles wohl gefalle. Und sie ist beflissener darauf, als wenn er allezeit bei ihr gewesen wäre, denn was sie dann getan hätte, das wäre recht getan. Sieh, so mache auch ich es. Mir täte es leid, es einen Augenblick anders zu machen, als wenn er allezeit mit seinem Trost bei mir wäre. Ich befleißige mich so sehr wie ich es jemals kann, dass meinem Herrn gar nichts an mir missfalle, wenn er käme, wo ich doch nicht weiß, wann das ist oder ob es jemals sonst geschieht.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ach, liebe Gertrud, wie geht es dabei aber dir [ wie gehebest aber du dich ]?“ Da sagte sie: „Wie sollte es mir gehen? Es dünkt mir gar angemessen, dass es allezeit so sein sollte.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ach, liebe Gertrud, dir geht es dabei so wohl, [182r] dabei solltest du schreien und weinen und es sollte dir so schlecht gehen, dass er zu dir zurückkommen müsste. So wie es andere Leute machen, die Unseren Herrn zwingen, dass er zu ihnen kommen muss.“ Da sagte sie: „Das mag ich nicht tun. Ich möchte Unseren Herrn nicht so nötigen und zwingen. Er soll tun, was er will. Ich erschrecke mehr vor seiner Gegenwärtigkeit als vor seiner Härte, denn ich habe nichts anderes um ihn verdient [ verschuldet ]; er sollte allezeit so zu mir sein. Deshalb wundere ich mich über seine Milde zu mir mehr als über seine Härte. Sollte ich ihm anderes zumuten als das, was ihm mir gegenüber gefällt: das mache ich nicht.“ Sie mochte Unseren Herrn um kein Ding bitten außer darum, dass er seinen Willen vollbringe in allen Dingen.
Zuweilen wandten sich die Leute an Jungfer Heilke mit der Bitte, sie (Gertrud) zu bitten, dass sie Unseren Herrn eindringlich bitte für etliche Sachen. Das tat sie (Heilke) und bat diese, so wie man sie gebeten hatte. Da sagte diese: „Liebe Heilke, wie wolltest du, dass ich tue? Ich bitte Unseren Herrn, dass er dabei seinen Willen erfülle.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Wahrlich, liebe Gertrud, so wollten es die Leute nicht. Sie wollten, dass du Unserem Herrn so eindringlich nahelegst, dass er sie in der Sache ihrem Willen entsprechend zufriedenstelle [ gewerte ].“ Da sagte sie: „Das mache ich nicht. Er ist doch so recht liebevoll und tugendhaft, dass er alles tut, was wir wollen. Was sollte ich ihm da noch abgewinnen?“
[Unmäßige Freuden beim Erleben der Gegenwart Gottes]
Als Unser Herr zu dieser seligen Frau ein halbes Jahr so hart und fremd war mit seiner Gegenwärtigkeit, da kam er dann mit solch wundersamer Süßigkeit und Freuden so viel und so oft, so recht als ob er sie entschädigen [ ergetzen ] wolle, dass sie ihn so lange so tugendhaft entbehrt hatte. Und das währte danach für immer und wich nie von ihr bis zu ihrem Tod. Ihr Geist war so froh und so hochgemut [ stoltz ], das sie sich oft unziemlich gebärdete [ in ungeberden wz ], dass sie Hände und Füße nicht bei sich [182v] selber halten konnte, wie sie es gewohnt war; denn sie war eine gar zuchtvolle Frau von gutem Gebaren. Dadurch passte die Fröhlichkeit, die sie so in dem Geist hatte, so recht gut zu ihr. Ihr ging zuweilen der Mund so weit auf, wie er nur konnte, zu einem lauten gellenden Schrei [ galle vnd schrei ] vor unmäßiger Freude, die ihr Geist in ihrem Innern hatte. Das geschah ihr oft in der Kirche unter den Leuten und in dem Haus. Und doch behütete sie Gott, dass sie nie in ein solches Gerede kam, denn das wäre ihr ganz und gar leid gewesen.
Oft am Morgen, wenn sie sich zur Kirche bereitmachen wollte, geschah es, dass sie sich kaum den Schleier umbinden konnte vor Freude ihres Geistes. Nun lagen sie und Jungfer Heilke zu dieser Zeit in einer weiten Kammer; und wenn sie vor oder auf ihrem Bett saß in solcher Freude und solchen Gebärden, so wagte sie nicht, dorthin zu Jungfer Heilke zu schauen, ob sie es wahrnehme oder sehe. Und sie fürchtete, hätte sie es nicht wahrgenommen, so würde sie es nun gleich tun, und sie bezwang sich oft nur sehr schwer [ vil kum ], dass sie nicht hinter sich sah. Da nahm Jungfer Heilke es wohl wahr, und saß dort und hätte lieber gelacht als irgendetwas anderes zu tun. So sah sie (Gertrud) ein klein wenig über die Achsel neben sich hin zu Jungfer Heilke, ob sie es gesehen habe. Da wurde Jungfer Heilke so heftig [ groͤslich ] bewegt zu lachen, und auch sie. Aber sie hielten sich in Zucht, so gut sie es vermochten, dass es niemand in dem Haus gewahr wurde.
Da sagte Jungfer Heilke zuweilen zu ihr und scherzte: „Weiß Gott, Gertrud, du bist eine lustige [ geile ] Witwe. Was ist mit dir los? Wer würde solches bei dir vermuten?“ Da sagte sie: „Du hast vollkommen recht. Ich weiß (nicht), worüber sich der Geist so unmäßig freut. Ich weiß (nicht)[66], wie ich zur Kirche kommen soll.“ Sie fasste kaum so viel Ernst, dass sie zur Kirche kam, wenn es Zeit [183r] wurde. Wenn sie dann wieder von der Kirche nach Hause kam, da sagte Jungfer Heilke: „Sage mir, liebe Gertrud, wie ehrbar hast du dich heute in der Kirche verhalten?“ Da sagte sie: „Ach, Heilke, wie habe ich dem lieben Gott so viel zu danken, dass er mich so väterlich behütet hat, dass ich heute nicht zum großen Gerede wurde unter all den Leuten. Sieh, Heilke, mir ist heute der Mund ziemlich oft aufgegangen, dass ich einen lauten Schrei von mir geben wollte. Ich war in großen Sorgen, sodass ich fürchtete, ich müsse zum Klatsch werden unter all den Leuten. Alles, was in mir ist und an mir ist, das freut sich; all das, was in mir ist, schwebt und fährt empor. Es tut recht so, als ob es fliegen wolle. Ich bin oft von da nach Hause gegangen, ohne zu erfassen, ob mir die Füße je das Erdreich berührten; so trug mich der Geist empor.“
Verzückungen, und Vereinigung mit Gott
[Zustände von Verzückungen]
Diese auserwählte liebe vertraute Freundin Unseres Herrn, die kam oft in solche Süßigkeit und in solch wundersame Wunder durch die Gegenwärtigkeit Gottes und durch die Wunder, die ihr in dem Geiste von Gott geoffenbart wurden, dass sie oft und viel verzückt [ verzucket ][67] wurde in ihrem Leben, seit dem Anfang, als sie in geistlichen Stand eintrat, wohl an die sechzehn Jahre ihres Lebens in geistlichem Stand. Die selben sechzehn Jahre wurde sie oft und viel verzückt. In den Verzückungen [ zúgen ] wurde von Gott der Seele ein göttliches Licht gezeigt und vor Augen geführt [ fúr geworffen ] in einer schnellen Vorwärtsbewegung [ fúr loͮffe ], so wie ein Augenblick. Daraus schöpfte die Seele, wie sie sich in Gott und im geistlichen Leben ausrichten und verhalten sollte. Und wenn Jungfer Heilke sie über dieses selbe Licht, das der Seele so plötzlich gezeigt wurde, fragte, was der Seele davon bleibe und geschehe, da sagte sie dann: „Kein Licht, das der Seele so vor Augen geführt wird [183v] von Gott, ist so schnell, dass ihr nicht so viel Licht und so viel göttliche Weisheit und Klarheit bleibt. Und die Seele wird so weise und so licht, dass sie in dem Licht all das schöpft, was sie braucht.“
In diesen Verzückungen lag sie da, und ihr Antlitz wurde so ganz wonnevoll, recht so wie eine blühende hübsche Rose, weiß und rot.[68] Und ihre Augen wurden ihr so wundersam klar, dass kein edler Vogel je zu so lichten und so klaren Augen kam, wie sie es in dieser Zeit hatte. Und es standen ihr die Augen halb offen, ohne dass sie etwas in den Blick fasste, und der Mund war ihr so rot, und sie wurde so schön und so wohlgefällig, dass Jungfer Heilke rechtes Vergnügen bekam über ihr Aussehen. Denn sie saß vor ihr und gab allezeit auf sie acht, dass niemand sie verwirrte. Denn hätte jemand etwas viel vor ihr gesprochen, dann hätte es sie verwirrt. Und doch merkte sie nicht, was man in dieser Zeit sprach. In dieser Verzückung war sie zeitweise einige Stunden am Tag oder zuweilen so lange, wie eine gesungene Messe dauert, und zuweilen lange Zeit, zuweilen kurze Zeit. Und wenn das bald vergehen wollte, sodass sie wieder zu sich selbst kommen wollte, da begannen ihr die Tränen über die Wangen zu fließen. Das währte auch so lange wie zwei oder eineinhalb Miserere[69]. Und wenn sie wieder zu sich selbst kam, so trieb der Geist sie hoch und ließ sie sich bis zur Erde neigen, und sie dankte gar so demütig Unserem Herrn, dass man rechte Andacht davon hätte gewinnen können.
Sie wurde oft verzückt während ihres Gebets in der Kirche der Ordensbrüder, solange sie zu Offenburg waren. Da war Jungfer Heilkes Bruder Küster; er hieß Bruder Albrecht von Staufenberg. Der kannte ihr Leben wohl, und wenn er die Kirche abschließen wollte und ihm dann dünkte, dass sie nicht bei sich selbst war, so schloss er eine Türe; die andere Türe ging auf den Friedhof, die ließ er offen, dass sie, wenn sie [184r] wieder zu sich selbst käme, da hinausgehe. Wenn sie aber bei sich selbst war, wenn man abschließen wollte, so stand sie auf und ging hinaus. Wenn dann der Friedhof leer war, sodass niemand da war, blieb sie da und setzte sich an eine Linde und sprach ihr Gebet und kam oft in eine solche Andacht, dass sie verzückt wurde. Wenn es dann Jungfer Heilke zuhause lange dünkte, so ging sie auf den Hof und verbarg sich in einem Winkel und wartete auf sie. Aber ihr (Gertrud) war es gar zuwider, dass diese so beflissen war, auf sie zu achten. Aber sie ließ es gut sein, dass diese Unseren Herrn im Dienst an ihr ehrte, denn sie wusste sich so schwach, dass sie dessen bedürftig war. Jungfer Heilke verbarg sich aber, bis dass sie wieder zu sich selbst kam und aufstand und wieder nach Hause gehen wollte. Da war sie so schwach und erschöpft [ er-mergelt ] von der Verzückung und von der Gnade, dass sie wankend ging so wie ein trunkener Mensch.[70] Da kam Jungfer Heilke, als ob sie erst gekommen sei, und ging ihr zur Seite [ nebent sú ], dass es niemand wahrnehme, und half ihr nach Hause. Da sagte sie (Gertrud) dann, wenn sie nach Hause kam: „Ach, liebes Kind, nun lohne dir Gott, wie bin ich deiner so bedürftig. Woher bist du gekommen?“ Dann ruhte sie so eine Weile, und dann aßen sie miteinander.
Und wenn Unser Herr etwas Besonderes mit ihr wirken wollte, wozu sie viel Kraft brauchte, so machte er, dass sie zuvor so manchen Tag so ganz tüchtig [ vast ] aß und trank, im Gegensatz zu anderer Zeit, denn sie war gar maßvoll im Essen und Trinken. Und Jungfer Heilke, die ihr gegenüber zu Tische saß, nahm da solches wahr, dass sie so lustvoll aß. Unser Herr wusste das wohl, dass sie Kraft brauchen würde, und deshalb kräftigte er sie so zuvor mit leiblicher Speise, dass es ihr schwacher Körper desto besser leisten könne. Sogleich danach, wenn sie ein wenig Kraft gesammelt hatte, da wirkte Unser Herr ein solches Werk mit ihr, zu dem sie wohl Kraft [184v] brauchte und in dem auch alle ihre Kraft verzehrt wurde.
[Vereinigung mit Gott]
Aber nach den sechzehn Jahren, da wurde es anders bei ihr. Denn wenn sie verzückt wurde, wurde sie danach so stark und es wurde ihr so zur Gewohnheit, und Unser Herr wirkte danach noch viel größere und viel vertrautere Werke mit ihr als zuvor. Und sie wurde näher mit Gott verbunden [ in got gefuͤget ] und in ihn geführt, bis dass sie gänzliche mit ihm vereinigt wurde.[71] Und ihr wurde von Gott zugesichert, dass sie niemals mehr von ihm geschieden werden solle oder könne. Ihr wurde dies von Gott dreimal zugesichert, das weiß man genau, ohne diejenigen Male, die man nicht weiß.
[Weitere Zustände von Verzückungen]
Es ist auch oft geschehen, wenn sie von der Kirche nach Hause kam, und es da Zeit für den Imbiss war, da hatte sie dann noch die Terz und die Sext zu beten, da sie die Zeit in der Kirche so in göttlicher Minne und Begierde und Andacht verzehrt hatte. Da sagte sie zu Jungfer Heilke: „Ich will für eine Weile beten gehen; bereitet derweilen ihr den Tisch. Ich komme sogleich, lasst es euch nicht lang werden [ belangen ].“ Und sie ging zu ihrem Gebet [ bette ] und zu ihren Heiligen und meinte, sehr bald zurückzukommen. Da hatte Unser Herr etwas anderes mit ihr erdacht. In dem Gebet wurde ihr so ernsthaft zumute und sie kam in eine solche Andacht, dass sie verzückt wurde. Und wenn es dann Jungfer Heilke lang wurde, so schlich sie hin und schaute nach, was sie tue; da hatte die Gnade sie zu plötzlich und zu geschwind ergriffen, dass sie sich rückwärts auf ihre Füße [ vf sich selber ] gesetzt hatte, und so hockte sie da und war verzückt. Und da verhielt sich Heilke sehr leise und ging hinzu und setzte sich ihr unter den Rücken, ihr zur Hilfe, dass sie es desto besser aushalten und leisten könne, damit die Gnade nach dem Willen Unseres Herrn vollbracht werden könne und nicht durch ihre Schwäche gehindert werde. Diese Verzückung währte so lange [185r] bis zur Zeit der Non in der Zeit des Sommers, dass sie da noch kaum wieder zu sich selbst gekommen war. Und Jungfer Heilke saß ebenso lange unter ihr, dass ihre Glieder ihr fest [ vast ] einschliefen, sodass sie in ihnen kein Gefühl mehr hatte [ ir nit bevant ]. Das war ihr aber alles leicht und erträglich, wenn sie nur bei ihr (Gertrud) sein sollte und sehen und wissen sollte die großen Wunderwerke Gottes, die Gott mit ihr wirkte.
In dieser Verzückung wurde ihr Antlitz so wonnevoll und so schön, dass es Jungfer Heilke dünkte, dass sie auf Erden nie ein minniglicheres Antlitz gesehen habe, und dass sie all ihren Schmerz vergaß, dafür dass sie ihr Antlitz ansehen sollte. Denn davon empfand sie so herzliche große Freude, und Unser Herr wurde ihr so recht lieb durch die Wunder, die er, wie sie sah, mit dieser wirkte.
In diesen Verzückungen wurde ihr auch ihr Atem entzogen [ verzucket ], dass sie für längere Zeit [ in langer wile ] nicht atmete. Und einstmals hätte Jungfer Heilke gerne gewusst, wie lange ihr der Atem weg war, und sie nahm eine Gebetskette mit fünfzig Perlen [ ein fúnftzig ] und betete fünfzehn Pater Noster und Ave Maria, ohne dass sich in dieser Zeit je Atem bei ihr zeigte. Und dann kam ihr der Atem plötzlich zurück für eine kleine Weile und wurde ihr dann wieder entzogen. Und dies geschah ihr nicht in allen Verzückungen, sondern (nur) in manchen, so wie eine Verzückung kräftiger war als die andere. Sie wurde auch nicht an allen Tagen und allezeit verzückt, sondern wenn es der Wille Got-tes war, zuweilen am Tage, zuweilen in der Nacht, je so wie es Gott wollte.
Einstmals da lag Jungfer Heilke nicht bei ihr in ihrer Kammer, und spät am Abend da war sie vor ihrem Bett bei ihrem Gebet. Da ermahnte sie Unser Herr in ihrem Innern, dass sie nachschaue, ob sie (Gertrud) etwas von ihr brauche. Da hätte sie recht gerne gebetet, aber sie konnte keine Ruhe haben; so stand sie auf und schaute nach, wie es um diese stand. Und sie verhielt sich sehr leise und hielt ihr Ohr in die Richtung [ hin zuͦ ]; da merkte sie ziemlich [ etwen ] wohl, dass sie verzückt war. Da setzte sie sich [185v] sehr vorsichtig hin und wartete, wann es vergehe und dass sie wieder zu sich selbst kommen wollte. Da kam sie ihr dann zu Hilfe und half ihr hin in ihr Bett und deckte sie zu und wärmte sie mit ihren Händen. Denn ihr wurden oft vor Kälte Hände und Füße so wie ein Stein. Da wärmte sie sie und nahm ihre Füße in ihre Hände, bis dass sie diese und auch ihre Hände erwärmte. Und sie half ihr, dass sie wieder zu sich selbst kam [ half ir wider ], so wie sie es vermochte. Dafür dankte sie (Gertrud) ihr dann voller Vertrauen und gebot ihr dann, schlafen zu gehen. Und ihr dünkte, wie das Wärmen, das diese ihr so zukommen ließ, ihr gar wohl dazu verhalf, zu Kräften zu kommen.
Und danach da fragte Jungfer Heilke sie einmal, wie es einem Menschen gehe, der so verzückt wurde, und sagte: „Liebe Gertrud, kannst du mir etwas darüber sagen, wie es einem Menschen geht, der so verzückt in solcher Süßigkeit liegt? Ich wüsste gar gern, wie es der Seele geht.“ Da sagte sie: „Sieh, liebe Heilke, darüber kann ich dir überhaupt kein Wort sagen, als nur so viel, dass ich wohl weiß, dass Unser Herr der Seele gegenwärtig ist. Aber wie er der Seele gegenwärtig ist und in welcher Weise, das kann ich niemandem sage. Die Seele ist in dieser Zeit in solcher Süßigkeit und unmäßiger Freude, und hätte ich mir das Himmelreich zu wünschen, so könnte ich ein besseres Himmelreich nicht wünschen. Etwas anderes kann ich dir darüber nicht sagen. Wenn das aber vergeht, so ist für diesen Menschen alles vergessen, und er kann nichts anderes darüber sagen als wie über einen Traum.“
[Liebe zu den Engeln, und Vereinigung mit den Personen der Gottheit]
Diese selige Frau hatte auch eine so große Minne zu den Engeln, und diese waren ihr allezeit gar so würdig in ihrem Herzen. Und das, womit sie diese ehren konnte, das tat sie mit Begierde ihres Herzens. Und wenn ihr Fest kam, so hatte sie allezeit [186r] eine besondere Freude. Und einstmals am Tag aller Engel saß sie vor ihrem Bett und kam in eine gar innerliche Betrachtung über die Engel. Und als sie so in innerlicher Betrachtung dasaß, da wurde sie verzückt in den Himmel, und es wurde ihr da gezeigt die Menge und die Schar aller Engel. Da wurde ihre Seele so froh und kam in eine so große Minne zu den Engeln, als sie die unzählbare Schar der Engel sah. Und aus Minne begehrte die Seele, dass sie die Schar aller Engel umarmen könne. Und dabei dünkte ihr, dass die Arme der Seele so lang wurden, dass sie die Menge und die Schar aller Engel umschloss.
Und als sie so in großer Freude mit den Engeln war, da begegnete ihr Unser Herr Jesus Christus. Da erst wurde die Seele so voll von unmäßigen Freuden, dass ihr (Gertrud) recht dünkte, wie ihre Seele außer sich geriet [ sprattelte ] vor unmäßiger Freude. Und Unser Herr Jesus Christus umarmte die Seele und neigte sie hin an seinen linken Arm und legte den rechten über sie, und da wurde sie erfüllt von unmäßiger Freude. Und da sie so eine gute Weile in der süßen Ruhe war, da hob er sie da hoch und nahm sie unter seine Arme und führte sie vor den himmlischen Vater. Und da sah der himmlische Vater sie an mit seinen göttlichen Augen und sagte da zu dem Sohn: „Sie ist wohlgestalt und gar passend [ wol gevuͤget ] zu uns beiden.“ Da nahm sie da Unser Herr Jesus Christus zwischen sich und den himmlischen Vater, und da wurden der Vater und der Sohn miteinander vereint und sie mit ihnen beiden in der Liebe des Heiligen Geistes.[72]
Darüber sprach sie einstmals zu Jungfer Heilke, denn sie wusste wohl, dass diese allezeit begierig war, solches zu hören. [186v] Und als sie zu ihr so über dieses sprach, da sagte Jungfer Heilke zu ihr: „Ach, liebe Gertrud, für was hältst du dieses selbe Geschehen? Wie schätzt du es ein?“ Da sagte sie: „Es war eine Vereinigung der Seele mit Gott, die auf gar manche Weise geschieht.“
Hernach bis an ihren Tod waren ihr die Engel lieber als zuvor. Und sie wandte sich mit Ernst darauf, wie sie die heiligen Engel würdig loben und ehren könne. Und in großer Demut ließ sie sich von Unserem Herrn Erlaubnis geben und sagte: „Ach, milder guter Gott und lieber Herr, gib in deiner Güte mir unwürdigem Menschen Erlaubnis, dass ich dich lobe in deinen himmlischen Geschöpfen, den heiligen Engeln, die du, Herr, gar so würdig und löblich geschaffen hast und so lauter und so würdig und so klar.“ Und ihre Minne war dann so groß, dass ihr dünkte, dass sie Unseren Herrn und seine heiligen Engel niemals genügend loben könne. Darüber war sie besonders besorgt am Fest aller Engel. Und besonders den Engel, der ihr von Gott zu einem Hüter gegeben war (sc. ihr Schutzengel), den ehrte sie besonders.
Abwendung von allem Äußeren, und Zustand der Gelassenheit
[Abtötung der Eigennatur, und Abwendung von allem Äußeren; Exkurs: Grenzen der Niederschrift]
Wisst auch, dass ihr die Vertraulichkeit, die sie mit Gott hatte, nicht ohne weiteres [ vergeben ] zuteil wurde. Sie entgalt es wohl mit dem Abtöten ihrer Natur und aller Fehler, und sie tötete an sich alles ab, was ihm an ihr missfiel, wirklicher [ werlicher ] und gänzlicher, als es je bei irgendeinem Menschen zu unseren Zeiten geschah. Denn sie war allezeit damit befasst, in die Innerlichkeit ihres Geistes hineinzusehen und allezeit die Aufforderung und den Willen Unseres Herrn wahrzunehmen, und vollbrachte diesen Willen gänzlich. Es gab nichts, in dem sie säumig war. Wenn ich schreibe und betrachte und erkenne, wie bei ihr gar gänzlich [187r] und vollständig [ al zuͦ mol ] ihre Natur abgetötet wurde und alles, was einer Natur und einem Menschen trostvoll oder lustbringend ist oder sein kann, so erschrecke ich darüber von Herzen. Und wenn ich die Werke, die Gott mit ihr gewirkt hat, aufschreiben soll, so erschrecke ich, dass ein Mensch solche Dinge wissen und aufschreiben soll. Denn von ihrem heiligen Leben sollten nur Engel reden, wenngleich ich meine, dass viele Engel in dem Himmel sind, die nicht fähig wären, darüber zu sprechen, sollten sie über die vertraulichen wundersamen Werke sprechen, die Gott mit ihrer Seele und mit ihrem Geiste gewirkt hat. Deshalb ist es kein Wunder, wenn ich erschrecke, von ihrem heiligen Leben zu schreiben, wo man doch nicht alles aufschreiben will, was man von ihrem heiligen Leben weiß, was doch nur wenig ist gegenüber dem, was man nicht weiß oder wissen mag. Denn Gott, der erkennt und weiß es allein, der es auch allein mit ihr gewirkt hat.
Von den Gnaden Unseres Herrn und von den Werken, die er mit ihr gewirkt hat, wurden ihr alle Geschöpfe zu einem Nichts [z uͦ núte] und ganz und gar zuwider in Herz und in Sinnen, dass sie sich mit keinen Dingen bekümmern mochte. Sie hatte einen wohlgefälligen sanftmütigen Umgang mit den Leuten, der den Leuten hilfreich [ troͤstlich ] war. Nie sah man bei ihr irgendwelches nichtige Tun [ ytelkeit ] oder loses Verhalten [ verlossenheit ] in Worten und Werken, seit damals, als sie in geistlichen Stand trat. Wisst, dass alles an ihr durchaus erfüllt war von Ernsthaftigkeit in solchen Sachen, in denen sie sich durchaus lau hätte verhalten können; hierbei verhielt sie sich so tugendhaft, dass es selten jemand an ihr merken konnte.
[Stille Ruhe und innerer Friede; Bildlosigkeit; mystische Gelassenheit]
Sie saß oft in der Kirche, dass ihr die Sinne so kräftig nach innen gezogen wurden, dass ihr die Augen und der Mund offen standen, und dass sie nicht gut merkte, was man neben ihr machte. [187v] Und dabei war sie doch nicht in Verzückung. Und wenn jemand zu ihr kam und plötzlich zu ihr sprach, so erschrak sie, dass sie sogleich auffuhr, und sie antwortete dann sehr tugendhaft und sanftmütig auf das, was man sie fragte. Dieses Erschrecken geschah ihr allermeist in der ersten Zeit [ an der erste ].
Zuweilen saß sie in der Kirche, und ihr Geist und alle ihre Sinne waren innerlich und äußerlich in einer stillen Ruhe und einem süßen Frieden mit Gott und mit allen Geschöpfen, und nichts lenkte sie ab. Und sie war auch in keiner Betrachtung und saß ohne Gedanken, soweit es denn sein konnte, und hatte im Innern kein Bild.[73] Aber sie merkte wohl, wenn das verging, dass viel von ihrer Kraft dabei verzehrt wurde, und dass das Geschehen viel Kraft für sich in Anspruch nahm [ v́ber sich nam ]. Und wenn ihr danach die Sinne wieder nach außen gewandt wurden, so wurde es ihr so ganz zuwider, die Geschöpfe zu sehen und zu hören, dass sie einen rechten Verdruss gegenüber allen Geschöpfen bekam. Dies sagte sie Jungfer Heilke zu einer Belehrung, dass sie nicht darüber erschrecke, wenn sie nicht eine besondere Betrachtung oder besondere Gedanken habe, und sagte: „Sieh, ich merke, dass in der Stille Unser Herr sein Werk wirkt mit der Seele, ohne dass sie es weiß, und dass viel Kraft dabei verzehrt wird.“
Überschreiten der Grenzen des Körpers und des Selbst
[Freiwerden des Körpers in der Gnade]
Ihr eigener Leib wurde ihr auch so zuwider, und sie missgönnte ihm all das, was ihm zugute geschah an Speise und an aller Annehmlichkeit, auch wenn es eine rechte Notwendigkeit war. Sodass sie zu Jungfer Heilke sagte: „Ach, wie missgönne ich diesem schlechten Sack, dass man ihm jetzt so gut tun muss. Nun habe ich damit aber nicht diesen schlechten Sack im Sinn, sondern die Ehre Unseres Herrn.“ Sie sprach auch zu Jungfer Heilke darüber, wie weh es dem Leib tue und wie es ihm zuwider sei, wenn er so gefangen und gebunden sein müsse in der Gnade, und sagte: „Sieh, Heilke, wenn ich den [188r] Leib und den äußeren Menschen zur Ruhe bringen will, so nehme ich [* Textlücke; vermutlich: mein Gebetbuch] her und bete meine Vigilie oder etwas anderes. Sieh, das tut diesem unreinen schlechten Leib so wohl, recht so, wie wenn man einen Gefangenen aus einem Turm herauslässt. So wohl ist dem Leib, wenn er weiten Raum für sich haben kann und sich aufschwingen und sich rundum umsehen kann.[74] Das tut diesem schlechten Sack so wohl; ihm ist so recht, wie wenn ihm ein Gewinn zuteil geworden sei [ wie er gewunnen sy ], da er sehen und hören kann, was er will.“
[Selbstvergessenheit im Gebet]
Wenn diese selige Frau nicht in ihrem Innern befasst war mit besonderer Gnade und mit göttlichen Dingen, so übte sie sich wieder in tugendhaften Werken, und besonders im Gebet. Zu diesem wurde ihr so ernsthaft zumute, und sie verrichtete ihr Gebet mit so inbrünstiger Minne und Begierde, und kniete zuweilen so viel und so lange, dass man sich wundern konnte, wie ihr schwacher Lieb es leisten könne. Ich[75] dachte zuweilen, sie habe recht auf sich selbst vergessen in dem Gebet. Und es ist wahr, wäre sie bei sich selbst, so könnte sie es nicht leisten [ erzúgen ]. Und sie sagte[76] dasselbe auch einmal zu jemand, der bei mir stand und auf sie zeigte. Sie verrichtete ihr Gebet zumeist nach dem Essen zur Zeit der Vesper und an dem Feiertag nach der Predigt und zur Zeit der Complet.
Am Morgen hatte sie genug zu tun mit Dingen, die ihr Inneres betrafen. Ich wollte einmal auf das Ende ihres Gebets und ihres Kniens gewartet haben; da wurde es so lang, dass es mich verdross, so viel da hinzusehen. Und zuweilen, wenn sie so lange vor ihrem Bett kniete und betete, da scherzte Jungfer Heilke mit ihr und sagte: „Liebe Gertrud, willst du nicht mehr davon ablassen? Andere Leute lassen davon ab und gelangen dazu [ kumment dar v́ber ], dass sie nicht mehr zu beten brauchen, und sie haben all ihre Ruhe in Gott und lassen ihr Beten sein.“ Da sagte sie: „O weh, liebe Heilke, [188v] das sind gute Leute, die da so sein mögen [ do die weren ]. Ich bin leider nicht derart, und ich will auch nicht gerne mich darum bemühen, dass ich eine von ihnen wäre. Denn ich täte auch unrecht; ich soll nimmer davon ablassen; ich soll ihm dienen bis zum Tod und alle meine Kraft dabei verzehren.“ Und sie legte ihre Hände zusammen und mit erhobenem Herzen und Augen sagte sie zu Unserem Herrn: „Ach, Herr, du weißt wohl, hätte ich nur Kraft, wie wollte ich die so gern verzehren in deinem Dienst, lieber Herr. Und wie wärest du auch dessen so recht wohl wert.“
[Minnebrand des Herzens]
Einstmals war ihr, wie ihr das Herz ganz und gar verbrennen wollte, und dass es ihr aus dem Leib springen wollte, und sie litt da viele Schmerzen durch die Minne, die da in ihrem Herzen brannte.[77] Die Minne ließ es ihr so heiß und so drangvoll [ gedrenge ] werden und brachte ihr zur Stund solche Not und hatte das Herz mit so großer Kraft entzündet und umgeben, und es tat so recht als ob es aus dem Leibe wolle, sodass sie beide Hände vor ihr Herz legte und es festhielt [ huͦp ]. Und schließlich musste ihr Jungfer Heilke helfen, das Herz mit Kraft festzuhalten, denn diese war stärker als sie. Sie sagte zu Heilke: „Siehe, es macht es recht so wie eine brennende Kohle, die in einem großen Feuer liegt und glüht: genauso macht es mir das Herz.“
Fortdauerndes Bewusstsein der menschlichen Unzulänglichkeit
[Grenzen der Vertrautheit mit Gott]
Dieser lieben auserwählten Freundin Unseres Herrn kam das edle und das arme elende Leben Unseres Herrn Jesus Christus nie aus ihrem Herzen. Allezeit war es ihr in Herz und in Sinnen bis an ihrem Tod. Sie konnte aus Mitleiden in großer Minne sein Leiden wohl beweinen, wenn Unser Herr es ihr eingab, dies zu tun. Sie widmete sich keinem Ding mit besonderer Beflissenheit. Wohin Unser Herr mit ihr wollte, und was er ihr zu tun gab, für das lebte sie und folgte ihm so weit wie sie [189r] es vermochte. Unser Herr wurde ihr auch nie so vertraulich, dass sie darüber ihre Sünden vergessen hätte oder dass sie irgendwie außer Acht gelassen hätte, dass sie Reue nötig habe. Denn je vertraulicher Gott mit ihr war, je angemessener dünkte ihr, dass sie Leid empfinden solle über das, was sie wider ihn getan hatte.
[Selbstkritische Sicht Gertruds auf ihre geistliche Ehe]
Ein Ordensbruder predigte einstmals, wohl ein halbes Jahr vor ihrem Tod, wie der Mensch die geistliche Ehe, die er mit Gott geschlossen habe, breche. Da wurde sie erinnert an die Gelübde und die Ehe und an das Band, mit dem sie sich mit Unserem Herrn verbunden hatte: wie sie die Gelübde nicht so gehalten habe wie sie sollte. Und sie dachte daran, wie minniglich er sich ihr zugeneigt habe und wie sie ihm nicht ebenso, soweit sie es vermöge, treu sei wie er ihr, und wie sie diejenige sei, die mit ihren geistlichen Fehlern die geistliche Ehe zwischen sich und ihrem Gemahl gebrochen habe. Und es überkam sie ein Weinen, und sie weinte während der ganzen Predigt und nach der Predigt, bis man die Kirche abschloss. Und als sie nach Hause kam, da nahm Jungfer Heilke an ihr wahr, dass sie weinte, und sagte: „Liebe Gertrud, was weinst du? Was hast du?“ Da sagte sie: „O weh, was sollte ich schon haben? Ich bin die Arme, die die geistliche Ehe zwischen mir und meinem Gemahl gebrochen hat.“ Und sie dünkte sich allezeit voller Fehler.
Leben und Wirken in der Gegenwärtigkeit Gottes – vs geslagen in die doͤrffelin dirre welt
Das Vorbild des Lebens Jesu Christi
[Betrachtung des menschlichen Lebens Jesu Christi]
Sie war in steter Betrachtung des Lebens und der Menschheit Unseres Herrn Jesus Christus. Zuweilen scherzte Jungfer Heilke mit ihr und sagte: „Liebe Gertrud, willst du dich immer damit beschäftigen? Wann willst du das außer Acht lassen? Andere gute Leute lassen es außer Acht, derart dass sie sagen, dass ihnen die Menschheit und Marter Christi ein Hindernis sei und sie auf Abwege bringe [ ein irren sy ].“ Da hob sie die Hände hoch und sagte ernst: „Ach, Herr, das würdest du nicht wollen, dass mir das jemals in mein Herz [189v] komme, dass ich das jemals außer Acht lassen sollte und dass der würdige Tod und die Mühsal seiner würdigen Menschheit mir jemals aus meinem Herzen kämen und es mir jemals dünkte, dass es mich auf Abwege bringe und mir eine Hinderung sei. Denn könnte ich viel Zeit dabei verzehren nach seinem Willen, das würde ich gerne tun. Ich weiß nicht, wie es anderen Leuten ist, die da sagen, es sei ihnen ein Hindernis. Ich bemerke dabei allezeit Nutzen und Förderung meiner ewigen Seligkeit. Es ist für die Seele kein Hindernis, vielmehr ist es darüber hinaus ein Fördern, denn will es der milde Gott tun, so kann er die Seele wohl noch weiter führen und etwas anderes mit ihr wirken, wenn er will.“
Sie stand einstmals an ihrer Tür und hatte sich in einen kleinen Hof begeben, und ein Gärtchen war bei dem Haus, und da wurden ihr die Sinne nach innen gezogen, und Unser Herr wurde ihr in dem Geist gegenwärtig in dem Bild, so wie er von Haus zu Haus betteln ging, derweilen er auf Erden war, und er ging barfuß und in den selben Klei-dern, die er auf Erden trug, und ging in einem starken Schlagregen [ slege regen ]. Und er erschien ihr so in dem Geist, dass sie ihn so wahrhaftig und so eigentlich sah, als hätte sie ihn mit ihren leiblichen Augen gesehen. Er war ihr allezeit gegenwärtig, wie sie ihn begehrte.
Diese auserwählte Freundin Unseres Herrn begehrte, dass sie gerne Unseren Herrn so gesehen hätte, wie er ein Kind war, derweilen er gesäugt wurde und seine Mutter ihn in ihrem Schoß hatte.[78] Und einstmals war sie nach ihrer steten Gewohnheit an ihrer Andacht, und da wurden ihr alle Sinne nach innen gezogen, und [190r] Unsere Frau wurde ihr gegenwärtig in dem Geiste und hatte ihr Kind lieblich und minniglich in ihrem Schoß. Und als die Seele das Kind und die Mutter ansah, da war das Kind gar so unmäßig schön und so wonnevoll, und die Jungfrau, die junge Mutter [ m uͤ terlin ], so jung und so schön und so wonnevoll, dass die Seele in ein Staunen [ wunder ] und eine Freude kam, dass sie recht vor Freude und Staunen die Fassung verlor [ in ungeberden wz ] und außer sich geriet [ f uͦ r sprattelende ] und nicht bei sich selbst bleiben konnte noch mochte. Und als die Seele so die Fassung verlor, da nahm Unsere Liebe Frau die Seele und legte sie nieder und brachte sie zur Ruhe [ gestillete sie ] und bedeckte sie mit ihrem Mantel, bis dass die Seele wieder zu sich selbst kam. Und sie wies da die Seele zurecht und sagte: „Was machst du da? Sollte ich es allezeit so gemacht haben bei dem unmäßigen Wunder, das ich allezeit gegenwärtig hatte?“ Da sagte die Seele: „Ach, gnädige Frau, was war das ein so großes Ding und ein so großes Wunder, dass du allezeit bei dir selbst bleiben konntest.“ Da antwortete ihr Unsere Liebe Frau und sagte: „Das unmäßige Wunder, das ich allezeit gegenwärtig hatte und anschaute, das war daran schuld: das überwältigte alle meine Kraft gar so sehr, dass es alle meine Glie-der dazu brachte [ geleite ], dass ich kein unziemliches Verhalten hätte zeigen können und allezeit bei mir selbst bleiben musste.“ Als diese liebe Frau (Gertrud) bei diesem Geschehen so verzückt wurde und das Kindchen und die junge Mutter angeschaut hatte, ganz so wie sie es begehrte, und das so lange währte, wie Gott es wollte, da kam sie da wieder zu sich selbst.
Sorge für das Seelenheil Verstorbener und Sterbender
[Gebetsfürsorge für die Armen Seelen]
Diese getreue tugendhafte Frau hatte auch viel Erbarmen und Minne zu den Seelen im Fegfeuer, und bat für sie mit großem Ernst Unseren [190v] Herrn, wenn er es ihr zu tun vorgab, und es wurde ihr so ernst, dass ich nicht bezweifle, dass viele Seelen desto eher erlöst wurden wegen ihres Gebets, und besonders manche Seelen, für die sie auch besonders bat. Das hört, wie denen Gnade zuteil wurde.
Diese gute Frau hatte einen Bruder, der war ihr Halbbruder. Der war in seiner Jugend ein gar ungestümer [ wilder ] Mensch und von so ungestümem Gemüt, dass er in ferne Lande lief. Und als er ziemlich lange so in fremden Landen war, da kam er da zurück nach Hause; da war er wohl dreißig Jahre alt. Da nahm er dann eine Frau zur Ehe und wurde da gar rechtschaffen [ wol t uͦ nde ] und mühte sich tüchtig und ernährte [ beging ] ehrbar sich und seine Frau und seine Kinder. Nun starben ihm die Frau und auch die Kinder. Da machte er sich da auf zu den Ordensbrüdern, den Barfüßern, und wurde ihr Knecht und diente ihnen bis zu seinem Tod. Als er zu den Ordensbrüdern kam, da kam er zu so großem Ernst gegenüber Unserem Herrn, und kam auch zu so großer Reue über seine Sünden und hatte so großen Ernst, wie er sein Leben ausrichte, dass es Unserem Herrn gefiel. Er tat all das, von dem er wusste, dass es recht getan war, und richtete sein Leben so aus, dass ihm keine Zeit unnütz verging; er tat immer etwas, das gut sein sollte. Und als er wohl dreißig Jahre Diener der Ordensbrüder gewesen war, starb er. Und danach in dem selben Jahr, da wurde es dieser seligen Frau gar ernst, für ihn zu bitten, und sie sagte zu Unserem Lieben Herrn: „Ach, lieber Herr, ist er in irgendwelcher Mühsal, so lasse ihn deine große Güte genießen und erlöse ihn und nimm ihn zu dir.“ Da wurde ihr so von Unserem Herrn geantwortet: „Er muss warten.“ Und sie sagte: „Ach, lieber Herr, [191r] wie lange?“ Da wurde ihr wieder von Unserem Herrn geantwortet: „Bis zum Tag von Sankt Bartholomäus.“ Da sagte sie: „Ach, lieber Herr, wie lange ist es noch bis dahin?“ Da sagte er: „Dreißig Wochen.“[79] Da sagte sie wieder: „Ach, lieber Herr, was hast du damit im Sinn, dass er bis dahin warten muss?“ Da antwortete er ihr wieder und sagte: „Das tue ich ihm zu Ehren. Denn ich will ihm zu Ehren tausend Seelen mit ihm zum Himmel schicken und die werden alle auf diesen Zeitpunkt hin bereit sein, und auf die muss er warten.“ Sie dankte Unserem Herrn vertrauensvoll für seine Gnaden, die er ihm erwiesen habe. Und danach bat sie Jungfer Heilke, dass sie in ihr Buch schaue, wie lange es sei bis zum Tag von Sankt Bartholomäus; da waren es genau dreißig Wochen.
Es war ein ehrbarer Ritter, der war der Bruder dieser Frau, von der Ehefrau her, die er (sc. ihr Vater) vor ihrer Mutter gehabt hatte. Der Ritter starb. Nun hatte sie in einem Dorf einen Hof liegen, von dem gab sie alle Jahre sechs Viertelmaß Hafer und Korn einem Herrn, auf dass er den Hof beschirmen solle. Das bat er (sc. der Bruder) bei dem Herrn alle Jahre für sie frei, dass es ihr verblieb. Und als er starb, da kam sie in einen großen Eifer [ ernst ] für seine Seele und hätte gerne gewusst, wie es um die Seele gestanden sei, ob sie verloren oder gerettet [ behalten ] sei. Da wurde ihr von Gott geantwortet: „Sie ist gerettet. Und all der Hafer und das Korn, das er je für dich freibat, das wurde ihm alles zugehäuft [ z uͦ huffen gehalten ], und weil er nicht für sich vorsorgte [ vmb die vnfúrsúhtikeit ], indem er dich nie bat, dass du es ihm überließest, da habe ich ihn gerettet.“ Sie war gar froh und dankte mit Fleiß Unserem Herrn für seine Güte, die er ihm erwiesen habe.
[191v] Es war ein Jungherr, der war auch ihr Halbbruder, und war der richtige Bruder dieses (sc. des vorher erwähnten) Ritters. Und er war gar tugendhaft und besonnen, dass ihm all die Leute hold waren. Der lebte [ ging ] über lange Jahre so hin ohne Ehefrau und wäre gerne Ritter geworden. Und es unterblieb, sodass es nicht geschah, und er erlangte Gnade, dass er ein Barfüßer werden wollte. Und er bat um die Aufnahme in den Orden. Die wurde ihm acht Jahre lang vorenthalten, obwohl er doch allezeit stete Begierde danach hatte. Da wurde ihm dann Gnade erwiesen und er wurde bei den Ordensbrüdern aufgenommen [ entpfangen ]. Und er wurde auch da gar so rechtschaffen, dass er recht ein Vorbild und ein Licht der Ordensbrüder wurde. Und er tat alles, von dem er wusste, dass er es tun solle, woran Nutzen für die Ordensbrüder und Unseres Herrn Lob und seine Ehre liegen könnten. Er ging mit mancherlei (Buß-)Übung gegen sich vor [ greif sich an ]. Er wurde gar so demütig, dass er allezeit gern in der Küche sein und für die Ordensbrüder kochen und Schüsseln waschen wollte; und er befleißigte sich, alle verschmähten Werke zu tun, und achtete nicht auf sich selbst, so als wäre er ein Hirtensohn gewesen. Als er ziemlich viele Jahre so segensreich gelebt hatte, da stieß ihn der Tod an. Er gebot, nach dieser Frau, seiner Schwester, zu senden, denn die war damals nach Straßburg gezogen. Sie und Jungfer Heilke kamen zu ihm. Er starb nach kurzer Zeit, und als er starb, da übergab sie ihn Unserem Herrn und empfahl ihn ihm vertrauensvoll; und es wurde ihr gar ernst, für seine Seele zu bitten.
Und da wurde die Seele zu ihr geschickt, dass sie spürbar [ befúntlich ] bei ihr an ihrer Seite anwesend war [ wonete ], so wie ein Kind unter dem Mantel seiner Mutter, sodass sie es merkte und empfand, dass die Seele bei ihr anwesend war bis an den neunten Tag. Und was sie auch tat, bei Tag und bei Nacht, [192r] da war die Seele beständig bei ihr, in der Kirche und anderswo. Und alles, was sie an den neun Tagen beten konnte über ihre Tagzeiten hinaus, von dem wollte Unser Herr, dass sie das alles für die Seele tue. Und sie musste auch so viel beten, dass es sie recht schwach machte. Und dasselbe geschah auch Jungfer Heilke. Was sie über ihre Tagzeiten hinaus beten mochte, das waren alles Vigilien über die Seele. Sie betete manchen Tag neun Vigilien für die Seele, und als der neunte Tag kam, da war diese Frau in ihrer Kammer an ihrem Gebet, und Jungfer Heilke war auch in ihrer Kammer. Und diese Frau begann so sehr zu ächzen, und gar ernstlich, dass es Jungfer Heilke in ihrer Kammer hörte. Und als sie (Gertrud) anfing, gar so heftig [ strenglich ] zu ächzen, da stand Jungfer Heilke auf und ging zu ihr und wollte schauen, was sie habe. Da saß sie vor ihrem Bett und es war ihr so angstvoll weh, dass sie von rechten Ängsten und von Weh die Arme neben sich hin und her warf, und es war ihr angst und weh. Und Jungfer Heilke sagte: „Was ist mit dir, oder was hast du?“ Sie sagte: „Ich weiß nicht, was mit mir ist oder welchen Sinn es hat. Mir ist angstvoll weh.“ Und dies währte so lange, wie Gott es wollte. Und danach in der Dauer eines halben Ave Maria waren alles Weh und die Angst miteinander weg und sie spürte es nicht mehr. Und dabei spürte sie auch nicht mehr die Seele bei sich, und hatte danach kein ernsthaftes Verlangen mehr, für die Seele zu bitten. Und auch Jungfer Heilke nicht. Und diese fragte sie, was mit ihr gewesen sei. Da sagte sie: „Ich verstehe es so, dass die selige Seele etwas mehr zu leiden hatte, und Unser Lieber Herr vergönnte mir, das für sie zu leiden, dass sie desto eher bereit sei, zum Himmel aufzufahren.“ Und sie beide verstanden es so, dass sie damit für den Himmel bereit wurde und in dieser Zeit zum Himmel auffuhr.
[Miterleiden der Todesfurcht Sterbender]
[192v] Es wurde ein Mann in der Stadt Offenburg geschlagen und gestochen, dass er tödlich verletzt war [ vf den tod ]. Der Mann war ein ganz weltlicher unbekannter Mensch und war gewöhnlich allezeit im Kirchenbann (sc. in Todsünden) [ z uͦ ban ]. In solchem Lebenswandel wurde er auf den Tod verwundet, und lag nur noch zwei Tage und starb. Und die Zeit, während es mit diesem Mann zu Ende ging [ hin zoch ], bis dass er starb, und solange bis dass ihm (die Totenglocke) geläutet wurde [ dz im lute ], da litt die Frau die größte Angst und Not, dass sie von rechten Nöten und Ängsten recht angstfarben wurde unter ihren Augen, und die Angst trieb ihr den Schweiß aus hin über ihren ganzen Leib. Sie litt von Herzen innerlich und äußerlich und wusste nicht, was mit ihr war. Nun kam ihr in den Sinn, dass der Mann verloren sei und ihr Geist solches Leiden davon habe. Dies litt sie und musste es leiden solange bis man ihm (die Totenglocke) läutete und noch eine gute Weile danach. Diese Not sah Jungfer Heilke wohl an ihr, und es fiel ihr auch ein, dass der Mann verloren sei und ihr (Gertrud) davon so weh geschehe. Nun machte dieser Einfall diese selige Frau betrübt, denn sie mochte niemanden so verurteilen; doch fiel es ihr ein, ohne dass sie es wollte [ v́ ber iren willen ].
Nun sprachen beide untereinander nicht gern darüber, aber sie (Gertrud) hätte gar gerne gewusst, wodurch sie die Not und Angst gelitten habe. Nun war ein Lesemeister nach Straßburg gekommen, der war ihr Beichtvater und wusste alles über ihr Leben. Das berichtete ihr Jungfer Heilke und sagte zu ihr: „Ist es dir lieb, so fahre ich dorthin und sage ihm dies. Er gibt dir vielleicht manche Erklärung [ vsrihtung ], dass du getröstet wirst.“ Da war diese gar froh und bat sie ernsthaft, dass sie das tue um Gottes willen. Sie tat so und fuhr dorthin und sagte dem Lesemeister, wie ihr (Gertrud) geschehen sei und dass sie nicht wisse, wovon es ihr geschehen sei. Und er sagte: [193r] „Es könnte wohl sein.“ Und dass es ihr desto mehr bestätigt sei, da erzählte er ihr, wie es einstmals ihm geschah, und sagte: „Als ich noch ein junger Bruder war, da war ich in Basel, und ein Ritter war mir so hold und hatte so viel Gunst [ gnoden ] für mich, dass er mir alles das gab, was ich brauchte und was ich von ihm annehmen wollte. Danach wurde ich von Basel in ein anderes Ordenshaus gesandt. Und nach ziemlich vielen Jahren kam ich zurück und wollte meinen guten Freund sehen. Und zur selben Zeit stieß den Ritter der Tod an und er wurde krank. Und ich ging alle Tage zu ihm und war beständig bei ihm und hörte seine Beichte und hielt ihn zu all dem an, von dem ich wusste, dass es für seine Seele gut war. Und ich wies ihn, so gut ich es nur konnte, auf den Weg des Himmelreichs und machte dies beständig, bis dass es mit ihm zu Ende ging und er nicht mehr aufnahmefähig war [ sich nit me verstunt ]. Da ging ich hinaus in eine andere Kammer und kniete nieder und wollte Unseren Herrn für ihn bitten, so wie ich es auch machte. Und als ich so kniete, da wurde mir gar so angst und ich kam in so große Not und Furcht, dass ich bei allem in der Welt nicht wusste, wie ich meine Sache anfangen wolle. Und es dünkte mir, wie er auf ewig verloren sein müsse. Und die Furcht und die Angst wurden gar so groß in mir, dass ich nahezu [ noch ] an allem verzweifelt wäre, dass ich nichts mehr als Hilfe hatte als nur das, dass ich so weit am christlichen Glauben festhielt [ bestunt ], dass ich sagte: Herr, ich erinnere dich an deinen heiligen Tod, den du für mich und für alle Menschen erlitten hast, und bitte dich, dass du mich nicht verlässt. O weh, Herr, hilf mir und verlasse mich nicht. Unterdessen war auch der Ritter tot. Und als er verschied, da gab mir sofort Unser Herr alle meine Zuversicht [193v] und alle meine Kraft zurück, dass mir recht so wie zuvor zumute war.“ Und er sagte auch: „All die Angst und Not und die Furcht, die der Ritter bei seinem Tod hätte erleiden sollen, die nahm Unser Herr ganz und gar von dem Ritter und warf sie auf mich, und er war ihrer ganz und gar ledig und starb so sanft, recht als ob er schliefe. Und so ist auch der Rickeldegen (sc. Gertrud) geschehen“, sagte er. „Und Unser Herr hat damit dies im Sinn und tut es deshalb, dass er jenen Leuten so zu Hilfe kommen will, dass sie nicht ganz und gar verzweifeln, und so wirft er es auf seine Freunde, den Armen zur Hilfe; denn er weiß wohl, ließe er sie in den Nöten, dann würden sie ganz und gar verzweifeln.“ Dies sagte Jungfer Heilke der Rickeldegen; da war es ihr gar glaubhaft und sie wurde gar wohl getröstet.
[Aufopferung guter Werke und unermüdliches Wirken für das Seelenheil Verstorbener]
Es war ein edler reicher Jungherr, der war ein gar weltlicher Mensch und lebte recht nach aller Wollust seines Leibes; denn es ging ihm wohl an Leib und an Gut, und er lebte entsprechend seinen Lebensumständen [ leben ]. Nun hatte er gar viele Gunst für die selige Rickeldegen. Er war ein Bruder Jungfer Heilkes und war mit ihnen vertraut. Als der starb, da nahm sie all das Gute, das sie bis zu dieser Zeit getan hatte, und bat Unseren Herrn, dass er es gänzlich der Seele zu Hilfe gebe. Sie hatte gar viel Ernst, für die Seele zu bitten. Sie vertraute wohl auf Unseren Herrn, darauf dass er sie (die Seele) nicht habe verlorengehen lassen. Nun war da eine heiligmäßige Frau in einem Kloster, die bat auch gar ernsthaft für die selbe Seele, und es wurde ihr so von Gott geantwortet: „Eine gute Frau (sc. Gertrud) gab dieser Seele all das Gute, das sie je getan hatte, und das hat ihn errettet.“
Es war ein reicher Herr, und er war bis zu seinem Tod ein Schultheiß in einer großen bedeutenden Stadt [ h oͮ bt stat ]. [194r] Und als der selbe starb, da verurteilte ihn jeder, der von ihm reden hörte, zur Hölle. Jedermann sagte, der böse Geist habe die Seele noch ganz warm (sc. unmittelbar beim Tod) mit sich zur Hölle geführt. Das hörte Jungfer Heilke und das ließ sie gar schlimm Erbarmen haben. Und aus Erbarmen klagte sie es dieser Frau und bat sie ernsthaft, dass sie Unseren Herrn für ihn bitte. Und das ließ auch sie (Gertrud) gar schlimm Erbarmen haben, und sie wurde recht zu besonderem Erbarmen bewegt, dadurch dass die Seele dieses Menschen allgemein von den Leuten gar so verurteilt wurde. Und einstmals da hatte sie Unseren Herrn empfangen und in ihrer Andacht wurde ihr gar ernst, wie Unser Herr mit der Seele verfahren sei. Und sie neigte sich demütig zu Unserem Herrn und sagte mit großer Begierde: „Ach, herzlieber Herr, darf oder soll dich jemand ausforschen oder fragen über die Seele, die da so jämmerlich verurteilt ist von den Leuten. Ach, Herr“, sagte sie, „soll oder darf jemand so wagemutig sein, dass er wagt dich zu fragen, ob sie gerettet sei?“ Da wurde ihr so geantwortet von Gott: „Ja, sie ist begnadigt, sie ist in der Hölle der Gnaden (sc. im Fegefeuer). Ihr ist aber so weh und sie leidet so schwer, und hätte sie eine zweifache Zeit, von der die eine bis zum Jüngsten Tag ist, so bräuchte sie wohl alle beide [ aller ].“ Da begehrte sie zu wissen, was ihn errettet habe. Da sagte Unser Herr: „In all seinem Leben konnte ich angesichts seiner schuldhaften Taten nie irgendeine Sache finden, dass ich ihn erretten könnte, außer dass ich ihn aus meiner grenzenlos tiefen [ grundelosen ] unmäßigen Güte begnadigt und errettet habe.“ Da war sie gar froh und dankte Unserem Herrn und sagte: „Ach, lieber Herr, wie geziemt [194v] das so recht wohl deiner überfließenden milden Güte, dass du ihn errettet hast.“ Zugleich war ihr da die Seele gegenwärtig und neigte sich gar tief vor ihr und dankte ihr und sagte: „Gott lohne es euch, dass ihr für mich nach mir geforscht habt. Denn unter all den Meinen da ist noch niemand, der nach mir geforscht hätte, außer euch. Und das Eigene [ selbe ], das sie für mich tun, das tun sie um der Ehre willen und nach Gewohnheit der Welt, und sie haben nicht im Sinn, dass es mir zu Hilfe komme, und ich bin all den Meinen so recht ein Abschaum [ hinwurf ] geworden.“ Und zugleich war die Seele hinweg.
Danach ging sie nach Hause und bat gute Menschen, denen sie wohl vertraute, dass jeglicher von ihnen ein Jahr seines Lebens der Seele zu Hilfe gebe, dass die Seele desto eher erlöst werde. Und auch sie steuerte der Seele ein Jahr ihres Lebens bei [ gap zuͦ stúr ]. Und das hatte sie zu-vor gehört von gelehrten Leuten, dass man das wohl machen könne. Von all denen, die der Seele ein Jahr versprochen hatten, tat jeglicher etwas mehr an guten Werken, als er sonst getan hätte, Unserem Herrn zur Ehre und der Seele zu Hilfe. Und sie nahmen auch wahr, dass auf sie alle in diesem selben Jahr mehr an Leiden zukam als zuvor in vielen Jahren.
Ziemlich lange danach wurde die selige Frau schwach, dass sie nicht zur Messe kommen konnte. Und sie saß in ihrer Kammer in ihrem Bett und hörte, dass die Ordensbrüder die Messe sangen, und da war ihr ganzes Herz in der Kirche bei der Messe und bei der Gegenwärtigkeit Unseres Herrn. Und alles, was sie bei der Messe begehrte, das zog ihr da die Sinne ins Innere. Und Unser Herr wollte, dass sie die Sinne nach innen wandte, und er drängte sie innerlich so, dass sie ihm folge. Und dabei wurde ihr Unser Herr gegenwärtig in dem [195r] Geiste, und dabei wurde sie auch erinnert an die Seele (sc. des reichen Herrn), und sie sagte zu Unserem Herrn: „Ach, herzlieber gütiger milder Gott, wie steht es um die selige (sc. im Jenseits befindliche) Seele?“ Da sagte Unser Herr: „Ihr ist so weh, dass sie oft nicht weiß, ob sie in der Hölle ist oder in dem Fegefeuer.“ Da sagte sie zu Unserem Herrn: „Ach, Herr, wie ist das eine so kleine Sache für deine Milde, dass du für diese Seele einen milden freigiebigen [ frigen ] Abstrich machst an einem großen Teil ihres Leidens.“ Da sagte Unser Herr: „Es ist geschehen. Denn das, was sie tausend Jahre leiden sollte, das leidet sie jetzt in dieser Stunde.“ Da dankte sie Unserem Herrn voller Vertrauen für seine große Güte und milde Barmherzigkeit und war gar froh. Und einstmals danach berichtete sie es Jungfer Heilke und sagte: „Dies tat Unser Herr nicht, weil ich es wollte [ durch minen willen ]. Er ist so recht tugendhaft und gut, dass er durch seine Güte mir dies geoffenbart hat. Würde ich nun das, was er durch seine Güte getan hat, für mich beanspruchen, so täte ich gar unrecht, dadurch dass ich sagen würde, dass er das getan habe, weil ich es wollte.“
Sie hatte so recht viel Erbarmen mit den Seelen, und besonders am Tag und in der Nacht von Allerheiligen[80] da kam sie nicht länger zu Bett als nur so viel, wie sie es von großer Notwendigkeit und rechter Schwäche nicht vermeiden konnte. Am Morgen vom Tag Allerseelen betete sie zuerst die Matutin [ metten ] und die Prim, danach bis zum Mittag tat sie nichts anderes als für die Seelen zu beten mit all der Kraft, die sie aufbieten konnte. Und sie bat und ermahnte die anderen in dem Haus, dass sie den armen elenden Seelen zu Hilfe kämen, die da niemanden haben, außer dass [195v] sie auf das allgemeine Gebet warten. Und wenn andere Leute essen gingen, so betete sie zuerst ihre Tagzeit. So unermüdlich war sie für die Seelen tätig gewesen.
Sorge für das Seelenheil der in der Welt Lebenden
[Einfühlsame Seelsorge für die Lebenden]
Diese selige Frau hatte auch viel Erbarmen und viel Leiden über die Leute, die im Kirchenbann [ zuͦ banne ] waren und sich selbst nicht daraus verhelfen konnten oder wollten. Diesen Armen half sie mit Worten und mit ihrem Gut, dass sie aus dem Bann kämen, damit sie wieder Anteil hätten an dem Gut, das in der heiligen Christenheit gegeben ist. Manche reichen Leute wies sie zurecht und machte, dass sie viel von ihrem Eigentum [ gros eigen ] verkauften und sich selber aus dem Bann verhalfen. Diejenigen, die zuvor gar wenig darauf achteten, dass sie lange Zeit im Bann gewesen waren, und manche bis an ihrem Tod, die alle halfen sich selber ihretwegen und aufgrund ihrer Belehrung und ihres getreuen Rates. Sie führte Frieden herbei in all dem, wo sie es konnte; in allem, wo sie es vermochte, wies sie auf die gute und schöne Seite hin [ sú beguͤtete vnd beschoͤnete alles ]. Sie mochte auch nicht gut irgendeine schlimme Sache über irgendeinen glauben, und sie half den Leuten, wo sie es vermochte, dass sie in Ehren blieben, und sagte: „Ach, liebe Kinder, es ist vielleicht nicht so, wie man meint. Man soll alle Dinge im besten Sinn nehmen; denn ein Mensch hat zuweilen eine Sache anders im Sinn, als es die Leute verstehen.“
Sie liebte ihren Mitmenschen lauter und vollkommen. Sie wurde in der Fastenzeit so recht froh, wenn sie die Leute so ernsthaft beten und beichten und zur Kirche gehen sah, sodass Jungfer Heilke zuweilen zu ihr sagte: „Du blickst so fröhlich drein, als wäre es Ostern.“ Da sagte sie: „Wir können uns wohl freuen, denn all unser Heil ist auf uns zugekommen in dieser Zeit.“ Und ihre Begierde wurde dann so groß, hätte sie es Gott danken können für alle Menschen, dann hätte sie es gerne getan.
[Blick auf das törichte Treiben in der Welt; Miterleben der Passionstage]
[196r] Ihrem Geist wurde das Leben der Welt vor Augen gestellt, und es wurde ihr bildhaft gezeigt [ bezeichent ] im Verhalten der Hühner in der Nacht. Recht so wie die Hühner in der Finsternis ins Straucheln kommen und ihre Köpfe nach unten senken [ duͦnt vnder ] und sie auf die Erde hängen lassen und allesamt in ein Loch straucheln, so wurde ihrem Geist gezeigt und vor Augen gestellt das Leben der Welt, wie es in der Welt allgemein ist [ noch gemein der welt ]: Wie die Welt irregeht, der eine hin der andere her, und es verführt je einer den anderen, und es nimmt je einer am anderen Anstoß, und sie gehen in den Tod und auf ihren eigenen Schaden hin, mehr und schneller als auf ihren Nutzen. Darüber kam sie in großes Erbarmen und Leiden, dass die Welt so dumm und so töricht und so ganz und gar verblendet ist, dass sie so wenig ihren großen Schaden erkennen wollen, und wie eilends und fröhlich sie in ihren ewigen Schaden gehen.
Auch stets an Fastnacht, wenn sie daran dachte, dass die Leute gar so verwunderlich gottwidrig leben mit aller Ausschweifung, da tat ihr das so weh und ihr Geist bekam ein solches Grauen darüber, dass sie sich deswegen zuweilen hinlegen [ beligen ] musste: so nahm es ihr all ihre Kraft. Und sie bat Unseren Herrn mit allem Ernst, dass er die Leute vor Sünden und vor Übel behüte. Und wenn man sonst im Jahr Torheit trieb mit Tanzen und mit Stechen (sc. Lanzenstechen) und Turnieren, und die Leute, jung und alt, gar so frisch entschlossen [ verwegenlich ] hinzuliefen, da tat ihr die Torheit und Blindheit der Leute gar so weh, dass sie so recht durch und durch gepeinigt und von Leid ergriffen war.
Aber wenn die Fastenzeit kam, da wurde sie so froh, weil sich die Menschen besserten, dass sie recht aufblühte [ gruͦnete ] und stark wurde, und es war ihr recht so, wie wenn sie nun erst Fastnacht hätte. Und besonders an dem Gründonnerstag und Karfreitag, da war sie über das Seelenglück [ selikeit ] der Leute so froh [196v] und bat Gott, dass er sie (die Leute) bestärke und es an ihnen vollbringe zu einem guten Ende.
Die selbe Zeit, am Gründonnerstag und Karfreitag, war sie in großem Ernst und hatte viele Tränen und Mitleid mit der Marter und dem bitteren Tod Unseres Herrn. Und in großer Minne und Dankbarkeit widmete sie [ wz geben ] Unserem Herrn diese Zeit mit all dem, was sie vermochte. Sie ging zur Matutin und war den Tag hindurch in der Kirche der Ordensbrüder und hörte Predigten und das Amt (sc. den Hauptgottesdienst) und erlebte [ stunt ] die Passion in großer Andacht und mit vielen Tränen, und sie kniete und betete und fastete bei Wasser und bei Brot. Zuweilen, wenn sie so schwach war, dass sie meinte, liegen zu müssen in der selben Zeit, oder wenn sie zuvor aus Schwäche sich gelegt hatte, da gab ihr Unser Herr Kraft, dass sie aufstand und wachte und betete und Unserem Herrn diente mit großem Ernst. Und hätte sie viel tun und leiden können, Unserem Herrn zur Ehre und für seine Mühsal, dann hätte sie das gerne getan und das, was sie sich selbst versagen [ ab gebrechen ] konnte an allem Trost. Es war zuweilen lange Zeit, dass sie keinem Menschen mehr recht unter die Augen sah, und sie sah weder neben sich noch hin noch her, sondern allezeit sah sie vor sich hin. Wenn sie doch mit einem redete, so sah sie vor sich hin. Solche Übung und dergleichen hatte sie gar viel.
Blick für das Leben und den Seelenzustand der Menschen
[Vielfalt der Annäherung an Gott, mit den Kräften der Natur oder des Geistes]
Es war eine gute Frau in der selben Stadt Offenburg, und sie war ein guter tugendhafter Mensch und hielt sich in Lauterkeit und hatte viel zu sagen und zu fragen [ kunde vil sagendes vnd vil frogendes ] über Unseren Herrn. Und sie hörte gerne über Gott reden und war so froh, wenn man predigen wollte, besonders wenn es fremde Prediger waren; da wurde sie so froh, dass sie kaum an sich halten [ by ir selber bliben ] konnte. Von diesen Dingen gab es viel bei ihr. Nun sagte Jungfer Heilke [197r] zu der Rickeldegen: „Sieh, Gertrud, mir ist ganz so, wie wenn dieser Mensch nie ein Fünklein des Geistes erlange; was sie macht, das liegt alles in ihrer Natur [ dz ist alles nattur ].“ Und sie (Gertrud) wies diese zurecht und sagte: „Du hast unrecht; es weiß niemand, wer der andere vor Gott ist. Wie auch immer der Mensch zu Gott kommen mag, das ist gut. Unser Herr zieht nicht alle Menschen auf gleiche Weise zu sich hin; er zieht den einen so, den anderen so zu sich hin.“
Nun war da auch ein gelehrter Mann, der predigte gar wohl und redete gar so tief und innerlich über Gott und über die Seele, und seine Rede war so hoch und so außerordentlich [ vs genummen ]. Und doch verhielt sich Jungfer Heilke zu diesem Mann so wie zu jener Frau; und sie sagte es auch der Rickeldegen. Und sie (Gertrud) gab ihr über den Mann die gleiche Antwort wie auch über die Frau. Dabei blieb es ziemlich lange, sodass sie nicht mehr daran dachte. Einstmals danach da wurde von Gott dieser seligen Frau in dem Geist geoffenbart, wer diese zwei Menschen in den Augen Gottes [ in got ] waren. Und einstmals danach saßen sie zwei (Gertrud und Heilke) alleine beieinander, und sie sagte zu Jungfer Heilke: „Sieh, Heilke, wolltest du dadurch nicht überheblich werden, so wollte ich dir ein wenig über eine Sache sagen.“ Und Heilke sagte: „Nein; sage mir, was es ist.“ Und sie sagte: „Sieh, du hattest gar recht, was die zwei Menschen betrifft. Sie beide wurden nie berührt von dem Geist. Sie haben es alles von Natur. Und wie das auch sei, dass es nicht in dem Geiste geschehen ist, so sind doch die Tugenden, in denen sie sich geübt haben, Unserem Herrn sehr genehm und sehr lieb. Aber der gelehrte Mann, wie hell strahlend [ klerlich ] und wie gar adelig der in Gott lebt und schwebt, und wie nahe, das kann niemand wissen als allein der, der es in der Wahrheit gesehen hat.[81] Und er ist mit natürlichen Sinnen so nahe zu Gott [197v] gekommen, dass es niemand in Worte fassen kann. Und das ist daran schuld: Er hat sich alle seine Tage gar so lauter verhalten und sich (vor Schlechtem) gehütet [ behuͤtet ] und ist so wenig befasst [ vnbehangen ] mit aller Geschäftigkeit [ gescheffedes ] und aller weltlichen Sorge [ bekúmberung ], und das hat ihn so nahe mit Gott verbunden und lässt ihn so adelig in Gott leben und schweben, dass es niemand sagen kann.“ Dies sagte sie Jungfer Heilke in großer Vertraulichkeit, damit diese dadurch erkannte, wie adelig Gott den Menschen von Natur her gemacht habe und wozu er den Menschen geschaffen habe und wie nahe wir Gott mit natürlichen Sinnen kommen könnten; denn es werden nicht alle Leute zu Gott geführt in dem Geist, was doch gar viel besser ist und edler als zu leben, wie es die Natur vorgibt [ vs nattur ].
[Einblick in das Leben anderer Menschen]
Ihrem Geist wurde einstmals auch die Dritte Regel des heiligen Franziskus gezeigt, in der Ehre und Würde, wie sie vor Gott ist. Und wie sie (sc. die diese Regel befolgen) in besonderer Würde im Himmel wohnen bei Gott, dass sie nicht wohl davon reden konnte, wie würdig sie vor Gott sind gegenüber anderen gewöhnlichen, ohne Ordensregel lebenden geistlichen Leuten.
Der Geist dieser Frau wurde auch hingewiesen auf manche Frauen, die eines Kindes schwanger waren, und besonders auf zwei Frauen. Wenn die eine zu ihr kam, während sie das Kind trug, da geschah ihr davon gar weh in ihrem Geiste. Danach wurde die Frau [Textlücke; vielleicht: gebärend] und genas eines Sohnes. Das Kind wuchs tüchtig [ vast ] und wurde ein großer Knabe. Und die Rickeldegen und auch Jungfer Heilke, sie nahmen es wahr, wie sich das Kind entwickeln [ an lossen ] wollte. Und es entwickelte sich gar wohl, während es klein war, zehn Jahre alt oder ein [198r] wenig älter. Da ging es zur Kirche und betete und handelte gar recht. Und die selige Frau sagte zu Jungfer Heilke: „Nun schau, liebe Heilke, wie mühsam es ist, sich darauf zu verlassen und dem Geist zu glauben. Wie ging es meinem Geist zuvor mit dem Kind. Nun schau, wie wohl und recht es handelt.“ Und noch bevor es voll zu einem (erwachsenen) Menschen wurde, da entwickelte es sich [ lies es sich an ] und wurde wüst und missraten. Und es fing an, den Herren zu dienen und ritt mit ihnen und brannte und raubte und entwickelte sich, dass man sich wunderte [ wunderlich ]. Wie sein Ende war, das weiß ich nicht; er lebte da noch, als dieses Buch geschrieben wurde.
Eine andere Frau die trug auch ein Kind. Wenn die zu ihr (Gertrud) kam, so wurde ihr Geist so froh, und sie hätte die Frau gerne so gut behandelt, wenn die Frau auf sie zukam. Das war auch ein Knäblein, aber es war, als dies Buch gemacht wurde, auch jung, sodass ich nicht weiß, wie sein Leben oder Ende war.
[Einblick in das eigene Seelenleben]
All das, worauf sie in dem Geist hingewiesen wurde, das war alles gerecht und wahr. Und doch wehrte sie sich allezeit; sie wollte ihm nicht trauen. Sie wollte auch das minnigliche vertrauliche Sprechen, das Gott mit ihrer Seele hatte und das von Gott zu ihr gesprochen wurde, niemandem sagen und ließ es also bleiben. Sie bemühte sich auch nicht viel darum, weiterhin den Blick darauf zu richten [ im noch zuͦ luͦgen ]. Und wenn sie zuweilen miteinander darüber redeten, so sagte Jungfer Heilke: „Liebe Gertrud, erfährst du keine Zurechtweisung [ stroffet es dich nit ], dass du die Worte, die so von Gott zu dir gesprochen werden, dass du die so hingehen lässt? Du sollst schauen, dass Unser Herr nicht anfängt, dir deswegen zu zürnen.“ Da sagte sie: „Nein, ich lasse es wegen etwas Besserem bleiben.“
Sie saß einstmals in der Kirche der Ordensbrüder bei ihrer Andacht, und Unser Herr war ihrem Geist nahe [198v] gewesen, und es wurde von Gott zu ihrer Seele gesprochen: „Heute ist Heil geschehen diesem Hause.“[82] Das war ihre heiligmäßige Seele, die hatte Unser Herr sich selbst geweiht zu einer eigenen ewigen Herberge.[83]
[Einblick in den Seelenzustand anderer Menschen]
Es war da ein Bruder, der war wohl achtzehn Jahre ein Barfüßer gewesen. Und einstmals sang er die Complet, und es wurde ihr gar so zuwider seine Stimme zu hören, und der Bruder wurde ihrem Geist so zuwider und es überkam sie ein Grauen vor ihm. Und sie wandte sich zu Jungfer Heilke, die stand neben ihr, und sagte: „Ach, Heilke, wie ist mir der Mensch so zuwider, und all das, was in mir ist, dem graut es.“ Und am Morgen in der Frühe da lief er leider aus dem Orden.
Es war da auch ein Kind eines wackeren [ biderben ] Ritters, das war ihr Angehöriger [ dem horte sú an ], das wäre gerne ein Ordensbruder geworden, und seine Verwandten wollten für es um die Aufnahme in den Orden bitten. Man bat sie, dass sie sich dem auch anschließe und die Ordensbrüder bitte, dass sie den Knaben in den Orden aufnähmen; denn sie war gut Freund mit den Ordensbrüdern und dem Orden, und die Ordensbrüder kannten sie wohl und erwiesen ihr gerne die Ehre. Und sie wehrte sich dagegen und wollte die Bitte [ sú ] nicht tun; es war ganz gegen ihr Inneres. Man wollte es ihr nicht erlassen, sowohl Jungfer Heilke als auch andere seiner Verwandten. Und Heilke sagte zu ihr: „Oh [ wafen ], Gertrud, was hast du? Dieser Knabe macht es doch gerne, und es geht ihm in allem wohl vonstatten [ zuͦ handen in allen wegen ], nur dass du nichts dazu beitragen willst.“ Da sagte sie: „Ich würde es gerne tun, doch ich vermag es nicht zu tun. Will man nicht darauf verzichten, so schließe ich mich an und vermehre die Schar; aber ich sage kein Wort dazu; denn ich hätte davon Gewissensbisse [ conciencie ], würde ich es tun. Mir ist der Orden und die Ehre des Ordens lieber als der Knabe.“ Dies [199r] sagte sie vertraulich zu Jungfer Heilke. Man wollte es ihr nicht erlassen. Sie machte es und ging mit ihnen, als man für den Knaben um die Aufnahme in den Orden bat. Sie stand da und sprach dazu kein Wort. Doch er wurde aufgenommen und eingekleidet und leistete Gehorsam, als sein (Probe-)Jahr zu Ende war. Und als er zwei Jahre in dem Orden gewesen war, da lief er weg und war zwanzig Jahre aus dem Orden. Und er wurde ein gar wilder wüster missratener Mensch. Er war viel mehr missraten als andere seiner Gesellen, die nie in geistlichen Stand eingetreten waren. Nun kam er wohl zweimal oder dreimal zu großem Ernst, wieder in den Orden einzutreten, und er bat alle, die er bitten konnte, ihm zu helfen, und tat ganz so [ glich ], wie wenn er gar wohl und recht handeln wolle. Diese Frau wollte aber nichts in dieser Sache [ dar zuͦ ] tun; sie erkannte wohl, dass sein Ernst nicht so war, wie er dergleichen tat, und es ihm nicht so von Herzen ging, wie es sich dann auch zeigte. Denn als man es endlich dahin brachte, dass man ihn wieder aufnehmen sollte, da machte er es, wie er nur konnte, mit kleinen Dingen rückgängig [ wante es ] und wollte es nicht tun. Als diese selige Frau starb, da war er da noch gar wüst und brannte und raubte. Danach kam er abermals zu großem Ernst, wieder in den Orden einzutreten. Da konnte es ihm nie gelingen [ zuͦ gon ], und die Ordensbrüder wollten ihn nicht, weil er so lange aus dem Orden gewesen war und so wüst gelebt hatte. Da hatte er einen guten Freund, der hieß ihn, mit seinem Opfer zum Grab dieser seligen Frau zu gehen. Da erst gelang es ihm, und er wurde aufgenommen und eingekleidet, und handelte gar wohl und gar recht.
Danach wurde ihr abermals über einen anderen geoffenbart, dass er sich nicht lauter verhalten habe, und [199v] sie wusste nicht, was das war, was sie an ihm vermisste [ gebrast gegen im ]. Sie fragte ihn, denn er war ihr vertraut, und sagte: „Was habt ihr denn jetzt [ vnder handen ]? Mir ist alles irgendwie gegen euch.“ Da dachte er nach, was es sein könne, und besann sich [ verstuͦnt sich ], dass er über einen Bischof übel geredet habe. Und das sagte er ihr. Da merkte sie wohl, dass es eben das war, und bat ihn, dass er es beichte und es nicht mehr tue. Er beichtete es und war gewillt, es nicht mehr zu tun. Da hatte sie da guten Frieden mit ihm. Danach geschah ihr abermals so etwas durch ihn. Sie fragte ihn abermals. Da sagte er ihr, dass er es abermals getan habe. Danach wurde er Guardian in einem anderen Ordenshaus, das war wohl acht Meilen entfernt. Da wurde ihr im Innern geoffenbart, dass er an etwas leide und ihm irgendetwas fehle, und dass er dabei es wohl nötig hätte, zur Selbsterkenntnis zu kommen und sich dabei weise und lauter zu verhalten. Sie sagte es Jungfer Heilke, und sie ließ es ihm ausrichten und schrieb es ihm. Und er ließ ihr wiederum ausrichten, es sei wahr und er leide. Und er schrieb ihnen, was es war, und bat sie, dass sie Unseren Herrn für ihn bäten.
Sie hatte einstmals eine junge Frau, die ihnen diente, und diese war so bereitwillig [ behende ] und gut und ernsthaft, dass ihnen dünkte, dass sie gar wohl zu ihnen passe. Und Jungfer Heilke war gar froh, dass ihr Unser Herr diesen tüchtigen rechtschaffenen [ richtige ] Menschen beigesellt hatte, und sagte: „Ach, Gertrud, wie hat uns Unser Herr so recht wohl getan mit diesem Menschen. Wir brauchen nie mehr irgendeine Sorge zu haben für das Haus, wenn sie darinnen ist.“ Da sagte sie: „Sieh, Heilke, ich habe nicht das Gefühl, dass sie wohl zu uns passt. Ich vermisse allezeit in meinem Innern irgendetwas [200r] bei ihr, dass ich mit ihr keine gute Ruhe haben kann.“ Und Jungfer Heilke erschrak und sagte: „Ach, Gertrud, was sagst du? Wie ist mir das so recht verdrießlich [ leit ]. Wäre sie träge und nicht tüchtig, dann hättest du vielleicht guten Frieden mit ihr. Ich entlasse sie gar ungern. Wehre dich dagegen, es geht vielleicht von dir weg.“ Sie sagte: „Mein Inneres kann keinen Frieden mit ihr haben.“ Dies zog Jungfer Heilke ziemlich lange hinaus, dass sie diese nicht von ihr weggehen ließ, bis zuletzt, als sie herausfanden, dass sie ihnen fünf Schillinge und Denare gestohlen hatte und ein deutsches Buch, das war auch fünf Schillinge wert, und acht Ellen von neuem Tuch. Und sie war ein Mensch in geistlichem Stand, und als sie von ihnen schied, da verhängte Unser Herr ein großes schweres Unglück [ val ] über sie.
[Die Kraft von Gertruds gutem Rat und Gebet]
Es war da ein edler reicher Herr, der hatte großes schweres Leiden und Anfechtung, und zwar, dass er schwer und in großem Maß am christlichen Glauben irre wurde. Und das lag ihm auch gar so schwer und so tief am Herzen, dass er einem, der recht bedürftig war, gleich wurde; und er kam so ganz und gar ins Verderben, dass es alle und jeden verwunderte. Denn es wusste niemand, was er hatte, als nur er allein. Er machte den Heiligen viele Gelübde, und was er gelobte und was er tat, das half alles nicht. Als dies so lange dauerte, dass er nahezu umgekommen [ verdorben ] wäre, da dachte er an diese selige Frau. Er kannte sie wohl, und er war auch Jungfer Heilkes nächster Verwandter. Er vertraute wohl darauf, dass ihm Unser Herr all sein Leiden abnähme, würde sie Unseren Herrn ernsthaft für ihn bitten. Deshalb nahm er sie allein beiseite [ nam er sú ] und klagte ihr sein Fehlverhalten, und wie weh es ihm tue und wie leid es ihm sei, und dass er sich schämen würde, wenn [ dz ] es jemand wüsste, außer dass er es allein ihr sagen wolle aus besonderem Vertrauen. Ob sie ihm irgendeinen Rat dazu geben könne. Als sie hörte, was sein Fehlverhalten war, da [200v] hatte sie von Herzen mit ihm Erbarmen und sie belehrte ihn, wovor er sich hüten solle, und was ihm schaden könne oder nicht. Und dass er seinen Willen davor hüte, dass er willentlich in sein Fehlverhalten verfiel. Wenn es ihm leid tue, so schade es ihm nicht. Und sie belehrte ihn, so gut sie es nur konnte. Er bat sie mit Fleiß, dass sie Unseren Herrn für ihn bitte. Das tat sie gern. Er war froh und gar wohl getröstet durch ihren guten Rat, und dass er wusste, dass er, solange es ihm leid tue, dann nicht wegen dieser Sache verloren gehe, auch wenn er etwa sterben würde. Und er fuhr wieder nach Hause, und die schädliche Anfechtung wich von ihm, und in kurzer Zeit besserte er sich körperlich so sehr [ wart zuͦ legende ], dass er recht ein anderer Mensch wurde, sodass die Leute sich sehr verwunderten, wie ihm geschehen sei. Und wenn man ihn fragte, so sagte er, Gott will es so, und wollte niemand etwas anderes sagen.
Es war ein Ordensbruder, ein Barfüßer, der konnte keine Speise bei sich behalten. Der wurde dadurch so ganz und gar schwach, dass er meinte, es müsse sein Tod sein. Es schadete ihm so sehr, dass er es etlichen Brüdern klagte. Und als sie es selber sahen, da war es ihnen unbegreiflich [ nam es sú wunder ]. Und sie (Gertrud) ging einstmals zu ihm hin, da saß er auf dem Hof in einem Stuhl, und sie wandte sich zu ihm hin und fragte ihn, wie es ihm gehe [ wie er moͤhte ]. Und er fing an und klagte ihr sein Leid und sagte: „O weh, Frau, bittet Unseren Herrn für mich. Das brauchte ich nie so sehr. Denn ich muss ewig ein (Pflege-) Bedürftiger sein; der Orden muss mich wie einen Bedürftigen durchschleppen [ ziehen ], solange ich lebe.“ Und sie erschrak, und es tat ihr leid, denn er war auch ohnedies schwach und alt. Und sie trat vor ihn hin und tröstete ihn und [201r] und legte ihre Hand auf sein Knie und sagte: „Ach, lieber Herr, übergebt es Unserem Herrn und seid geduldig, soweit [ wo ] ihr es vermögt; es wird bald besser.“ Mit diesen Worten schied sie von ihm und bat Unseren Herrn ernsthaft für ihn. Und Unser Herr nahm ihm sein Gebrechen ab, so als wäre es nie gewesen. Und die Ordensbrüder, die ihn zuvor gesehen hatten, die sahen ihn auch danach und sahen das große (Wunder-)Zeichen, das Unser Herr durch diese Frau an ihm vollbracht hatte. Dies geschah wohl zwei Jahre ehe sie starb. Als sie gestorben war, da sagte er es offen.
Was sie besonders begehrte bei Unserem Herrn, das gewährte er ihr. Sie wusste auch wohl, wie sie ihn bitten sollte. Und was sie auch von Unserem Herrn zu wissen begehrte, von Leuten fern oder nah, von Toten oder Lebenden, das wurde ihr sogleich von Gott geoffenbart, so wie sie es begehrte. Sie begehrte auch keinen anderen Lohn oder das Himmelreich, als allein das, was ihm (sc. Gott) gefiel. Das war ihr ewiges Himmelreich. Ihre Seele und ihr Geist waren allezeit in erstarkender strebender[84] Begierde nach Unserem Herrn und nach dem, was ihm an ihr gefiel.
Körperliche Erscheinungsformen des inneren Erlebens
[Außergewöhnliche körperliche Zustände; Exkurs, mit dem Gleichnis vom gütigen Vater: Witwen und Jungfrauen]
Sie saß zuweilen, besonders anfangs, und spann und webte, und auf ihrem gütevollen süßen Antlitz rannen ihr die Tränen über die Wangen, und die Tränen waren recht honigsüß, wenn sie ihr über den Mund herabrannen, sodass sie dann spürte, dass sie honigsüß waren. Da fing sie dann an, innig zu lachen, und weinte dann abermals eine Weile. Dies Lachen und Weinen trieb sie ziemlich lange, und sie spann und webte alles dabei. Und zuweilen saß Jungfer Heilke hinter ihr und sah ihr zu und bekam davon große Andacht. Und oft auch hätte sie so gerne gelacht, dass sie sich in die Finger [201v] beißen musste wegen ihres (Gertruds) Gebarens und der Verhaltensweise, die sie dann hatte.
Sie saß einstmals in der Kirche der Ordensbrüder, und der Geist hatte die Kraft des Körpers und der Adern gänzlich an sich gezogen, sodass sie recht lahm war an Händen und an Füßen, sodass sie nirgends hingehen konnte. Und als der Küster [ sygerste: Sigrist] abschließen wollte und sie (schon) herausgegangen sein sollte, da konnte sie nirgends hingehen. Und Jungfer Heilke stand neben ihr; der sagte sie, wie es um sie stand, und sie sagte es ihrem Bruder, dem Küster, und er ließ ihr eine Tür offen mit der Erlaubnis des Guardians, dass sie da hinausginge, wenn sie wieder zu sich selbst käme. Dies währte bis zur Non in der Zeit des Sommers. Da kam es dann bei ihr wieder in Ordnung [ wart gerech ] und sie bekam Gewalt über alle ihre Glieder so wie zuvor.
Wenn ihr Unser Herr gegenwärtig war mit besonderer Gnade, so hatte sie durch die rechte Zärtlichkeit, die sie in ihrem Innern mit Unserem Herrn hatte, die allerzärtlichsten Gebärden, dass es eine Lust war, es zu sehen. Und das nahm Jungfer Heilke allezeit an ihr wahr, und es war ihr gar wohl damit, und zuweilen sagte sie in einem Scherz: „Ich weiß nicht, was es bedeuten soll [ meinet ], Unser Herr hat sich recht verirrt unter diesen Witwen, und er tut recht so, als ob er auf uns (sc. die stets jungfräulich Lebenden) nicht achte.“ Da sagte sie sehr demütig und mit viel Güte: „Sieh, du hast ganz recht [ vil wor ], er muss sich so zu uns verhalten. Verhielte er sich uns gegenüber anders, und wäre er uns Armen fremd, würde er uns so in Furcht versetzen, dass wir nicht wagten, ihm zu nahen. Er verhält sich zu uns recht so wie der milde tugendhafte Vater sich zu dem missratenen Sohn verhielt, der da von ihm weglief in fremde Lande und sein Erbteil [202r] in wüstem Tun verzehrte. Und als er zurückkam zu dem Vater, da empfing dieser ihn da voller Güte und fröhlich.[85] Recht so verhält sich Unser Herr auch zu uns. Wir Armen, wir hatten uns verlaufen in die wüste Welt und verzehrten unser Erbteil, und wenn wir zurückkehren, so ist er so froh und empfängt uns so voller Güte und so fröhlich, und das macht er deswegen, dass er uns dadurch bei sich behalte. Denn er weiß wohl, dass wir erschrecken, täte er es nicht und wäre er zu hart zu uns. Zu dem Sohn aber, der sich wohl verhielt, sagte der Vater: Schweig, lieber Sohn, alles was ich habe, das ist alles dein. Das seid ihr. Ihr seid Unserem Herrn doch viel lieber, wiewohl er sich doch nicht gleichermaßen so gegen euch verhält, wie er sich bisweilen gegen uns verhält.“
Sie sagte auch: „Unser Herr weiß wohl, dass ich von ihm mehr Leiden begehre als Trost. Um meines Trostes willen begehre ich keinen Trost von ihm, (nicht einmal) so lang wie einen Augenblick.“
Sie war allezeit in ihrem Innern voll von göttlicher Begierde. Und von rechter Begierde, die ihr Geist nach Gott hatte, da fingen ihr von Zeit zu Zeit alle ihre Adern an, sich anzuspannen wie eine Trommel. Und das geschah ihr, ohne dass sie davon wusste. Und ehe dass sie es selber wusste, so erhob sich der Geist und wandte sich mit solcher Kraft zu Gott, dass all das anfing sich anzuspannen, und zuweilen fing sie dazu an zu ächzen so wie ein Mensch, der in großen Nöten ist oder ganz und gar müde ist. In diesen Zustand kam sie oft durch den Ernst in ihrem Innern und durch die Begierde ihres Geistes. Sie übte sich auch in körperlicher Askese [ uͤbung ], aber das war doch gar gering gegenüber dem, was in ihrem Innern vorging.
Intensivierung des geistlichen Lebens und Wirkens
Sehnsucht nach der vollkommenen Armut
[Betteln, in Sehnsucht nach Armut]
Einstmals an Fastnacht machte sie sich selber ein Hafermus mit Wasser und [202v] sehr ärmlich. Und davon aß sie die zwei Tage, den Montag und den Dienstag, dass sie nimmermehr ein anderes Mus essen wollte. Sie ging auch betteln durch die Stadt, um die sieben Zeiten (der Passion)[86] malen zu lassen [ det molen ] an dem Lettner in der Kirche der Ordensbrüder, wodurch zahlreiche Menschen zu Andacht gelangen, was vielleicht (erst) in vielen Jahren oder nie mehr geschehen wäre. Denn alles, was sie Gott zu Ehren tun konnte, das tat sie mit Begierde und willig und es dünkte ihr alles angemessen.
Einstmals gingen sie und ein Armes Schwesterchen[87] in der Karwoche nach Straßburg, und sie wollten da Predigten hören und Ablass gewinnen. Und an dem Gründonnerstag hörten sie gar wohl vom Fronleichnam Unseres Herrn predigen, und sie dachte: „Ach, würdiger Leib [ lichnam ] Unseres Herrn[88], könnte ich dir noch heute etwas zu Ehren tun. Ach, lieber Herr, wie täte ich das so recht gerne.“ Und ihr kam in den Sinn, sie wollte an diesem Tag um Brot betteln [ noch brote gon ], den wahren Leib zu ehren. Und sie ging los, darum zu bitten, und konnte kein einziges Almosen je erbetteln. Und sie demütigte sich da nochmals mehr, und es dünkte ihr, wie sie des Almosens nicht würdig sei, und wie es Unserem Herrn nicht genehm sei von ihr.
Danach zu einer anderen Zeit gingen sie und Jungfer Heilke miteinander nach Straßburg, Ablass zu gewinnen. Und da ging sie selber und nahm ein Säckchen und kaufte Fleisch an der Fleischbank und holte auch Wein und Brot und was sie brauchte, so als wäre sie eine Arme Schwester gewesen. Sie tat dies so begierig und ihr war so wohl mit der Armut, denn ihr Geist begehrte allezeit ganze wahre vollkommene Armut und vollkommenes Losgelöstsein [ ab gescheidenheit ] [203r] von allem, was ihr eigen war [ eigenschaft ], und von allem Gut und von allen Ehren und von allen Geschöpfen, so wie es danach auch geschah.
Wenn sie zuweilen hörte, wie die Armen um Gottes willen um Brot baten, so wurde die Begierde des Geistes, arm zu sein [ dar noch ], so groß, dass sie oft bei Tisch zu weinen anfing, sodass Jungfer Heilke erschrak, was mit ihr geschehen sei. Da sagte sie ihr, was sie hatte.[89]
Eingehende Gewissenserforschung, Buße, und Wiedergutmachung der Sünden
[Vertiefte Gewissenserforschung]
Sie war allezeit in so großer Andacht und so großem Ernst in ihrem Gebet, dass sie nie von ihrem Gebet schied ohne besonderes Weinen und besondere Andacht. Und als sie ihr Leben so in großem Ernst über diese sechzehn Jahre hin verzehrt hatte, und Unser Herr sie so wohl geläutert hatte mit zahlreichen lauteren vollständigen Beichten, die sie in den sechzehn Jahren abgelegt hatte, und Unser Herr, wie es sein Wille war, sie mit besonderen göttlichen Gnaden bereit machte, da wollte er sie da zuallererst noch näher und vollkommener mit sich verbinden [ fuͤgen ] und wundersame Werke mit ihr wirken. Er war allezeit für sie bereit, wenn sie nach ihm begehrte, und war gar so besorgt, ihr all das zukommen zu lassen [ zuͦ fuͤgende ] und zu geben, was er wollte und was ihm an ihr gefiel, sodass sie oft gedacht haben mag, dass Unser Herr sich allein um sie kümmere und so unermüdlich und besorgt sei, gleich als ob sonst niemand mehr auf Erden sei als sie allein. Sie sagte oft selber: „Es war nie irgendein König je so besorgt um sein Königreich, als Unser Herr besorgt ist um eine Seele, die er allein für sich selber haben will.“
Als diese selige Frau so diese sechzehn Jahre gelebt hatte in allen Tugenden, da wurde ihr danach, in der Octav des Festes der heiligen Engel, die Menge [ huffe ] aller ihrer Sünden gezeigt, und sie wurde [203v] ihr so schwer auf die Waage gelegt [ gewegen ], dass sie gar schlimm erschrak. Und doch hatte sie kein Misstrauen gegenüber Unserem Herrn. Nun wurde ihr von Gott nicht Bescheid gegeben [ vnderscheiden ], wie sie gegenüber Unserem Herrn die Sünde büßen und bessern[90] solle. Und dies währte von der Octav der Engel bis zu Sankt Andreas Tag. Und dazwischen wurde ihr Geist mit so großem Ernst darauf gerichtet, dass sie von Gott Bescheid erhalte, wie sie die Sünde büßen oder bessern solle und wie er die Besserung haben wolle. Darüber wurde ihrem Geist so heiß und so ernst, dass er sie nie mehr eine Stunde Ruhe haben ließ. Sie war allezeit in außerordentlichem [ starckem ] Ernst, wie sie bei Gott den Bescheid über die Buße für die Sünden erlange, und womit und wie sie diese bessern solle.
Und darüber wurde alles an ihr, das Innere und das Äußere, auf ernsthaftes Verhalten ausgerichtet. Ihr Antlitz und ihr Gebaren und all ihr Lebenswandel waren allezeit von so übermäßigem Ernst, dass man erschrak, wenn man ihr Antlitz ansah. Alles, was zu ernsthaftem Verhalten gehörte, das fing sie an. Sie stand früh auf, sie betete mit heißer inbrünstiger Begierde, und mit großem Jammer brachte sie Unserem Herrn ihr Anliegen vor [ lag an ]. Sie kniete, sie vollzog Venien[91], sie weinte innig zu Unserem Herrn, dass er ihr Bescheid gebe, wie sie die Sünde so, wie er es wolle, bessern solle. Sie ging früh zur Kirche und war da, bis man abschloss. Sogleich nach der Essenszeit, wenn man die Kirche (wieder) aufmachte, da war sie wieder da bis zur Nacht. Und so, wie sie zuvor in der Kirche in einer Ruhe und Stille und in ganzer Süßigkeit war, so wurde ihr dies nun alles ganz und gar genommen; es war nichts [204r] anderes da als ein von Herzen kommendes inneres Seufzen und ein Flehen zu Unserem Herrn mit Jammer und Tränen. Dies machte sie in der Messe und nach der Messe, früh und spät. Sie unterließ in dieser Zeit auch die Sorge für das Haus, und hatte keinerlei Acht auf irgendwelche Dinge, die sie brauchte. Sie redete selten auch nur ein Wort.
Diese Dinge merkte Jungfer Heilke wohl an ihr, und sie wunderte sich sehr, was sie habe, und erschrak darüber gar schlimm. Und sie wusste nicht, was mit ihr war, und getraute sich nicht sie zu fragen, und diese sagte ihr selbst auch nichts. Nun fürchtete diese Frau, dass Jungfer Heilke zu betrübt über sie werde, denn sie wusste nicht, wie lange ihr Leid währen wollte. Und als es kein Ende haben wollte, da sagte sie es ihr einstmals, und sie sagte: „Heilke, ich weiß wohl, dass es dich sehr wundert, wie es mir jetzt geht, und was ich denn jetzt habe.“ Da sagte sie: „Weiß Gott, Gertrud, das ist recht wahr. Mir tut dein unmäßiger Ernst weh, und es wundert mich sehr, wie es dir geht.“ Sie sagte: „Sieh, das will ich dir sagen, damit du weißt, wie es mir geht, und dass du desto weniger darauf achtest und (andererseits) auch desto mehr sorgst für alles, was wir brauchen. Denn ich kann und mag jetzt nichts dazu beitragen.“ Sie sagte: „Sieh, Heilke, nach all der Vertraulichkeit und nach all der Zuwendung [ erbieten ], wie sich Unser Herr mir zugewandt hat und wie er gar so freundlich und minniglich und tröstlich und so voller Süßigkeit mit mir gewesen ist, dass ich zuweilen wohl hätte meinen können, wäre ich tot, ich wäre ohne jedes Fegefeuer in den Himmel gefahren – und siehe: nach all dem so ist nun meinem Geist die Menge aller meiner Sünden gezeigt und vorgelegt, und sie ist mir so auf die Waage gelegt [204v] und angerechnet [ geahtet ], und es ist mir noch nicht von Gott Bescheid gegeben, wie ich das bessern soll, dass es verbessert werde vor seine göttlichen Augen, so wie es seine milde Güte will. Und solange es nicht gebessert ist, da steht es allezeit so recht vor den Augen meiner Seele, dass sie es allezeit ansehen muss, und mein Geist ist mit gar so großem Ernst darauf gerichtet, und der Geist kann nicht mehr ruhen, es sei denn, er erlange bei Gott Auskunft darüber, wie dieser es wolle, dass es gebessert werden soll, und womit. Und mein Geist liegt allezeit mit ausgestreckten Kreuzvenien[92] vor den Augen Unseres Herrn und bittet um einen Bescheid von ihm in diesen Dingen. Und wisse auch, dass alle Menschen das nicht wissen können, wie groß und schwer mir die Sünden auf die Waage gelegt sind von Gott, und dass ich wohl darauf vertraut hatte, dass sie mir niemals mehr so schwer auf die Waage gelegt werden sollten. Aber der Herr weiß wohl, was er damit im Sinn hat.“
[Abbüßen der Sünden und Wiedergutmachung durch zahllose Gebete]
Als dieser große Ernst bis an Sankt Andreas Tag gewährt hatte, da wurde ihr da von Gott Bescheid gegeben, wie sie die Sünde bessern solle. Das solle sie tun mit Gebet. Nun war der Ernst so groß und gar so streng ohne jeden Unterlass, dass Jungfer Heilke zu ihr sagte: „Weh mir, Gertrud, mich wundert sehr, wie dein armer schwacher Leib den unmäßigen großen Ernst ertragen kann.“ Da sagte sie: „Unser Herr hat mir so große Kraft gegeben, dass mir dünkt, ich habe die Kraft und Stärke von drei Männern, denn den Ernst könnte kein Leib ertragen, es sei denn, Gott stärke ihn mit besonderer Kraft.“
Ihr wäre keine Buße zu groß gewesen, wie schwer und unerträglich sie auch gewesen wäre, und [205r] hätte es Leib oder Gut betroffen oder was es auch hätte gewesen sein können: wenn sie es nur hätte wissen können von Gott, es wäre ihr alles leicht gewesen.
Unser Lieber Herr gab ihr den Bescheid, wie sie die Sünde mit Gebet bessern solle, und wie das Gebet sein solle, wie viele und wie vielerlei [ maniger hande ] Gebete, und wo sie es verrichten solle, und wie viel sie für eine jegliche Sünde, klein oder groß, beten solle. Und wie ihr für eine jegliche Sünde von Gott besonders Bescheid gegeben wurde, das alles wäre wunderlich zu hören, wenn einer alles aufschreiben könnte und es vermöchte. Dieses Gebet durfte sie nirgends verrichten als nur in der Kirche. Nicht ein einziges Wort durfte sie beten außer angesichts [ vor ] der Gegenwärtigkeit Gottes in der Kirche. Und hätte sie ein Pater Noster unter der Türe gesprochen, sie hätte es noch einmal beten müssen in der Kirche. Aber an Sankt Andreas Tag, als das Jahr zu Ende kam, da wurde ihr da eine Erleichterung [ liberung ] zuteil, dass sie solches Gebet verrichten könne, wenn sie Unserem Herrn folgte zu einem Kranken[93]. Aber danach wurde es ihr noch mehr erleichtert von Gott, und zwar so, dass ihre guten Freunde ihr wohl hätten helfen können zu beten. Aber sie wollte niemanden von ihnen ihr helfen lassen; sie vollbrachte es alles persönlich [ mit ihr selbes lip ], so viel und so lange, dass es Unserem Herr genug war. Dieses Gebet währte aber bis in das dritte Jahr.
Nun wurde ihr auch eine jegliche Sünde mit gesondertem Bescheid in dem Geist vorgelegt, und sie musste für eine jegliche gesondert beten. Aber wie viel sie für eine jegliche Sünde betete, das kann niemand wissen. Aber wenn sie so viel gebetet hatte, dass es Unserem Herrn genug war, dann wurde ihr die Sünde getilgt, und zwar so, dass es ihr niemals [205v] mehr zu irgendeiner Pein werden konnte, wenn sie daran dachte, recht so als ob sie (sc. die Sünden) nie geschehen wären.
Sie musste so für die Ringe an den Händen büßen, und die selben Finger, an denen sie die Ringe getragen hatte, die musste sie reiben, dass ihr die Haut hätte abgehen können. Das Haar auf dem Kopf und die Locken und die Scheitel, die über den Kopf gezogen waren [ v́ber dz hoͮbt ], und das Glätten [ slehte ] des Haars und die Zöpfe oben am Kopf, und das Aufbinden der Zöpfe: und solange dafür noch nicht gebüßt war, da war ihr so weh, und es war ihr so zuwider gleich wie einem Menschen, dem zwei Schlangen um den Kopf gebunden sind. Und ihr war recht so, wie wenn ihr ein Berg auf dem Rücken liege, solange sie diese (sc. die Sünden) noch nicht abgebetet hatte. Und die Obergewänder [ húllen ] und die Tücher und der Kopfputz [ gebende ], den sie trug, und die Spangen [ guffen ] und die Nadeln, und dass sie die Kleidung mit den Spangen in Falten legte [ dz zwicken ]: all das musste sie gesondert abbeten. Und ihre Röcke und ihr Gewand, und das Aufbinden [ vf heften] der Röcke, und dass sie Schleppen hatte [ ir kegen ], und das Benehmen, das sie dabei hatte, das Hochraffen [ vf heben ] unter die Arme auf jedweder Seite, und die Bänder [ snier ] und die Knöpfchen und die weltliche Farbe des Gewandes und, kurz gesagt, alle Dinge, und einen vielfarbigen Hut, den setzte man ihr auf, als man sie verheiratete [ zuͦ huse fuͦrte ]; das war damals Gewohnheit. All dies musste sie gesondert abbeten, bis dass sie allein für den Hut achtzehntausend gebetet hatte. Das zählte sie; das andere war ohne Zahl. All das Gebet war so: Sie sprach ein Pater Noster und ein Ave Maria und ein Magnificat anhand eines kleinen Rings; und wenn sie drei dieser kleinen Ringe gebetet hatte, so sprach sie ein Salve Regina und dann abermals noch dreimal [ noch drúgen ] ein Magnificat und abermals noch dreimal ein Salve Regina. So betete sie alle ihre Sünden ab und büßte sie, und für [206r] jede Sünde so viel, wie es ihr von Gott geoffenbart und eingegeben wurde in dem Geist.
Die Zahl dieses Gebetes kann niemand wissen. Es währte bis in das dritte Jahr, dass sie betete, spät und früh, mit all dem Ernst und mit all dem Fleiß, wie sie ihn erweisen und leisten konnte mit allen ihren Kräften. Und sie hatte auch große besondere Kraft bei diesem Gebet entgegen all ihrer Gewohnheit. Sie ließ sich auch durch kein Werk und keine Beschäftigung ablenken, noch ließ sie sich durch irgendein Ding ablenken oder säumig werden. Sie vollbrachte es gänzlich, so wie es Unser Herr ihr zeigte in dem Geist. Solange die Sünde noch nicht gebessert war, da stand sie allezeit vor den Augen ihrer Seele. Stets, sei es dass sie aß oder trank oder was sie auch machte, da war für ihre Seele die Sünde allezeit gegenwärtig anzusehen in großer Widerwärtigkeit, sodass sie einstmals zu Jungfer Heilke sagte: „Sieh, recht so, wie ich jetzt meine Hand ansehe mit meinen körperlichen Augen, so ist die Sünde allezeit für meine Seele und meinen Geist gegenwärtig anzusehen, und das ist für meinen Geist so grauenvoll und so höllisch [helsch] und so ungeheuerlich anzusehen, gleich als ob ich jetzt deswegen verdammt werden sollte. Und wenn ich eine Sünde gänzlich abgebetet hatte, so wurde sie mir auch gänzlich weggestrichen und getilgt, recht als ob sie nie geschehen sei, sodass ich sie nimmermehr finden kann.“
[Innere Zweifel, und Vision des Jüngsten Gerichts]
Die Zeit, die die Frau bei diesem Gebet war, das waren ununterbrochen [ stetiklich ] zwei ganze Jahre und ein Viertel eines Jahres. Für die selbe Zeit entzog sich ihr Unser Herr mit aller Süßigkeit, Trost und Vertrautheit, in ihrem Innern und im Äußeren.
Nun überkam sie eine Furcht, dass sie fürchtete, der Feind habe sie mit diesem Gebet angefochten, ihr zu [206v] einer Verwirrung und Beschwernis. Und das war deshalb, weil ihr der Herr so fremd war.[94] Darüber erschrak sie gar so schlimm, und auch weil sie gegen ihre Gewohnheit gar so mannhafte Kraft gehabt hatte. Und sie war in ihrem Innern gar betrübt, und die Furcht wurde gar groß in ihr. Und sie klagte es Jungfer Heilke, denn sie hatte in dieser Zeit niemanden, der so gelehrt war, dem sie hätte vertrauen können, dass er sie recht und redlich aus dieser Sache heraus in die rechte Richtung bringen könne. Und Jungfer Heilke wies sie sehr hart zurecht und sagte: „Oh [ wafen ], Gertrud, misstraust du Unserem Herrn und fürchtest du, dass er von dir lasse, der doch von Anfang deines Lebens an so freundlich mit dir gewesen ist und dich durch all dein Leben bis jetzt geleitet und geführt hat? Dass dich dieser nun irregehen lassen wolle, das will ich ihm nicht zutrauen. Sei über ihn ohne Sorge und vertraue ihm darin, dass er dir in dieser Sache helfe, so wie er dir in mancher großen Sache geholfen hat, wenn dir oft die Hilfe aller Menschen fehlte [ túr ist gewesen ].“ Sie sagte: „Ich vertraue wohl Unserem Herrn, dass er nicht von mir lässt, aber sollte ich nun erst im Irrtum sein, das täte mir weh. Aber würde ich wagen, den Worten, die zu mir im Innern gesprochen werden, zu vertrauen und zu glauben, so könnte ich wohl ohne jede Sorge sein.“ Und Jungfer Heilke sagte: „Ach, Gertrud, warum wohl würdest du den Worten, die von Gott zu dir in der Gnade gesprochen werden, nicht vertrauen? Wisse, hast du in all deinem Leben unrecht gehabt [ ist dir vnreht gewesen ], so hast du auch nun unrecht.“ Sie sagte: „Ich will Unserem Herrn vertrauen, dass ich bisher recht hatte, wie ich auch jetzt recht habe.“ Dies währte bis zum Tag von Sankt Andreas.
Und am Vorabend von Sankt Andreas hatte sie gebeichtet und wollte am nächsten Morgen Unseren Herrn empfangen. Und [207r] in der Nacht wollte sie aufstehen um zu beten, und vor Schwäche konnte sie nicht vor das Bett kommen und blieb auf dem Bett sitzen und sprach ihre Matutin. Und als sie das machte, da wurden ihr die Sinne gar kräftig nach innen entrückt, und dabei wurde ihr das Jüngste Gericht gezeigt. Und es wurden vor sie hingetragen der Speer und die (Dornen-)Krone, die Nägel und die Geißeln, der Kelch und das Kreutz, und die Waffen (sc. die Leidensinstrumente) Unseres Herrn, alle zusammen, und ihre Sünden wurden da auch hingetragen und vor sie gelegt. Und da kam Unser Herr mit all seinen Wunden und mit den feurigen schneidenden Schwertern[95], und so voll Zorn, voll Grimm und voll Schrecken, so wie er kommen will an dem Jüngsten Tag. Und ihr dünkte, wie es finster und Nacht sei, und von dem zornigen Antlitz Unseres Herrn gingen recht schnelle feurige Blitzgeschosse, und jeweils wenn man ein Leidensinstrument [ woffen ] brachte, da gingen solche Blitzgeschosse davon aus, und es war ihr so zum Fürchten und Grausen und Erschrecken, in sie zu blicken, recht so wie wenn ein großer Gewittersturm [ wos gewitter ] geschwinde kommt in einer finsteren Nacht, und es dabei nicht geheuerlich ist, in die schnellen Blitzgeschosse zu blicken und in die Finsternis. So zum Grausen und zum Erschrecken war ihr das, und noch viel mehr. Als sie in diesen großen Ängsten und Nöten war, und von großer Angst fast verzagt war und nicht wusste, wie es ihr gehen werde [ wolte ], da [ in dem ] sagte Unser Herr zu ihr: „Geh hindurch und gehe fröhlich hinüber, und gehe sicher hindurch und vollbringe das, was dir zu tun gegeben ist. Und sei dessen gewiss: Wenn du das tust, sollen dich Angst und Not, Schrecken und Furcht, Leid und Pein nimmermehr berühren von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und sei dessen sicher, dass dies das Jüngste Gericht ist, das schon jetzt für immer [ iemer me ] über dich gehalten wird.“ Mit diesen [207v] Worten war alles zu Ende gegangen und war nicht mehr da.
[Grenzen und Erleichterungen in den Bußübungen]
Und als sie wieder zu sich selber kam, dass sie sich selbst wahrnahm, da war sie gar schwach geworden vor Schrecken und Nöten, in denen sie gewesen war. Und als sie ganz [ wol ] zu sich selber kam und es anfing Tag zu werden, da dachte sie, wie sie es machen wolle, ob sie Unseren Herrn empfangen solle. Da erschrak sie gar so schlimm, als sie an ihre Sünden dachte, die vor sie hingetragen worden waren, und an die Strenge und große Gerechtigkeit, in der sie Unseren Herrn gesehen hatte, sodass sie es nicht wagte, Unseren Herrn zu empfangen. Sie dachte, dass sie es nicht tun wolle. Da wollte der Geist, dass sie es tue, und trieb sie dazu. Dem standen da aber die leiblichen Sinne (sc. das natürliche Empfinden) entgegen. Und hierbei ging sie zur Messe und wäre gerne still gestanden. Und als die Schwestern, die Unseren Herrn (empfangen) wollten, sich zählten, so wie es da Gewohnheit war, da zwang sie der Geist, dass sie sich auch mitzählen musste. Und als der Priester, der ihnen Unseren Herrn geben wollte, vom Altar herüberging [ v́ber alter ], da erschrak sie, dass ihr ein Zittern über ihren ganzen Leib ging. Und als es Zeit wurde und die Schwestern hinzugingen, da wartete sie bis zuallerletzt, ob Unser Herr da einen Mangel empfinde, dass sie ihm vorenthalten bliebe [ dz er an ir gebrest ]. Und zuletzt ging auch sie hinzu mit großer Demut und Selbstaufgabe [ verworffenheit ir selbes ], und sie dünkte sich so ganz und gar unwürdig, und sie empfing Unseren Herrn in großer Andacht. Und sie ging, um wieder in ihrem Stuhl zu sitzen, und da war ihr Unser Herr abermals gegenwärtig und gar vertraut.
Wiederum am selben Tag, am Tag von Sankt Andreas, als das Gebet zwei volle Jahre gewährt hatte und sie sich so darein gefügt hatte, es so lange zu verrichten [208r] wie er es wolle, da erleichterte [ entlibete ] es ihr abermals Unser Herr, nämlich dass ihre guten Freunde ihr helfen könnten. Und sie sagte es Jungfer Heilke, und diese hätte ihr gerne in guter Treue helfen wollen, und hätte gern desto andächtiger und ernsthafter sein wollen, auf dass es Unserem Herrn desto genehmer von ihr gewesen wäre. Und sie (Gertrud) wollte es nur allein vollbringen mit ihrer eigenen Person [ libe ], und tat es so lange, bis es der Güte Unseres Herrn genügte.[96] Und als sie es getan hatte bis ins dritte Jahr bis vierzehn Tage vor der Fastnacht, da erließ ihr Unser Herr das Gebet ganz und gar, alles zusammen, und Unserem Herrn war ihr Büßen nun genug.
Aber es dünkte ihr eine gar geringe Buße, und wie ihr Unser Herr gar mild gewesen sei, auch wenn sie doch [ wie doch dz wer dz ] ihre Beichte und Buße bis dahin nicht unterlassen [ gesparet ] habe. Sie hatte zuvor manche lautere vollständige Beichte abgelegt, und hatte all das getan, was sie tun sollte und konnte und vermochte. Nur dass (nunmehr) Unser Herr mit ihr Wunder wirken wollte und sie zu einem besonderen außerordentlichen Menschen machen wollte, mit dem er wunderbare ungewöhnliche [ seltzene ] unerhörte Werke wirken wollte.
Sie dankte Unserem Herrn für seine väterliche große Treue, die er ihr erwiesen habe, dass er ihr hier (auf Erden) das Leiden gewähre [ gunde ] und sie hiermit bereitmachen und läutern wolle, seinem Willen gemäß. Ihr dünkte, wie das Gebet wenig sei, das Unserem Herrn genug war für ihre Sünde. Und wie wenig es ihr auch vorkam, so betete sie doch allein achtzehntausend (Einzelgebete) für den Hut. Sie hätte gern selber gewusst, wie viel sie für ein jegliches Ding habe beten müssen, aber sie konnte und mochte es nicht zählen, denn es war so vielerlei und verschiedenartig, dass es niemand [208v] hätte zählen können; deshalb ließ sie sich damit unbeschwert und nahm allein wahr, wie Unser Herr ein jegliches Ding von ihr wollte. Unser Herr ließ sie ein jegliches Ding bessern, als ob sie es nur ein einziges Mal getan hätte, wie oft es auch geschehen war. Sie musste ein jegliches Ding ganz unterschiedlich bessern. Sie hatte gar schöne Haare, und sie zählte selbst, dass sie für die Zöpfe und für das Haar vierzigerlei abbeten und verbessern musste. Sie wurde oft so müde vom Beten, und wenn sie wohl zuweilen Kraft gehabt hätte zum Beten, so war sie so müde in den Kinnbacken, dass sie nicht mehr beten konnte.
[Brunnenvision; Ablegen einer allumfassenden Generalbeichte]
Nach dieser Übung wurde sie abermals auf etwas anderes hingewiesen. Sie sah im Schlaf eine geistliche Vision [ gesúht ]. Sie sah einen Brunnen, der war gar so schön und so weit und wohlgeformt, dass man dergleichen Brunnen nie auf Erden gesehen hat. Und der Brunnen war von Moos [ mosse ] überzogen, und sie sollte den Brunnen säubern und schön machen. Und sie ging dorthin und zog das Moos allesamt ab mit ihren Händen, und es ließ sich auch gar gern von ihr von dem Brunnen abmachen [ volgete ir ab ]. Und als sie den Brunnen gar schön gemacht hatte, da war das Wasser so wonniglich und so klar und gar so lauter, dass es recht glänzend [ brun ] war von rechter Lauterkeit. Und es war so lauter, dass man das geringste Steinchen hätte sehen können, das an dem Boden des Brunnens lag. Mit diesem edlen Brunnen war zeichenhaft der edle Brunnen ihrer Seele gemeint [ wz bezeichent ], die so wohlgeformt und geziert war. Dieser wonnigliche schöne Brunnen ihrer Seele, der da den göttlichen Augen solche Lust machte, ihn anzusehen und sich darinnen zu schauen: dieser Brunnen war überzogen mit Moos, sodass er nicht ganz [209r] schön war. Das wollte Unser Herr nicht dulden, er wollte ihn lauter und schön haben, ganz nach seinem Willen, und so wie er sein göttliches Bild aufs allerklarste schauen könne in dem edlen Brunnen ihrer Seele.
Als sie diese Vision gesehen hatte, da wurde ihr, sogleich als es Morgen wurde, Bescheid gegeben, eine vollständige Beichte abzulegen, und es wurde ihr geoffenbart, wem sie beichten solle. Das war ein Ordensbruder, der war damals Guardian, und er war gerade aufs Land gegangen [ erst in dz lant kummen ]. Nun lag ihr die Beichte so heftig im Sinn, und sie hätte so gern gebeichtet, aber sie dachte daran, dass er nicht zuhause war, und wusste auch nicht, wann er (zurück-)kommen wolle. Da ging ein Schrecken und eine Angst durch ihren ganzen Leib, und sie klagte es Jungfer Heilke. Und Heilke ließ ihm ausrichten aufs Land, dass er sich desto eher beeile und komme; sie hätten ihn gerne (da). Und er kam, sobald er es konnte, und ging zu ihnen und fragte sie, ob ihnen etwas fehle, sodass sie nach ihm gesandt hätten. Da sagten sie ihm, was sie von ihm wollten, wie sie (Gertrud) gerne bei ihm eine vollständige Beichte ablegen wolle. Er sagte, er wolle sie gerne hören, und er wolle für sie alles tun, was er könne. Nun war er in der selben Zeit gar sehr beschäftigt mit einem großen Bau, den er unternommen hatte. Nun war sie in großen Sorgen, dass er ihr, so beschäftigt wie er war, keine Zeit geben könne in dem Maß, wie sie ihn brauchte. Und er erklärte sich gar willig dazu bereit [ erbot sich ], er wolle ihr Zeit und Ort und Stunde geben, wenn sie ihn brauche, so viel, wie er nur könne. Und er sagte zu ihr: „Verlangt mich zuerst, denn ich habe eine Regel [ reht ] gemacht unter meinen Töchtern: welche die erste ist, die beichtet auch zuerst.“ Sie machte es so bei ihm, und fing ihre Beichte vierzehn Tage vor der Fastnacht an, und beichtete bis Pfingsten.
Und [209v] als sie zum ersten Mal sich niedersetzte und beichten wollte, da sagte sie: „Herr, ich bitte euch, dass ihr mir nur [ allein ] euer Gehör und Verständnis gebt, und seid ansonsten unbesorgt um mich.“ Sie fing an und beichtete mit großem Ernst, Minne und Begierde, und beichtete kein Ding (anders) als nur so, wie es ihr in dem Geist geoffenbart und beschieden [ vnderscheiden ] wurde. Hätte sie es auch gerne anders gebeichtet, sie hätte es nicht tun können. Ob gern oder ungern, sie musste dem Geist gehorsam sein. Sie musste in Kürze angeben Art und Weise [ wise ], Wort und Absicht [ meinung ], Willen und Ausführung [ werg ] und all das, was Sünde gewichtig [ gewegen ] und schwer machen könnte vor den Augen Unseres Herrn, es sei klein oder groß, wenig oder viel: das musste sie alles insgesamt sagen und beichten, recht so, wie es in Wahrheit war. So wurde es ihr auch in dem Geist bestimmt. Zuerst beichtete sie so manchen ganzen Tag, vor dem Essen und auch danach; danach drei oder vier Tage in der Woche, an manchem Tag dreimal, zuweilen alle Tage. An Pfingsten wurde diese Beichte zu Ende gebracht gemäß der Ordnung, wie es ihr Gott angeordnet hatte.
[Über den Wert und die Art dieser Beichte]
Als sie diese Beichte zu Ende brachte, da fragte man ihren Beichtvater über die Beichte, wie sie sei. Da sagte er: „Weder soll ich noch darf ich über ihre Beichte oder irgendeine Beichte etwas sagen. Und sollte ich doch über diese Beichte reden, so könnte ich nicht viel darüber sagen, außer dass ich wohl so viel darüber sage, dass die Beichte recht so war, als käme eine Seele aus dem Fegefeuer, die da unverhüllt [ blos ] all das sieht, was sie je tat. Und das ist ihr gegenwärtig, recht in der gleichen Weise, wie sie es getan hat und sie schuldig ist vor Gott. Und käme die Seele zurück zu dem Leib und beichtete dann alle ihre Sünden so genau [ eigenlich ], recht so wie [210r] sie sie dort (sc. im Fegefeuer) gesehen und erkannt hatte: recht so ist auch ihre Beichte gewesen, so genau und so unverhüllt und so ganz und gar.“ Er sagte: „Bei allen Menschen bin ich bedacht, ihre Beichte zu vergessen, aber bei ihrer Beichte bin ich bedacht, sie zu behalten und sie nimmer zu vergessen.“
Jungfer Heilke fragte sie auch über diese Beichte. Da sagte sie zu ihr: „Ich kann dir nicht viel darüber sagen. Doch etwas sage ich dir davon.“ Und sie sagte: „Als mein Bruder seine Frau heiraten [ zuͦ huse fuͤren ] wollte, da war ich eine Regelschwester geworden. Da kam er und bat mich, dass ich da hinkomme und ihm für das, was er im Hause habe, die Sorge übernehme und es behüte, dass da nichts verloren werde. Und wie nötig er mich da brauche, weil er niemanden habe als nur mich, dem er vertraue. Und er bat mich so viel, dass er mich mit seiner Bitte überwand, dass ich ihm versprach, es zu tun. Nun tat ich es von Herzen gar ungern und hätte es gerne gelassen, Gott zu Ehren und meinem geistlichen Leben, das ich angefangen hatte, und weil ich mich von allen weltlichen Sachen ganz und gar verabschiedet hatte in meinem Herzen.“ Und wie sie dies nun beichtete, das berichtete sie Jungfer Heilke so weitgehend [vil], wie sie sich daran erinnerte. Dabei merkte diese wohl und erkannte, wie wundersam und wie gar bis auf den Grund durchsucht ihre Beichte war.
Der Geist legte es ihr so genau und so unverhüllt dar, und hätte sie ihr ganzes Leben studiert auf eine vollständige Beichte hin, sie hätte es nicht so genau finden können. Das sagte sie selber und dankte Unserem Herrn mit Fleiß. Sie erkannte wohl, dass sie es allein von ihm habe. Sie sprach auch mit ihr (Heilke) und sagte: „Sieh, damit du die Regel desto mehr würdigst, so sage ich dir dies: Als ich alles gebeichtet hatte, was ich getan hatte, bis dass ich zu dem kam, dessen ich schuldig [210v] geworden bin, seit ich die Regel angenommen hatte: Sieh, das wurde mir so besonders groß angerechnet und auf die Waage gelegt vor Gott. Recht so, wie wenn da eine starke Mauer und ein besonderer Riegel [ slos ] um ein Ding sind, recht so wurde mir die Schuld besonders angerechnet.“[97] So sprach sie zu Jungfer Heilke über ihre Beichte.
Umzug nach Straßburg in Hinblick auf die Vertiefung des geistlichen Lebens
[Umzugspläne; Festlegung des Vermögens]
Als diese selige Frau und Jungfer Heilke miteinander sechzehn Jahre in der Stadt Offenburg gelebt hatten, tugendhaft und segensreich und gottgemäß [ seliklich vnd goͤttelich ], mit gemeinsamer Versorgung und Lebenshaltung [ kosten vnd zerung ], da begaben sie sich nun bisweilen miteinander nach Straßburg, weil sie Ablass erwerben und gute Predigten hören wollten. Nun fing Jungfer Heilke an, die Stadt heftig zu lieben wegen der Gnade, die es in ihr gab, sodass sie gerne für immer in ihr gewesen wäre. Und sie sagte es dieser Frau, wie sie einen Jammer und eine Begierde habe, für immer da zu sein. Und diese sagte: „Liebe Heilke, dünkt es dir und erkennst du dann, dass es dir nützlich und gut sei und es dich auf Unseren Herrn hin fördert, so sollst du es um niemandes willen unterbleiben lassen, da hinzuziehen und für immer da zu sein. Denn mir passt es in meinem Sinn und auch in Hinblick auf mein Gut noch nicht, mich da hinzubegeben; denn für das Gut, das mir Unser Herr verliehen hat, ist von mir noch keine Regelung getroffen [ lit mir vngerihtet ].“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ich gehe nicht von dir, wenn du dich nicht mit mir da hinbegibst.“
Nun machte all das Gut dieser Frau großen Aufwand [ kosten ]. Sie hatte es verpachtet [ geluhen ], um die Hälfte des Ertrags einzufordern [ zuͦ er-beitende vmb dz halbe ], und hatte viel Beschwernis damit. Sie hätte es allezeit gerne verpachtet um eine regelmäßige (Geld-)Abgabe [ gúlte ]. Und über eine lange Zeit und lange Jahre hin wollte Unser Herr es nie für sie fügen, und [211r] als sie sich dessen am allerwenigsten versah, da fügte es Unser Herr für sie, dass sie es allesamt ordnungsgemäß [ rihtiklichen ] verpachtete zu einer regelmäßigen Abgabe, ihre Reben und Ihre Höfe, und sie legte all ihr Gut fest zu einem annehmbaren festen erträglichen Entgelt [ genemmen gewissen lidigen gelte ]. Als ihr Unser Herr dazu verholfen hatte, da wusste sie nicht, was Unser Herr damit im Sinn habe, und alsbald danach wurde sie von Unserem Herrn in dem Geist dazu angehalten, dass sie nach Straßburg ziehen solle.
[Kauf eines kleinen Hauses in Straßburg]
Und Unser Herr hielt sie dazu an, dass sie nach einem kleinen Haus schauen sollte; darin waren sie bisweilen zur Herberge, wenn sie dahinkamen, um Ablass zu erwerben. Nun wusste sie nicht, dass das Häuschen, das da Schwester Brida gehörte, verkäuflich war. Da sagte sie zu Jungfer Heilke: „Wir sollten schauen, ob Bridas Häuschen verkäuflich ist, und sollten es kaufen und sollten da hinziehen.“ Da sagte Heilke: „Ach, liebe Gertrud, dass Gott es dir lohne, schweig von dem, was du da gesagt hast. Du weißt doch nicht, ob sie das Häuschen verkaufen will oder nicht. Würden wir dann einen Preis dafür bieten [ veilseten wir ] und es wäre ihr nicht verkäuflich, so wäre es vielleicht für sie eine Zumutung [ muͦte es sú ]. Fingen wir dann damit an und könnten es nicht zu Ende bringen, so kämen wir nur ins Gerede unter den Leuten.“ Und so widerstand sie ihr, dass sie (Gertrud) wohl drei Wochen lang davon schwieg. Und als es so lange so damit stand, da wurde sie abermals von Unserem Herrn gar ernstlich darauf hingewiesen, sodass ihr Geist und ihr Inneres keinen Frieden haben konnten, wenn sie nicht danach schaue, dass sie das Häuschen bekomme und dass sie dorthin zögen. Und Jungfer Heilke widerstand ihr abermals. Und sie (Gertrud) sagte: „Heilke, ich kann dir nichts anderes sagen, ich bin von Unserem Herrn darauf hingewiesen, und kann keinen Frieden und keine Ruhe haben. Ich versuche [211v] es und tue das Meine dazu. Wenn ich das tue, so vertraue ich darauf, Unser Herr tue auch das Seine und füge es so, wie er weiß, dass es gut ist und ihm zum Lob und uns zu Nutzen.“ Und sie sagte da: „Willst du es nicht tun, so will aber ich es tun.“
Als Jungfer Heilke sah, dass es ihr so ernst war, da führte sie ihren Willen aus und sandte nach einer jungen Frau, die war von Straßburg hergekommen. Und sie sagten ihr, dass sie gerne für immer in Straßburg wären, und sie baten sie, dass sie für sie nachforsche, ob Schwester Brida ihr Häuschen verkaufen wolle, und dass sie ihnen helfe, dass sie es bekämen. Da war die junge Frau sehr verwundert und sagte: „Mir dünkt, ich habe etwas darüber sagen gehört, dass Brida ihr Häuschen verkaufen will. Es ist aber noch nicht öffentlich bekannt. Ich kann euch nicht dazu sagen, ob es wahr ist. Ich will es erfahren, wenn ich nach Hause komme, und will es euch wissen lassen.“ Und als die junge Frau nach Hause kam, da fragte sie, ob das Häuschen verkäuflich sei. Da war es verkäuflich, und sie ließ es sie alsbald wissen. Und da begaben sie sich dorthin und kauften das Häuschen.
[Abschied von Offenburg]
Und die Angelegenheit stand nun so, dass sie nicht so schnell wegzogen. Und als sie nun unbedingt [ aller dinge ] wegziehen wollten von Offenburg, da verhielten sich die Ordensbrüder ihnen gegenüber gar so hart und sagten, sie begingen eine Todsünde an den Leuten, denn diese hätten kein anderes gutes Vorbild als nur das ihre [ an in ]. Und insgesamt allen Leuten tat es gar leid, und besonders ihren guten Freunden, die mit ihnen vertraut waren. Und als sich all die Leute gar so schlimm verhielten, da bat Jungfer Heilke diese selige Frau, dass sie bleibe bis zum Tag Allerheiligen; in [212r] der Zwischenzeit hätten sie sich auch besser eingerichtet und vorbereitet auf die Reise. So blieben sie bis zum Tag vor dem Fest [ vor fúr ] Allerheiligen.
Danach wurde sie abermals darauf hingewiesen von Unserem Herrn, und da wollte sie nicht länger bleiben und gab den Auftrag, für sie ein Schiff zu besorgen. Und als sie zu dem Schiff kamen und die Leute und ihre guten Freunde segneten, da weinten sie alle. Aber sie weinte nie eine Träne, obwohl sie doch von guten Freunden wegfuhr. Aber sie überwand sich selbst und unterließ es um Gottes willen und fuhr hinweg am Tag vor dem Fest Allerheiligen.
Und als sie hin gegen Straßburg kamen, da bekam Jungfer Heilke die Nachricht, dass ihr ein Herr all ihre Einkünfte [ gúlte ] weggenommen hatte, Einkünfte von vierundvierzig Viertelmaß. Und sie führte bei den Herren auf der Pfalz Klage. Da musste ihr der Herr all ihr Gut zurückgeben. Und das erreichte sie dadurch, dass sich die Frau (sc. Gertrud) so beeilte; wären sie etwas länger geblieben, so wäre es ihr ganz und gar entgangen.
Streben nach Schlichtheit, und Einsatz für die Hilfsbedürftigen
[Demütige Zurückhaltung]
Als sie da so nach Straßburg gezogen waren, da waren sie fremd und bei allen Leuten unbekannt, und niemand nahm sie wahr, und niemand beachtete sie. Das war ihr eine besondere Genugtuung [ trost ], es hätte lange so sein können. Aber alsbald fing man an, sie auch da zu kennen und ihr heiligmäßiges Leben wahrzunehmen, und das war ihr gar zu-wider.
Zu derselben Zeit war ein Lesemeister dorthin gekommen, der war ihr Beichtvater gewesen. Und allezeit lebten sie nach seinem Rat, wenn sie ihn haben konnten. Und dass er nun da war, wo sie ihn erreichen konnten, darüber waren sie gar froh. Sie gingen an die Pforte und baten den Pförtner, dass er den Lesemeister veranlasse [ hies ], zu ihnen zu kommen. Da kamen sie so demütig und schlicht [ einvaltiklich ], und der Pförtner kannte sie nicht, und es war ihm [212v] unerhört, dass er einen solchen Lesemeister veranlassen solle, zu ihnen zu kommen. Und er sagte: „Es ist gut. So setzt euch da hin.“ Sie meinten, dass es ihm ernst sei, und setzten sich hin. Und als sie gar lange gesessen waren von der Essenszeit[98] [ ymbs ] bis zur Vesper, was ihnen sehr lange wurde, und dieser Frau das Sitzen gar weh tat, dass sie es kaum länger ertragen konnte, da trat Jungfer Heilke abermals zu dem Pförtner und sagte: „Habt ihr den Lesemeister veranlasst zu kommen?“ Und er sagte: „Ja glaubt ihr, dass es gar so leicht sei, einen Lesemeister dringend zu bitten?“ Da sagte sie: „Wüsste er nun, dass wir hier seien, er käme. Sagt es ihm, dass Gott es euch lohne.“ Da ging er nun erst hin und sagte es ihm. Er kam sogleich. Jungfer Heilke, die ging zuerst hin und beredete mit ihm, was sie wollte, und klagte ihm auch, dass sie so recht lange da gesessen waren, und dass der Pförtner ihn nicht veranlassen wollte, zu kommen. Und er wies den Pförtner zurecht, sodass dieser danach, wenn wir kamen, auf uns zuging und uns fragte, wen wir wollten. Das war dieser Frau (Gertrud) gar zuwider, und sie wies Jungfer Heilke zurecht und sagte: „Nun weiß Unser Herr, dass mir jenes lieber wäre als dieses, nämlich [ vnd ] dass man uns für Arme Schwestern hielte und uns nicht solche Ehre erböte.“
Demut liebte sie von Herzen. Wenn sie zuweilen übers Feld ging in der Zeit, wenn man geschnitten hatte, und fand dann einen armen Menschen, der da allein umherging Ähren zu lesen, da zwangen Minne und Erbarmen sie, dass sie dem Armen eine gute Weile half, Ähren zu lesen, wenn nur niemand es sah. Und sie machte, dass die, die mit ihr gingen, auch Ähren lasen.
[Verzicht auf Überflüssiges, und Einsatz der materiellen Mittel in Notzeiten]
Ihr war auch all das zuwider, was den Leib betraf, und alles, was [213r] da über die bloße Notwendigkeit hinausging. Und was sie im Haus mehr hatten, als bloß notwendig war, das machte sie betrübt. Und sie bat Jungfer Heilke, dass sie das alles weggebe den armen Leuten. Wäre ein Gast zu ihnen gekommen, da wäre ihr lieb gewesen, dass sie dann Bett, Kissen und leinenes Betttuch bei ihren Nachbarn hätte ausleihen müssen. Und dabei hätte sie viel besseren Frieden gehabt als im Überfluss. Nun machte es Jungfer Heilke gar ungern, allein schon um der fremden Leute willen, und es verdross sie, es sich zu leihen, und sie hätte es ihr gerne aus dem Sinn gebracht. Es half nicht, was sie ihr sagte. Da ging sie (Gertrud) zu ihrem Beichtvater und sagte es ihm. Da gebot er ihr, es zu behalten. Und als er ihr es so riet und es ihr gebot, da hatte sie dann für diesmal guten Frieden, bis danach, als [ dz ] sie das alles weggab.
Sie hatte allezeit ein mildes liebevolles [ minsammen ] Herz. Nun wurde es gar ein teures Jahr, dass ein Viertelmaß Korn vierzehn[99] Schillingen entsprach [ galt ]. Und sie hatte gar heftig [ v́bel ] Erbarmen mit den Armen, und deren Mangel ging ihr gar nahe ans Herz. Und sie gab ihnen großes Almosen, soweit sie es je nur erweisen konnte. Sie gab ihnen nur ganze Pfennige, und nicht halbe. Und so standen sie (die Armen) da und boten ihr dann an, einen halben zurückzugeben, so wie sie es bei anderen Leuten machten. Da wollte sie das nicht. Da waren die armen Leute so froh, dass sie lachten und sagten: „O, großartig [ o hoch ], das ist ein gutes Almosen; es ist ein vollständiges [ gantz ] Opfer.“ Und als es die Armen an ihr gewahr wurden, da machten sie in der Kirche um sie ein solches Gedränge und eine solche Nötigung [ not ], dass sie es nicht mehr ertragen konnte. Und sie bat Jungfer Heilke, dass sie es für sie tue. Sie gebot, Fleisch und Mus und viel Brot den Armen zu geben. Sie kaufte auch oft etwas, das sie nicht nötig hatte, nur damit den [213v] Armen Brot oder Pfennige zuteil würden. Und wenn die Armen da einhergingen und Blumen oder Binsen (sc. zum Verkauf) trugen, da sagte sie zu Jungfer Heilke: „Ach, liebe Minne“ – denn so redete sie diese damals an [ sprach sú ir dar noch ] – „sieh, ein armer Mensch trägt so recht schöne Blumen vor die Tür, du solltest sie kaufen. Sieh, du kämest dadurch vielleicht zu etwas Kraft.“ Denn diese war gar krank zu der selben Zeit. Da sagte Heilke: „Ich weiß wohl, was du im Sinn hast. Du hast im Sinn, dass die Armen zu Brot kommen.“ Da sagte sie: „Du hast ganz recht [ vil wor ]; und dass es auch dir selber besser gehe durch die schönen Blumen, das ist mir auch ganz lieb.“
[Erlösung des sündigen Ehegemahls aus dem Fegefeuer]
Es waren nun achtzehn Jahre, dass ihr Gebieter [ meister ], Herr Heinrich Rickeldegen, tot war. Nun konnte sie in den achtzehn Jahren nie zu so großem Ernst gelangen für seine Seele, wie sie es gerne gehabt hätte. Er war ein so weltlicher, unverständiger viehischer [ vúhelich ] harter Mann, sodass ihm Unser Herr eine Zeit einräumte [ gunde der zit ] zu leiden, dafür dass er im Fegefeuer gereinigt [ geveget ] werde. Und deshalb wollte ihr in all dieser Zeit Unser Herr keinen besonderen Ernst geben, für ihn zu bitten, und das machte sie betrübt. Und in dem letzten Jahr der achtzehn Jahre da gab ihr Unser Herr großen und besonderen Ernst, für ihn zu bitten. Und sie gab viel Almosen für ihn und half ihm, wie sie konnte, bis zum Tag Allerseelen. Und am Vorabend von Allerseelen da erlangte sie besonderen Ernst für seine Seele. Da wollte es ihr Unser Herr nicht versagen, und ihr Geist wurde da hingeführt, wo die Seele war. Und es wurde von Gott ihrem Geist erlaubt, dass er nach der Seele greifen solle und sie zu sich ziehen solle. Und ihr Geist musste gar tief greifen nach der Seele, und er ergriff die Seele und zog sie zu sich hin und führte sie mit sich an eine gar [214r] schöne lichte Stätte. Und da ließ ihr Geist die Seele los und befahl sie Gott.
Sakramentenempfang in innerer Freiheit
[Außergewöhnlich häufiger Empfang des Eucharistiesakraments]
Als nun diese selige Frau in ganzem Frieden war mit Gott und mit allen Dingen, und Unser Herr all seinen Willen an ihr vollbracht hatte, da wollte Unser Lieber Herr auch, dass sie öfter und mehr das heilige Sa-krament empfange, als sie es zuvor getan hatte. Sie empfing ihn zuvor alle acht Tage [ zuͦ viij tagen ]. Da wollte er nun, dass sie ihn jeden zweiten Tag empfange. Nun wurde es ihr gar ernst damit, und ihr Geist wurde mit inbrünstiger Begierde darauf gerichtet und so hitzig, wie es Gott wollte. Da erschrak sie und es wurde ihr gar angst davon, denn sie dünkte sich unwürdig, dass sie so oft Unseren Herrn empfangen solle. Und sie klagte es Jungfer Heilke gar sehr [ seite gar klegelich ] und sagte: „O weh, ich Ärmste, ich bin seiner unwürdig; das weiß er wohl. Nun ist es (sc. das Begehren) so kräftig in mir, sollte ich ihm widerstehen, es ginge mir an die Sinne oder an das Leben.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Willige darin ein, und tu ihm Genüge in diesem so wie auch im anderen, da er es doch [ sit dz er ] so will.“ Da sagte sie: „O weh, dies ist aber eine große Sache, und mein Leben ist leider dafür nicht in der rechten Ordnung.“ Sie sagte es ihrem Beichtvater. Der gebot ihr, es zu tun, und es dünkte ihm gut, und er gab ihr Wegweisung [ weg ], wie sie tun solle, dass es ihrem gutem Ruf nicht schade [ mit glúmpfe zuͦ ging ]. Denn er kannte ihr Leben so, dass er zu Jungfer Heilke sagte: „Könnte es bei dem Gerede der Leute sein, so wäre es mir lieb, dass sie alle Tage Unseren Herrn empfinge.“ Und um der Leute willen gebot er ihr, dass sie einen Tag zu den Ordensbrüdern gehe, den anderen zu (dem Kloster) Sankta Klara, den dritten zu der Pfarrkirche, damit [214v] sie es desto besser verhehlen könne. Und dadurch wurde sie gar wohl getröstet und machte es so und empfing Unseren Herrn stetig [ alvmb ] etwa ein Jahr lang jeden zweiten Tag.
Und wenn ein Fest dazwischenfiel, sodass sie wegen des Festes bis zum vierten Tag warten musste, so entstand große Not in ihr von dringendem Verlangen und von Begierde, die der Geist nach Gott hatte. Und dem Geist war es gar so ernst, dass sie an dem Tag weder Frieden noch Ruhe haben konnte, bis zu der Zeit, dass sie hinging zu beichten und sich für Unseren Herrn bereitzumachen. Und an dem Tag, da sie Unseren Herrn empfing, da hatte sie guten Frieden. Sie erschrak wohl und war in Furcht, so wie es angemessen war, vor der Größe Unseres Herrn und wegen ihrer Schwachheit, aber es war ihr eine gar tröstliche Übung.
Nun wurde es ihr aber doch bisweilen gar bitter, wenn sie zuweilen zu jemandem (sc. einem Priester) kam, der sie nicht kannte, und ihn um Unseren Herrn bat. Da versagte er es ihr, und dazu nahm er sie nicht ernst [ spottet ir ]. Da schwieg sie und litt es demütig und ging von da wieder zu einem anderen. Machte es dieser auch so mit ihr, so dünkte ihr das angemessen, und sie dankte Unserem Herrn und litt es geduldig. Aber wenn sie so das Ihre getan hatte, und wenn sie dann Unseren Herr nicht bekommen konnte, so hatte sie recht den selben Frieden und die selbe Ruhe und die Gnade und den selben Trost, recht als ob sie Unseren Herrn empfangen hätte. Aber wenn sie zu jemandem kam, der sie kannte, da war dieser froh, dass er ihr Unseren Herrn geben solle, und bat sie, dass sie stets zu ihm komme, wenn er Messe spreche, er wolle ihr Unseren Herrn gerne geben.
Sie sagte auch zu Jungfer Heilke: „Ach, wie ist das so gut, und was für große Lust und großen Trost empfängt [ nimmt ] dabei eine Seele, wenn sich Unser Herr jemandem so ganz und gar [215r] in Milde gibt, so wie er sich wohl dem geben kann, bei dem er es will.“ Und Jungfer Heilke sagte: „Ach, liebe Gertrud, machst du es allezeit mit solcher Lust und mit solch unermüdlicher [ vnverdrossener ] Begierde?“ Da sagte sie: „Ja. Sieh, Heilke, du sollst wissen, dass ich allezeit solche Lust dabei habe und solche neue Begierde, so als ob ich ihn über lange Zeit hin nie empfangen hätte, und dass es mir nie zu einer Gewohnheit wurde, dadurch dass ich ihn oft empfange. Und wisse, dass es ein reiches lustvolles Leben ist für den, dem sich Unser Herr allezeit gibt mit solcher Lust; das können alle Herzen sich nicht vorstellen [ betrahten ].“
Sie empfing ihn allezeit mit großem Ernst und beichtete allezeit, wenn sie Unseren Herrn empfangen wollte. Vergaß sie nur ein Wort, so ging sie zurück und beichtete es, sodass sie Unseren Herrn nie so oft empfing, ohne dass sie nicht allezeit aus diesem Anlass [ do gegen ] beichtete, obwohl sie das doch nicht nötig hatte. Sie war allezeit und besonders zu dieser Zeit in einem sanftmütigen milden Ernst, dass ihr Ernst niemandem schwerfallen konnte. Sie hatte besonderen Ernst am Vorabend, wenn sie am Morgen Unseren Herrn empfangen wollte, und auch am selben Tag. Sie betete und war mit Fleiß bei ihrer Andacht und hielt ihr Schweigen. Wenn jemand sie etwas fragte, so antwortete sie sanftmütig und in Kürze.
[Die Minne zu Gott überwiegt die Furcht vor Gott; Freiheit des Tuns]
Zur selben Zeit hörte sie in einer Predigt, dass niemand Unseren Herrn empfangen solle außer in großer Furcht. Und sie erschrak gar sehr und fürchtete, dass sie Unseren Herrn nicht mit so großer Furcht empfange, wie sie es sollte und es angemessen wäre. Und sie klagte es Jungfer Heilke und sagte: „O weh, Heilke, wie hat mich die Predigt gar so schlimm erschreckt; ich fürchte, dass ich nicht so große Furcht habe wie ich es sollte. Es ist etwas Großes, dass doch [ wen dz ] Unser Herr so gut ist, dass er sich aus Minne so gegeben hat.“
Nun sagte [215v] sie es ihrem Beichtvater; der war ein Lesemeister. Der tröstete sie hiermit und sagte: „Als Sankt Johannes Baptist Unseren Herrn taufen sollte und Unser Herr selber zu ihm sagte: Johannes, du sollst mich taufen, da erschrak er und erzitterte darüber, dass er den Leib Unseres Herrn Jesus Christus anrühren solle, und er trat zurück und sagte: Herr, du sollst mich taufen. Unser Herr sagte: Nein, Johannes, wir sollen alle Demut ganz vollbringen [ erfúllen ]. Und doch, wenngleich es Unser Herr selber gebot, so erschrak er (Johannes) doch darüber, dass sein ganzer Leib erzitterte, und das lobt man sehr an Sankt Johannes Baptist.
So finden wir es abermals bei Sankt Johannes Evangelist. Als er Unseren Herrn empfing, so wie wir es begehen an dem heiligen Gründonnerstag, da lehnte er sich hinüber und neigte sich aus rechter Minne seines Herzens an das Herz und auf die Brust Unseres Herrn Jesus Christus, und das ist viel und weit näher als jenes (sc. die Berührung durch den Täufer) und viel besser, und es ist auch mehr zu loben als jenes.“
Dies gefiel dieser Frau gar wohl, und sie wurde darüber gar wohl getröstet. Denn auch ihr ganzes Leben wurde in Minne vollbracht, und alle ihre Werke wirkte sie in Minne; ihr Herz und ihre Seele waren voll göttlicher Minne. Und als sie nun so oft Unseren Herrn empfing über ein ganzes Jahr hin [ ein jor alvmb ], da entzog es ihr Unser Herr und wollte, dass sie ihn empfange so wie sie es zuvor getan hatte, und sie war da recht in dem selben Frieden und in der selben Ruhe und Gnade, wie sie da (sc. in der vorhergehenden Zeit) war. Und in der selben Weise konnte sie da auf ihn verzichten [ mangelen ] und ihn entbehren.
[Innerer Frieden auch in den Einschränkungen während der Beginenverfolgung]
Als dann dieses Jahr zu Ende ging, da fing man alsbald danach an, gegen [ vf ] das umherziehende [ loͮffende ] Volk zu predigen und die Ketzer aufzuspüren und gerichtlich zu verfolgen [ suͦchende vnd ruͤgende ].[100] Das dünkte ihr gut, als sie [216r] von der bösen Art ihres Treibens hörte. Dass man ihnen das verwehrte [ vnderstunt ], in dieser Hinsicht [ der sachen ] stand sie den Lehrern mit Herz und mit Sinnen zur Seite, und hätte sie ihnen helfen können, gegen diese zu fechten und zu streiten, dann hätte sie es getan. So zuwider war ihr deren böses unreines Leben. Für die aber, die sich bessern wollten, für die hatte sie großes Erbarmen.
Da fingen nun die Barfüßer und die Prediger (sc. Dominikaner) und alle geistlichen Leute an, zu raten und zu fordern und zu predigen, dass die Leute allgemein nicht so oft Unseren Herrn empfingen, wie sie es zuvor gemacht hatten. Und da wollte man für lange Zeit niemandem Unseren Herrn geben. Da war sie wohl ein dreiviertel Jahr ohne Unseren Herrn. Das konnte sie da wohl mit gutem Frieden ihres Herzens und ihrer Seele tun, und sie sagte einstmals zu Jungfer Heilke: „Schau, liebe Heilke, wie ist Unser Herr so recht tugendhaft und gut und so recht weise. Wie kann er seine Freunde so recht freundlich und getreu versorgen. Nun schau, wie ruhig ich ihn jetzt entbehren kann und mit gutem Frieden meines Inneren. Wäre es in der Zeit auf mich zugekommen, als mein Geist mit solchem Ernst und solcher Begierde darauf gerichtet war, Unseren Herrn zu empfangen: wie meinst du, dass es mir ergangen wäre? Es wäre mir schlechthin an die Sinne oder an das Leben gegangen, es sei denn, Unser Herr allein hätte es abgewendet.“
Die Verwirklichung eines Lebens in vollkommener äußerer und innerer Armut
Der vollkommene Verzicht auf Besitz
[Sehnsucht nach uneingeschränkter Armut]
Danach da wirkte abermals der Herr sein Werk mit ihr und wollte sie auf einen anderen Weg bringen und wollte sie in gänzlich ungebundener [ lidiger ] Armut an allem zeitlichen Gut haben. Und es wäre ihrem Geist begehrenswert gewesen, dass sie nichts gehabt hätte von all dem, was sie nötig hatte, sondern dass sie das alles hätte erbetteln sollen. [216v] Dadurch fing sie oft an, innig zu weinen vor Jammer und Begierde, wenn sie hörte, wie die Armen in den Gassen riefen: „Brot um Gottes willen.“ Als sie nun sah, dass Unser Herr solche Armut da noch nicht wollte, da fügte sie sich darein und wollte Unserem Herrn gehorsam gewesen sein, und sie setzte ihr Herz in Frieden. Und sie wollte Unseres Herrn Kellermeisterin[101] (sc. Wirtschafterin) für sein Gut gewesen sein, so lange wie er es wolle. Und sie sagte zu Jungfer Heilke: „Mir dünkt wohl, dass Unser Herr will, dass ich seine Schaffnerin und seine Kellermeisterin sei für sein Gut, das er mir gegeben hat. Nun will ich es auch sein bis an meinen Tod.“ Und sie fügte sich darein, dass sie es getan haben wollte.[102] Und sie gebot ihr (Heilke), Wein zu kaufen, und gebot ihr, für das zu sorgen, was sie (Gertrud) brauchte, dass sie das, was für sie nötig war, davon nehmen und das Übrige um Gottes willen hergeben wollte.
[Verzicht auf Besitzdenken]
Als der Wein zu ihr ins Haus kam und sie trinken wollte, da hatte Unser Herr etwas anderes mit ihr erdacht. Er wollte sie noch näher heranführen, dem Vorbild und dem Weg Unseres Herrn nachzufolgen, und wollte die Begierde ihres Geistes erfüllen. Und als sie vom Wein trinken wollte, da tat er ihr alsbald so weh, dass ihr dünkte, dass ihr das Hirn auseinanderspringen wolle, und sie meinte, dass es daran (sc. am Wein) liege. Denn mancher Wein tat ihr gar weh, und sie fragte Jungfer Heilke, ob der Wein so stark sei. Und sie sagte: „Nein, er hat keinen Fehler.“ Denn sie wusste wohl, dass es ein solcher Wein war, der für sie besonders gut und gesund war. Und sie trank abermals davon. Da geschah ihr noch schlimmer, und sie kehrte ihr Herz zu Unserem Herrn und blickte in ihr Inneres, ob Unser Herr nicht wolle, dass sie jemals Wein trinke. Da wurde ihr geoffenbart [217r] in dem Geiste, dass Unser Herr wolle, dass sie Wein nicht in der Weise trinke, als ob er ihr gehöre. Mehr noch, sie musste alles aufgeben und hinweggeben, dass sie für sich selber eigenes Gut nicht einmal im Wert eines Pfennigs behielt.
Als ihr dies so von Unserem Herrn geoffenbart wurde, und sie sich dessen sicher war, dass Unser Herr sie freimachen [ erlidigen ][103] wolle, da freuten sich ihr Geist, Seele und Herz, dass Unser Herr sie entlasten [ entladen ] wolle von allen äußerlichen Dingen und von aller Beschwernis. Und sie sprach darüber mit Jungfer Heilke und sagte: „Heilke, dass mir der Wein so weh tut, das weiß ich nun wohl, wovon das ist. Unser Herr will sein großes mildes Erbarmen und seine Güte an mir erzeigen. Er will mich entlasten von all dem Gut, das er mir in seiner Güte gegeben hat, von dem will er mich in seiner Güte auch entlasten. Deshalb soll ich nicht mehr vom Wein in der Weise trinken, so wie wenn er mir gehört.“
[Verzicht auf Eigentum]
Nun war sie zuvor krank gelegen bis auf den Tod, und hatte all ihr Gut zum Seelgerät (sc. Stiftung von Seelenmessen) da und dort [ hin vnd her ] festgelegt [ besetzet ], so wie sie erkannte und darauf vertraute, dass es der Wille Unseres Herrn sei. Und recht so, wie sie es da in der Krankheit hergegeben hatte, so musste sie es da noch einmal recht hergeben, Kleines und Großes. Nun erschrak Jungfer Heilke gar schlimm, als sie ihr dies zuerst sagte, und fürchtete, dass sie dabei infolge ihrer langen Begierde zu hitzig und zu ungestüm sein werde, und sie sagte zu ihr: „Gertrud, tu es dem minniglichen Gott zuliebe und lass es dich nicht bedrängen [ zuͦ not sin ] und schau in dein Herz und schau auf dich selber, sodass du das, was du tust, sicher (sc. in sicherer Gewissheit) tust, und dass du dir sicher bist in diesen Dingen.“ Da sagte sie: „Sei ohne alle Sorge, dass ich etwas anderes tue, als worin ich mir sicher bin, und wisse, dass ich in allem, was ich hiermit tue, mir so sicher bin, wie dass Gott im Himmel lebe.“
[217v] Als ihr dies nun so geoffenbart wurde von Unserem Herrn, da ging sie alsbald hin zu den Ordensbrüdern und gebot ihnen, zu verkaufen, was sie bei ihnen festgelegt hatte, das war sieben Pfund Geld wert[104], und dass sie es dahin gäben, wohin sie wollten. Danach gab sie Jungfer Heilke all das, was sie als ihr Eigenes [ ir selbes ] betrachtet hatte und womit sie sich selber versorgt hatte. Und bei all dem, was sie zwei miteinander hatten, da gehörte die Hälfte ihr; diesen selben Teil gab sie Jungfer Heilke zu deren Teil [ dem iren ] hinzu, und sie gab ihr die Hälfte des Hausrats, ihren Teil, denn Unser Herr wollte es so. Sie tat es nicht aus irgendeiner besonderen Gunst, die sie für sie hatte; Unser Herr gab ihr zu verstehen, dass er es so wolle. Denn Unser Herr gab ihr in dem Geist zu erkennen, was sie mit einem jeglichen tun solle, und wem und wohin sie es geben solle.
Aber danach wurde ihr abermals zu erkennen gegeben von Unserem Herrn, dass sie ihren Teil an dem Häuschen, in dem sie wohnten und das sie miteinander gemeinsam gekauft hatten, dass sie auch den ihr geben solle. Und das tat sie und kam eines Morgens früh ans Bett zu ihr und gab ihr den Schlüssel, der zu der Haustüre gehörte, und sagte zu ihr: „Heilke, all das, was mir an diesem Häuschen gehört, das übergebe ich dir, und all das, was mir daran gehört, das soll dein sein.“ Und Jungfer Heilke erschrak darüber aus ihrem ganzen Herzen und fürchtete, dass Unser Herr sie (Gertrud) ganz und gar hinaustreiben und ausstoßen [ vs slahen ] wolle hin in die Stadt, um dort um Brot zu betteln. Und sie war von Herzen betrübt und nahm den Schlüssel und das Häuschen.
[Verzicht auf alle persönlichen Dinge]
Danach gab ihr Unser Herr zu verstehen, dass sie all das, was zu ihrem Leib gehörte, Gewänder klein und groß, schlecht und gut, Oberröcke, Unterröcke, Mäntel, Pelzröcke, Pelze, Schleier, ihre [218r] Schuhe, die Socken und die Tücher in den Schuhen und ihre Gürtel und all das, was zu ihrem Leib gehörte, dass sie davon nicht so viel haben solle wie einen einzigen Faden. Und sie erschrak und wusste nicht, was sie tun solle: ob Unser Herr wolle, dass sie nackt gehe, oder was er wolle oder wie er es wolle, dass sie es tue. Und ihre ganze Natur erschrak darüber. Und Jungfer Heilke kam am Morgen in der Frühe zu ihr in ihr Kämmerlein an ihr Bett und setzte sich zu ihr. Und sie (Gertrud) hob an und sagte zu Jungfer Heilke: „Heilke, ich weiß nicht, was Unser Herr will, dass ich tun soll; ob er will, dass ich nackt gehe. Ich muss alles das weggeben, was mir gehört, auf dass ich nicht einen Faden behalten soll.“ Und Jungfer Heilke sagte: „Weißt aber du, wohin du damit sollst?“ Da sagte sie: „Ja, dafür habe ich in allem Weisungen, wohin ich ein jegliches tun soll.“ Da sagte sie: „Nun sei guter Dinge [ gehabe dich wol ], Unser Herr lässt dich nicht in dieser Sache steckenbleiben [ gestecken ]. Und sei ohne alle Sorge, er versorgt dich und hilft dir hierin, so wie er dir auch in anderem geholfen hat.“ Da sagte die selige Frau: „Ich vertraue wohl Unserem Herrn, nur ist all meine Natur doch darüber erschrocken.“ Da ging Jungfer Heilke von ihr zurück in ihre Kammer zu ihrem Gebet. Da fiel ihr ein und sie wurde von Unserem Herrn darauf hingewiesen und es wurde ihr eingesagt: „Du hast doch all das, was einem Menschen zugehört, zweifach. Da gib ihr eines und behalte du das andere.“ Und sie war froh und ging zurück zu ihr und sagte: „Ach, Gertrud, will Unser Herr dich Lumpen [ húdelin ] tragen lassen, so will ich dich ausstatten [ beraten ] und mit meinen alten Kleidern besser kleiden, als du es je hattest [ denn du ie wurde ]. Ich habe von all dem, was ich haben soll, zwei; davon gebe ich dir [218v] eines und ich behalte das andere.“ Sie (Gertrud) war froh und blickte in sich selber, ob es Unserem Herrn gefalle und er es ihr vergönnen wolle. Und sie sagte da zu ihr: „Unser Herr möge es dir lohnen. Mir dünkt, dass Unser Herr es mir vergönnen will, dass ich es in gutem Frieden tragen mag.“
Darüber war Jungfer Heilke gar froh, und sie gab ihr einen alten Mantel und einen schlechten Unterrock und einen alten Pelz und zwei alte Schuhe und eine alten Oberrock. Sie hatte nur einen, den gab sie ihr, und sie machte sich einen neuen. Und sie gab ihr einen alten Pelzrock und Schleier. Und als Unser Herr sie so versorgt hatte, dass sie nicht nackt gehen sollte, da zog sie all das aus, was sie anhatte, und legte den schlechten Unterrock an und die alten Kleider, und gab das Ihre ganz und gar weg, klein und groß, schlecht und gut, sodass sie nicht einen Faden behielt noch den Wert eines Pfennigs. Und sie wagte nicht, (auch nur) den Wert eines Helblings (sc. Halbpfennigs) zu behalten. Und auch wenn Jungfer Heilke sie nicht so versorgt hätte, so wäre sie dennoch Unserem Herrn gehorsam gewesen, denn sie wusste wohl, dass er sie so versorgt hätte, dass er sie nicht nackt gehen ließe.
Verzicht auf jede Sicherheit, und Erfahrung der Verlassenheit
[Absicht, auch auf den letzten, der Lebensabsicherung dienenden Besitz zu verzichten]
Sie hatte all das wegegeben, was sie hatte, sodass sie nichts mehr hatte als einen Hof. Von dem hatte sie wohl Geld im Wert von vierzig Vierteln. Das blieb [ stunt ] da noch so, und sie schaute allezeit, was Unser Herr wolle, dass sie damit mache. Und als sich das so lange hinzog, dass ihr Unser Herr nichts darüber offenbarte, denn sie hatte einen beständigen Blick darauf, da dachte sie, Unser Herr will vielleicht, dass du das selbe Geld behältst und dass du das, was du nötig hast, davon nimmst. Denn im Hinblick [ noch ] auf ihre große Schwäche [ krangheit ] konnte sie kaum das, was sie nötig hatte, davon haben. [219r]. Und sie sagte zu Jungfer Heilke: „Ich denke nach, ob Unser Herr mir für das, was ich nötig habe, dieses Gut vergönnen will. Denn es wurde mir noch nichts darüber zu verstehen gegeben, was ich damit machen soll.“
Alsbald wollte Unser Herr auch das von ihr nehmen und offenbarte ihr, dass er das wolle, dass sie den Hof und das Geld und all die Rechte [ dz reht ], die dazugehörten, und all das, was sie davon hatte, dass sie das Jungfer Heilke gebe, sodass diese den Nutzen davon nehmen solle, solange diese selige Frau lebe; nach ihrem Tod solle er an die Ordensbrüder fallen. Alsbald war sie ihm (sc. Unserem Herrn) gehorsam, so wie sie es auch allezeit machte, es bereite ihr Wohl oder Wehe. Und sie sagte zu Jungfer Heilke: „Mir wurde zu verstehen gegeben, was ich mit dem Hof und mit dem Geld machen soll. Unser Herr will mich in seiner lauteren Güte auch davon entlasten, so wie von dem anderen. Ich soll dir den Hof geben uneingeschränkt [ lideklich ] bei meinen Lebtagen; das will ich auch tun.“ Da erschrak Jungfer Heilke schlimm aus ganzem Herzen und begann, aus dem Innersten [ jnneklich ] zu weinen, und sagte: „O weh, Gertrud, wie bin ich darüber gar so schlimm im Innersten erschrocken. Gott weiß wohl, dass es mir zuwider ist. Ich fürchte, dass deine Verwandten meinen, dass ich es bei dir mit Worten mir angeeignet habe. So weiß doch Unser Herr wohl, und auch du, dass ich nie ein Wort darüber geredet habe.“ Da sagte sie zu ihr: „Heilke, das ist wahr. Unser Herr, der will dies, dass es also sei, dass ich dir dies gegeben habe. Ich habe mich darein gefügt [ gelitten ], so füge auch du dich, so wie er es dir vergönnen will. Und wisse dies: Sollte ich ihn (sc. den Hof) einem Menschen, den ich mit Augen nie gesehen hatte, geben, – so wie ich weiß, dass ich ihn dir geben soll, – ich gäbe ihn so eilends und so unverzüglich ihm [219v] wie dir.“
[Auseinandersetzung um die rechte Art der Armut]
Dies machte Jungfer Heilke betrübt wegen des Geredes ihrer (Gertruds) Verwandten. Und doch wollte sie sich nicht dem Werk Unseres Herrn widersetzen, und sie gingen miteinander zu ihrem Beichtvater, der war ein hochstehender Lesemeister, und sie sagten ihm, wie sie (Gertrud) auch den Hof aufgeben müsse, und dass Unser Herr wolle, dass sie ihn Jungfer Heilke gebe. Und das wollte er mitnichten gutsein lassen und er wollte nicht erkennen, dass es Unser Herr so wollte und dass es sein Werk war. Und er sagte, es sei der Teufel, der betrüge sie und der mache sich mit ihr zu schaffen [ ginge mit ir vmb ]. Ihm war zuwider, dass sie es so ganz weggeben wollte und sich so ganz in Gottes Hand und in die Armut geben wollte, und er fürchtete, wenn Not und Mangel auf sie zukämen, dass es ihre Schwäche nicht ertragen könne und dass sie es dann reuen werde. Er meinte, dass sie es nur aus Begierde ihres Geistes mache, und dass sich der Teufel dareinmische und sie betrüge. Und er fürchtete auch, dass Jungfer Heilke sterbe und dann niemand sich um sie kümmere in dem, was sie nötig hatte. Und er wurde gar erzürnt über sie. Und sie sagte zu ihm: „Herr, habe ich unrecht, so habe ich alle meine Tage unrecht gehabt.“ Da sagte er: „Ihr habt alle eure Tage recht gehabt, aber nun habt ihr unrecht.“
Sie ging nach Hause und war gar von Herzen im Innern betrübt, nicht deshalb, weil sie irgendeine Furcht gehabt hätte, dass der böse Geist sie betrüge; sie war sich darin sicher, dass es Gottes Werk war. Hätte sie irgendeinen Zweifel an sich selber gehabt oder Misstrauen gegenüber Unserem Herrn, so wäre sie schlichtweg von ihren Sinnen gekommen. Und doch erschrak ihre Natur gar so schlimm über die Worte ihres Beichtvaters, dass ihr gar weh davon geschah. Und doch hatte der selbe Beichtvater zuvor zu ihr gesagt, ihm sei lieb, dass sie [220r] alle Tage Unseren Herrn empfange; ihm dünke, dass er auf Erden nie ihresgleichen gesehen habe an Vollkommenheit. Der verließ sie und nahm Abstand von ihr in dieser Angelegenheit [ ging ir ab an dem stúcke ], dass er sagte, der Feind betrüge sie und mache sich mit ihr zu schaffen. Das tat ihr weh. Aber Unser Herr war mit ihr und verließ sie nicht.
[Verlassenheit durch das Abstandnehmen vertrauter Ratgeber]
Jungfer Heilke, die war auch aus ihrem ganzen Herzen mit ihr betrübt, und hatte doch keinen Zweifel an ihrem Leben, dass irgendetwas Falsches in ihm sei. Es tat ihr leid, dass der Beichtvater so frevelhaft gegen diese redete, und sie ging zu ihm zurück und sagte: „Herr, ihr tut recht so, als ob dies sonst nie geschehe. Hat meine Gertrud unrecht, so hat sie auch alle ihre Tage unrecht gehabt.“ Da sagte er: „Das ist es nicht. Sie hat alle ihre Tage recht gehabt, aber nun hat sie unrecht.“ Da sagte sie wiederum: „Sagt ihr das in guter Wahrheit?“ „Ja“, sagte er, „ich sage es in guter Wahrheit, sie hat unrecht. Ein Geist begehrt mehr, als hundert Körper erfüllen können. Der Feind betrügt sie und macht sich zu schaffen mit ihr. Wo hat man jemals sonst gesehen oder gehört, dass ein Mensch das Seine so ganz und gar hinweggebe und sich so ganz und gar entblöße?“ Da sagte Jungfer Heilke wiederum zu ihm: „Lieber Herr, nun sagt man doch über meine Frau Sankt Elisabeth, dass sie an einem Tag fünfhundert Mark weggab, und alles weggab, was sie hatte, so ganz und gar, dass sie um Brot betteln musste.“ Da wurde er gar so durch-einandergebracht [entrihtet], dass sie ihn so mit der Wahrheit widerlegt [ v́ber ret ] hatte, dass er aufstand und von ihr weglief und sie sitzen ließ. Und aus Zorn gab er ihr überhaupt keine [ nie ] Antwort mehr.
Ein anderer geistlicher guter Mensch, mit dessen Rat sie auch viele Jahre gelebt hatte, der sagte auch: „Ein Geist begehrt mehr, als hundert [220v] Körper erfüllen können.“ Und dadurch nahm auch dieser Mensch Abstand von ihr und wich von ihr so wie ihr Beichtvater, und es blieb ihr niemand als Jungfer Heilke. Die tröstete sie und kam ihr zu Hilfe, wie sie konnte, und sagte zu ihr: „Liebe Gertrud, wende dich allein zu Unserem Herrn und halte dich an ihn. Es ist nichts anderes, wie mir dünkt, als dass Unser Herr will, dass du verlassen wirst von allen Geschöpfen, und er will dich (zu sich) ziehen so nah wie nur möglich [ vf dz aller nehste ]. Es ist nichts anderes, als etwas, das von Unserem Herrn verhängt ist; deshalb vertraue ihm wohl und achte [ nim war ] auf dich selbst und schaue, dass du dich nicht leichtfertig abwendest, und folge dem, was in dir ist. Weißt du, dass du recht gehandelt hast, so lass nur immer [ ie ] jeden Menschen sagen, was er will; und dem, was dir da Weisung gibt und Weisung gegeben hat und dich geführt hat all dein Leben hindurch, dem folge. Denn Unser Herr, der will letztlich allein die Gnade an dir bestätigen.“
Da sagte die selige Frau: „Was jetzt nun in mir ist, das ist alle meine Tage in mir gewesen, und ich weiß so wohl wie dass Gott lebt, dass ich nicht unrecht habe. Es dünkt mir angemessen, dass sie es mir antun. Wäre ich nur so tugendhaft, dass sich meine Schwäche dabei so verhalten könnte, wie es in Ordnung ist [ ordenlich ]. Ich muss dies unbedingt [ ie ] tun, ich kann ihm in keiner Weise widerstehen, denn ich könnte besser sterben als dies nicht zu tun. Ich sehe wohl, dass ich verlassen bin von allen Geschöpfen, und besonders von denen, von denen ich meinte, dass sie mit mir in den Tod gegangen wären. Die alle hat mir Unser Herr entzogen, als allein so viel, als du noch bei mir bist Aber eines macht es mir auch schwer [ gebristet ] mit dir: Du lässt dich gar zu leicht bewegen; es geht dir zu nahe, sodass ich nimmermehr mein Herz [221r] so bei dir zu erkühlen wage, wie ich es gerne täte und wie ich es auch bisweilen nötig hätte.“
Da sagte Jungfer Heilke: „Sei über mich ohne alle Sorge. Ich nehme nimmermehr Abstand von dir, es sei denn, Gott nähme mir die Sinne. Denn ich weiß wohl, wie Gott mit dir gewesen ist alle deine Tage. Dass der dich nun irren ließe, das berührt mir nimmermehr mein Herz. Du kannst dich sicher auf mich verlassen [ bist min sicher ]. Wo du mich brauchst, berede ohne alle Sorge mit mir, was du willst; ich kann es wohl ertragen, und ertrage es gerne, ginge es dir dadurch desto besser.“ Sie (Gertrud) dankte ihr getreulich und demütig für die Tugend und die Treue, dass sie ihr so zu Hilfe kam: „Sieh, Heilke, nun wisse, dass ich dies nicht leichtfertig mache; es ist mir nicht leicht, da hinzugelangen [ an zuͦ gewinnende ]. Der Herr zwingt und treibt mich so dazu, dass ich ihm nicht widerstehen kann. Sollte ich aber widerstehen, ich müsste sterben oder von Sinnen kommen.“
[Entschlossenes Beharren auf völliger Besitzlosigkeit]
Inzwischen suchte der Beichtvater Wege, wie er sie dazu bringen könne und sie darin unterweisen könne, dass sie sich nicht so ganz und gar entblöße von ihrem Gut. Und er riet ihr und sagte, ihm dünke es gut, dass sie Jungfer Heilke das Gut und den Nutzen lediglich [ lideklich ] in deren Hand geben solle[105], dass sie (einerseits) doch bei ihrem Wort bleibe, nur dass (andererseits) ihre Verwandten und auch andere Leute meinten, dass es ihr gehöre. Wenn Jungfer Heilke eher stürbe als sie, dass deren Verwandte nicht das Gut an sich zögen und es ihr (Gertrud) nähmen und ihr dann niemand irgendetwas Gutes tun würde. Es war ihm gar zuwider, dass sie nicht das, was sie nötig hatte, behielt, und dass sie sich so ganz und gar in die Armut begab und in die Hand der Leute; das war ihm gar zuwider. Und er riet ihr dies mit Ernst und wollte nicht erkennen, dass sie dazu im Geist von Unserem Herrn gezwungen war.
Mit all den Wegen, die ihr je vorgeschlagen wurden, konnte sie nie irgendeinen Frieden haben in ihrem Geist und in ihrem Innern, [221v] außer dass sie es (sc. das Gut) uneingeschränkt gänzlich und vollständig [ gerwe ] weggebe, dass sie nicht den Wert eines Pfennigs behalte, sodass sie weder irgendeinen Trost noch irgendeine Zuversicht habe in irgendeiner Sicherheit, die das Gut ihr geben würde. Und von all dem dinglichen [ liplichen ] Gut[106], das es auf Erden gab, von dem musste sie sich gänzlich lossagen und es aufgeben. Und sie gab es auch so gänzlich auf, dass sie überhaupt nichts hatte noch wollte als nur insoweit, wie es ihr Unser Herr vergönnte, und so viel, wie es mit seinem Willen sein konnte; das nahm sie in dieser Zeit und nicht mehr. Denn allezeit blickte sie in sich selbst, was Unser Herr wolle, dass sie sich in einer jeglichen Sache nach seinem Willen verhielt.
[Unwiderstehliches innerstes Bedürfnis nach völliger Besitzlosigkeit]
Als sie ihr dies nun so lange hinauszögerten mit ihren Reden und mit ihren Worten, dass sie den Hof nicht so rasch weggab und so schleunig wie das andere Gut, war das ihrem Geist so zuwider und er wurde darüber so ergrimmt, dass sie einstmals aus der Kirche rasch nach Hause gehen musste vor Grimm des Geistes. Und rasch eilte sie, das (Hof-) Gut wegzugeben. Und der Geist bedrängte und nötigte sie so, dass sie nahezu von Sinnen kam und so grauenvoll mit sich selbst verfuhr, dass ihre junge Frau, die ihnen diente, gar schlimm erschrak. Und diese lief rasch zu den Ordensbrüdern in die Kirche, um Jungfer Heilke zu holen. Als diese nach Hause kam, da sieht sie, dass diese selige Frau ihre Tücher alle zusammen von ihrem Kopf zieht und sie auf die Erde wirft und mit ihren Fäusten viele harte Schläge auf ihre Beine und auf ihre Knie schlägt. Und aus rechtem Grimm ihres Inneren da machte sie eine so starke Faust, dass ihr die Nägel mitten in den Händen eingezeichnet waren, [222r] und sie schlug sich selbst und sagte bei dem Schlagen: „Sie wollen mich behängen und belasten mit dem, von dem mich Gott entbunden und entlastet hat.“ Und sie sagte zu Jungfer Heilke: „Nimm dein Gut und behalte dein Gut und tu es, wohin du willst; ich will es nicht.“ Dies sagte sie in großem Ernst, sodass Jungfer Heilke gar schlimm erschrak und um ihre Sinne fürchtete. Und sie kam ihr zu Hilfe, wie sie konnte, und sagte: „Ich will es gerne und nehme es gerne. Aber du gibst mir das alles, und gibst mir es doch nicht. Wohlan, rasch zum Gericht, und übergib es mir und verbriefe es mir und eile rasch, ich will nicht länger warten.“
[Rechtliche Regelung der Besitzübergabe]
Unterdessen war sie (Gertrud) in eine solche Schwäche gefallen, dass sie nicht wohl wusste, was sie tat. Und als sie da wieder zu sich selber kam, da gingen sie beide zum Gericht, und sie (Gertrud) gab ihr den Hof und verbriefte es. Als sie dies gerade taten und den Willen hatten es zu tun, da kamen ihr Hofpächter [ meger ] und sein Sohn zu dem Gericht, und der Hofpächter wollte den Hof seinem Sohn übergeben und wollte, dass er ihn von dieser Frau empfange. Und diese Frau und Jungfer Heilke wussten nicht, dass der Hofpächter und sein Sohn dies miteinander abgemacht hatten [ zuͦ rate worent worden ]. Da wussten auch der Hofpächter und sein Sohn nicht, was die selige Frau und Jungfer Heilke zu tun beabsichtigten. Da sagte ihnen der Hofpächter, warum er hergekommen war. Da waren sie froh, dass es ihnen Unser Herr gar so friedlich und so rechtmäßig [ rihteklich ] fügte nach seinem Willen und auch nach ihrem Willen; dafür dankten sie Unserem Herrn. Der Hofpächter übergab den Hof, und sein Sohn empfing ihn von Jungfer Heilke.
[Sterben der Eigennatur, Selbstfindung und innerer Friede im Verzicht auf alles Eigene]
Als diese gute Frau so (alles) weggegeben hatte, dass sie nichts Eigenes auch nur im Wert eines Pfennigs hatte, und wie sie das (auch) kaum erwarten konnte und wie begierig darauf ihr Geist [222v] lange Zeit und viele Jahre gewesen war, so erschrak doch ihre Natur gar so schlimm darüber, dass sie vor Schrecken zu beben begann [ riderende wart ]. Bei einem jeglichen Ding durchlief sie da, wenn sie es weggab, ein Beben und Zittern, dass sie sich selber kaum bei sich halten konnte; ein solches Sterben geschah dadurch ihrer Natur. Die Natur hätte es gern gehabt [ wol gelitten ], dass sie (Gertrud) sich dessen, was für sie nötig war, sicher gewesen wäre. Es kam nicht grundlos [ vergeben ] und leichtfertig über sie; ihre Natur wurde dadurch recht ganz und gar abgetötet und auf das allerhärteste in Bedrängnis gebracht, sodass sie selber zu Jungfer Heilke sagte: „Nun schau, liebe Heilke, wie gar schlimm die Natur hiervon Abstand nimmt [ abe gehebet ], wo ich das doch so lange begehrt habe und wo ich doch allezeit dem widerstand, denn ich konnte es nicht tun, wie gerne ich es auch getan hätte, denn Unser Herr wollte bei mir auf einen besseren Zeitpunkt warten. Sollte ich es vorzeiten getan haben, ich hätte es singend und springend und fröhlich getan. Und doch weiß ich wohl, dass dies viel besser ist und viel nützlicher für mich als jenes, und auch Unserem Herrn genehmer. Denn ich weiß wohl, dass er hiermit auf den rechten Zeitpunkt gewartet hat.“
Diese Dinge hörte ein guter Mensch über sie sagen, die war Meisterin der Willigen Armen[107], und man hielt sie für einen guten gerechten wahrheitsliebenden Menschen. Die sagte: „Ach, wie hat sie so recht, und wie hat sie einen so guten Zeitpunkt abgewartet. Denn unter Hunderten von uns wartet nicht eine auf den rechten Zeitpunkt, und wenn der rechte Zeitpunkt kommt, so sind wir lau und erkaltet in der Minne. Und dann wenn wir über uns hinaus vorangehen [ fúr vns gon ] sollten, so lassen wir davon ab und treten wieder hinter uns,[108] und gehen dann heftig und schädlich irre in unserem Leben. Denn dann erst, wenn wir meinen, unsere Natur überwunden zu haben, so finden wir [223r] uns selber.“
Als diese gute Frau all ihr Gut so weggegeben hatte, da sagten etliche Leute, es werde sie reuen, und hätte sie es noch zu tun, sie würde es nimmermehr tun; das wüssten sie wohl. Dies hörte Jungfer Heilke, und sie ging zu ihr in ihr Kämmerchen, dass sie es von ihr erfahren wolle: die rechte Wahrheit. Und sie sagte zu ihr: „Liebe Gertrud, sage mir eine Sache, die ich dich frage.“ Und diese sagte: „Gerne, wenn ich es weiß.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ich vertraue bei dir Unserem Herrn gar wohl, dass er das, was er mit dir anfängt, auch bei dir zu Ende bringe. Nun sagen etliche Leute, es reue dich. Das wäre nun kein Wunder, es wäre menschlich.“ Da sagte sie mit Gewissheit [ sicherlich ]: „Heilke, du sollst das wissen: Wäre es noch zu tun, was ich getan habe, so weiß ich nicht, ob ich es (auch nur) so viel als wie mit einem einzigen Gedanken anders wollte. Und wisse, dass es mich nie (auch nur) so viel wie einen Augenblick reute. Ich habe damit guten Frieden und Ruhe.“
Dies fragte Jungfer Heilke nicht deshalb, dass sie keinen Zweifel an ihr habe, sondern dass sie die Wahrheit gerne aus ihrem Mund selbst höre, dass sie, wenn jemand sie fragen würde, die Wahrheit sagen könnte. Sie fragte sie einstmals auch und sagte zu ihr: „Sage mir, liebe Gertrud, wie kommt es, dass über dich ein solcher Schrecken und ein solches Zittern kam?“ Da antwortete sie ihr und sagte: „Es ist nichts, als dass die Natur gar so erschrickt und erstirbt wegen der Armut und darüber, dass sie weiß, dass sie nichts haben soll. Aber mit der Gnade Unseres Herrn so wird mein Wille nimmermehr (auch nur) so viel als wie mit einem Gedanken berührt, und wenn auch das Zittern vergeht und der Schrecken, so komme ich darüber [ sin ] zu gutem Frieden.“
Leben in Fremdsein und in Unterordnung
[Bereitschaft zum Verzicht auch auf die vertraute Lebenswelt und zum ungesicherten Bettlerleben in der Fremde]
[223v] Mit diesem Aufgeben ihres Gutes war diese selige Frau befasst und hatte damit zu tun vom Advent bis zu der Fastnacht. Da kam sie dann zur Ruhe, dass sie nichts mehr damit zu tun hatte, und war in ganzem Frieden mit Unserem Herrn und mit sich selber. Da gab ihr Unser Herr zu verstehen, dass sie auch die Herberge räumen müsse, und dass sie nicht eine Nacht da sein solle, wo sie die andere sei. Dies gab ihr Unser Herr nicht so ein, dass sie es sofort tun solle; vielmehr gab er ihr ein, dass sie ihren Willen gänzlich darein gebe, dass sie bereit sei, wegzugehen, wann und zu welcher Stunde er es wolle, und dass sie ihm hierin gänzlich gehorsam sei, wenn er dies wolle.
Dies tat sie und ergab ihren Willen gänzlich in den Willen Unseres Herrn, dass sie, zu welcher Zeit und welcher Stunde er es wolle, ihm dann gerne gehorsam sein wolle in all seinem Willen. Und darauf wartete sie allezeit von der Fastnacht bis zum Tag von Sankta Klara, sodass sie allezeit wartete, wann Unser Herr es wolle. Doch sorgte sie sich ziemlich viel, dass sie, käme es dazu, jede Nacht eine besondere Herberge haben müsse. Da fürchtete sie, dass sie bisweilen in manche Herberge kommen würde, die nicht gut für sie wäre. Und darüber hatte sie viele Sorgen, dass sie vor Schlimmem behütet werden möge.
Dies wollte sie nicht gerne Jungfer Heilke sagen, weil sie noch nicht sicher wusste, ob Unser Herr wolle, dass sie aus dem Haus müsse. Deshalb wollte sie es da noch niemandem sagen, und auch weil sie wohl wusste, dass Jungfer Heilke in [ durch [109] ] ihrem Herzen betrübt würde; denn, außer zu sterben, konnte dieser auf Erden nichts Leidvolleres geschehen [224r] als dass sie (Gertrud) aus dem Haus weg von ihr gewesen sein sollte. Deshalb verhehlte und verbarg sie es vor ihr, so gut sie nur konnte. Auf das, was sie brauchte, auf das kam sie nur mit verdeckten [ froͤmden ] Worten und gar oberflächlich [ vsserlich ], dass sie es doch nicht merke.
In diesen Zeiten nannte sie Jungfer Heilke „Minne“ und kam zu ihr und brachte ihren Rock und sagte: „Ach, liebe Minne, könntest du mir den Flicken da draufsetzen? Sieh, so würde er (sc. der Rock) dadurch haltbar [ starg ].“ Da tat sie es. Danach so manchen Tag später, da brachte sie ihren Mantel: „Ach, liebe Minne, mir scheint [ mir ist ], wäre dieser Mantel kürzer, er würde desto leichter und würde auch haltbar.“ Danach brachte sie ihre Schuhe und bat sie, dass sie ihr vier Flicken darauf schlagen lasse. Dies tat sie alles deshalb, dass sie dann, wenn Unser Herr es wollte, bereit sei, auf die Fahrt in die Fremde [ dz ellende ] zu gehen.
Nun merkte Jungfer Heilke wohl, dass sie genau das [ dz selbe ] im Sinn hatte, und doch wagte sie es durchaus [ wol ] nicht, mit ihr darüber zu reden oder sie darüber zu fragen, und schwieg dazu bis einstmals, da brachte sie (Gertrud) ein Stück Leinen und sagte: „Ach, Minne, wie wäre das so recht gut zu einem Säckchen, dass ein Mensch, wohin er auch gehe, etwas hineintue.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ich weiß wohl, was du willst. Gib her und lass dir einen Bettelsack machen für die Fahrt, dass, wenn der Herr auf diesen Weg mit dir will, du dann bereit bist.“ Dies sagte sie so fröhlich, dass die selige Frau gar froh wurde, dass sie es so leicht nehmen wolle. Und sie sagte zu ihr: „Ach, liebe Minne, wie wäre ich so recht froh, und es gäbe mir eine besondere Kraft in meinem Herzen, wollte es dir so leicht sein.“ Da sagte Jungfer Heilke ihr zum Trost: „Liebe Gertrud, was Unser Herr mit dir tun will, das soll ich ihm [224v] wohl vergönnen, mit dir zu tun; ich will meinen guten Willen dazugeben. Und doch weiß Unser Herr wohl, wie weh mir davon geschähe, müsstest du von mir weg aus dem Haus. Und doch will ich gerne meinen Willen dazugeben. Und das kommt daher, dass ich darauf vertraue, dass Unser Herr dein Leben auf das Allervollkommenste zur Vollendung bringen will. Und dass er nun das an dir zur Vollendung bringen will, wozu er dich von deinen Kindheitstagen an erzogen hat. Er gebe dir nur die Kraft, dass du das leisten kannst.“
Sie (Heilke) tröstete sie und tat dabei fröhlich; aber Gott der kannte ihr Herz wohl, wie bitter es für sie gewesen wäre, es zu ertragen, wenn es so hätte sein müssen. Aber wie weh es ihr tat, so unterstützte sie sie doch in all dem, was Gott an ihr wirkte. Sie machte ihr das Bettelsäckchen so wie es sein sollte. Dafür dankte sie (Gertrud) ihr demütig und sagte: „Nun lohne dir Gott, liebe Minne. Nun weiß ich nichts mehr, was mir fehlt und was ich gerne hätte.“
Danach verhehlte sie es nicht mehr vor ihr, und sie redeten miteinander darüber, wenn sie wollte, und sie sagte ihr, dass ihr Unser Herr zu verstehen gegeben habe, dass er das von ihr wolle, dass sie bereit sei, dass sie aus dem Haus gehe, zu welcher Stunde er es wolle, und dass sie keine Hoffnung haben solle, dass sie jemals noch wieder dahin zurückkäme. Denn so viel würde das besagen [ wer dz ]. Dass sie in dieser Stadt bleiben solle und da um Brot betteln gehen solle, oder ob sie auch aus dieser Stadt in eine andere fremde Stadt müsse, das wisse sie nicht. Und wohin sie auch käme, da solle sie nicht eine Nacht da sein, wo sie die andere sei. Bliebe sie aber in der selben Stadt, um da um Brot bitten zu gehen, und käme ihr dann Jungfer Heilke an der Straße entgegen: hätte sie dann die Gunst [ gnode ], dass diese (Heilke) sie eingeladen hätte und ihr den Imbiss [225r] gegeben hätte um Gottes willen, so hätte sie ihn wohl von ihr annehmen können um Gottes willen; und so hätte sie wohl wieder zurück in das Haus gehen können, und anders nicht. Und sobald sie so gegessen hätte, so sollte sie sogleich wieder weggegangen sein und keine Weile da bleiben. Dies gab ihr Unser Herr zu verstehen, und er gab ihr Bescheid, dass er es so wolle. Und das wollte sie dann, wenn er es wollte, gerne tun, und gab ihren Willen gänzlich darein.
[Fremdsein auch in der vertrauten Lebenswelt, in größter Armut]
Als diese selige Frau mit ganzem ergebenen Willen und Herzen und Gemüt jede Stunde wartete, wann Unser Herr wolle, dass sie weggegangen wäre in die Armut und Fremde, und als sich das so hinzog vom Advent bis in die Fastenzeit und sie allezeit ganz der Meinung war, dass sie aus dem Haus müsse, da gab ihr Unser Herr zu verstehen, dass sie sich zuvor entziehen müsse allem Trost in dem Haus, ganz so, als ob sie in ein fremdes Haus gekommen sei. Und von aller Annehmlichkeit, die sie durch alle Dinge in dem Haus habe, davon solle sie sich in allem entfremden und es abtun, so als wäre sie in einem fremden Haus und man hätte sie da um Gottes willen behalten. Da begehrte sie von Unserem Herrn zu wissen, wie ihm gefalle und wie er wolle, dass sie sich verhalte. Da gab ihr Unser Herr zu verstehen, dass er wolle, dass sie sich vom Tisch wegsetze dorthin an eine Bank, wie eine andere Arme Schwester, und dass ihr niemand mehr aufwarten oder mit dem Essen oder mit irgendwelchen Dingen warten solle. Und all die tröstlichen Stätten, wo sie zuvor gesessen, gelegen oder gewohnt habe, die müsse sie räumen und verlassen und von ihnen weichen, und dass sie nicht mehr zueinander Du sagten.
Nun war sie sogleich Unserem Herrn gehorsam, und setzte sich von dem Tisch weg auf ein Stühlchen, und sagte zu Jungfer Heilke: [225v] „Liebe Schwester Heilke, lasst euch das nicht schwer sein, denn es muss so sein, ich müsste eher aus dem Haus, ehe ich es nicht tun würde.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Schwester Gertrud, alles das, was Unser Herr mit euch wirken will, und wie er euch haben will, das will ich allesamt ertragen, wenn Unser Herr euch nur unter dem Dach lässt.“ Und als sie (Heilke) sah, dass sie so abgesondert zu Tische sitzen musste, da gab sie ihr ein Körbchen zu ihrem Brot, dass sie ihr Brot da hineinlege. Und alle Tage schnitt sie ihr ein Stück Brot, so viel, wie sie glaubte [ tru-wete ], dass sie (damit) genug habe, und legte ihr das in ihr Körbchen. Fehlte ihr etwas, so verlangte sie nicht nach mehr; hatte sie zuviel, legte sie es zurück in ihr Körbchen und behielt es, bis dass sie wieder aß. Wie hart es dann auch geworden war in dem Körbchen, so aß sie es stets zuerst. Und sie (Heilke) gab ihr auch ein altes kleines Tischtuch über ihr Tischchen, dass sie darauf esse, und auch einen kleinen Becher mit Wein.
Nun sollte auch niemand mit dem Essen auf sie warten. Deshalb, wenn es sich für Jungfer Heilke ergab, so ging sie und ihre junge Frau essen, und sie warteten nicht mehr auf sie (Gertrud). Und das bisschen Mus [ muͤselin ], das sie ihr geben wollten, das taten sie ihr in ihr Häfchen und deckten das Feuer ab und setzen ihr das Häfchen in die Asche. So war sie in der Kirche, bis dass man abschloss, und ging dann in den Hof (sc. der Kirche) an eine Stelle am Rand [ an ein ende ], um in einem Stuhl zu sitzen, und saß da eine lange Zeit, zuweilen bis dass man den Hof abschloss. Und ging dann nach Hause und nahm ihr bisschen Mus. War es kalt, so deckte sie das Feuer auf [ entrach ] und wärmte das Mus. War es aber warm, so nahm sie es und ihr Körbchen und was sie brauchte, Schüssel und Löffel und dergleichen, und da, wo sie saßen, ging sie hin, sich auf die andere Seite [ anderhalp ] von ihnen zu setzen, [226r] und machte da ihr Tischchen zurecht. Und wenn sie so an ihnen vorbeiging, da schlug sie ihre Augen nieder, dass sie sie selten jemals ansah, recht so, als wäre sie eine fremde heimatlose Arme Schwester. In der ersten Zeit setzte sie sich auf ein Stühlchen auf die Erde vor deren Tisch, und dasselbe musste sie auch sein lassen und musste anderswo sitzen, wo sie nicht waren. Und hätte ihr etwas gefehlt, hätte sie das keineswegs verlangt, denn sie wagte nicht, danach verlangt zu haben, auch wenn sie es gerne getan hätte, denn es wäre zu sehr machtausübend [ gewaltiklich ] gewesen. Deshalb wollte Unser Herr es nicht. Sie musste sich im Haus wie eine ganz und gar Fremde verhalten, weder gebieten noch verlangen recht so wie eine fremde Arme Schwester, die man um Gottes willen einlädt, und noch viel geringer. Denn sie wollte nicht, dass jemand sie beachte oder ihr irgendeinen Blick schenke. Wenn sie gegessen hatte, so trug sie selber ihr Geschirr weg, und oft wusch sie es selber. Und zuweilen sagte Jungfer Heilke, sie wüsche die Sachen nicht schön, und machte dabei deren Geschirr noch mehr [ oͮch ] unsauber. Dies tat sie deshalb, dass diese ihr Geschirr sie [ dz sú sú ir] waschen lassen sollte.
Sie lag auch in einem tröstlichen hübschen Kämmerchen. Das musste sie auch räumen, und sie richtete ihr Bett ein unter dem Dach im schnödesten Kämmerchen, das im Haus war, wo sie viel Hitze und Frost litt. Und wenn sie so viel Kraft hatte, dass sie es machen konnte, so lag sie auf einem Strohsack und hatte zwei eklige [ willin ] Leinenbetttücher, und ein grobes [ gro ] Tuch hatte sie über ihrem Bett als Decklaken. Und wo sie auch zuvor einen gewohnten Platz hatte im Haus, in der Stube oder anderswo, den musste sie verlassen und sich an den allerverschmähtesten Platz setzen. Sie spann [226v] auch Wolle [ wol ] um Lohn und nahm ihre Kunkel (sc. Spinnrocken) und saß vor ihrem Bett manche lange Zeit allein, und auch bisweilen bei ihnen allen. Auf allen leiblichen und geistlichen Trost musste sie verzichten [ begeben ] in dieser Zeit.
[Fremdsein auch gegenüber der engsten Vertrauten, in unbedingtem Gehorsam gegenüber Gott]
Als diese selige Frau so arm geworden war und all ihr Gut weggegeben hatte, da musste sie zu Jungfer Heilke „Hausherrin“ [ hus frowe ] sagen wie ein armer Mensch, den sie beherbergt hätte. Und diese sagte zu ihr „Schwester Gertrud“, und sie sagten (zuvor) zueinander „Du“, aber danach mussten sie zueinander „Ihr“ sagen. Unser Herr wollte ihr diesen Trost nicht mehr vergönnen. Und zuerst, als sie dies tun musste und ihr gar so fremd werden musste in allen Dingen, da sprach sie darüber mit Jungfer Heilke und sagte: „Ihr sollt zu mir „Ihr“ sagen, und ich soll auch zu euch „Ihr“ sagen, es kann recht nicht anders sein.“ Und sie sagte dies mit einem ernsthaften Antlitz. Und Jungfer Heilke, die erschrak gar schlimm, und es tat ihr gar weh, dass diese ihr in jeder Hinsicht [ in allewege ] gar so unvertraut sein müsse und ihr gar so fremd werden müsse.
Sie (Gertrud) redete nicht mehr mit ihr und beachtete sie nicht mehr wie zuvor. Sie wagte kaum je sie anzusehen. Sie war ihr gar so unvertraut, dass sie oft bis zum dritten Tag dabei verblieb [ wz ], dass sie nie ein Wort zu Jungfer Heilke sprach und sie nie ansah. Dies tat ihr (Heilke) gar weh, doch ertrug sie das alles gerne, damit ihr Unser Herr das vergönne, dass diese wenigstens in dem Haus bei ihr bliebe. Sie (Gertrud) war Unserem Herrn gehorsam ganz nach seinem Willen, so wie es ihm an ihr gefiel. Und nach dem dritten Tag, da redete sie gar zurückhaltend [ schemmeklich ] mit ihr und nicht so beherzt [ getúrsteklich ] wie zuvor. Dieses Verhalten hatte sie gegenüber allen Menschen, und besonders gegenüber Jungfer Heilke, weil diese ihr zuvor vertrauter war und ihr auch Unser Herr dadurch mehr Trost nahm, [227r] und damit sie ihre Natur mehr überwinden müsse, um ihr besonders fremd zu sein.
Aber Unser Herr erkannte sie allezeit als so willig und als so gehorsam, dass es ihm auch von ihr genügte; denn hätte er es gewollt, auch wenn es um ihr ganzes Leben gegangen wäre [ durch alles ir leben ], sie wäre ihm gehorsam gewesen. Das, was Gott ihr zugemutet hätte, konnte nicht so groß sein noch so schwer und unerträglich, sie wäre ihm gänzlich gehorsam gewesen, soweit wie all ihre Kraft es hätten leisten können.
[Erlaubnis von Ausnahmen in bestimmten Situationen]
Wenn ein Festtag war und Jungfer Heilke sie an ihren Tisch lud, so setzte sie sich dahin, wo diese (Heilke) es ihr gebot, sich hinzusetzen. Wenn diese sie so zu Tische lud aus Gunst und aus besonderen Gründen [ sachen ], so aß sie bei ihr mit Erlaubnis Unseres Herrn.
Als sie nun so ganz und gar abgesondert war von allen Dingen, beim Essen und beim Zusammenwohnen [ by wonung ], da hatte Jungfer Heilke große Sorge, dass sie bisweilen auf sie vergessen würde und dass sie nicht so für sie sorge [ zuͦ sehe ] in dem, was sie nötig habe, wie sie das wohl brauchte. Denn diese wagte es nicht, etwas zu verlangen. So fürchtete sie (Heilke), dass sie bisweilen auch auf sie vergessen würde, und dass sie nicht für sie sorgen könne entsprechend dem, was diese nötig habe, und entsprechend ihrer Schwäche, und weil diese den ganzen Sommer so alleine saß und es anfing, sich so in die Länge zu ziehen, ohne dass sie (Gertrud) davon abließ. Und aus rechten Sorgen, die Jungfer Heilke um sie hatte, da klagte sie es ihrem Beichtvater. Der redete mit ihr (Gertrud) und riet ihr und bat sie, dass sie sich wieder an den Tisch setze. Und er sagte ihr so viel und überredete sie, dass sie sagte: „Vermag ich es zu tun, so will ich es gerne tun.“ Sie blickte in ihr Inneres [ ging in sich selber ] und achtete darauf, ob es Unserem Herrn gefallen wolle. So setzte sie sich wieder an den Tisch, und Unser Herr vergönnte es ihr wohl. Denn sie war den ganzen Sommer abgesondert gesessen, von Ostern bis an den Tag von Sankt Martin, wenn [ dz ] man in den Stuben sein musste. [227v] Da war ihr Stübchen (sc. die Stube der Schwesterngemeinschaft) eines der kleinsten, das ich je gesehen habe, und sie hatten eine Enge, dass es nötig war, dass sie (Gertrud) sich wieder an den Tisch setzte.
[Fortwährende Überprüfung der Richtigkeit des eigenen Handelns, und Leben in bedingter Sicherheit]
In dieser Zeit war sie so ganz und gar abgeschieden von allem Trost, dass sie aus und ein ging, recht als ob sie niemanden kenne, und es entfernten sich von ihr auch alle Menschen, denn die Besonderheiten, die Unser Herr bei ihr ins Werk setzte [ wúrckte ], die missfielen allen Menschen, sodass alle ihre besonderen Freunde von ihr weggingen, außer allein Jungfer Heilke. Und als dieselbe die Leute so dagegenreden hörte, und besonders die Leute, von denen sie meinte, dass sie ihr (Gertrud) hätten beistehen sollen, da erschrak sie gar schlimm und war in großen Sorgen. Und sie ging zu ihr und sagte: „O weh, liebe Schwester Gertrud, tut es um Unseres Herrn Erbarmen willen und schaut auf euch selber, was recht für euch sei, und dass ihr euch sicher seid in dem, was ihr tut.“ Da antwortete sie ihr und sagte: „Seid ohne alle Sorge und wisst, dass ich nie irgendetwas von diesen Dingen tun würde, wäre ich mir darin nicht so sicher, wie ich mir sicher bin, dass Gott im Himmel lebt. Und wisst, dass ich nie etwas von diesen Dingen plötzlich tue. Ich stelle mich selbst sehr wohl auf die Probe [ versuͦche ], und würde Unserem Herrn oft ganz freventlich Widerstand leisten, würde ich es nicht als einen Versuch und auf ein Besseres hin unternehmen; ich könnte (sonst) eine große Sünde deswegen fürchten. Deshalb seid ohne alle Sorge, wenn alle Menschen sich von mir entfernt haben in diesen Sachen, außer so viel, dass ihr zu mir steht. Unser Herr soll [ muͤsse ] es nimmermehr vergessen, denn es (sc. der Beistand Heilkes) kann mir sehr notwendig sein, und das erkennt Unser Herr auch wohl.“
Diese Frau war so ganz und gar verlassen von allen Menschen. Nun wartete sie auch allezeit, wann Unser Herr sie verstoße [ vs sluͤge ] aus dem Haus. Und am Tag von Sankta Klara gab ihr [228r] Unser Herr zu verstehen, dass sie bleiben solle; und so wurde ihr (auch) Anweisung gegeben, dass sie sich dessen sicher war. Aber es wurde ihr auch genauso Bescheid gegeben von Unserem Herrn, dass sie keine andere Sicherheit haben solle als insoweit, wie Jungfer Heilke es wolle. Wolle diese ihr etwas geben, solle sie das nehmen um Gottes willen. Und wenn Jungfer Heilke wolle, dass sie das Haus verlasse, solle sie das tun und solle danach sie fortan unbehelligt [ vngeirret ] lassen. Aber so lange, wie Gott Jungfer Heilke die Gunst verleihe [ gnode gebe ], dass sie ihr das geben wolle, was für sie (Gertrud) nötig sei, so könne sie das wohl von ihr annehmen. Dies tat Jungfer Heilke und gab ihr das, was für sie nötig war, bis an ihren Tod.
[Leben in völliger Unterordnung]
Aber in der Zwischenzeit kam sie (Heilke) oft dazu, dass sie sich selbst misstraute, und sie kam in eine große Furcht, dass ihr Unser Herr die Gunst ihr (Gertrud) gegenüber wegnehmen werde und dass er sie damit ihre Sünden entgelten lasse, und dass er ihr (Gertrud) gebieten würde[110], wegzugehen, und sie (sc. aus dem Haus) ausstoßen würde. Sie bat oft Unseren Herrn, dass er sie davor behüte und ihr die Gunst ihr gegenüber nicht wegnehme. Danach ergab sie (Gertrud) sich ganz und gar in den Gehorsam gegenüber Jungfer Heilke; was diese ihr gab, das nahm sie an; was diese ihr gebot, das tat sie; und so wie Jungfer Heilke zuvor sechzehn Jahre lang in ihrem (Gertruds) Gehorsam gewesen war und nach ihrem Willen gelebt hatte, so war nun sie zwölf Jahre lang in deren Hand und in deren Gehorsam, bis dass sie von dieser Welt schied.
Wenn sie sich nun so ganz und gar in deren Hand gegeben hatte, da geboten ihr (Heilke) ihre Beichtväter, dass sie ihr (Gertrud) gebiete und ihr befehle all das, wovon sie wusste, dass es für sie (Gertrud) notwendig sei; sie tue damit Gottes Willen, und sie dürfe deswegen keinen Tadel [ stroffung ] bekommen. Und sie tat so und gebot ihr oft, Fleisch zu essen, wenn sie keines gegessen hatte, und viele solcher Dinge, die sie ihr so zu tun gebot, [228v] die diese nicht getan hätte, wären sie ihr nicht geboten worden. Und was sie (Heilke) ihr so gebot, dafür hatte sie (Gertrud) gute Erlaubnis von Unserem Herrn, dass sie ihr darin gehorsam sei.
Aber doch, wenn diese ihr etwas gebot, da sagte sie oft zu Jungfer Heilke: „Schau, liebe Minne“, denn so nannte sie diese, als sie sich so ganz und gar in deren Hand gegeben hatte und diese so mütterlich für sie sorgte, da nannte sie diese „Minne“ und sagte: „Schau, liebe Minne, dass du recht tust in dem, was du mir gebietest. Dir geziemt es wohl, dass du mir nicht zu mutwillig [ frevelich ] gebietest. Deshalb, dass Gott es dir lohne, schau auf dich selber, ob es Unserem Herrn gefalle. Ich versichere dir [ sage dir wol ], ich habe guten Frieden dabei, es zu tun.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Schwester Gertrud, seid ohne alle Sorge und tut, was ich euch gebiete.“ Und sie scherzte dann mit ihr und sagte: „Liebe Schwester Gertrud, meint ihr, dass ich meine Seele verlieren wolle um euretwillen?“ Sie sorgte für sie so mütterlich wie eine Mut-ter für ihr Kind, und war froh, dass ihr Unser Herr vergönnte, das zu tun.
Diese Frau kam auch oft gar demütig zu ihr und legte ihre Hände zusammen und sagte: „Liebe Minne, weißt du keinen Bedürftigen, zu dem du Gunst hast, und bei dem dir dünkt, dass er dessen bedürfe? Dem gib, was du mir geben willst, dass Gott es dir lohne; darum bitte ich dich.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Darin sei ohne Sorge, das kann ich wohl tun, wenn es mir passt. Und wenn ich will, so kann ich wohl sagen: Schwester Gertrud, geht hinaus und lasst mich unbehelligt, ich kann euch nicht mehr gebrauchen [ gespulgen [111] ].“ Da sagte sie: „Das sollst du tun, liebe Minne, wenn du willst. Du hast viel gutes Recht dazu, denn ich bin dessen unwürdig; das erkennt Unser Herr wohl.“
[Ablehnung von Wohltaten, und Blick auf noch Ärmere]
All die Zeit, da Jungfer Heilke für sie so sorgte und [229r] ihr das, was sie nötig hatte, um Gottes willen gab, da wollte sie von niemandem sonst irgendetwas annehmen, wie gerne auch andere Leute ihr etwas gegeben hätten um Gottes willen, Pfennige oder anderes, da wollte sie das nicht.
Der Landgraf vom Elsass, der hörte, wie man von ihr sprach, der sandte ihr fünf Schillinge und sandte die ihrem Beichtvater, dass er sie ihr gebe. Der erbat bei ihr nur mit Mühe, dass sie diese nahm um Gottes willen. Denn der Herr (sc. der Landgraf) hatte große Geneigtheit [ gnode ], dass ihr von seinem Gut etwas zuteil werde. Er hätte ihr gerne mehr gesandt, da wollte sie das nicht.
Wenn sie eine Arme Schwester sah, von der ihr dünkte, dass sie es nötig habe, da sagte sie zu Jungfer Heilke: „Liebe Minne, sieh, das ist so ein Armes Schwesterchen, wolltest du ihm diesen Rock geben? Mir scheint, dass es diesen so nötig hätte; ich habe da noch genug.“ Da sagte diese: „Das kann ich wohl tun. Wenn es mir passt und es mir gut dünkt, so ziehe ich euch den Rock kopfüber aus und gebe ihn einem anderen.“ Da sagte sie: „Ach, tu das, liebe Minne, dass Gott es dir lohnen müsse.“ Da sagte dann Jungfer Heilke: „Schwester Gertrud, ich will, dass ihr ihn so lange habt, wie ich will.“ Danach wiederum, nach ziemlich langer Zeit, da sagte sie (Gertrud) sehr demütig: „Liebe Minne, wenn es dich anficht und Unser Herr es dir zu verstehen gibt, so gib einem anderen, was du mir gibst; Unser Herr verlässt mich doch nicht.“[112]
Vollkommener Friede im Zustand der wahren Armut, und Sinken in die Gottheit
[In der wahren Armut des Geistes]
Diese selige Frau sagte sich los [ begap ] von Ehre und Gut, Verwandten und Blutsverwandten, Rittern und Knechten, und von allen ihren Freunden. Die zuvor „Muhme“ und „Base“ zu ihr gesagt hatten, die bat sie, dass sie nun „Schwester Gertrud“ zu ihr sagten und sie so wie eine andere Arme Schwester hielten. Und das selbe tat sie doch gar mit Erschrockenheit und nicht [229v] mutwillig. Hätte sie es so aus Freiheit des Geistes getan: das wäre ihr sehr zuwider gewesen, hätte man es so verstanden; sie tat es aus rechter Demut, und dass sie keinerlei Ehren begehrte von ihren Verwandten noch von aller Welt.
Sie sagte sich los von Annehmlichkeit und allem Trost, leiblich und geistig, und von all dem, mit dem und in dem sie jemals trostvoll Umgang gehabt hatte [ gewandelt hette ] auf Erden und in dem Himmel. Etliche Heilige, die ihr lieb waren, die musste sie lassen, und besonders Sankt Johannes Evangelist, den hatte sie von Kind auf lieber als andere Heilige. In ihren jungen Tagen ging sie mit anderen ihresgleichen und wollte einen Apostel erlosen und hätte gerne Sankt Johannes gehabt und erloste zweimal Simon und Judas. Und sie wollte diese nicht und behielt Sankt Johannes und ehrte ihn hoch [gr oͤ slich] bis zu dieser Zeit, da musste sie ihn lassen, dass sie nicht mehr wagte, ihn zu ehren, so wie sie es zuvor getan hatte.[113] Und sie musste Sankt Simon und Sankt Judas ehren, die musste sie da haben anstatt von Sankt Johannes.
So musste sie all das, was ihr tröstlich war, lassen. Sie hatte weder etwas zu lassen noch zu geben noch zu gebieten noch anzuordnen [ rihten ], in keinerlei Sache auch nur irgendetwas. Denn so hatte sie Weisung bekommen von Gott in dem Geist, sich selber zu lassen und alle Dinge. Sie musste sich in dieser selben Zeit lossagen von geistlichem und göttlichem Trost, und so wie sie zuvor göttlichen Trost und Süßigkeit tröstlich und lustvoll empfangen hatte von Gott, und ihre Seele göttlichen Trost oft und viel in großer Lust empfangen und genossen hatte, so wurde sie dessen nun beraubt, sodass sie die Gnade und den Trost Gottes so nehmen musste, dass da Lust und Trost ihrem Herzen und ihrer [230r] Seele nicht mehr nahen durften; davor musste sie sich hüten mit Fleiß.
Sie sagte einstmals selber zu Jungfer Heilke, als sie miteinander hierüber redeten, und sagte: „Wahrlich, Schwester Gertrud nähme das sehr gerne von Gott: Trost mit Lust, so wie sie das zuweilen genommen hatte und es (nun) nicht darf [ vnd engetar ]; es ist ihr verboten, sodass sie es nicht mehr tun darf.“
So wurde sie beraubt allen Trostes, geistlich, göttlich, leiblich und krea-türlich, an allem wie man es zu Lust [ noch luste ] und zu Trost genießen und haben mag. Und dies ist die wahre Armut des Geistes: nichts haben und nichts begehren, als nur insoweit, wie Gott es der Seele vergönnen und geben will.[114]
[In vollkommenem Frieden mit Gott, mit sich selbst, mit allen Geschöpfen]
Als sie nun so ganz alle Dinge aufgegeben hatte, dass sie nichts mehr hatte zu lassen noch zu geben noch zu gebieten noch zu verlangen noch zu fragen noch zu wissen noch zu reden mit irgendjemandem über irgendetwas, noch auch hatte sie irgendeinen Blick für irgendein Ding in dieser Zeit, noch hatte sie irgendeine besondere Übung: und hatte alles das getan und vollbracht, das Kleine und das Große, das Gott je von ihr wollte und das ihm an ihr gefiel, und war in ganzem Frieden mit Gott und mit sich selber und mit allen Geschöpfen, und war von keinerlei Dingen mehr in Anspruch genommen [wz muͤssig ], und so [ in disem ] waren (nun) ihr Lebenswandel und ihr Gebaren und ihr Tun allezeit gleich, sie ging aus und ein in Schweigen, sie redete und fragte nichts, sie hatte keine Übung und kein Wirken, weder äußerlich noch innerlich, ihr Antlitz und all ihr Gebaren und all ihr Lebenswandel und ihr Tun waren in einem steten süßen ruhigen friedvollen Ernst und auch allezeit gleich.[115]
[In der wahren Vergessenheit]
Das sah und merkte Jungfer Heilke wohl und verwunderte sich sehr und hätte gar gern [230v] gewusst, wie ihr Leben und ihr Tun seien in dieser Zeit. Denn sie konnte an keinerlei Dingen merken, wie ihr Leben und was ihr Tun sei [ wz ires tuͦndes wer ], wenn sie kein Wirken und keine Übung hatte, woran sie es merken könnte. Sie dachte viel daran, wie sie es von ihr erfahren könne. Und einstmals waren sie zur Vesper bei den Barfüßern, und es fiel ihr abermals ein, dass sie es gar gern gewusst hätte, und sie wagte nicht, sie darüber zu fragen, und neigte sich demütig vor Unseren Herrn und bat ihn ernstlich, dass er ihr etwas zu reden und zu fragen gebe, womit sie diese dazu verleite [ hinderkeme ], dass sie es ihr sagen werde. Und ihr fiel eine Frage ein, die sie diese fragen wollte. Und sie stand auf und ging zu ihr und bat sie, dass sie mit ihr auf den Hof gehe, denn der Hof war gar einsam [ einig ]. Und sie setzten sich da nieder bei einer Linde, und Jungfer Heilke hob an und sagte: „Man predigt uns oft, und die Lehrer sagen uns viel von dem Vergessen: wie der Mensch vergesse auf alle Geschöpfe während der Weile[116] und während der Stunde, wenn der Mensch und die Seele vereint sind mit Gott.“ Und sie fragte und sagte: „Ist das dann für die Seele so vergessen, als ob sie (sc. Mensch und Seele) nie geschaffen seien? Oder wie ist das Vergessen? Oder bleibt ihr im Innern ein Bild schweben?“ Und diese sah eine Weile ganz in sich selbst hinein und sagte: „Ich kann dir jetzt nichts darüber sagen.“ Und sie ließen es so bleiben für dieses Mal.
Danach aber nach einer Vesper waren sie abermals bei den Barfüßern. Da kam sie zu Jungfer Heilke und gebot ihr, mit ihr hinaus auf den Hof zu gehen. Und sie setzten sich an eine Stelle am Rand, und sie hob an und sagte: „So wie du [231r] mich nun fragtest, darüber kann ich dir nichts sagen. Ich sage dir wohl (etwas) über das Vergessen: wie der Mensch vergisst auf alle Geschöpfe und auf alle Dinge – der Mensch, der all sein Leben hindurch geführt wird in dem Geiste von Gott.“ Und sie (Heilke) wurde gar von Herzen froh und sagte: „Ach ja, liebe Gertrud, wie würde ich das so recht gerne hören, und wie ist es so recht gut, davon zu hören und zu wissen.“ Und diese sagte: „Sieh, der Mensch, den Gott so aufzieht in dem Geist all sein Leben hindurch, und dem all sein Leben geordnet wird von Gott in dem Geist, dieser Mensch mag wohl da hinkommen in diesem Leben, dass er vergisst auf alle Geschöpfe und auf alle Dinge, recht so, wie da ein Mensch den anderen vor dreißig Jahren gesehen hätte und dieser ihm dann gegenwärtig würde. Da dächte er: Wo hast du diesen Menschen schon gesehen? Recht in solche Vergessenheit geraten [ werdent ] ihm alle Geschöpfe und dann noch die Dinge, die ihm allezeit gegenwärtig sind und die er sieht und handhabt [ handel t], nützt und gebraucht.“
[Sinken in die Gottheit]
Da sagte Jungfer Heilke: „Ach, Liebe, wie ergeht es dann dem Menschen [ got der moͤnsch ]?“ Da sagte sie: „Er geht in einem Schweigen, und ihm sind alle Dinge fremd geworden und entzogen und entfernt.“ Da sagte Heike abermals: „Wie ist dann der Lebenswandel des Menschen? Hat er dann keine Übung?“ Da sagte sie: „Nein. Über [ fúr ] das alles ist der Mensch entrückt [ gezogen ], und er hat es zurückgestoßen.“ Da sagte Jungfer Heilke abermals: „Ach, Liebe, was ist dann das Tun des Menschen?“ Da sagte sie: „Das sage ich dir. Dieser Mensch, der wandelt in einer ruhigen Stille und er kann nichts mehr, weder wirken noch [231v] ersinnen [ meinen ] noch begehren[117], kurz alles, was man nennen mag und wovon man reden kann, davon weiß der Mensch nichts mehr. Und alles Tun des Menschen ist dann nicht anders, als dass er erträgt das Werk Gottes.
Und so weiß sie (sc. die Seele) nichts mehr über irgendein Ding. Nur eines empfindet sie wohl, dass sie ein stetiges unablässiges Einsinken hat; der Mensch schlafe oder wache, er esse oder trinke, oder was er auch tut, so ist das Sinken stetig. Aber wie tief er sinkt, das wird dem Menschen nimmermehr bekannt bis an die Zeit, dass ihm alle Dinge eröffnet werden. Da wird er es wissend, so wie er in Gott ewig dessen teilhaftig werden [ gebruchen ] soll.“ Da sagte Jungfer Heilke: „ „Liebe Gertrud, ist dies ‚Sinken in die Gottheit‘?“ Da sagte sie: „Ja.“[118]
Als Jungfer Heilke diese Rede von ihr gehört hatte, da wurde sie so recht von Herzen froh, dass sie dies von ihr wusste und dass sie allezeit mit ihr Umgang haben sollte. Es war die liebste tröstlichste Kunde [ mer ], die sie bis zu dieser Zeit gehört hatte, und sie legte es sich auch so ans Herz, dass sie bis zu ihrem Tod nimmermehr darauf vergessen wollte, und dass sie dafür Unserem Herrn immer mehr danken wollte, dass er ihr das vergönne. Dies (sc. diese Rede) sagte sie (Gertrud) Jungfer Heilke zwölf Jahre vor ihrem Tod.
Kurz nach dieser Rede kam sie zu Jungfer Heilke und sagte sehr beiläufig und obenhin [ vnahtberlich vnd vsserlich ] : „Ach, Liebe, so wie ich nun mit dir redete, das lass so bleiben; darum bitte ich dich. Und ich bitte dich, dass du es nimmer Menschen sagst, solange ich lebe.“ Das gelobte sie ihr und hielt sich auch stets daran.
Die Bestätigung und Vollendung des heiligen Lebens
Spiegelung des Lebens in mystischer Predigt
[Predigt über ein Leben in Innerlichkeit]
Ein Lesemeister hielt eine Predigt,[119] die hörte diese selige Frau und auch Jungfer Heilke. Und die Predigt betraf ganz und gar ihr Leben. Und es war [232r] ihr oft und viel gar wohl mit dieser Predigt. Und sie bat Jungfer Heilke, dass sie sie nicht vergesse und sie ihr oft aufsagte. Denn diese konnte gar wohl Predigten (im Gedächtnis) behalten und sie gar genau nachsprechen. Und wenn sie ihr diese selbe Predigt aufsagte, so hörte sie (Gertrud) sie so gerne und lauschte darauf so eifrig [ genot ], als hätte sie sie nie gehört. Und viele Jahre danach da verstand Jungfer Heilke erst, dass ihr (Gertruds) Leben gar so genau in diese Predigt einbegriffen und eingeschlossen war. Und weil sie (die Predigt) nun gar so genau ihr Leben betraf, da habe ich sie hierhergeschrieben, nur rein [ blos ] den Sinn dieser Predigt, so kurz wie ich es nur konnte.
Er redete über die Leute, die ein Leben in Innerlichkeit führen [ inneren lebendes sint ], und sagte: „Erstens werden sie verwundet von Gott, zweitens werden sie gebunden an Gott, drittens kommen sie ein Kranksein, viertens werden sie herausgetrieben [ vs geslagen ] in die Dörfer [ doͤrffelin ] dieser Welt.“
[Erstens: Verwundet von Gott]
„Zum ersten. Die da verwundet werden von Gott, denen kommt Gott mit einer eingegossenen Gnade zuvor[120], und das ist eine Mahnung im
Innern, die die Seele nimmermehr ruhen lässt, bis dass das ganze Leben des Menschen entsprechend dem Willen Gottes geordnet wird, im Äußeren und im Innern.“
Dieses erste Teil [ stúckelin ] hatte diese selige Frau vollkommen zu eigen [ an ir ]. Sie wurde zuerst verwundet von Gott, dass die Wunde nie verheilte. Gott war ihr auch zuvorgekommen mit einer eingegossenen Gnade, die sie im Innern beständig mahnte, sich von all dem abzuwenden, was nicht Gott war. In der ersten Zeit ihres geistlichen Lebens war sie darum besorgt, wie sie ihr Leben und alle ihre Sachen nach Gottes Willen richte. Ihr waren Ehre und Gut und alle materiellen [ liplichen ] Dinge zuwider und all das, was [232v] sie von außen her beschweren könne. Hierüber war ihr Herz und all ihr Inneres besorgt, wie das alles geordnet werde nach Gottes Willen. Und sie ließ auch nicht davon ab, bis dass ihr das zuteilwurde [ zuͦ kam ], dass sie zu ganzem Frieden gelangte mit Gott und mit allen Dingen.
[Zweitens: Gebunden an Gott]
„Zum zweiten werden sie an Gott gebunden, denn sie legen Gott auf ihr Herz so wie ein Myrrhenbüschelchen[121], sodass sie nie mehr auf ihn vergessen. Sie fragen über ihn nach, sie hören gerne über ihn reden, sie reden selber über ihn, sie minnen ihn vor allen Dingen, sie haben ihn im Sinn in allen Dingen, und alle ihre Sinne befassen sich so ganz und gar mit Gott; schlafen sie, so träumen sie von Gott.“
In diesem Teil (der Predigt) sagte er, wie der König Pharao mit seinem Gesinde durch die Wüste zog und da ins Verderben geriet im Roten Meer. „So geschieht auch der Seele. Wenn der Feind sieht, dass ihm die Seele gar so entgehen will und er überhaupt nichts da findet, was ihm gehört, da nimmt er sein Gesinde und rührt all die Fehler auf und bringt sie hoch [ rúgelet vnd beweget vf ], die er in der Seele finden kann. Und er richtet sich mit Fleiß auf all die Wege, die er finden kann, wie er die Seele wieder zu sich ziehen könne. Da kommt Unser Herr und vertreibt den Feind und all die Fehler der Seele, dass sie ihr nicht mehr schaden können.“
Dieses Teil hatte sie auch vollkommen zu eigen. Sie vergaß nimmermehr auf Unseren Herrn. Er war beständig in ihrem Herzen, und in beständiger Betrachtung in ihrem Innern war sie bei ihm. Sie hatte ihn in trauter Liebe [ trútliche ] auf ihr Herz gebunden so wie ein Myrrhenbüschelchen, dass sie auf ihn nimmer vergaß. Sie hörte gerne über ihn reden; ihre Worte waren gering an Zahl [ lútzel ], und diese selben waren über ihn.
[Drittens: Minnekrank nach Gott, und vereint mit ihm]
In dem dritten Teil sagte er, wie sie minnekrank werden und süße Sehnsucht nach Gott haben, und sie haben das Verlangen nach dem Tod, denn sie wären [233r] gerne allezeit bei ihrem Geminnten. „Und aller Trost dieser Welt ist ihnen eine Bitterkeit, und alle Freude und alles Vergnügen ist ihnen eine Verdrießlichkeit, und alle Dinge sind ihnen ein Nichts, und Gott ist ihnen Alles [ alle ding ]. Sie haben sich abgeschieden von allen Geschöpfen, und sind allein mit Gott befasst und sind vereint mit Gott.“
„In diesem Teil“, sagte er, „wird die Seele von Gott gar so bestärkt in der Gnade, dass keinerlei Ding es vermag, dass sie (sc. die verinnerlicht Lebenden)[122] von Gott weichen [ gewencken ]. Leiden ist ihr Trost, Geringschätzung [ versmehde ] ist ihre Freude, Armut ist ihr Reichtum, und alles, was ihnen davon begegnet, das ist ihnen förderlich [ ein fúrderung ] und ihr Allerbestes.
Sie (sc. die Seele) wird in diesem Teil bestätigt in allen Tugenden und im höchsten Rang [ ordenung ]. Sie ist innerlich bereit für die Gegenwärtigkeit Unseres Herrn und dazu, seinen göttlichen Trost zu empfangen und alles das, was er an ihr wirken will: sei es im Erkennen seiner unergründlichen [ grundelosen ] Wunder oder im Schauen seiner ewigen Klarheit oder im Genießen seiner überlustvollen Süßigkeit.[123] Sie kann auch an göttlichem Trost gar wohl Mangel haben, wenn er will, weil er dann nun wohl weiß, dass sie nicht von ihm weggeht, weder aus Liebe noch aus Leid.“
[Viertens: Herausgetrieben in die Dörfer dieser Welt]
„So treibt er sie heraus in die Dörfer dieser Welt, das heißt, er will, dass sie auf das sieht, was ihr Mitmensch [ eben moͤnschen ] nötig hat, und diesem zu Hilfe kommt, im Äußeren wie in dem, was das Innere betrifft, so wie er es braucht, und besonders in den Dingen, die die Seele angehen. Sie weisen die Leute hin auf die göttlichen Dinge, sie weisen sie zurecht wegen ihrer Sünde und ihres Unrechts, sie warnen sie vor ihrem Schaden, sie lehren sie Tugenden und gute Übung und alles das, womit sie ihren Mitmenschen fördern können zu Gottes Lob und zu ihrem Heil. Das machen sie mit so [233v] hitziger Begierde, zu welcher Zeit es sich (auch) fügt, so als ob sie derweilen großen Trost von Gott genießen sollten.“ Er sagte auch: „Wenn irgendwelcher Mensch hierzu gekommen ist, dass er solche Werke wirken kann ohne Schaden, ist das das Höchste, wozu der Mensch kommen kann in diesem Leben.“
Hierzu war diese selige Frau gekommen, dass sie alle solchen Werke wirkte ohne allen Schaden, so wie ihr es wohl hört in ihrem heiligen Leben. Sie wurde herausgetrieben in die Dörfer dieser Welt; sie wurde in dem Geist von Gott hingewiesen auf die Fehler ihres Mitmenschen, so wie ihr es zuvor wohl gehört habt. Hätte sie alle Menschen von ihren Fehlern wegführen [ gewiset ] und mit Unserem Herrn verbinden können, sie hätte es gerne getan. Sie machte es auch gar so heimlich, dass es ihr leid getan hätte, wenn es jemand in Erfahrung gebracht hätte. Ihre Worte, die sie mit den Leuten redete, die gingen ihnen so nahe zu Herzen. Sie brachte auch etliche Leute mit ihren milden demütigen Worten und Werken zu dem, wozu weder Prediger (sc. Dominikaner) noch Barfüßer sie bringen konnten. Mit ihren demütigen milden Worten und mit ihren Tugenden machte sie die Leute tugendhaft, geneigt und folgewillig [ gevoͤlgig ] zu allen guten Dingen. Wie (auch immer) sie den Leuten helfen konnte, das machte sie in den Dingen, die sie nötig hatten, leiblich und geistlich.
Die Heilswege Gottes
[Gedanken über das Schicksal Ungerechter und Gerechter]
In einer Zeit gab es eine gar große Teuerung, dass ein Viertelmaß Korn vier Schillinge kostete und ein Pfund Straßburger Pfennige. Und es starben gar viele Leute vor Hunger. Und als die Leute so sehr vor Hunger starben, und man so viele von ihnen tot fand, da kam sie zu so viel Erbarmen darüber, und die Not und der Hunger der armen Leute taten ihr so weh, dass ihr gar weh [234r] geschah aus innerem herzlichen Mitleiden. Und als ihr das so weh tat, da kam ihr in den Sinn [ kam ir fúr ] durch einen guten Menschen – so dünkte es (nämlich) Jungfer Heilke, dass sie das durch einen anderen guten Menschen wusste, was ihm Unser Herr kundgetan habe – , dass viele von ihnen durch den Tod, den sie durch Hunger erlitten, errettet würden; dass sie sonst ewig verloren wären, wären sie nicht durch Hunger tot. Da wurde sie gar wohl getröstet und dankte Unserem Herrn für die Treue, die er zum Heil des Menschen habe, und wie viele Wege er suche, dass er ihn errette.
Es geschah ihr auch oft, wenn arme jammervolle Bedürftige kamen, in der Kirche (um Almosen) zu bitten: was da falsch und ungerecht in seinem (sc. des Bedürftigen) Leben war, das wurde von ihr in dem Geist erkannt, und ihr Inneres wurde gar so verstört [ entrihtet ] über sie, wenn sie gar so jammervoll taten; und hätte sie es tun sollen, so hätte sie diese geschlagen und gestoßen und gar übel behandelt: gar so zornig wurde ihr Geist über sie. Aber für die, die mit Wahrheit und Gerechtigkeit (lebten und nun) betteln gingen [ vmb gingent ], für die kam ihr Geist zu so viel Erbarmen, dass sie zu ihnen gerne gar gut gewesen wäre, sodass sie oft zu Jungfer Heilke sagte: „Siehe, mein Geist hat so viel Minne und Liebe zu ihnen; könnte er sie emportragen aus Liebe, würde er es gerne tun.“
[Ein seliger Tod]
Es starb ein Armes Schwesterchen[124] nebenan [ neben ir ] im nächsten Haus, und recht um dieselbe Zeit, als es verschied, da hörte sie in den Lüften das allersüßeste Tönen und Singen, das menschliches Ohr je gehört hat, und sie wusste nicht, was es war. Und als sie am Morgen sagen hörte, dass das Schwesterchen tot sei, und fragte, zu welcher Zeit es verschied, da war das recht zu derselben Stunde, als sie das Tönen so gehört hatte in den Lüften. Da sah sie es dafür an, dass es die heiligen Engel waren und die Seele mit sich zum Himmel führten.[125]
Mystische Predigt über die Geheimnisse Gottes
[Predigt über Sankt Johannes Evangelist, den Adler auf dem Berg Libanon]
[234v] Diese selige Frau, (und) Jungfer Heilke, hörte einstmals eine Predigt, die ein Lesemeister hielt am Oktavtag von Sankt Johannes in der Weihnachtszeit. Und das war eine gar tiefgründige Rede über Sankt Johannes. Er sagte, wie Sankt Johannes ein großer Adler sei, und sagte, wie hoch er geflogen sei, und sagte: „Er flog auf den Berg Libanon und flog auf die Höhe des Zederbaums und schlug seine Klauen in den Baum, und zerbiss die Dolde des Zederbaums und brach die Blätter vom Baum ab und ließ sie auf die Erde fallen, und pickte mit seinem Schnabel in die Mitte des Baums und zog da aus derselben Mitte das Mark des Baums.“[126]
Dies legte er gar subtil aus, dass ich nicht alles aufschreiben kann. Er bezog den hohen Berg Libanon auf die Gottheit. Die Dolde bezog er auf den ewigen himmlischen Vater, der da noch nicht der Welt so verkündet und geoffenbart war, und den er (Johannes) der Welt kündete und offenbar machte. „Die Blätter, die er von dem Zederbaum brach und auf die Erde warf, das sind die heimlichen verborgenen Dinge, die er sah und es zu Wort brachte, so wie er ‚In principio erat verbum‘ (Im Anfang war das Wort)[127] und solche verborgenen Dinge der Welt verkündet und geoffenbart hat, die bis zu dieser Zeit aller Welt verborgen waren. Das Mark, das er aus dem Baum zog, das war das Wort des ewigen Vaters, von dem er da gesprochen hat ‚In principio erat verbum‘ und ihn damit aller Welt verkündet hat.“
[Tiefe Wirkung der Predigt auf Gertruds Innerstes]
Als diese selige Frau diese tiefgründige gefällige [ lútselige ] Rede gehört hatte, da fiel diese ihr gar so tief in den Sinn, dass die Kräfte aller ihrer Sinne ganz und gar nach innen gezogen wurden, und besonders ihre Sehkraft [ kraft ir gesúht ]; diese [235r] wurde ihr ganz und gar geraubt. Und als man gepredigt hatte und all die Leute weggingen, da saß sie still und konnte nirgends hinkommen. Und Jungfer Heilke nahm es wahr und setzte sich zu ihr und schaute, was Unser Herr da wirken wolle.
Und danach nach einer guten Weile wandte sie (Gertrud) sich mit dem Kopf zu einer Seite, hin zu Jungfer Heilke, dass diese wohl merkte, dass sie irgendetwas wolle, und sie neigte sich zu ihr und sagte: „Sind die Leute noch nicht weg?“ Da waren sie seit langem weg, und Jungfer Heilke sagte: „Es ist noch Zeit genug; bleib hier ganz nach deinem Willen. Ich will hier bei dir bleiben, wir haben noch Zeit genug. Sage mir, wie es dir geht.“ Und sie sagte: „Ich kann nirgends hinkommen. Ich bin ganz und gar blind und sehe nicht irgendein Teil. Aber ich denke, es geht mir (wieder) weg.“ Und Jungfer Heilke sagte: „Hab keine Sorge und bleib hier, bis du sehr wohl wieder zu dir selber kommst.“ Danach nach einer guten Weile dünkte ihr (Gertrud), wie sie ein klein wenig sehe, und sie sagte: „Wir sollten gehen. Mir dünkt (gut), ich ginge dir wohl hinterher.“ Sie standen auf und gingen nach Hause. Jungfer Heilke ging voraus und sie (Gertrud) ging ihr hinterher. Und als sie ziemlich weit kamen, da war Jungfer Heilke zu weit vorausgegangen, wohl die Länge eines Speerwurfs [ speres lang ]. Da wusste die Frau nicht, wo sie war, und so blieb sie stehen und lehnte sich an eine Mauer und sah auf alles mit offenen Augen [ sach alles vf mit den oͮgen ] und hätte gern gewusst, wo sie gewesen sei. Und Jungfer Heilke sah hinter sich, wo sie sei, und sie sah sie so dort stehen an der Mauer, und sah ihr Gebaren, wie sie dastand und auf alles mit den Augen blickte. Und sie (Heilke) schwieg und lachte bei sich selber und schaute, was diese tun wolle. Und indessen wandte diese sich in eine falsche Gasse und wäre falsch gegangen. Und sie (Heilke) trat hin zu ihr und sagte: „Wohin willst du? Du gehst falsch.“ Und sie ging neben sie [235v] und sie gingen mitein-ander nach Hause. Und als sie nach Hause kamen, da fragte Jungfer Heilke sie, wie ihr geschehen sei, dass sie so blind geworden sei. Und diese sagte ihr, dass ihr von der tiefgründigen Rede, die da gehalten worden war [ geschehen wz ], ihre Sinne so kräftig ins Innere gezogen wurden, und besonders ihr Sehsinn, dass sie nicht ein Teil sah. Und nachdem sie so nach Hause gekommen waren, da wurde sie danach nach einer Weile so gut sehend wie zuvor.
Lebensgestaltung im Sinne des franziskanischen Armutsideals
[Ablehnung jeder materiellen Vorsorge und Absicherung]
Als nun diese selige Frau sich ganz und gar beraubt und entfremdet hatte von all dem Ihren, da ließ [ geriet ] das nun Jungfer Heilke gar heftiges [ v́bel ] Erbarmen empfinden, und sie dachte, wenn sie nicht wäre, dass sie (Gertrud) dann so hilflos würde und allen Leuten erbarmenswert würde. Dies tat ihr gar weh und lag ihr gar nahe, und sie hätte dem gerne vorgebeugt [ fúr kummen ], wie immer sie es könnte, dass diese, auch wenn sie (Heilke) nicht (mehr) dagewesen wäre, dennoch das gehabt hätte, was sie nötig hatte.[128] Und sie schrieb auf eine Tafel, was sie ihr geben wolle, und wer ihr dies geben solle und sie hiermit versorgen solle. Dies schrieb sie alles auf eine Tafel. Als sie dies alles geschrieben hatte, ohne dass diese Frau es wusste, und als es Abend wurde, da nahm sie ihre junge Frau (sc. ihre Dienerin) mit sich und nahm die Tafel und trug sie aus dem Haus, dass es diese selige Frau nicht irgendwie finde. Denn diese konnte wohl deutsch lesen, und sie (Heilke) fürchtete, dass diese ihr an die Tafel gerate und sie lese. Da wusste sie wohl, dass diese es keineswegs gestattet hätte; deshalb wollte sie es gern vor ihr verhehlt haben.
Nun wollte sie (Heilke) am Morgen in der Frühe aufs Land und wollte dort lange sein; deshalb war es für sie so notwendig, dass sie es zuvor erledigte, und sie dachte auch, dass sie unterwegs [ in dem lande ] sterben könnte, ehe sie wieder nach Hause käme, und dass sie (Gertrud) dann so bedacht [ versinnet ] bliebe. Und als sie wieder nach Hause kam und auf diese Frau zuging, da sah diese [236r] sie an und sagte: „Ach, Heilke, was hast du getan? Wie bist du so zuwider all dem, was in mir ist, und wie ist all das, was in mir ist, verstört [ entrihtet ] und ergrimmt über dich. Dass Unser Herr es dir lohne, schau, wie es mit dir ist, denn ich kann so mit keinem Frieden mit dir sein.“ Nun merkte Jungfer Heil-ke es alsbald wohl, dass es dieses selbe (sc. die Niederschrift auf der Tafel) war. Denn durch die Gnade Unseres Herrn war sie sich ansonsten keiner Unlauterkeit bewusst. Aber es machte sie gar betrübt, und sie hätte diese gerne davon abgebracht [ benummen ]. Und sie sagte sehr ernsthaft zu ihr: „Ich habe nichts getan. Schau du, wie es mit dir ist, und sei in Frieden, und lass auch mich in Frieden, dass Gott es dir lohne.“ Da sagte sie (Gertrud): „O wie so gerne würde ich das tun, könnte ich es.“ Und ihr wurde gar ernst und sie sagte: „Hast du etwas aufgeschrieben, was mich betrifft? Das mach wieder weg, denn ich dulde es nicht. Mach es schnell, dass Unser Herr es dir lohne, und lass mich und dich in Frieden.“ Nun war es gar spät geworden, und es war gar finster, und dennoch musste Jungfer Heilke selber losgehen, die Tafel zu holen, und musste es alles zusammen abwischen vor ihren Augen. Und dafür dankte sie (Gertrud) ihr demütig und war da in gutem Frieden mit ihr.
[Leben nach dem Ideal franziskanischer Armut]
Ein anderes Mal kam es wieder so, dass Jungfer Heilke gern für sie ge-sorgt hätte, so wie sie es sich zugetraut hätte, dass es mit deren (Gertruds) Willen oder ohne deren Willen hätte gehen können, wenn diese es nur nicht herausgefunden hätte. Nun waren junge Frauen von auswärts zu ihnen gekommen, weil sie etwas am Gericht erledigen und verbriefen wollten. Darüber war sie (Heilke) froh und sagte zu ihnen: „Lasst uns nach einem Richter senden, der hat hier nah bei uns seinen Sitz, und sagen wir ihm in Ruhe alle unsere Sachen, ganz nach unserem Willen, und so schreibt er es dann nieder.“ Sie taten so und sandten [236v] nach jemandem vom Gericht.
Und sie schickten aber zuvor diese Frau (Gertrud) aus dem Haus zur Kirche und zur Predigt, damit sie dies nicht herausfinde. Und als die auswärtigen jungen Frauen ihre Sache erledigten, da hob sie (Heilke) an und sagte zu ihm (dem Herrn vom Gericht): „Herr, hier ist eine Frau, die hat mich erzogen von meinen Kindheitstagen an. Sie hatte früher große Ehre und Gut, darauf hat sie ganz und gar verzichtet und hat mir davon ziemlich viel gegeben, und sie ist ein armer Mensch um Gottes willen geworden. Und ich empfinde gar heftiges Erbarmen dabei, wenn sie allen Leuten erbarmenswert werden sollte, wenn ich nicht (mehr) wäre. Denn das weiß ich wohl, dass ihre Schwäche das keine Zeit lang leisten [ erzilgen ] kann. Und ich würde gerne für sie sorgen, dass sie, wenn ich nicht (mehr) wäre, doch ein wenig das, was sie nötig hat [ ir notdúrftelin ], von mir hätte. Denn sie ist mir auch gut gewesen und hat auch für mich gesorgt, und mir dünkt, dass ich ihr das schuldig sei. Nun habe ich Einkünfte von dreißig Viertelmaß Korn und Einkünfte von drei Pfund Pfennigen, und Einkünfte von sieben Ohm[129] Wein und acht Kapaunen. Die schreibt in einer Urkunde [ bruͤf ] nieder, und macht es schnell, dass, wenn ich nicht (mehr) bin, sie doch das, was sie nötig hat, davon habe.“ Als sie dies so regelte [ verrihtete ] und er die Urkunde so schreiben sollte und man die Urkunde besiegeln sollte, da gingen sie zur Vesper (sc. kirchliche Tagzeit).
Da saß dort die selige Frau in einem Betstuhl bei ihrer Andacht und wusste kein Wort hiervon. Und Jungfer Heilke trat zu ihr und wollte etwas mit ihr bereden. Und gleich zuallererst, als sie sich zu ihr gesetzt hatte, da sagte diese: „O weh, Heilke, was hast du getan? Wie bist du mir so zuwider. Mein Geist und all mein Inneres sind ergrimmt über dich. Tu es um Gottes willen und schau, was es ist. Es ist jedenfalls [ ie ] etwas, das merke ich wohl. Und eh dass ich es ertragen könnte, könnte ich eher sterben.“ Und sie (Heilke) erschrak gar schlimm und [237r] fürchtete, dass sie sich damit etwa schuldig gemacht habe, und war betrübt, und stand auf und sagte: „Ich will gehen, um in mein Herz zu sehen und zu erfahren, ob ich irgendetwas finden könne.“ Und sie ging in ihren Betstuhl und setzte sich nieder und sah mit Ernst in ihr Herz, ob sie etwas finden könne. Und sie bat Unseren Herrn ernstlich, dass er ihr zu erkennen gebe, ob sie sich nicht mit irgendwelchen Dingen schuldig gemacht habe, und sagte: „Herr, das will ich gerne bessern, wie immer ich das bessern soll.“ Und als sie so dasaß und hin und her dachte, da fiel ihr ein, dass es die Fürsorge [ besorgen ] sei, die sie abermals für sie leisten wollte. Und sie stand sogleich auf und ging zu ihr und sagte: „Ich meine, ich weiß wohl, was es ist. Warte, bis dass die Ordensbrüder die Vesper gesungen haben, dann verlangen wir dringend nach meinen Herrn (sc.: Beichtvater), und ich sage ihm, was es ist.“
Da war ihr (Gertrud) so ernst zumute, dass sie nicht warten wollte, bis dass die Vesper zu Ende war, und sie sagte: „Es ist besser gleich jetzt [ ignot ]. Wir sollen gehen, um nach ihm zu verlangen; er kommt wohl heraus (zu uns).“ Sie gingen miteinander und verlangten nach ihrem Beichtvater, der war ein guter andächtiger Ordensbruder, und er war viele Jahre lang Lesemeister gewesen und wurde Provinzial.[130] Und danach ließ man ihm seinen Ruhestand um seines Wohlbefindens willen, und er war in Straßburg und predigte und hörte Beichte; er war wohl achtzig Jahre alt oder mehr. Der selbe Beichtvater kam alsbald, und sie (Heilke) bat diese Frau, dass sie hinweggehe und sie zuerst hingehen lasse. Und diese machte es so, und Jungfer Heilke fing an und sagte ihm dieses allesamt und sagte dabei auch: „Ich versorge sie mit Essen und mit Trinken und mit Kleidern und mit solchen Dingen. Und solcherart [ in sollichem ] habe sie (Gertrud) guten Frieden, da sie daran keine Sicherheit habe. Allein wenn ich ihr gerne etwas gebe, woran sie sicher wäre bis an ihren Tod, das will und kann ihr Geist in keiner Weise ertragen. Sie muss ein [237v] armer Mensch sein, ob sie es will oder nicht.“[131]
Als sie nun dies so gesagt hatte, da sagte er: „Ich merke wohl, was es ist, und wie Unser Herr es mit ihr will. Recht so, wie Unser Herr unseren Orden vorbestimmt [ fúrsehen ] und geordnet hat ohne Eigentum und ohne alle Sicherheit, so will Unser Herr es auch von ihr. Und das, womit ihr (Heilke) oder irgendjemand ihr etwas zugutetut, das mag sie wohl mit Frieden nehmen um Gottes willen und mit Erlaubnis Unseres Herrn.“ Und er sagte: „Es ist eine große Tugend von euch, dass es euch so recht ernst ist, für sie zu sorgen. Und wiewohl sie das auch nötig hat, so will es Gott doch nicht. Er will sie arm haben, und dass sie allein auf seine Gnade rechne [ warte ] und von niemandem irgendeine Sicherheit habe.“
Während dieser Rede wurde es der Frau so lange, dass sie nicht länger warten mochte. Und sie stand auf und ging da hinzu und fiel nieder auf ihre Knie mit großem Ernst, und sie legte ihre Hände zusammen und hob ihre Augen auf zu Gott und neigte ihr Haupt und sagte: „Ich erinnere euch an die Armut, zu der euch Unser Herr seit euren jungen Tagen hingezogen hat, und bitte euch um Unseres Herrn willen, dass ihr mich in dem, wovon mich Unser Herr freigemacht und entlastet hat, dass ihr mich davon unabhängig [ vnbehencket ] und unbelastet lasst. Denn Unser Herr will das nicht, und ich kann es auch nicht ertragen; deshalb lasst mich davon unbeschwert, dass Gott es euch lohne.“ Dies sagte sie mit solch großer Demut, dass der Beichtvater von Andacht und Erbarmen bewegt wurde zu weinen und sagte: „Ich will mir in dieser Sache etwas Gutes ausdenken, wie es sich mit eurem Frieden vereinbaren lassen [ geston ] kann.“ Da sagte sie: „Das lohne euch Gott, seliger Herr.“
Endgültige Regelung der Lebensverhältnisse, und Epilog
Rückkehr nach Offenburg, und Leben in einer kleinen Schwesterngemeinschaft
[Rückkehr von Straßburg nach Offenburg]
Nun, als sie so manches Jahr in Straßburg gewesen waren in ihrem Häuschen, da brach ein Feuer aus und es verbrannten viele Häuser. Und als das Feuer ausbrach, da sagte sie zu Jungfer Heilke: „Stell dich [238r] darauf ein [ rihte dich do noch ], ich sage dir, dass wir nicht bleiben können. Dies Häuschen kann nicht stehenbleiben.“ So geschah es auch, dass auch ihnen ihr Häuschen verbrannte. Und als sie so abgebrannt waren, da wussten sie nicht, wohin sie sollten. Und als sie ziemlich lange um Herberge gebettelt hatten und die Leute sie aus Freundschaft beherbergten [ enthielten ], da kamen sie zu Rat, dass es für sie das Geeignetste [ aller wegest ] sei, wieder nach Offenburg zu ziehen. Und das taten sie, denn sie konnten keine Herberge haben, die ihrem Willen entsprach.
[Endgültige Regelung der Lebensverhältnisse, im Zusammenleben mit zwei Regelschwestern]
Und als sie nun nach Offenburg kamen, da mussten sie auch Häuser gegen Zins anmieten [ gewinnen ]. Und das wurde ihnen bisweilen auch gar beschwerlich. Und als sie so das vierte Jahr da waren, da machte Unser Herr zwei ehrbare Regelschwestern geneigt [ gap gnode ], dass sie gerne für immer mit [ by ] ihnen gewesen wären. Und sie baten Jungfer Heilke mit großem Ernst und großer Begierde, dass sie sich selbst [ ir lip ] und ihr Gut nehme und dies bei ihnen habe[132] und für sie sorge in allen Dingen, im Essen und Trinken und mit Kleidern, und dass sie dafür all ihr (sc. der Regelschwestern) Gut nehme, dass es ihr Eigentum sei für immer [ iemer me ]. Nun trugen sie es ihr mit so großem Ernst an [ kumen an ] und mit so guter Absicht, dass sie es ihnen nicht abschlagen [ versagen ] konnte und sagte, sie wolle sich beraten mit ihrer Gertrud. Und eines Morgens in der Frühe war diese Frau zu den Predigern gegangen; mit denen hatte sie ernsthaft zu reden. Und unterdessen kamen die zwei Schwestern abermals zu Heilke und baten sie abermals, dass sie für sie sorge mithilfe ihres (sc. der Regelschwestern) Guts. Und bliebe etwas für sie übrig, solle das ihr Eigentum sein.
Über diese Rede verwunderte sich Jungfer Heilke sehr, wie es dazu gekommen sei. Nun hatten sie (die Regelschwestern) von ihrem Gut wohl das, was für sie nötig war, und hatten auch schönen Hausrat, mehr als sie brauchten, und ein hübsches Häuschen, das Jungfer Heilke gar trostvoll war, denn es lag an dem [238v] allerbesten und ungestörtesten [ heimlichsten ] Ende der Stadt. Und sie (Heilke) hatte auch große Schulden und dachte, dass Unser Herr etwas Besonderes damit im Sinn habe, sie damit zu versorgen, und dass sie hiermit von ihren Schulden befreit werde. Und sie dachte bei sich selber: „Ist es, dass du stirbst, so bist du für immer desto besser ohne Sorge um deine Gertrud.“ Und dies bewirkte, dass sie ihnen nicht absagen wollte und ihnen auch nicht so plötzlich darauf antworten konnte, denn sie wollte dabei den Rat dieser seligen Frau haben. Denn ohne ihren Rat und gegen ihren Willen tat sie kein Ding.
Jungfer Heilke konnte es kaum abwarten, dass die Frau von den Predigern kam und dass sie (Heilke), nachdem die Messe zu Ende war, diese fragte, wie es ihr gefalle. Und sobald die Messe zu Ende war, da sagte sie dies der Frau (Gertrud) und sagte ihr aber nicht, woran sie hierbei gedacht hatte. Diese selige Frau verwunderte sich auch darüber und ließ es so sein, denn sie wusste nicht, ob es Gott gefalle oder was es sei. Doch ihr Inneres empfand, dass etwas daran mangelhaft sei, sodass es ihr zuwider war, es zu tun. Aber sie wusste nicht, wovon das war. Aber es begann, Jungfer Heilke je mehr [ bas ] und je mehr lieb zu werden, und so wie es ihr lieb wurde, so wurde es dieser Frau leid.
Den zwei Schwestern aber war es gar ernst, und sie baten beständig mit großer Begierde, und vom Advent bis zum Tag von Sankt Bartholomäus ließen sie nicht davon ab, ernsthaft zu bitten. Und als Jungfer Heilke sah, dass sie nicht ablassen wollten, und sie nicht wusste, was sie dabei tun solle, konnte sie deshalb weder absagen noch es versprechen. Und einstmals kam Jungfer Heilke mit Ernst zu dieser Frau und sagte: „Was meinst du, was es sei oder was es bedeuten mag, dass es so ganz und gar gegen dein Herz ist? Du weißt wohl, sollte es mich um tausend Mark besserstellen, so tue ich es nicht gegen deinen Willen. [239r] Und ich sage dir auch in Wahrheit [ fúr war ], geschieht es nicht solange du lebst, so geschieht es auch sicherlich niemals mehr nach deinem Tod.“ Und sie (Gertrud) sagte: „Ich weiß nicht[133], was es bedeutet oder was es ist: es kann nun einmal mit meinem Frieden nicht sein. Ich weiß nicht, wie du darauf verfallen bist. Unser Herr hat für dich gesorgt, ehe dies auf dich zukam.“
Durch diese Rede da ließ Jungfer Heilke es aus dem Sinn, und sie gingen miteinander zur Predigt. Nach der Predigt saß Jungfer Heilke in ihrem Betstuhl und sah in ihr Herz und nahm dieses sich vor (sc. erforschte es) und sagte zu Unserem Herrn: „Ach, lieber Herr, habe ich etwas zu viel versucht [ mich v́bergeben ] in dieser Sache, so tut mir das leid, oder habe ich mich selber oder irgendein Ding hierbei mehr im Sinn gehabt, als ich es sollte, so tut mir das leid und ich will gern nimmermehr daran denken.“
In der selben Stunde, als sie dies so betrachtet und überdacht hatte, da winkte ihr diese Frau und sagte: „Ich weiß nicht, wie mir geschehen ist. So wie mir die Sache je zuwider wurde in meinem Innern, so geneigt bin ich nun dazu. Was es bedeutet, das weißt vielleicht du.“ Da sagte Jungfer Heilke: „Ich will dir sagen: Sie haben so viele Sachen und Hausrat, mehr als jemand braucht zu dem, was notwendig ist; Vorratskammern und Kisten sind voll. Wenn nun dein Geist und dein Inneres ganz die Armut im Blick hat [ sehen ist ] und dir so weh ist mit dem Reichtum, und weil ich jetzt gedacht habe, wäre es der Wille Unseres Herrn, dass es geschehe, dass wir dann alles verkauften und nur rein das Notwendige behielten [ behuͤben ]: siehe, das hat es dir nun so leicht gemacht und dich so dazu geneigt gemacht.“[134] Und sie (Gertrud) sagte: „Ich weiß nicht, ob es das ist oder was es bedeutet.“
Aber Jungfer Heilke sagte [239v] ihr da noch nicht, wie sie dabei in allem für sie gesorgt und sie im Sinn gehabt habe. Und sie ließ sie in der Vorstellung [ wone ], dass es wegen des Hausrats sei und der Vereinbarung [ dem dinge ], die sie (getroffen) hatten. Und sie wollte ihr nicht gern sagen, wie sie dabei sie im Sinn gehabt und für sie Vorsorge getroffen habe, und wie sie sich auch schuldig dafür gegeben habe vor Unserem Herrn, bis sie es erst lange danach ihr sagte. Da sagte sie (Gertrud): „Dass es dir Gott vergebe. Du weißt doch allezeit wohl, was mein Inneres nicht ertragen kann und nicht ertragen will. Warum hast du mich und dich so beschwert?“ Und da ließen sie es da geschehen [ zuͦ gon ], und sie zogen zu ihnen in deren Häuschen und verbrachten da ihr Leben heiligmäßig im Dienste Gottes und in einem tugendhaften heiligmäßigen Leben, wo-durch sie ein gutes Ende und die Freude des ewigen Lebens erlangten [ ervolgeten ].
Epilog
Es wäre noch gar viel zu sagen über das heilige Leben dieser seligen Frau. Aber nun kann man nicht mehr über sie wissen und haben. Aber ohne Zweifel ist alles geschrieben in das Buch des Lebens, wo ihr das alles belohnt und bezahlt wird mit ewigem Lohn und immerwährender Freude. Gott der gebe uns allen, dass wir das erleben und erlangen, was da geschrieben ist, dass wir mit ihr besitzen die Freude des ewigen Lebens. Das verleihe uns allen Gott der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.
Textauszüge
Ich will in die Stadt
[f.138vf.] Als Gertruds Ehemann begraben worden war, da führten ihre Schwester und deren Mann, ein Ritter, sie mit sich nach Hause auf eine andere Burg, namens Schauenburg: sie und ihre Kinder. […] Nun war sie nicht lange auf der Burg, als man sie fragte, wo sie bleiben wolle, und ob sie da bleiben wolle. Da sagte sie: „Nein, ich nicht. Ihr habt mit euch selber genug zu tun. Ich will durchaus in die Stadt ziehen.“ Da wurden sie gar zornig und tadelten sie und sagten zu ihr: „Was willst du da tun? Willst du unter fremde Leute ziehen, die nicht wissen, wer du bist? Man wird sagen, das Kind, von dem du schwanger bist, sei von einem Pfaffen oder einem Mönch.“ Denn sie hatte gerade erst drei Wochen ein Kind getragen, als ihr Ehemann starb. Und sie sagte: „Weiß Gott, es kann nicht anders sein, ich will es wagen. Unser Herr lässt mich nicht im Stich, darin will ich ihm vertrauen.“ Und gleich sofort machte sie sich auf und setzte sich auf einen Karren, sie und ihre zwei Kinder.
Der blühende Zweig
[f.143v] Es schien ihr, ihre Sünden seien so groß und es seien so viele, dass die ganze Welt dafür büßen und untergehen müsse. Da kamen die Ordensbrüder zu ihr und erzählten ihr von der Güte Unseres Herrn und wie großmütig er sei, die Sünden zu vergeben. Und wenn sie ihr so von der Güte Unseres Herrn erzählten, dann sagte sie: „Ihr Herren, das weiß ich wohl. Aber auch seine Gerechtigkeit ist groß, die hebt alles wieder auf.“ […] Nun wollten da ihre Verwandten sie besuchen, als sie so schwach war. Das verdross sie, und sie stellte sich vor, ohne Verwandte oder Freunde auf Erden zu sein, und schickte sie weg. Da brach ihre Freundin Heilke einen blühenden Zweig von einem Baum und hielt ihn ihr vor Augen. Da wurde sie von Herzen froh, dass es die Welt noch gab, und sie bedachte, dass Unser Herr seinen Zorn auf sie vergessen wolle.
Das liebliche Antlitz
[f.149v-150v] Solcher Jubel und solche Freude wurden ihr da im Geiste zuteil, dass sich auch ihr Körper entsprechend verhalten musste. Sie lag da und ihr Antlitz wurde gar lieblich und wohlgefällig und hatte einen gar freundlichen Ausdruck, und es war weiß und rot wie eine schöne Rose. Ihre Augen wurden ganz rein und hell und so klar, dass weder Falke noch Adler je so klare Augen hatten wie sie damals. Sie lag da und hatte die Augen halb offen, und von dem maßlosen Wohlempfinden, das sie innerlich im Geiste empfand, war der Körper in solcher Freude, wie bei jemandem, den man mit jeglichem Saitenspiel und den schönsten Zerstreuungen unterhält: so lieblich und voller Freude war ihr Verhalten. [...]
Alles freute sich an ihr: ihre Augen blickten sehr fröhlich und ihr Mund begann gar freundlich zu lachen und ihr ganzes Gesicht drückte nur Freude aus und sah so fröhlich aus, dass man sein Vergnügen haben konnte an ihrem fröhlichen Lachen, das aus tiefer herzlicher Freude kam, da Gott in ihrer Seele und ihrem Geist gegenwärtig war. Und darin war ihre Freude auch wirklich begründet.
Die scherzende Freundin
[f.151vf.] Sie führte ein recht frommes Leben, das auch zur Besserung anderer Leute führte, und ihre Lebensweise war so gut, dass man bei all dem, was sie tat, etwas finden konnte, um sich zu bessern. Deshalb sagte ihre Freundin Heilke manchmal im Scherz: „Gertrud, dir ist Gutes widerfahren: die Menschen bessern sich bei allem, was du tust; selbst wenn es manchmal auch böse wäre.“
Der feste Pflock
[f.154vf.] Manchmal klagten die anderen, die bei ihr waren, sie könnten ihr Herz nicht bei Unserem Herrn belassen, und sobald sie ihre Gedanken auf Unseren Herrn sammeln wollten, sei ihr Herz schon anderswo. Und sie klagten auch, sie könnten keinen Trost bei Unserem Herrn bekommen. Da sagte sie: ,,Liebe Kinder, man darf nicht ablassen von Unserem Herrn. Wenn ihr eure Herzen nicht bei Unserem Herrn findet, dann soll euch das leid tun und ihr müsst das Herz sogleich wieder zu ihm führen und an Unseren Herrn gewöhnen und nicht mehr davon ablassen. Man muss es machen wie jemand, der einen sehr fest steckenden Pflock herausziehen will: er rüttelt und ruckt so lange an dem Pflock, bis er ihn schließlich herauszieht.“
Die liebe Sonne
[f.156v] Nun war es damals gerade sehr dunkel, denn die Sonne hatte lange nicht mehr geschienen. Und als die Sonne dann hervorkam, da öffnete Gertrud ein Fenster und sagte voll Sehnsucht: „Ach du liebe Sonne.“ Und ihre Freundin Heilke sagte: „Was meinst du damit, wenn du der Sonne so freundlich schmeichelst?“ Und sie sagte: „Ich bin ihr hold.“
Der Baum
[f.159r] Dann fing Gertrud an und erzählte Heilke etwas Gutes, wovon ihr noch manches hören werdet, und als sie zu Ende erzählt hatte, sagte sie: „Siehst du, für das alles kann ich so viel wie dieser Baum, der dort so dasteht und den Gott im Sommer dichter kleidet als im Winter. Was kann der Baum dafür? Er hat das nicht verursacht. Gott macht es in seiner Güte. Und auch ich kann nichts für die Werke, die Gott an mir wirkt.“
Der Adel der Tugend
[f.161v] Wenn die Menschen über ihr edle Abstammung sprachen, so sagte sie: „Ach, ihr Lieben, es ist niemand edel als der, der tugendhaft ist. Der ist edel, den die Tugenden edel machen, und niemand anderes.“
Die verwahrlosten Kinder
[f.162v] Die armen Frauen mit kleinen Kindern und die Wöchnerinnen nahm Gertrud mit zu sich nach Hause und gab ihnen reichlich zu essen und zu trinken. Und sie nahm die kleinen Kinder und ließ sie unterdessen Kacka machen und putzte ihnen den Hintern ab, wischte sie sauber und wickelte sie wieder in ihre Windelchen, und wenn diese schmutzig waren, gab sie ihnen andere. Dann übergab sie die Kinder wieder ihren Müttern. Die etwas größeren Kinder zog sie aus und schüttelte ihnen ihre kleinen Kleider aus und schlug ihre Mützen gegeneinander, damit sie sie wieder tragen konnten. Dann wusch sie die Kinder, heilte, wenn es nötig war, ihren Kopf, und war gut und freundlich zu ihnen. Wenn sie dann weggingen, füllte sie auch ihnen die Taschen und ließ sie fröhlich von ihr gehen.
Der zertretene Wurm
[f.166v] Nie in ihrem ganzen Leben suchte sie, ihren eigenen Willen zu verwirklichen. Sie hatte allein Unseren Herrn im Sinn und seine Ehre und seinen Willen. Und wo irgendetwas ihrer Eigennatur Lust machen konnte, da hütete sie sich davor. Sie übte sich in allen Tugenden auf vollkommene Weise. Soweit etwas eine Tugend war und als solche galt, da übte sie diese Tugend aus.
Ihr Herz war voller Erbarmen über alle Geschöpfe. Sah sie, wie ein Vieh oder ein Tier, ein Hündchen oder dergleichen heftig oder böse geschlagen oder gestoßen wurde, so tat ihr das gar weh, und sie verwunderte sich, wie die Leute so hart sein konnten, dass sie einem kleinen Vieh so wehtun konnten. Und sie kehrte sich davon weg, um dabei nicht zusehen zu müssen. Sie konnte nicht gut ertragen, dass man dem Vieh fluchte und hart mit ihm umging, wenn man es auf die Weide trieb. Sah sie einen Wurm, auf den man getreten hatte, so hätte sie ihn voller Erbarmen gerne wieder lebendig gemacht, wenn sie das hätte tun können.
Das hübsche Trinkgläschen
[f.166vf.] Sie war so recht voller Liebe und Tugend. Wenn sie armen Menschen nichts anderes geben konnte, so fragte sie diese, ob sie trinken wollten.
Begegnete ihr ein armes kleines Kind, wenn sie auf dem Heimweg war und das, was um sie herum geschah, bemerkte, dann blickte sie sich um und achtete darauf, dass niemand zusah; dann setzte sie sich zu dem Kind nieder und wischte ihm seine Äuglein, sein Näschen und sein Mündchen, und band ihm sein Kopftüchlein richtig um oder setzte ihm das, was es auf dem Kopf hatte, richtig auf und nahm es dann mit sich nach Hause und gab ihm etwas zu essen. Und sie fragte die Kinder, ob sie trinken wollten, und brachte ihnen in einem Gläschen oder in einem anderen hübschen Gefäß zu trinken. Und die Kinder tranken dann und wussten manchmal nicht, wann sie aufhören sollten, mehr aus Freude am Gläschen als aus Durst. So musste sie das Gläschen mitunter vor ihnen verbergen, weil sie fürchtete, sie könnten zu viel trinken und dann Schmerzen bekommen.
Manchmal hatte sie mehrere zugleich bei sich, zusammen mit ihren Müttern, und sie gab ihnen zu essen und machte ihnen eine solche Freude, dass sie einander an die Hand fassten und sangen und im Kreis ringsum gingen wie zu einem Tanz. Dann saß Gertrud da und lachte und fühlte sich ganz wie auf einem großen Gastmahl. So wohl fühlte sie sich, wenn sie die kleinen Kinder so gut gelaunt und fröhlich sah.
Sie übte sich nicht allein in dieser Tugend der Sanftmut und Liebenswürdigkeit, sondern mehr noch übte sie sich in allen Tugenden in vollkommener Weise, und alle ihre Werke waren höchst vollkommen. Sie war so demütig, dass manche ihrer Mägde sie mit dem Vornamen an-reden und „Gertrud“ sagen mussten, so wie sie hieß.
Ein Ja zum Leben
[f.169v] Viele Jahre danach da wurde das Leben im Beginenstand bekämpft, und man musste es aufgeben und das graue Gewand ablegen. Da sagte Gertruds Freundin Heilke: „Ach, lieber Herr, wie wäre es nun so gut zu sterben für den, der darauf gut vorbereitet wäre.“ Da sagte Gertrud: „Nein. Es gilt, erst gut zu leben. Es ist jetzt Seelen-Ernte. Der Selige, der lauter und gut in diesem Leiden standhalten kann und stets bei Gott bleibt – was mag dem Unser Herr schuldig werden an ewigem Lohn.“
Die hoffärtige Dienerin
[f.175v] Die junge Frau, die ihnen diente, ging einstmals mit ihnen zur Predigt und dachte bei sich selber: „Dadurch dass du bei diesen frommen Frauen gewesen bist, giltst du fortan desto mehr, wo immer du hernach noch hinkommst.“ Und so kam eine Hoffart in ihr Herz. Und sofort war es Gertrud gegenwärtig in dem Geiste, und sie kehrte sich zu ihr um und sagte: „Weh mir! Was hast du? O weh, was gibt es? Wie ist es so ungeheuerlich!“ Nun war die junge Frau aber auch ein einsichtsvoller Mensch und wusste sofort genau, um was es ging, und fing an zu weinen: „O weh, liebe Gertrud, ich will nie mehr so etwas tun, und will es gerne beichten.“ Und das genügte dann Gertrud, und sie kam zu gutem Frieden mit diesem Menschen, als er in dieser Sache zur Einsicht gelangte.
Als ob es fliegen wolle
[f.183r] „Alles, was in mir ist und an mir ist, das freut sich; all das, was in mir ist, schwebt und fährt empor. Es tut recht so, als ob es fliegen wolle. Ich bin oft von der Kirche nach Hause gegangen, ohne zu erfassen, ob mir die Füße je das Erdreich berührten; so trug mich der Geist empor.“
Verzückt
[f.183v] In diesen Verzückungen lag sie da, und ihr Antlitz wurde ganz wonnevoll, recht so wie eine blühende hübsche Rose, weiß und rot. Und ihre Augen wurden so wundersam klar, dass kein edler Vogel je zu so lichten und so klaren Augen kam, wie sie in dieser Zeit. Und es stan-den ihr die Augen halb offen, ohne dass sie etwas in den Blick fasste, und der Mund war so rot, und sie wurde so schön und so wohlgefällig, dass ihre Freundin Heilke rechtes Vergnügen empfand an ihrem Aussehen. […]
[f.185v] Und danach da fragte ihre Freundin Heilke sie einmal, wie es einem Menschen gehe, der so verzückt wurde. […] Da sagte sie: „Sieh, liebe Heilke, darüber kann ich dir überhaupt kein Wort sagen, als nur so viel, dass ich wohl weiß, dass Unser Herr der Seele gegenwärtig ist. Aber wie er der Seele gegenwärtig ist und in welcher Weise, das kann ich niemandem sage. Die Seele ist in dieser Zeit in solcher Süßigkeit und unmäßiger Freude, und hätte ich mir das Himmelreich zu wünschen, so könnte ich ein besseres Himmelreich nicht wünschen. Etwas anderes kann ich dir darüber nicht sagen. Wenn das aber vergeht, so ist für den Menschen alles vergessen, und er kann nichts anderes darüber sagen als wie über einen Traum.“
Im Innern kein Bild
[f.187v] Zuweilen saß sie in der Kirche, und ihr Geist und alle ihre Sinne waren innerlich und äußerlich in einer stillen Ruhe und einem süßen Frieden mit Gott und mit allen Geschöpfen, und nichts lenkte sie ab. Und sie war auch in keiner Betrachtung und saß ohne Gedanken, soweit es denn sein konnte, und hatte im Innern kein Bild.
Unterschiedliche Wege zu Gott
[f.197r] Nun sagte ihre Freundin Heilke zu ihr: „Sieh, Gertrud, mir ist ganz so, wie wenn jene Frau nie ein Fünklein des Geistes erlange; was sie macht, das liegt alles in ihrer Natur.“ Und Gertrud wies Heilke zurecht und sagte: „Du hast unrecht; es weiß niemand, wer der andere vor Gott ist. Wie auch immer der Mensch zu Gott kommen mag, das ist gut. Unser Herr zieht nicht alle Menschen auf gleiche Weise zu sich hin; er zieht den einen so, den anderen so zu sich hin.“
Die adelige Natur des Menschen
[f.197v] Dies sagte sie ihrer Freundin Heilke in großer Vertraulichkeit, damit diese erkannte, wie adelig Gott den Menschen von Natur her gemacht hat und wozu er den Menschen geschaffen hat und wie nahe wir Gott mit natürlichen Sinnen kommen können.
Die Blumen der Armen
[f.213rf.] Sie kaufte auch oft etwas, das sie nicht nötig hatte, nur damit die Armen zu Brot oder Pfennigen kämen. Und wenn die Armen da umhergingen und Blumen oder Binsen anboten, da sagte sie zu ihrer Freundin Heilke: „Ach, liebe Minne“ – denn so redete sie diese damals an – „sieh, ein armer Mensch bringt uns recht schöne Blumen vor die Tür, du solltest sie kaufen. Sieh, du kämest dadurch vielleicht zu etwas Kraft.“ Denn Heilke war damals ziemlich krank. Da sagte Heilke: „Ich weiß genau, was du im Sinn hast. Du hast im Sinn, dass die Armen zu Brot kommen.“ Da sagte sie: „Du hast ganz recht. Und dass es auch dir selber besser gehen soll durch die schönen Blumen, das ist mir auch ganz lieb.“
Die widerlegte männliche Autorität
[f.220r] Da sagte Gertruds Beichtvater: „Wo hat man jemals sonst schon gesehen oder gehört, dass ein Mensch das Seine so ganz und gar weggibt und sich so ganz und gar entblößt?“ Da sagte Gertruds Freundin Heilke zu ihm: „Lieber Herr, nun sagt man doch über meine Frau Sankt Elisabeth, dass sie an einem Tag fünfhundert Mark weggab, und dass sie alles weggab, was sie hatte, so ganz und gar, dass sie um Brot betteln musste.“ Da wurde er ganz durcheinandergebracht, dass sie ihn so mit der Wahrheit widerlegt hatte, dass er aufstand und von ihr weglief und sie sitzen ließ. Und aus Zorn gab er ihr überhaupt keine Antwort mehr.
Freundschaft
[f.220vf.] Da sagte Gertrud zu Heilke: „Ich sehe wohl, dass ich ver-lassen bin von allen Geschöpfen, und besonders von denen, von denen ich meinte, dass sie mit mir in den Tod gegangen wären. Die alle hat mir Unser Herr entzogen, nur du allein bist noch bei mir Aber eines macht es mir auch mit dir schwer: Du lässt dich gar zu leicht bewegen; es geht dir zu nahe, sodass ich nimmermehr mein Herz so bei dir zu erkühlen wage, wie ich es gerne täte und wie ich es bisweilen auch nötig hätte.“
Da sagte ihre Freundin Heilke: „Über mich sei ohne alle Sorge. Ich entferne mich nimmermehr von dir, es sei denn, Gott nähme mir die Sinne. Denn ich weiß wohl, wie Gott mit dir alle deine Tage gewesen ist. Dass der dich nun irren lassen soll, das kommt mir nimmermehr ins Herz. Du kannst dich sicher auf mich verlassen. Wo du mich brauchst. berede mit mir ohne alle Sorge, was du willst; ich kann es wohl ertragen, und ich ertrage es gerne, wenn es dir dadurch desto besser geht.“
Die wahre Armut des Geistes
[f.229vf.] So musste sie all das, was ihr tröstlich war, lassen. Sie hatte weder etwas zu lassen noch zu geben noch zu gebieten noch anzuordnen, in keinerlei Sache auch nur irgendetwas. Denn so hatte sie in dem Geist Weisung bekommen von Gott, sich selber zu lassen und alle Dinge. […]
So wurde sie beraubt allen Trostes, geistlich, göttlich, leiblich und krea-türlich, an allem wie man es genießen und haben mag zu Lust und zu Trost. Und dies ist die wahre Armut des Geistes: nichts haben und nichts begehren, als nur soviel, wie Gott es der Seele vergönnen und geben will.
In vollkommenem Frieden
[f.230r] Als sie nun ganz alle Dinge aufgegeben hatte, […] da war sie in vollem Frieden mit Gott und mit sich selber und mit allen Geschöpfen, und war von keinerlei Dingen mehr in Anspruch genommen, und so waren nun ihr Lebenswandel und ihr Verhalten und ihr Tun allezeit gleich, sie ging aus und ein in Schweigen, sie redete und fragte nichts, sie bemühte sich um keine Tugendübung und wirkte keine Werke, weder äußerlich noch innerlich, ihr Antlitz und all ihr Verhalten und all ihr Lebenswandel und ihr Tun waren in einem steten süßen ruhigen friedvollen Ernst und auch allezeit gleich.
Sinken in die Gottheit
[f.231v] Da sagte sie: „Und so weiß die Seele nichts mehr über irgendein Ding. Nur eines empfindet sie wohl: dass sie ein stetiges unablässiges Einsinken hat. Der Mensch schlafe oder wache, er esse oder trinke, oder was er auch tut, so ist das Sinken stetig. Aber wie tief er sinkt, das wird dem Menschen nimmermehr bekannt bis an die Zeit, dass ihm alle Dinge eröffnet werden. Da wird er es wissend, so wie er in Gott ewig dessen teilhaftig werden soll.“ Da sagte ihre Freundin Heilke: „Liebe Gertrud, ist dies ‚Sinken in die Gottheit‘?“ Da sagte sie: „Ja.“
Ein armer Mensch sein
[f.237rf.] Und ihre Freundin Heilke sagte: „Ihr Geist will und kann in keiner Weise ertragen, wenn ich ihr etwas gebe, woran sie sicher wäre bis an ihren Tod. Sie muss ein armer Mensch sein, ob sie es will oder nicht.“
Eine Auswahl weiterer bemerkenswerter Stellen:
Ein ungeliebtes Kind [f.133vf.]
Ein unbetrauerter Tod [f.138rf.]
Gott, die alles belebende und erfüllende Luft [f.152v]
Ein rasch eilendes Licht [f.154rf.; 183rf.]
Einfühlsame Seelsorge [f.157vf.; 195v]
Bei den Siechen und Aussätzigen [f.163rf.]
Nur ein kleines Gebet [f.164rf.]
Die Begierde nach vollkommener Armut [f.165vf.]
Todeswunsch und ein Ja zum Leben [f.169rf.]
Die Sünden der großen Herren [f. 175r]
Die Freude an dem Pelz [f.176v]
Eine tödliche Feindschaft [f.178r-179r]
In der Gottesfremde [f.181vf.]
Minnebrand des Herzens [f.188v]
Miterlittene Todesfurcht [f.192v-193v]
Mit natürlichen Sinnen zu Gott (Meister Eckhart?) [f.197rf.]
Wüstes Ritterleben [199r]
Die Schrecken des Jüngsten Gerichts [f.207r]
Ährenlese [f.212v]
Wahre Armut, vollkommener Friede, und Sinken in die Gottheit [f.229r-231v]
Literatur
Texte und Übersetzungen
Bibliothèque royale de Belgique, Ms 8507-09 (Kat.-Nr. 3407), f. 133r-239v.
Derkits, Hans: Die Lebensbeschreibung der Gertrud von Ortenberg. Bd. 1: Textedition. Bd. 2: Kommentar, Diss. (masch.) Wien 1990.
Mulder-Bakker, Anneke B.: Lives of Their Own. The Dedicated Spiritual Life of Upper Rhine Noble Women (Fourteenth Century). Teil I: Anneke B. Mulder-Bakker: Gertrude Rickeldey of Ortenberg and Heilke of Staufenberg: Two Upper Rhine Noble Women Seeking Religious Perfection. Teil II: Life of the Blessed Lady Rickeldey, named Gertrude, and the Great Wonders Our Dear Lord Accomplished with Her. Übersetzt von Gertrud Jaron Lewis und Tilman Lewis, hg. und mit Anmerkungen versehen von Michael Hopf, Freimut Löser und Anneke B. Mulder-Bakker, Turnhout 2017 (Sanctimoniales 2).
Porete, Margareta: Der Spiegel der einfachen Seelen – Wege der Frauenmystik. Aus dem Altfranzösischen übertragen von Louise Gnädinger, München / Zürich 1987.
Forschungsliteratur
Backes, Martina: Eine Stadt voll der Gnaden. Straßburg aus der Perspektive Gertruds von Ortenberg. In: Schreiben und Lesen in der Stadt. Literaturbetrieb im spätmittelalterlichen Straßburg. Hg. von Stephen Mossman, Nigel F. Palmer und Felix Heinzer, Berlin / Boston 2012 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 4), S. 29-38.
Derkits, Hans: Die Vita der Gertrud von Ortenberg – Historische Aspekte eines Gnaden-Lebens. In: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden 71 (1991) S. 77-125.
Hillenbrand, Eugen: Heiligenleben und Alltag. Offenburger Stadtgeschichte im Spiegel eines spätmittelalterlichen Beginenlebens. In: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden 90 (2010) S. 157-176.
Hillenbrand, Eugen: Gertrud von Ortenberg – Eine vergessene Heilige. In: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden 91 (2011) S. 279-296.
Hillenbrand, Eugen: Adlige, Begine, Bettlerin – Gertrud von Ortenberg (+1335) in der Nachfolge Elisabeths von Thüringen (+1231). In: Freiburger Diözesanarchiv 133 (2013) S. 85-110.
Mulder-Bakker, Anneke B.: Fromme Frauen in Straßburg und Meister Eckhart: Gertrud von Ortenberg und Heilke von Staufenberg. In: Meister-Eckhart-Jahrbuch 8 (2014), S. 55-74.
Mulder-Bakker, Anneke B.: Ein asketischer Privathaushalt am Oberrhein. Das Beispiel der Gertrud Rickeldey von Ortenberg, Heilke von Staufenberg und ihrer Biographin. In: Jörg Voigt u. a. (Hg): Das Beginenwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Studien zur Christlichen Religions- und Kirchengeschichte 20, Fribourg / Stuttgart 2015, S. 290-307.
Ringler, Siegfried: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien. München / Zürich 1980 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 72).
Ringler, Siegfried: Gertrud von Ortenberg. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters – Verfasserlexikon. 2. Aufl., Bd. 11 (2004) Sp. 522-525.
[...]
[1] Brief an Siegfried Ringler, 16. 4. 1991.
[2] Zum Begriff „Gnadenvita“ s. Ringler 1980, S. 352-356.
[3] Ausführlich zu Beschaffenheit, Geschichte und Inhalt der Handschrift: Derkits 1990, S. 231-282.
[4] Siehe dazu grundlegend: Derkits 1990, S. 412-417; 427-438, worauf auch die Jahresangaben der folgenden Ausführungen beruhen.
[5] Vgl. Karen Glente: Mystikerinnenviten aus männlicher und weiblicher Sicht. Ein Vergleich zwischen Thomas von Cantimpré und Katharina von Unterlinden. In. Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter. Hg. v. Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer, Wien / Köln 1988 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 28), S. 251-264.
[6] Siehe Ringler 1980, S. 339.
[7] Brief an Siegfried Ringler, 16. 4. 1991: „Ich sehe überhaupt im Text … eine Verbindung … von M. Eckhart und dem ‚Miroir‘.“
[8] „Stufen“ sind in dieser Vita jedoch nicht so zu verstehen, dass beim Erreichen einer neuen Stufe die bisherige zurückgelassen wird. Die unterschiedlichen Verhaltens- und Erlebnisweisen der einzelnen Stufen können nebeneinander bestehen.
[9] AASS Febr. III (1658) p. 360: s. Derkits 1990, S. 522.
[10] Möglich ist auch: dass es weben konnte.
[11] Die Psalmen 120-134 bzw. 6; 32; 34; 51; 102; 130; 143.
[12] arme swester: gebräuchliche Bezeichnung für Beginen.
[13] Die Feier einer „Geistlichen Fastnacht“ ist ein in der Mystik nicht seltenes Motiv, es begegnet beispielsweise auch bei Seuse, Vita c. 11. Siehe auch Ringler 1980, S. 316f.
[14] Möglich ist auch: Verwandten.
[15] Möglich ist auch: Verwandte.
[16] uͤbung: deutsche Wiedergabe des Worts „Askese“: Handlungen, die sowohl die Entfaltung der menschlichen Kräfte als auch die Zurückdrängung der hinderlichen Kräfte zum Ziel haben können, während das Wort „Kasteiung“ ausschließlich Maßnahmen gegen den eigenen Körper meint. Vgl. Ringler 1980, S. 158-160. In der Vita Gertruds von Ortenberg wird ohne diese Differenzierung einheitlich von „Übung“ gesprochen. Im heutigen Sprachgebrauch ist vielfach auch der Ausdruck „asketische Übungen“ zu finden.
[17] disciplin: gebräuchlicher Ausdruck für eine Selbstgeißelung, eine in Klöstern des 13. und 14. Jahrhunderts häufige Form körperlicher Askese. Vgl. Ringler 1980, S. 170-172.
[18] Möglich wäre auch: das Stündchen.
[19] Vielleicht auch: Und so wie ich, ein in Sünden lebender Mensch.
[20] lesemeister: gebräuchliche Bezeichnung für theologische Lehrer, besonders an Ordens(hoch)schulen.
[21] Zum Terminus Jubel / Jubilus und seiner möglicherweise mystischen Bedeutung s. Ringler 1980, S. 160f.; 153f.
[22] Vgl. f.183v.
[23] verzucken: siehe f.183r, mit Anm.
[24] Diese (scholastische) Formulierung meint Gott als das absolut Gute (bonum in se).
[25] Vgl. die Predigtstelle f.232v: sú legent got vf ir hertze.
[26] Es lässt sich hier an die gratia praeveniens denken, die „zuvorkommende Gnade“ der scholastischen Gnadenlehre (vgl. f. 232r).
[27] Wenn die Krankenkommunion durch die Straßen getragen wurde, machte eine Begleitperson mit einem Glöckchen darauf aufmerksam.
[28] Gemeint ist das Wandlungsgeschehen in der Messe.
[29] Möglich ist auch die spezielle Übersetzung: webte.
[30] Vgl. Mt 5,37.
[31] Gemeint ist zugleich: auf ihn verlassen, mit dem für die Mystik kennzeichnenden Sinn: sich zu „lassen“, loszulassen auf Gott hin.
[32] Wortspiel: Wer sich auf Gott hin „lässt“, sich an in lot, den gelot, von dem „lässt“ Gott nicht mehr.
[33] Vgl. dazu Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Hg. v. Gisela Vollmann-Profe. (Bibliothek des Mittelalters 19), V,4, S. 328,16-25: Die Demut zieht die Seele herab bis zu dem Ort unter Luzifers Schwanz.
[34] Möglich ist auch: untailliert.
[35] Gegensatz zu den modischen spitzen Schuhen der Damen.
[36] Möglicherweise: eine Arme Schwester, eine Begine.
[37] Naheliegend ist: eine arme Prostituierte
[38] Gemeint ist wohl: Sie sollten mit dem Draht die Eiterbeulen selbst aufstechen.
[39] Parallele zum Tun des hl. Franziskus: s. Bonaventura, Legenda maior sancti Francisci, c. I, 5, 1-3; I, 6, 2-3.
[40] Siehe Mt 5,33-37. Siehe dazu auch f.158r.
[41] Möglich ist auch: dann hätte es sie (Gertrud) bekümmert.
[42] Das Wort „ellend“ ist hier in all seinen Bedeutungen präsent: elend, verlassen, heimatlos, fremd.
[43] Möglich ist auch: auf die Weide trieb.
[44] In der Gertrud-Vita nicht unüblicher Übergang vom Singular in den Plural, in Verallgemeinerung des Einzelfalls.
[45] In den zur gleichen Zeit wie die Gertrud-Vita geschriebenen Schwesternbüchern ist, unbeschadet der einzigartigen Stellung der Gottesmutter Maria, Johannes Evangelist der bevorzugte Lieblingsheilige der Nonnen. Die Nonnen sehen sich nicht in einer mütterlichen Rolle, sondern wählen den jungfräulichen Heiligen und unblutigen Martyrer, den Jünger, der an Jesu Seite lag. Siehe auch Derkits 1990, S. 379-382.
[46] Das Apostellosen / Apostelziehen war bis zum 16. Jahrhundert ein häufiger Brauch, sich aus der Zahl der Apostel einen Eigenapostel zu wählen. So wird auch über Elisabeth von Thüringen berichtet, dass sie Johannes Evangelist zum Eigenapostel erloste.
[47] Zu den mystischen Motiven Conubium spirituale und Topos vom Minnebund s. Ringler 1980, S. 261f., 228f.
[48] Die Feier eines „Geistlichen Mai“ ist ein in der Mystik nicht seltenes Motiv, es begegnet beispielsweise auch bei Seuse, Vita c. 12. Hier in der Vita Gertruds von Ortenberg steht die Maifeier, als Verweilen im Lustgarten, in Zusammenhang mit der geistlichen Vermählung.
[49] Als Begründung eines neuen, in Gottes Willen ergebenen Daseins stehen Todeswunsch und Todesaufschub sowie das Aufgeben des Eigenwillens typisch am Beginn der eigentlichen mystischen Vita. Siehe Ringler 1980, S. 147, 215-217.
[50] Gemeint ist die Beginenverfolgung in Straßburg 1317-1319, s. Derkits 1990, S. 355; 489-493.
[51] Im Originaltext fängt hier eine über 14 Zeilen ausgeweitete „wenn“-Konstruktion an.
[52] Das Aufgeben des Eigenwillens gilt allgemein als Voraussetzung für das eigentliche geistliche Leben. In der Gertrud-Vita wäre zu überprüfen, ob hier Vorstellungen umgesetzt werden, wie sie insbesondere bei Marguerite Porète vorgegeben sind; vgl. Spiegel, c. 11, S. 34f. u. ö.
[53] Ruhe Gottes in der Seele: vgl. auch Marguerite Porète, Spiegel c. 44, S. 79.
[54] Gertrud konnte also aufgrund ihrer schwachen Konstitution nicht jede gutgemeinte Annehmlichkeit zurückweisen und konnte somit in ihrer Askese nicht immer konsequent sein.
[55] Blick für den Seelenzustand anderer, als Bestätigung für die Heiligkeit einer Person: vgl. Ringler 1980, S. 212.
[56] Gemeint ist: An welche Stelle hast du dich gewandt, und wie bist du von der Schuld freigekommen?
[57] Bemerkenswerter Übergang ins Präsens.
[58] Vgl. dazu Marguerite Porète, Spiegel c. 9, S. 27; c.134, S. 207.
[59] Zur Bedeutung von Krankheit und Leiden in klösterlicher und mystischer Literatur s. Ringler 1980, S. 169f.
[60] Es verbindet sich hier das Motiv der Compassio mit dem mystischen Motiv des amor vulne-rans (der verwundenden Liebe).
[61] Vgl. dazu Ringler 1980, S. 264 und 187; 229: Pflege des Christkindes als Motiv der geistlichen Literatur und als klösterlicher Brauch; Spiel der Seele mit dem göttlichen Kind als mystisches Motiv.
[62] Vgl. dazu Ringler 1980, S. 253: sich fuͤgen als Terminus für die Herstellung der Einheit von Gott und Mensch.
[63] Zum Phänomen des Kraftverlustes bei oder nach dem Erleben besonderer Gnaden s. Ringler 1980, S. 291f.
[64] Am Beginn des wesentlich „mystischen“ Teils der Gertrud-Vita wird das Todesmotiv (s. o. f.169r, mit Anm.) nunmehr explizit angeführt.
[65] Vgl. Ringler 1980, S. 299f., 292: Entfremdung (im Sinn der mystischen „Trockenheit“).
[66] Text jeweils: ich weis (ohne die sinngemäß zu erwartende Verneinung).
[67] verzucken: Möglich ist hier (und bei vielen folgenden Stellen) auch die Übersetzung „entrückt / Entrückung“. Vgl. dazu Ringler 1980, S. 289: Belege zu ekstatischen Zuständen in der geistlichen Literatur des 13 Jahrhunderts.
[68] Die Farben Weiß und Rot (s. auch f.149v) sind seit dem Hohenlied fester Bestandteil der Minneterminologie: Hld 5,10. Vgl. auch Ringler 1980. S. 227: Belege aus der geistlichen Literatur.
[69] Häufig gebeteter (Buß-)Psalm, dessen Länge geradezu zur Zeiteinheit wurde (Ps 51 bzw. 50).
[70] Vgl. hierzu und im Folgenden Ringler 1980, S. 291f.: Kraftverlust und Überkraft als Folge von ekstatischen Zuständen.
[71] Das Geschehen der mystischen Unio wird hier nur sehr knapp angedeutet, in Verbindung mit dem Terminus fuͤgen (s. o. f.181r, mit Anm.) und dem nachfolgenden Topos vom Minnebund (s. o. f.167v, mit Anm.).
[72] Die Stelle schildert zuerst eine Unio (mit Jesus Christus) und bestätigt diese sodann, mit der formellen Aussage des himmlischen Vaters, als gültiges Conubium, integriert in den Liebesbund der Trinität. Dadurch erklärt sich auch das Motiv der Engel: sie sind es, die die Seele zur Vereinigung mit Gott führen, und sind dann die für eine Eheschließung notwendigen Zeugen. Vgl. Ringler 1980, S. 307, 261f. Zugleich erinnert die Darstellung auch an Bilder der Krönung Mariens im Himmel (Hinweis von Anneke B. Mulder-Bakker).
[73] Beschrieben ist hier der Zustand der mystischen „Gelassenheit“. Der Hinweis auf die Bildlosigkeit erinnert an Meister Eckhart.
[74] Gemeint ist: wenn er Freiraum und Schwung und Überblick gewinnen kann.
[75] Das „Ich“ meint hier (nach Anneke B. Mulder-Bakker) wahrscheinlich nicht Heilke, sondern die Schreiberin (gegen Derkits 1990; S. 495f.).
[76] Möglich ist auch: ich sagte.
[77] Möglicherweise verweist die Stelle auf Richard von St. Viktor, De quatuor gradibus violentae caritatis, c. 2 (Patrologia Latina 196 1207 D): amor ille ardens et fervens qui cor penetrat et affectum inflammat.
[78] Die Betrachtung der Kindheit Jesu ist ein häufiges Thema in der geistlichen Literatur des 13. Jahrhunderts. Vgl. Ringler 1980, S. 264: Pflege des Christkindes (s. o. f.181r). Das Bild der Maria lactans, der säugenden Maria, war gerade auch in der Mystik beliebt, in Übertragung auf den Gnadenfluss.
[79] Die Zahl „dreißig“ hatte bereits vor Gregor d. Gr. und dann besonders durch ihn eine besondere Bedeutung für die Erlösung der Seelen aus dem Fegfeuer: vgl. Ringler 1980, S. 197f.
[80] Mit der „Nacht von Allerheiligen“ dürfte der Vorabend von Allerseeelen gemeint sein.
[81] Nach Anneke B. Mulder-Bakker könnte hiermit Meister Eckhart gemeint sein.
[82] Nach Lk 19,9 (Jesus zu Zachäus).
[83] Vgl. o. f.175r, mit Anm.: Blick für den Seelenzustand anderer.
[84] Im Text: sterbender (Verschreibung von strebender).
[85] Lk 15,11-32.
[86] Gemeint sind wohl die sieben Zeiten der Passion, denen auch sonst Gertruds Gebet gilt: vgl. f. 164v.
[87] Möglich ist auch: eine junge Arme Schwester.
[88] Gemeint ist wohl der Leib Christi in der Hostie.
[89] Neben den möglichen Aspekten der Frömmigkeitsgeschichte (Beichtverständnis) und der Psychologie (Aufarbeitung von Traumata) ist auch zu erwägen, ob hier an dieser fortgeschrittenen Stelle des Textes möglicherweise auch ein Verständnis von Sünde wichtig wird, wie es bei Marguerite Porète zu finden ist: Spiegel, c. 10, S. 29f.; c.102, S. 151, mit Anm. 213; c. 108, S. 156-158 (wobei Gertruds Praxis des Abbetens dann allerdings differenziert zu sehen ist).
[90] Der Text differenziert hier ausdrücklich zwischen Buße und Wiedergutmachung.
[91] Bußübung, in der man auf die Knie fällt oder sich zu Boden wirft. Vgl. Ringler 1980,S. 170f.
[92] Hinwerfen auf den Boden mit ausgestreckten Armen, in Kreuzform.
[93] Gemeint ist: wenn die Krankenkommunion ausgetragen wurde.
[94] Vgl. o. f.181r-182r: Entfremdung, Trockenheit, sowie Ringler 1980, S. 311f.: Anfechtungen.
[95] Das zweischneidige Schwert im Mund des Weltenrichters (Offb 1,16) wird in mittelalterlichen Darstellung oft zu zwei Schwertern; auch die Leidensinstrumente gehören, als arma Christi (Waffen Christi), zur mittelalterlichen Typologie des Jüngsten Gerichts.
[96] So auch f.205r.
[97] Der Vergleich meint: Das, was durch die Ordensregel besonders geschützt ist, wiegt besonders schwer, wenn es nicht bewahrt wird.
[98] Möglich ist auch: Frühstück.
[99] Nach Derkits 1990, S. 377 möglicherweise Schreibfehler, sodass „vierundzwanzig“ zu lesen wäre (vgl. f.233v).
[100] Angesprochen ist hier die Beginenverfolgung in Straßburg 1317-1319, s. Derkits 1990, S. 383, 489-493.
[101] Vielleicht Anspielung aufs Hohelied, Hld 1,4; 8,12
[102] Gemeint ist vielleicht: Das, worein sich Gertrud fügt, soll nun auch ihr eigenes Wollen sein.
[103] Gemeint ist hier speziell: besitzlos machen.
[104] Möglich ist auch: das brachte Einkünfte von sieben Pfund.
[105] Gemeint ist ein Treuhandverhältnis: der Treuhänder hat die volle Rechtsstellung eines Eigentümers, ohne Eigentümer zu sein.
[106] Möglich ist auch: von all dem persönlichen Gut.
[107] gewillige arme: gebräuchliche Bezeichnung für Beginen.
[108] Gemeint ist: Wenn wir über unsere Grenzen hinausgehen sollten, so lassen wir davon ab und bleiben wieder hinter unseren Möglichkeiten zurück.
[109] Wörtlich meint dies: Die Betrübnis ging ihr durchs Herz.
[110] „er“ ist eine Konjektur. Möglich ist auch: und dass sie (Heilke) gebieten würde wegzugehen.
[111] Möglich ist auch: ich kann euch nicht mehr pflegen / mich euch widmen.
[112] Die folgenden Ausführungen (bis f.231v) finden nahezu durchgehend Parallelen bei Marguerite Porète. Vgl. z. B. Spiegel, c. 11, S. 30 (Verzicht auf Trost; kein Wirken); c. 44, S. 79 u. c. 47, S. 82f. (ganzer Friede); c. 97, S. 146 (ohne Gedanken – Vergessen); c. 33, S. 88 u. c. 118, S. 174f. (abgrundtiefes Sinken).
[113] Vgl. dazu f.167vf.
[114] Die äußere Armut ist hier zur radikalen inneren Armut weitergeführt, in Formulierungen, die an Gedanken Meister Eckharts und Taulers erinnern und teilweise nahezu wörtlich mit Formulierungen der Marguerite Porète übereinstimmen.
[115] Die Entgrenzung, die hier angesprochen ist, kommt auch im Satzbau, dessen Strukturen sich auflösen, zum Ausdruck. Zum Inhalt vgl. Marguerite Porète, Spiegel c. 44, S. 79; c. 47, S. 82; c. 51, S. 86; c. 81, S. 125f.
[116] Mhd. wile meint hier gerade nicht eine messbare „Zeit“, sondern einen (Zeit-)Raum, in dem man verweilt. Auch das folgende Wort stunde meint nicht eine Zeiteinheit, sondern den Moment eines Geschehens.
[117] Angesprochen wird hier die den Menschen kennzeichnende Dreiheit von Handeln, Denken, Wollen / Fühlen.
[118] Gerade hier spricht die Gertrud-Vita zentrale Gedanken der Mystik Marguerite Poretès (vgl. z. B. Spiegel, c. 44, S. 79; c. 136, S. 208), Meister Eckharts und Taulers an. Vgl. etwa auch: Ferdinand Vetter (Hg.): Die Predigten Taulers. Berlin 1910 (DTM 11), S. 175 f. (Predigt 41); S. 109 (Predigt 26).
[119] Die Predigt folgt in den Grundgedanken dem Traktat ‚De quatuor gradibus violentae caritatis‘ Richards von St. Viktor; der lesemeister, der die Predigt hielt, könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit Rudolf von Biberach sein (s. Ringler 2004, Sp. 524).
[120] Wörtlich ingeympften: eingepfropften. Die hier angesprochene „zuvorkommende Gnade“ kann als die gratia praeveniens der scholastischen Gnadenlehre verstanden werden. Vgl. f.154r.
[121] Hld 1,13.
[122] Möglicherweise ist hier und im Folgesatz mit sie / ihr auch die Seele gemeint.
[123] Erkennen, Schauen und Genießen sind die zentralen Begriffe, um das Erleben der ewigen Seligkeit zu kennzeichnen.
[124] Möglich ist auch: eine junge Arme Schwester.
[125] Dieser mit legendarischen Stilmitteln ausgeführte Todesbericht verweist hier im Schlussteil der Vita möglicherweise auf den hier nicht berichteten Tod Gertruds. Die Gnadenvita Gertruds endet dann aber nicht mit dem Blick auf den (seligen) Tod, sondern mit dem (erblindenden) Blick auf das Offenbarwerden Gottes und auf das (Armuts-)Ideal des gottgemäßen Lebens.
[126] Die Predigt geht von einer Stelle bei Ezechiel aus (Ez 17,3f.) und entspricht, soweit bei der Kürze des Textes erkennbar, dem Anfang von Meister Eckharts Auslegung des Johannesevangeliums. Der Text wäre somit ein Beleg, dass Eckharts lateinische Werke auch in deutsche Predigten umgesetzt werden konnten. Dieselbe Ezechiel-Stelle begegnet auch bei Marguerite Porète, jedoch nicht auf Johannes, sondern direkt auf die hochstrebende Seele bezogen: Spiegel, c. 22, S. 51. Vgl. auch ebd. c. 80, S. 123.
[127] Joh 1,1.
[128] Die folgenden Berichte spiegeln im wesentlichen die gleiche Problematik, um die es im franziskanischen Armutsstreit ging.
[129] Ohm ist ein Flüssigkeitsmaß, zwischen etwa 135 und 175 Litern.
[130] Es handelt sich wohl um den Franziskaner Heinrich von Talheim (s. o. f.151r); er war ein Vertreter der strengen Richtung im Armutsstreit.
[131] Damit ist das – in Hinblick auf die Lebensführung – zentrale Ziel von Gertruds geistlichem Streben, wie es zu Anfang ihrer geistlichen Entwicklung genannt wird (f.166r), gewissermaßen „eingeholt“. Es ist der eigentliche Ziel- und Schlusspunkt dieser Gnadenvita.
[132] Gemeint ist: Heilke soll mit ihrem Gut bei ihnen einziehen. Die Regelschwestern wollen dann Heilke ihr Vermögen überlassen, wenn diese ihre Versorgung übernimmt.
[133] Handschrift: ich weis. Vgl. f.182v.
[134] Erst als Heike innerlich zur Armut bereit ist, kann Gertrud ihrerseits den Widerstand gegen das Versorgungsprojekt aufgeben.
- Arbeit zitieren
- Dr. Siegfried Ringler (Autor:in), 2017, Von dem heiligen Leben der Gertrud von Ortenberg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/352142
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