Die Frage nach der Bedeutung des Anderen scheint in unserer Zeit von brennender Aktualität zu sein. Wie kann ich dem Anderen begegnen? Wo schränkt der Andere meine Rechte ein? Wie sind meine und seine Freiheit verbunden? Oder kann immer nur eine_r von uns beiden frei sein? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen die öffentlichen Gemüter, die Zeitungskolumnen und die politischen Debatten nicht erst seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise.
Die Auseinandersetzungen im Rahmen dieses Semmelbandes beruhen auf philosophischen Essays zur aktuellen Flüchtlingsthematik.
Im Fokus steht die Frage, wie die Sichtbarmachung des migrierenden Anderen als Subjekt politischen und medialen Angstdiskursen gegenüberstehen kann.
Zentral für die Arbeiten sind die Schriften von Judith Butler und Emmanuel Lévinas, die für eine ethische Verantwortung dem Anderen gegenüber appellieren und ein Verantwortungskonzept vorlegen, das die Verletzbarkeit des Anderen und des Selbst zu einer stabilen Grundlage ethischer Verständigung und gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme machen kann.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Karin Gorich: Vom „Ich“ zum „Wir“ - Freundschaft mit dem Anderen
Katharina Pooth: Gewalt vor der Gewalt
Julian Böttcher: Die Kategorisierung als „Flüchtling“ als ethische Gewalt am Anderen
Falk Lützelberger: Kann es gewaltlose Sprache geben?
Alina Rathert: Betrauerbarkeit - Die aufgeteilte Menschheit
Finn Ammerich: Betrauerbarkeit im Bezug auf den Terroranschlag in Orlando 2016
Linda Vinke: Die Rolle der Medien im Krieg
Laura Frey: Fotografie und Krieg
Elena Weisenfeld: Zur Betrauerbarkeit, Anerkennbarkeit und Verantwortung für Menschen aus Afghanistan in Deutschland
Nadja Anke Dienst: Das Wort „Wir“
Carla Schriever / Janina Wil>Die Frage nach der Bedeutung des Anderen scheint in unserer Zeit von brennender Aktualität zu sein.
Wie kann ich dem Anderen begegnen?
Wo schränkt der Andere meine Rechte ein?
Wie sind meine und seine Freiheit verbunden?
Oder kann immer nur eine_r von uns beiden frei sein?
Diese und ähnliche Fragen beschäftigen die öffentlichen Gemüter, die Zeitungskollumnen und die politischen Debatten nicht erst seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise. Überall begegnet uns der Andere und eine Koexistenz scheint unumgänglich. Wenn Sartre’s dunkler Intersubjektivitätsrelation betitelt mit: „Die Hölle das sind die Anderen“, nachgegangen wird, lassen sich Ängste und Zweifel verstehen auf denen die menschliche Gemeinschaft seit Beginn ihrer Existenz aufgebaut zu seien scheint. Wenn Xenophobie aus der Undeutbarkeit des Anderen stammt gleich einem Moment der Unvergleichbarkeit mit unserer eigenen Identität, unserer eigenen Kultur unseren Hoffnungen und Wünschen, dann können wir seine Anwesenheit nur als Störung unseres Weltempfindens deuten. Durch die Begegnung mit dem Anderen wird jede_r von uns vor eine große Aufgabe gestellt – wir müssen innehalten und den Blick auf etwas richten, das außerhalb unserer Kontrolle liegt. Diese Öffnung zum Anderen hin, ist die Grundlage der Furcht die viele Menschen empfinden, da sie uns einen Status der Schutzlosigkeit zuschreibt, in der wird einem als potentiell kriminell stigmatisierte Anderen gegenüberstehen. Die Folgen: Xenophobie, Rassismus , Abgrenzung – die Grenzen werden massiver – der Andere verliert das Gesicht, das ihn_sie menschlich macht. Auf einer Ebene die uns verbinden kann, wie es der jüdische Philosoph Lévinas konstatiert geschieht Begegnung mit dem Anderen auf einer Basis der Menschlichkeit, einem Verständnis für die gegenseitige Verletzbarkeit und einem daraus abgeleiteten Bewusstsein der Schutzwürdigkeit des fremden Lebens. Dies ist eine Grundlage, die an unterschiedlichen politischen und institutionellen Strukturen scheitert, und einer Begegnung beider auf einer intersubjektiven von Angesicht zu Angesicht Relation entgegensteht. Die Trennung vom individuellen Anderen, erlaubt die Konstruktion des Anderen als zum Beispiel zugehörig zu einer als kriminell-gefährlich- minderwertigen vordefinierten Gruppe. Diese Zusammenfassung unter den Begriff einer prädiskursiven Gruppierung bestimmt die Lebensbedingungen des Anderen, seine öffentliche Wahrnehmung, die Bestandteile seines sozialen Sicherungsnetzes und überhaupt die Wertigkeit seines Lebens. Das Spektrum der Fragen, welches Leben als lebenswert angesehen wird, wessen Leben aufgrund seiner Zuordnung zu einer sozial marginalisierten Gruppe eine sichere Lebensgestaltung versagt bleibt- kurz wessen Leben betrauerbarer und damit bedeutsamer ist, als das des Anderen, bildet den Kern dieses Sammelbandes. Im Anschluss an die Theorie Judith Butlers soll er einen Beitrag zum Verhältnis des Lebens des marginalisierten Anderen in philosophischen Gedankenfragmenten aufzeigen. Die vorliegenden Essays entstammen einem Seminar zum Thema „Krieg, Flucht und Heimatlosigkeit- Neue ethische Perspektiven bei Lévinas und Butler“ und umfassen soziopolitische Anwendungsbeispiele zu den Theorien Judith Butlers hinsichtlich des Umgangs mit in der Migrationsdebatte marginalisierten Gruppen. Diese Arbeiten stellen nicht den Anspruch eine vollständige Diskussion der Thematik anzubieten, vielmehr sind sie als „Fragmente“ dazu gedacht, den Reflexionsprozess anderer Menschen über Fachdisziplinen und den universitären Kontext hinaus anzustoßen. Die hierin publizierten Aufsätze können sowohl als Ansatzpunkt für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen als auch als Diskussionsgrundlage für Schulklassen oder als theoretische Reflexionsgrundlage für Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen im Rahmen politischer Bildungsarbeit dienen. In dieser sozio-politisch komplexen Debatte sollen sie als Anleitung zum Umdenken verstanden werden, die sich als Plädoyer für die Gleichwertigkeit des Lebens versteht.
Karin Gorich: Vom „Ich“ zum „Wir“ - Freundschaft mit dem Anderen
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Tagtäglich stehen wir in ununterbrochenem Kontakt zu den Menschen in unserer Umgebung. Zunächst sind es natürlich unsere direkten Mitmenschen, unsere Familie, Freunde und Arbeitskollegen, mit denen wir zusammenleben, arbeiten und unsere Freizeit verbringen. Aber auch zu anderen Menschen besteht ein permanenter Kontakt, dessen wir uns nicht unbedingt immer bewusst sind: die Menschen, denen wir morgens im Bus auf dem Weg zur Arbeit begegnen, die Kassiererin im Supermarkt und der junge Mann, der uns vor dem Bahnhof um ein wenig Kleingeld bittet. Selbst wenn wir nicht bewusst kommunizieren, so kommunizieren wir doch ununterbrochen. Denn auch wenn wir nicht auf den Mann am Bahnhof reagieren und an ihm vorbeigehen, als hätten wir ihn nicht gehört, signalisieren wir ihm Desinteresse. Aber nicht nur zu den Menschen, denen wir direkt begegnen, besteht eine Form der Beziehung. Wenn wir morgens unsere Kleidung anziehen, dann ist diese von anderen Menschen hergestellt worden, die wir im Gegenzug (vermutlich sehr schlecht) bezahlt haben. Wenn wir uns anschließend auf dem Weg zur Arbeit beim Bäcker einen Coffee to go kaufen, dann sind die Kaffeebohnen ebenfalls von anderen Menschen gepflückt, getrocknet und geröstet worden, die wir vermutlich niemals zu Gesicht bekommen werden. Alles, was wir konsumieren, fließendes Wasser, Elektrizität, öffentliche Verkehrsmittel, ist von anderen für uns produziert oder bereitgestellt worden. Von anderen, die wir noch nie gesehen haben. Und trotzdem besteht eine Verbindung zu ihnen. Genau genommen wären wir ohne sie nicht überlebensfähig. Doch wie nennen wir jene Menschen, die uns unseren Lebensstandard und unser Überleben sichern? Lebensretter? Wohl kaum. So würden wir höchstens einen Arzt nennen. Helfer? Vielleicht den Polizisten oder die freiwillige Feuerwehr. Freunde? Ganz sicher nicht, wir haben sie ja noch nie gesehen. Obwohl sie im Grunde genau das sind: Lebensretter, Helfer, Freunde. Aber warum nennen wir sie dann nicht so? Wie würden wir unsere Beziehung zu ihnen bezeichnen? Nach welchen Kriterien und Parametern entscheiden wir, wen wir unseren Freund nennen? Müssen wir uns ähnlich sein? Und ist Freund gleich Freund, oder gibt es unterschiedliche Arten der Freundschaft?
Der antike Philosoph Aristoteles widmete das achte und neunte Buch seiner Nikomachischen Ethik der Tugend der Freundschaft. Er unterscheidet zunächst zwischen den drei Arten Nutzenfreundschaft, Lustfreundschaft und wahrer Freundschaft. Letztere ist seiner Ansicht nach die vollkommenste.[1]
Als Grundvoraussetzung für Freundschaft betrachtet Aristoteles Gegenliebe und gegenseitiges Wohlwollen. Ohne gegenseitige Zuneigung und Wohlwollen sei keine Form der Freundschaft möglich. Die Gegenliebe entspringe den liebenswerten Eigenschaften, welche man im anderen Menschen finde. Da diese liebenswerten Eigenschaften von verschiedener Beschaffenheit seien, seien eben jene entscheidend dafür, um welche Art von Freundschaft es sich handele.[2] Dies ist auch nach unserer heutigen allgemeinen Auffassung von Freundschaft nachvollziehbar. Wenn man in anderen Menschen Eigenschaften erkennt, die einem als positiv und liebenswert erscheinen, empfinden wir diesen Menschen gegenüber in der Regel Wohlwollen und Zuneigung. Wie intensiv diese Zuneigung ist und ob man sie sogar als Liebe einstufen würde, hängt schlussendlich wohl davon ab, welche Art von Eigenschaften wir am Anderen als liebenswert empfinden.
Hier setzt Aristoteles mit seiner Unterscheidung der verschiedenen Arten von Freundschaft an. Liebe man den Anderen um seines Nutzens willen und nicht die Person als solche, so handele es sich hier um eine Nutzenfreundschaft. Man empfinde die Zuneigung aufgrund des Vorteils, den man sich gegenseitig bringe. Solche Freundschaften sind laut Aristoteles nicht von langer Dauer und finden sich oft bei älteren Menschen, da die gegenseitige Nützlichkeit vergänglich sei und sich die Freundschaft auflöse, sobald der Nutzen nicht mehr gegeben sei. Eine solche Form der Freundschaft sei auch die Gastfreundschaft.[3] In unserer heutigen Gesellschaft lassen sich ebenfalls solche Formen der Nutzenfreundschaft wiederfinden. So würde man Freundschaften innerhalb eines Sportvereins, einer Musikkapelle, einer Lerngruppe oder einer Wohngemeinschaft als eine solche Nutzenfreundschaft bezeichnen. Die Mitglieder dieser Vereinigungen profitieren vom Kontakt zu den anderen. Sie ermöglichen das Ausüben einer Sportart, gemeinsames Musizieren, Arbeitsteilung bei der Bewältigung von Schulprojekten oder finanzielle Einsparungen bei der geteilten Miete. Da alle Beteiligten von diesem gegenseitigen Nutzen profitieren, empfinden sie das Wohlwollen und die Zuneigung aufgrund der Sportlichkeit des Anderen oder aufgrund seiner Bereitschaft, sich den Wohnraum zu teilen. Würde dies streng genommen nicht auch die Dienstleister aus dem zu Beginn genannten Beispiel mit einschließen, da hier ebenso ein gegenseitiger Nutzen besteht? Der Konsument profitiert vom Genuss des Produktes oder der Dienstleistung, während der Produzent von der Bezahlung des Konsumenten profitiert. Im Grunde genommen könnte man dies auf sämtlichen wirtschaftlichen Handel ausweiten. Jedoch sind diese Beziehungen laut Aristoteles keine Freundschaften, da das gegenseitige Wohlwollen hier verborgen bleibe. Menschen, die sich noch nie gesehen haben, sind seiner Ansicht nach trotz gegenseitig wohlwollender Gesinnung nicht zur Freundschaft fähig.[4]
Die zweite Form der Freundschaft, die Aristoteles definiert, ist die Lustfreundschaft. Diese beruhe auf der Lust, die beide Parteien an der Anwesenheit der anderen empfänden. Sie ähnle in dieser Hinsicht der Nutzenfreundschaft, denn die Freunde liebten nicht einander als Menschen, sondern die Lust, die sie einander brächten. Die Lustfreundschaft schreibt Aristoteles jungen Menschen zu, die sehr affektiv seien und die Gegenwart genössen, im Hier und Jetzt lebten. Da „die jugendliche Freude raschem Wechsel“ unterliege, löse sich eine Lustfreundschaft ebenfalls leicht wieder auf.[5] Auch diese Lustfreundschaften sind uns im heutigen Alltag bekannt. Häufig zählen Schulfreundschaften dazu, die gegenseitig Lust beim gemeinsamen Zeitvertreib im Schulalltag bringen, nach dem Schulabschluss jedoch häufig im Sande verlaufen. Ähnlich sieht es mit Freunden aus, die am Wochenende gerne gemeinsam ausgehen, sich jedoch mit den Alltagsproblemen des Anderen nicht befassen.
Die dritte und vollkommenste Form der Freundschaft ist für Aristoteles die wahrhaftige, tugendhafte Freundschaft. Ähnlich wie bei der Nutzen- und Lustfreundschaft seien sich die beiden Freunde angenehm, nützlich und empfänden Lust aneinander. Zusätzlich aber seien sie einander gut und tugendhaft und mögen einander um ihrer selbst willen, nicht bloß aus Nutzen oder Lust. Hierzu sei es notwendig, viel Zeit miteinander zu verbringen, aneinander gewöhnt zu sein und sich über einen längeren Zeitraum hinweg als liebenswert erwiesen zu haben. Auch eine gewisse Ähnlichkeit sei von Bedeutung. Diese Form der Freundschaft sei äußerst selten, aber beständig und überstehe auch längere räumliche Trennung voneinander.[6] Betrachten wir diese Beschreibung aus heutiger Sicht, so ist uns eine solche Art der Freundschaft nicht unbekannt. Zumeist würden wir unseren „besten Freund“ oder einen „Freund fürs Leben“ ähnlich beschreiben. Dies sind zumeist Menschen, die wir über sehr lange Zeiträume hinweg kennen, mit denen wir eine gemeinsame Wertevorstellung, häufig auch gemeinsame Interessen teilen und denen wir auch in schlechten Zeiten über Nutzen und Lust hinweg zur Seite stehen.
Was ist aber nun mit unserer Beziehung zu unseren Mitmenschen, denen wir im Alltag begegnen? Was ist mit denen, denen wir nicht persönlich begegnen, die aber unser Überleben sichern? Würden wir nach Aristoteles Definition gehen, so könnten wir die Kassiererin oder den Friseur noch als einen Nutzenfreund bezeichnen, denn beide Parteien ziehen einen Nutzen aus ihrem Kontakt. Voraussetzung wäre, dass auch beide gegenseitiges Wohlwollen empfinden. Hätte die Kassiererin einen besonders schlechten Tag und wäre uns gegenüber unfreundlich, so wäre nicht einmal eine Nutzenfreundschaft. Ähnlich sieht es nach Aristoteles auch bei jenen Menschen aus, die wir persönlich nicht kennen. Zwar könnten wir dem Plantagenarbeiter gegenüber wohlwollend gestimmt sein, da wir in den Genuss seiner Ernte kommen, nicht jedoch Freundschaft für ihn empfinden.
Was ist aber mit dem jungen Mann, der am Bahnhof sitzt und uns um Kleingeld bittet? Manchmal geben wir ihm ein paar Cent, da wir uns irgendwie verantwortlich fühlen. Selbst wenn wir es nicht tun, und einfach an ihm vorbei gehen, drängt sich uns dieses Verantwortungsgefühl auf, und wir empfinden ein schlechtes Gewissen. Wenn nicht das, dann zumindest Mitleid. Was ist mit den anderen Menschen, denen gegenüber wir ein Verantwortungsgefühl empfinden? Kaum einer würde ein Kind, welches sich im Einkaufszentrum verlaufen und seine Mutter verloren hat, einfach sich selbst überlassen. Auch hier empfinden wir den Drang, ihm zurück zu seiner Mutter zu verhelfen. Wir empfinden diesen Menschen gegenüber Wohlwollen, ohne dass wir sie kennen, einen Nutzen oder gar Lust daraus ziehen. Wenn diese Menschen laut Aristoteles keine Freunde sind, was sind sie dann? Die zwischenmenschlichen Beziehungen unseres Alltags scheinen doch komplexer zu sein, als sie sich mit Aristoteles‘ Abhandlung über die Arten der Freundschaft erklären ließen.
Die zeitgenössische Philosophin Judith Butler thematisiert eben jene Verantwortung für andere in ihrem Werk Krieg und Affekt. Ähnlich wie wir bereits zu Beginn festgestellt haben, ist Butler der Auffassung, dass Individuen aufeinander angewiesen seien und ohne die „Welt von anderen“ nicht existieren könnten.[7] Eben aufgrund dieser Abhängigkeit sieht sie auch gleichzeitig die Verantwortung, die wir füreinander tragen. Eine Problematik, die sie an dieser Stelle erkennt, ist der Rahmen, in dem wir diese Verantwortung empfinden. Die Definition von „Wir“, in die wir uns selbst mit einschließen, von der wir folglich aber auch andere kategorisch ausschließen. Zumeist basiere unser Gefühl von Zugehörigkeit auf gemeinsamer Nationalität, Sprache oder Kultur. Dies impliziere, dass man nur jenen gegenüber Verantwortung empfinde, denen wir in einer gewissen Weise ähnelten.[8] Dieser Zustand erschwere es uns, bestimmten Menschen gegenüber Verantwortung und Zugehörigkeit zu empfinden. Dies mag die Menschen, denen wir im Alltag persönlich begegnen, noch mit einschließen. Jene anderen Menschen, die uns das Leben erleichtern durch ihre Arbeit in der Kleider- und Lebensmittelproduktion am anderen Ende der Welt, werden jedoch durch ein mangelndes Zugehörigkeitsgefühl nicht in diese Verantwortung einbezogen. Wenn also ihnen gegenüber keine Verantwortung empfunden wird, bauen wir ihnen gegenüber keine Bindung, geschweige denn eine Freundschaft auf.
Ein weiteres Problem, welches Butler bei der Beziehung zum Anderen thematisiert, ist die Verletzbarkeit anderer Menschen, welche für uns nicht sichtbar gemacht wird. Leben würde nur dann wertgeschätzt, wenn es als solches überhaupt wahrgenommen würde.[9] Werde ein Leben gar nicht erst als solches wahrgenommen, gälten ihm gegenüber keine Gewaltverbote, die „anerkannten“ Leben gegenüber zur Anwendung kämen. Die Leben jener genannten Menschen, die wir nicht wahrnehmen, weder persönlich noch durch die Medien, werde folglich nicht als vollwertiges „Leben“ anerkannt. Auch hier stehen wir wieder vor dem Problem, dass diese Menschen nicht zum „Wir“ zählen, wir ihnen gegenüber keine Verantwortung empfinden oder ihnen gar einen Lebenswert zuschreiben. Laut Butler sind dies die Ursachen, weshalb die Auslöschung dieser Leben beispielsweise durch Kriege gebilligt oder gar als gerechtfertigt angesehen werden.[10] Sie beschreibt dieses Phänomen als „Affektregulierung“: Menschen, die dem „Wir“ angehören und deren Verletzbarkeit für uns wahrnehmbar ist, wird Verantwortung gegenüber empfunden. Gewalt an ihnen löst bei uns Entsetzen aus. Jene anderen Menschen, die im Krieg durch unseren Staat getötet werden, bleiben uns in ihrer Verletzbarkeit verborgen, und ihr Tod wird nicht als „radikal ungerecht“ empfunden.[11] Deshalb empfinden wir ein Unwohlsein, wenn wir an dem bettelnden Mann am Bahnhof vorbeigehen, denn seine Verletzbarkeit ist sichtbar, wir erkennen sein Leben als solches an. Durch die Ansprache drängt sich seine Verletzbarkeit regelrecht auf, sodass wir sie nicht ignorieren können und sie ein Mitgefühl in uns auslöst.
Wie können wir dieses Problem der Affektregulierung lösen? Wie können wir das mangelnde Verantwortungsgefühl jenen Anderen gegenüber überwinden und sie als Teil des „Wir“ anerkennen? Butler setzt hier bei der Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit an. Das, was Aristoteles noch als „Nutzenfreundschaft“ beschrieb, ist der Schlüssel zur Überwindung der Grenze zwischen „Ich“ und „Wir“. Weil wir diese Welt gemeinsam mit den Anderen bewohnen, unabhängig von ihrer Völkerzugehörigkeit, sind wir aufeinander angewiesen.[12] Die Logik des Krieges sei ein Paradoxon, denn wir könnten den Anderen nicht zerstören, ohne uns selbst damit anzugreifen. Butler verweist an dieser Stelle auf die Psychologin Melanie Klein. Ihr zufolge ist moralisches Verantwortungsgefühl anderen gegenüber darauf zurückzuführen, dass ein „Ich“ nicht ohne ein „Du“ bzw. mehrere „Dus“ existieren kann und von ihnen abhängig ist.[13] Folglich hätten wir schon durch unseren Selbsterhaltungstrieb moralische Bedenken, den Anderen zu zerstören. Unser eigenes Überleben hänge letztendlich davon ab, dass wir jene Abhängigkeit des „Ichs“ vom „Du“ anerkennen und ein „Wir“ daraus wird.[14] Beachten wir die vorstehend genannten wichtigen Aspekt bei der Beurteilung unserer Beziehung zu anderen, so müssen wir jene Hürde überwinden, die auch nach Aristoteles Definition einer Freundschaft zum Anderen im Wege steht. Wir müssen uns bewusst werden, dass ein Leben nicht nur dann als lebenswert anzuerkennen ist, wenn dieses Leben für uns sichtbar und seine Verletzbarkeit für uns wahrnehmbar ist. Denn auch, ohne dass wir ihnen persönlich begegnen, sind sie ebenso verletzbar wie wir. Unsere Abhängigkeit von anderen Lebewesen, nicht nur von Menschen, macht sie alle zu einem Teil vom „Wir“. Wir sind ihnen gegenüber genauso verantwortlich wie unserer Familie und unseren Freunden gegenüber. Auch wenn wir nur die Kleidung tragen, die sie genäht haben und sie nie persönlich treffen, so können wir ohne sie nicht leben. Aristoteles betrachtet die Komplexität zwischenmenschlicher Freundschaft folglich zu oberflächlich, wenn er sagt, dass Freundschaft nicht möglich sei, sofern man dem Anderen nie begegnet sei. Die Anerkennung anderen Lebens ebnet die Grundlage für eine Bindung zum Anderen, die im Grunde tiefer geht als Freundschaft: Der Andere ist ein Teil vom „Ich“, seine Verletzbarkeit ist gleichzeitig meine eigene Verletzbarkeit, und sein Leben ist vollwertig, denn es ist notwendig für mein eigenes Überleben. Wir sollten also bei der Frage nach Freundschaft nicht nach unseren Ähnlichkeiten, der Lust oder der gemeinsamen Zeit urteilen, sondern dem Anderen an sich, alleine schon, weil er da ist, sein Leben verletzbar und mein eigenes von ihm abhängig ist, als Freund gegenübertreten. Würden wir diese Anerkennung des Anderen tief in unseren Köpfen verankern, würde so etwas wie Krieg oder gerechtfertigte Gewalt wohl gar nicht existieren. Denn der Andere wäre unser Freund.
Literatur
BUTLER, Judith (2009). Krieg und Affekt. Zürich: Diaphanes Verlag.
ARISTOTELES (1985). Nikomachische Ethik. 4. Auflage. Hamburg: Meiner Verlag.
Katharina Pooth: Gewalt vor der Gewalt
Folgender Essay befasst sich mit Judith Butlers Krieg und Affekt und fragt dabei kritisch nach dem Thema der „Gewalt vor der Gewalt“, wirft also Licht auf die gesellschaftlichen und sozio-kulturellen Bedingungen, die potentielle Gewaltbereitschaft hervorrufen und legitimieren sollen. Diese Bedingungen findet man sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten vor.[15]
Zunächst werden Butlers Grundgedanken und -thesen erläutert, die für ein Verständnis von Gewalt vor der Gewalt notwendig sind. Daraufhin werden diverse Missstände, die Gewalt begünstigen, entlang des ersten Kapitels beleuchtet und anhand einiger Beispiele, wie der Politik der Vereinigten Staaten oder des Einflusses der Medien auf unsere Wahrnehmung von fremden Menschen, erklärt. Gegen Ende steht ein Fazit, das verschiedene Möglichkeiten von Gewalt vor der Gewalt auf unterschiedlichen Ebene und von unterschiedlichen Instanzen zusammenfasst. Konsequenzen, aber auch Präventionsmaßnahmen werden abschließend aufgeführt.
Im Fokus steht bei Butler der Begriff der „globalen Verantwortung“.[16]
Gemeinsam ist allen Körpern ihre Verletzbarkeit.[17] Damit ist jedoch nicht nur Verwundbarkeit, sondern generelle Ansprechbarkeit und unsere direkten und indirekten Interaktionsmöglichkeiten mit anderen Menschen gemeint. Alles, was uns in unserem Leben positiv oder negativ beeinflusst.
Verantwortung übernehmen müssen wir nicht nur gegenüber ausgewählten Individuen oder Gruppen3, Butler fordert, dass der Begriff der Verantwortung global gedacht wird. Alle anderen (Menschen) sollen einbezogen werden, nicht nur diejenigen, mit denen ich mich auf Grund von bestimmten Ähnlichkeiten identifiziere oder in Verbindung gesetzt fühle. Dadurch soll der Fokus vom Ich abgerückt und mehr hin zu einem Wir gelenkt werden, welches alle anderen mit einbezieht.[18]
Nötig ist dies, da wir dem Anderen immer ausgesetzt sind, wir sind verletzbar und auf den Anderen angewiesen, der immer schon vor uns da ist. Der Andere ist wesentlicher Teil dessen, was uns ausmacht.[19] Erst durch eine Abgrenzung zum Anderen schaffen wir unsere Version vom Ich.
Butlers Forderung nach dem Bewusstwerden über die Bedeutung eines Wir und dem Übernehmen von Verantwortung für eben dieses[20] ist sehr politisch und bringt starke Konsequenzen in gesellschaftlichen und politischen Bereichen mit sich, auf die ich später noch eingehen werde. Diese erläutert sie anhand einiger Beispiele, wie dem 11. September[21], und verdeutlicht somit die Aktualität des Problems; denn aktuell befinden wir uns in einem Zustand des Kriegs.[22]
Da der Körper jederzeit von Außen beeinflusst wird, entsteht bei Interaktion mit anderen willentliche oder unwillentliche Nähe; man ist dadurch immer ansprechbar. Auf solche direkten oder indirekten Interaktionen folgt eine primär affektierte Reaktion ganz automatisch. In uns bildet sich ein Affekt, der in Form von Wut, Hoffnung, Zuneigung und vielen weiteren möglichen Gefühlsäußerungen interpretiert wird.[23] Dieser Interpretationsrahmen und die sich darin bildenden Affekte beeinflussen in hohem Maße, wie wir andere Menschen wahrnehmen und als Folge dessen ebenfalls, wie wir mit ihnen umzugehen bereit sind. Diese Affekte können allerdings gezielt reguliert oder unterdrückt werden. Die Gewalt (vor der Gewalt), die Menschen durch diese Affektregulierung von Seiten der US Regierung angetan wird, wird im Folgenden analysiert.
Krieg ist ein Zustand, der Bevölkerungen aufteilt.[24]
Von Butler wird jene Handhabe, Verantwortung nur in dem Maße zu übernehmen, in dem ich mich auch zugehörig zu der jeweiligen Person oder Gruppe fühle, die von meinen Handlungen betroffen ist, kritisiert Über Kriterien der Ähnlichkeit, wie Nationalität oder Sprache wird das Konzept der Verantwortung schnell stark eingegrenzt und auf eine Bevölkerungsgruppe reduziert.[25]
Im Kriegsfall wird auf diese Weise zwischen betrauerbaren Leben, die mir ähnlich sind und unbetrauerbaren Leben, von denen ich mich distanziere, unterschieden. Sollte diesen von mir distanzierten Leben Gewalt angetan werden, übernehme ich dafür keine oder kaum Verantwortung. Somit wird diesen Leben bereits vor dem Eintritt der Gewalt ihre Existenz und ihr Wert abgesprochen. Gewalt vor der Gewalt bildet eben jenes Schisma der Differenzierung, das dafür sorgt, dass das Leben einiger Menschen als wichtiger und betrauerbarer erscheint als das anderer.
Am Beispiel der USA, die nach dem 11. September 2001 Krieg im Namen des Guten oder im Namen der Demokratie und Sicherheit führten, zeigt Butler auf, welche Taktik eine solche Regierung nicht selten verfolgt. Unter dem Vorwand globaler Verantwortung werde der Versuch unternommen, Demokratie in andere Länder zu bringen.[26] Dabei werde diesen Ländern ihre Souveränität aberkannt und mit Gewalt versucht, eine demokratische Regierungsform zu etablieren.
Gewalt vor der Gewalt beziehungsweise das Schaffen eines Schismas, in dem das Ausüben von Gewalt an Menschen, reduziert auf eine künstlich geschaffene Andersartigkeit, gesellschaftstauglich wird, ist oft die Taktik des kriegsführenden Landes. Bringt die Bevölkerung den gefallenen ‚andersartigen‘ Leben keine Empörung und Trauer auf, kann der Krieg fortgesetzt werden und findet Rückhalt und Bestätigung im eigenen Volk. Ungerechtigkeit wird durch gezielte Affektregulierung von Seiten des Machtregimes nicht als solche wahrgenommen und auf der anderen Seite das nationale Zugehörigkeitsgefühl, durch Abgrenzung von anderen Menschen, gestärkt.[27] Hierbei kommt den Medien ebenfalls eine bedeutende Rolle zu.
Nach den Anschlägen des 11. Septembers wurde der Prozess öffentlicher Trauer stark medial begleitet und in ein bestimmtes Licht der Ikonisierung einer Nation gerückt.[28] Dieses durch das gesamte Land getragene Bild ‚eines unerträglichen Verlusts, hat ein enormes politisches Potential‘[29], welches dem darauffolgenden Krieg zu Gunsten genutzt wurde.
Durch die Schaffung eines gesteigerten Nationalismus fällt es leichter, sich von anderen Nationen, den von den Medien und dem Machtregime passend inszenierten Kriegsfeinden, zu distanzieren und damit auch den Wert dieser Leben zu reduzieren.
Ein Interpretationsrahmen wird geschaffen, der zwischen zweierlei Gruppen unterscheidet. Auf der einen Seite stehen die Menschen, zu denen ich mich selbst zähle, Menschen, von denen mein Leben abhängt und mit denen ich gewisse Ähnlichkeiten wie Nationalität oder Sprache teile. Auf der anderen Seite befinden sich demzufolge Menschen, deren Existenz die meine bedroht. Die Mitglieder dieser mich bedrohenden Gesellschaft ordne ich als Gefahr für mein eigenes Leben ein und spreche ihnen ihre Existenz infolge dessen ab.[30]
Wenn nun also der ‚Islam als barbarisch oder vermodern gilt, so als habe er sich noch nicht ganz jenen Normen angepasst, die das Menschliche erkennbar machen, ist das eine Form von Gewalt vor der Gewalt, die dieser Kultur ihre Vollwertigkeit und Existenz abstreitet. Diese Reduzierung ist gleichsam Voraussetzung für die vermeintliche Legitimation dessen, gegen eine Kultur oder ein Land mit Gewalt vorzugehen. Im Falle der USA bedeutete das den Krieg nach dem 11. September, in dem Leben von unterschiedlichen Populationen verschiedene Wertigkeit zukam.
Dieses Schisma resultiert aus einer Logik der Selbstverteidigung.[31]
Durch den Hintergrund der Anschläge vom 11. September und die anschließende mediale Zurschaustellung der Nationalität der Täter, hat sich die Auffassung entwickelt, dass „die Durchlässigkeit der Grenze‘ eine nationale Bedrohung, gar eine Bedrohung unserer Identität an sich, darstelle“ [32] Grenzziehung und Gebietsübernahme, besonders zu Kriegszeiten, dienten immer schon dem Ziel, Menschen durch beliebig und je nach Bedarf gewählte Andersartigkeiten zu spalten und die jeweils andere Gruppe als nicht vollwertig und somit deren Leben als nicht betrauerbar darzustellen.
Grenzziehung durch Machtregime ist hiermit also an sich bereits ein Akt der Gewalt vor der Gewalt.20
Unterstützt wird dieses Schisma von dem Bild, das die entsprechende Regierung, in Butlers Beispiel ist es die USA, sich selbst - auch über mediale Wege - inszeniert. Wird beispielsweise im Namen der Vereinigten Staaten ein Mensch getötet, vermeidet man in der darauf folgenden Berichterstattung penibel das Wort „Töten“.[33] Diese gezielte Affektregulierung sorgt dafür, dass die Bevölkerung weder mit Empörung noch mit Trauer auf einen solchen Mord reagiert und sich nicht gegen den Krieg oder die ausgeübte Gewalt an anderen Menschen auflehnt. Während das Leben des „Feindes“ als minderwertig und unbetrauerbar dargestellt wird, werden die eigene Souveränität, Gerechtigkeit und Unverletzbarkeit betont.[34] Nur so kann ein Krieg fortgesetzt werden. Medien unterstützen diese Denkweise oftmals und bieten Nährboden für die nötige Überzeugung, sie leisten die Vorarbeit zur Legitimation der Gewalt an fremden Menschen.
Gerechtigkeit und Menschlichkeit sind nur medial unterstützte Illusionen, die der Bevölkerung den nötigen Nationalismus und das Vertrauen in gerechtfertigtes Handeln ihres Landes geben sollen, um einen Krieg weiter durch den Rückhalt des Volkes ermöglichen zu können. Die „Menschlichkeit, die wir da für uns in Anspruch nehmen, [ist] implizit bereits aufgeteilt.“26 Dies geschieht oft unbewusst und wird von den Individuen gar nicht erst als Kernproblem erkannt. Hier bedarf es eines kritischen Hinterfragens des eigenen Interpretationsrahmens und der Wahrnehmung von anderen.
Anderem Leben, das als nicht schützenswert und nicht betrauerbar gilt, wird also immer Gewalt vor der Gewalt angetan. Mit dieser Reduzierung des Menschen an sich wird die Grundlage für die Legitimation geschaffen, ihn weniger gut und gar mit Gewalt zu behandeln. Besonders problematisch und tiefgreifend ist diese Art von Gewalt an menschlichen Leben, „weil sie aus der Perspektive der die Wahrnehmung beherrschenden kulturellen Normen gar nicht erst in vollem Ausmaß als ‚Leben‘ in Betracht kommen.“[35] Würden mehr Medien ein genaueres Licht auf diese benachteiligten und ungerecht behandelten Menschen und Bevölkerungsgruppen werfen, wären diese für die Allgemeinheit leichter wahrnehmbar, und der Anteil an Protest und Widerstand gegenüber dem gängigen Schisma würde sicherlich steigen. Butlers Appell richtet sich hier gegen selektive Wahrnehmung von Gewalt, die dazu führt, dass ungerechte Gewalt an Menschen ungesehen bleibe.[36]
Gewalt vor der Gewalt beginnt bereits mit dem Leugnen von wechselseitiger Abhängigkeit.[37] Ohne den Anderen, im persönlichen, gesellschaftlichen oder globalen Kontext, ist unsere Existenz nicht zu denken. Bewusst muss sein, ‚“dass wir jeweils die Macht haben, zu zerstören, und der Möglichkeit ausgesetzt sind, zerstört zu werden.“[38] Erst, wenn ich diese Wechselwirkung anerkenne, kann ich den anderen gerecht behandeln und ihm seine Vollwertigkeit zuschreiben.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Gewalt vor der Gewalt beziehungsweise Bedingungen für potentielle Gewaltbereitschaft aus mehreren Faktoren und Missständen ableiten lassen.
Zum einen bedarf es dringend des Bewusstseins, Verantwortung nicht nur für das eigene Leben und die eigene Verletzbarkeit, sondern auch für das Leben der anderen zu übernehmen.[39] Ein global gedachtes Wir muss im Zentrum meiner Motivation, zu handeln, Platz finden. Der Andere muss mich moralisch angehen, und ich muss lernen, meinen Interpretationsrahmen, mit dem ich jeden anderen wahrnehme, kritisch zu hinterfragen und zu überprüfen.
Um dies auch auf politischer Ebene umzusetzen, ist es unabdingbar, dass Moraltheorie, in größeren Teilen als bisher vorhanden, in Gesellschaftstheorie einfließt.[40] Prävention muss nicht erst bei Gewaltausbrüchen, unabhängig, ob auf globaler oder kleinerer Ebene, ansetzen, sondern bereits bei Anzeichen von Gewalt vor der Gewalt. Verantwortung übernehme ich, indem das Wir, für das ich Verantwortung übernehme, größer ist als das Wir, zu dem ich die meisten Ähnlichkeiten aufweise.[41]
Gewalt vor der Gewalt wird nicht nur vom Ich, einer Einzelperson, ausgeübt, sondern fußt auch auf politischen Einstellungen bestimmter Machtregime, wie Butler am Beispiel der USA hervorhebt. Der Versuch, anderen Ländern die Demokratie zu bringen oder eher gewaltsam aufzuzwingen, setzt sich über deren Volkswillen hinweg.[42] Das Untergraben der Souveränität anderer Länder bei gleichzeitiger Annahme der eigenen Gerechtigkeit und Unverletzbarkeit ist ein weiteres Anzeichen für Gewalt vor der Gewalt. Gemeinschaft darf nicht durch Grenzen bestimmt sein.33
Leben fremder Menschen mit nicht-amerikanischer Herkunft, die in solchen Kämpfen verloren gehen, werden als unbetrauerbar inszeniert. Ihnen werden ihr Wert und ihre Existenz abgesprochen, „weil sie nie als Leben zählten.“[43] Bei ihrem Tod machen wir einen Unterschied und empfinden nicht dieselbe Empörung wie bei dem eines uns ähnlicheren Menschen.[44]
Diese Denkweise ist es, die Butler anprangert und verändern möchte. Sich selbst als verletzbar zu erkennen, da auch jeder andere verletzbar ist, ist Voraussetzung für eine Veränderung.
Auch die Medien spielen eine große Rolle in der Verbreitung der Grundlagen der Gewalt vor der Gewalt, die Kriegsführung und übersteigerten Nationalismus begünstigen.
Fremdes Leben wird für uns nur real, wertvoll und schützenswert, wenn auch über dieses, im besten Falle objektiv, Bericht erstattet wird. Es muss „von bestimmten Instanzen der Wertschätzung erfasst“[45] und publik gemacht werden. Erst dann ist solches Leben auch für uns repräsentierbar. Eine solche Darstellung von fremden Leben würde unseren beschränkten Interpretationsrahmen erweitern und auch den Anderen in unsere Vorstellung von Verantwortung mit einbeziehen.
Politik hat im Idealfall die Aufgabe den Zustand der Gefährdetheit eines jeden (anderen) zu begrenzen,[46] Verletzbarkeit zu achten und darf sich dem zu Folge nicht selektiv auf das Wohl einer Gruppe oder Bevölkerung fokussieren, während sie eine andere Gruppe gar nicht erst als vollwertig anerkennt.
Diese Formen von Gewalt vor der Gewalt gilt es zu erkennen und ihnen vorzubeugen. Das ist Aufgabe des Ich sowie auch von Politik und globalen Instanzen. Wir sind existenziell an alle anderen Menschen gebunden, von ihnen wechselseitig abhängig, und dies bringt auf der einen Seite zwar die Möglichkeit von Gewalt und das Risiko der Verwundbarkeit mit sich, auf der anderen Seite jedoch auch „die Möglichkeit, von Leiden befreit zu werden, Gerechtigkeit und sogar Liebe zu erfahren.“[47]
Literatur
BUTLER, Judith (2009). Krieg und Affekt, Zürich-Berlin, S. 7-52.
Julian Böttcher: Die Kategorisierung als „Flüchtling“ als ethische Gewalt am Anderen
Flüchtling, dieses Wort hat wohl jeder von uns in den vergangenen eineinhalb Jahren schon einmal gehört, sei es im Freundeskreis, bei der Arbeit oder in anderen Alltagssituationen. Die Kategorisierung von Menschen als Flüchtlinge wird vor allem durch die Medien stark geprägt, wenn darüber berichtet wird, dass Menschen aus Syrien und anderen arabischen Ländern vor dem IS nach Europa fliehen. Es ist üblich geworden, diesen Begriff zu benutzen, wenn über Menschen gesprochen oder berichtet wird, die aus ihrem Land fliehen, weil es dort nicht mehr sicher ist. Wir verwenden die Kategorisierung als Flüchtling oft, ohne dabei über die Folgen nachzudenken. Doch ist es nicht vielmehr so, dass das Wort Flüchtling ethische Gewalt am Anderen, dem Flüchtling, darstellt?
Um bezüglich der Frage, inwieweit der Begriff Flüchtling Gewalt am Anderen impliziert, zu einem Ergebnis zu gelangen, muss zunächst erörtert werden, was der Begriff Flüchtling bedeutet. Wie das Wort schon suggeriert, ist ein Flüchtling eine Person, die vor etwas flüchtet oder geflohen ist. Im Duden findet sich im Zusammenhang mit der Bedeutung des Wortes Flüchtling folgender Eintrag: „Person, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder ethnischen Gründen ihre Heimat eilig verlassen hat oder verlassen musste und dabei ihren Besitz zurückgelassen hat“. In unserem Sprachgebrauch wird das Wort Flüchtling also hauptsächlich genutzt, um über eine Person zu sprechen, die vor Krieg, Verfolgung oder einer anderen Katastrophe aus ihrem Land, ihrer Heimat, in ein anderes Land fliehen musste, um dort Schutz zu suchen.
Betrachtet man die Kategorisierung als Flüchtling genauer, so fällt auf, dass sie sehr verallgemeinernd Natur ist. Eine Person, die vorher über ihre Religion, ihre Heimat oder ihr Denken definiert wurde, wird plötzlich von uns nur noch darüber definiert, dass sie auf der Flucht ist. Es werden Menschen, die vorher in keiner Verbindung zueinander standen, durch diese Kategorisierung zu einer Einheit, weil wir sie nur als Flüchtlinge wahrnehmen. Sobald jemand, aus welchen Gründen auch immer, aus seiner Heimat fliehen muss, wird er für uns begrifflich zum Flüchtling und damit zum Teil einer großen Masse von Flüchtlingen. Individuelle Charaktereigenschaften, Alter, Herkunft, Aussehen, Familienstand sowie kultureller Hintergrund werden nicht mehr berücksichtigt, so dass sich der Einzelne nicht mehr mit dieser undifferenzierten Masse identifizieren kann. Innerhalb dieser Kategorisierung fehlt also jegliche individuelle Betrachtung, und mit ihr geht daher eine Entpersonalisierung einher. Der Einzelne geht in der Masse der Flüchtlinge unter und wird nicht mehr als eigenständiges Individuum betrachtet. Er wird nur noch als einer von vielen Flüchtlingen gesehen. Dies führt dazu, dass alle Flüchtlinge angesprochen werden, wenn über einen oder mehrere gesprochen oder in den Medien berichtet wird. Es wird nicht jedes Individuum unter den Flüchtlingen einzeln betrachtet. Beispielhaft sei die Silvesternacht in Köln 2016 angeführt.
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[1] vgl. Aristoteles (1985): S. 187, Nr. 1157a
[2] vgl. Aristoteles (1985): S. 182, Nr. 155b ff.
[3] vgl. Ebd.: S. 183, Nr. 1156a
[4] vgl. Aristoteles (1985): S. 183, Nr. 1156a
[5] vgl. Ebd.: S. 185, Nr. 1156b
[6] vgl. Ebd.: S. 186 ff.
[7] vgl. Butler (2009): S. 14
[8] vgl. Ebd.: S. 15
[9] vgl. Butler (2009): S. 36 ff.
[10] vgl. Ebd.: S. 22 ff.
[11] vgl. Ebd.
[12] vgl. Ebd.:S. 25 ff.
[13] vgl. Butler (2009): S. 28 – 29
[14] vgl. Ebd.: S. 41
[15] Judith Butler, Krieg und Affekt, Zürich-Berlin, 2009, S. 10.
[16] Ebenda, S. 7.
[17] Ebenda, S. 11.
[18] Ebenda, S. 14.
[19] Ebenda, S. 25.
[20] Ebenda, S. 14.
[21] Ebenda, S. 18.
[22] Ebenda, S. 15.
[23] Ebenda, S. 20
[24] Ebenda, S. 18.
[25] Ebenda, S. 20.
[26] Ebenda, S. 15.
[27] Ebenda, S. 20-21.
[28] Ebenda, S. 18.
[31] Ebenda, S. 25.
[32] Ebenda, S. 25-26.
[33] Ebenda, S. 30.
[34]
[35] Ebenda, S. 36.
[36] Ebenda, S. 37.
[37] Ebenda, S. 40.
[38] Ebenda, S. 25.
[39] Ebenda, S. 11.
[40] Ebenda, S. 13.
[41] Ebenda, S. 14.
[42] Ebenda, S. 15-16.
[43] Ebenda, S. 18.
[44] Ebenda, S. 24.
[45] Ebenda, S. 36.
[46] Ebenda, S. 40.
[47] Ebenda, S. 51.
- Arbeit zitieren
- Carla Schriever (Hrsg.) (Autor:in), Janina Wilcke (Hrsg.) (Autor:in), 2016, Zur Unbetrauerbarkeit des Anderen. Philosophische Gedankenfragmente zur Migrationsdebatte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/351807
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