,,Eine Wertung der menschlichen Kultur zu geben", so Sigmund Freud zusammenfassend, „liegt mir ... sehr ferne. Ich habe mich bemüht, das enthusiastische Vorurteil von mir abzuhalten, unsere Kultur sei das Kostbarste, was wir besitzen oder erwerben können, und ihr Weg müsse uns notwendigerweise zu Höhen ungeahnter Vollkommenheit fuhren. Ich kann wenigstens ohne Entrüstung den Kritiker anhören, der meint ..., man müsse zu dem Schlüsse kommen, die ganze Anstrengung sei nicht der Mühe wert und das Ergebnis könne nur ein Zustand sein, den der einzelne unerträglich finden muss. Meine Unparteilichkeit wird mir dadurch leicht, dass ich über all diese Dinge sehr wenig weiss, mit Sicherheit nur das eine, dass die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden, also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu stützen. Ich verstünde es sehr wohl, wenn jemand den zwangsläufigen Charakter der menschlichen Kultur hervorheben und z. B. sagen würde, die Neigung zur Einschränkung des Sexuallebens oder zur Durchsetzung des Humanitätsideals auf Kosten der natürlichen Auslese seien Entwicklungsrichtungen, die sich nicht abwenden und nicht ablenken lassen und denen man sich am besten beugt, wie wenn es Naturnotwendigkeiten wären. Ich kenne auch die Einwendung dagegen, dass solche Strebungen, die man für unüberwindbar hielt, oft im Laufe der Menschheitsgeschichte beiseite geworfen und durch andere ersetzt worden sind. So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, dass ich ihnen keinen Trost zu bringen weiss, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen."1 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einl. v. A. Lorenzer u. B. Görlich, Frankfurt am Main 1996; alle Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe, S. 31-108
Leidverhütung und Leidensschutz.
Sozial-psychologische Hinweise zu Sigmund Freuds
„Unbehagen in der Kultur" und einigen seiner praktischen Konsequenzen
Richard Albrecht
Anstatt eines Vorwortes und einer Zusammenfassung:
„Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist. Glücklich ist, wer vergißt, was nicht zu ändern ist." (Johann Strauß, Sohn, Die Fledermaus, 1874)
„Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei! Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai!" (Wallner/Feltz, 1942)
„Schlösser, die im Monde liegen, bringen Kummer, lieber Schatz. Um im Glück dich einzuwiegen, hast du auf der Erde Platz." (Heinrich Bolten-Baeckers, Frau Luna, 1899)
„Beim erstenmal, da tut's noch weh, da glaubt man noch, daß man es nie verwinden kann. Dann geht die Zeit, und peu ä peu gewöhnt man sich daran.' (Helmut Käutner, 1944)
I
,,Eine Wertung der menschlichen Kultur zu geben", so Sigmund Freud zusammenfassend, „liegt mir ... sehr ferne. Ich habe mich bemüht, das enthusiastische Vorurteil von mir abzuhalten, unsere Kultur sei das Kostbarste, was wir besitzen oder erwerben können, und ihr Weg müsse uns notwendigerweise zu Höhen ungeahnter Vollkommenheit fuhren. Ich kann wenigstens ohne Entrüstung den Kritiker anhören, der meint ..., man müsse zu dem Schlüsse kommen, die ganze Anstrengung sei nicht der Mühe wert und das Ergebnis könne nur ein Zustand sein, den der einzelne unerträglich finden muss. Meine Unparteilichkeit wird mir dadurch leicht, dass ich über all diese Dinge sehr wenig weiss, mit Sicherheit nur das eine, dass die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden, also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu stützen. Ich verstünde es sehr wohl, wenn jemand den zwangsläufigen Charakter der menschlichen Kultur hervorheben und z. B. sagen würde, die Neigung zur Einschränkung des Sexuallebens oder zur Durchsetzung des Humanitätsideals auf Kosten der natürlichen Auslese seien Entwicklungsrichtungen, die sich nicht abwenden und nicht ablenken lassen und denen man sich am besten beugt, wie wenn es Naturnotwendigkeiten wären. Ich kenne auch die Einwendung dagegen, dass solche Strebungen, die man für unüberwindbar hielt, oft im Laufe der Menschheitsgeschichte beiseite geworfen und durch andere ersetzt worden sind. So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, dass ich ihnen keinen Trost zu bringen weiss, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen."1
Soweit die allgemeine Schlußpassage aus Sigmund Freuds psychoanalytischer Deutung des „Unbehagens in der Kultur" (1930). Recht erstaunlich, daß diese Hinweise gerade so wenig von jenen Psycho- und Kulturwissenschaftlern beachtet und produktiv aufgearbeitet wurden, die Freud erweislich so viel verdanken: Alfred Lorenzer etwa bezieht sich gar nicht auf dieses „Unbehagen" bei der Begründung seines tiefenhermeneutischen Programms einer Kulturanalyse.2
Es blieb Klaus Ottomeyer aus Klagenfurt vorbehalten, in einer zweiteiligen Text-Aussagen-Montage „Freud und Marx" an Freuds so skeptische wie demütige Grundhaltung als Kulturtheoretiker zu erinnern.3
Sieht man von Ottomeyers „anderer Sozialpsychologie" ab, so scheint aktuell Freuds „Unbehagen in der Kultur" ein Anathema und der gleichnamige Freud-Essay derzeit wissenschaftlich non receptable. Dies verwundert mich in doppelter Weise: Einmal und wie hier exemplarisch aufzuzeigen sein wird vom generellen Inhalt und weiten kulturalen Ansatz her. Denn, so lautet meine Kernthese: Freuds Essaytext spricht zentrale Fragen unserer conditio humana im globalen Prozess von Enttraditionalisierung und Entbindung, von Rationalisierung und Verweltlichung (Säkularisierung), schließlich von „Entzaube-rung" der Welt (im Sinne des Soziologen Max Weber) und der schon 1930 erkennbar drohenden Tendenz zum Homicide, zur Selbstvernichtung der menschlichen Gattung an. Zum anderen halte ich formal/publizistisch gerade den „Kultur"-Essay des Autors Sigmund Freud, immerhin 1929/31 ein Mittsiebziger, dem 1930 der Frankfurter Goethepreis zugesprochen wurde, für den von der wirkungsstrategischen Anlage her gerade in seiner Altersabgeklärtheit und selbstbewußten Toleranz wohl lesbarsten Essay Freuds, der auch einen guten Zugang zum Gesamtwerk dieses Mentors der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts bieten kann, auch im Vergleich mit früheren Abhandlungen des Autors zur „Psychopathologie des Alltagslebens" (1898), „Traumdeutung" (1901) und „Sexualtheorie" (1905). Verglichen mit dem gefälligeren Material (nebst zahlreichen erzählten Beispielen) im Essay „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" (1905) ist der viel sprödere späte Essay „Das Unbehagen in der Kultur" (1929/31) auch wegen der vielen literarischen Anspielungen und gelegentlichen Zitate flüssiger geschrieben und leichter lesbar als die anderen genannten wissenschaftlichen Abhandlungen.
Nun will ich hier dieses doppelte Paradox, die Aufnahme und Wirksamkeit von Freuds spätem Kultur-Essay betreffend, nicht selbst tiefenhermeneutisch ausdeuten. So bleibt nur staunend anzumerken, daß und wie locker der Gelehrte Sigmund Freud seinen Grundgedanken des (auch zeitlich begrenzten) Charakters des Lustprinzips bei Goethe wiederfindet und in einer Fußnote notiert: „Goethe mahnt sogar: 'Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen.' Das mag immerhin eine Übertreibung sein" (S. 43).
Ganz ähnlich, wenn Freud nicht nur abstrakt-allgemein auf einen speziellen Sorgenbrecher, den Alkohol genannten flüssig-oralen, eingeht und ironisch an Wilhelm Buschs Aphorismus aus der „Frommen Helene" erinnert, der bekanntlich die Sorgen dialektisch angeht: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör" (S. 41).
II
Daß der Gelehrte Sigmund Freud nicht nur theoretisch um die Vernichtungskraft leidenschaftlichen Hasses wußte, sondern den Destruktionstrieb auch bei Heinrich Heine literarisiert wiederfand, veranschaulicht seine eigene kulturale Spannbreite und Gelassenheit, wenn er in einer weiteren Fußnote schreibt: „Ein großer Dichter darf sich gestatten, schwer verpönte psychologische Wahrheiten wenigstens scherzend zum Ausdruck zu bringen. So gesteht H. Heine: 'Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt - ja, man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.' (Heine, Gedanken und Einfälle)" (S. 75).4
Aus der langen Schlußpassage des Freud-Essay dürfte, wie eingangs zitiert, vielleicht deutlich werden, daß Sigmund Freud zum einen jenen der Position des Ethnologen vergleichbaren „Professional stranger" im Blick auf die westliche Zivilisation und ihre emotional-affektiven Grundlagen im 20. Jahrhundert zwischen den beiden Weltkriegen einnimmt und zum anderen sich nicht scheut, Tabus an- und ihre kulturale Unterfütterung etwa bei Fremdtötungswünschen auszusprechen. Dafür mag eine makabre Passage aus einem offensichtlich Freud nicht bekannten Poem des US-amerikanischen Lyrikers Robert Frost (1874 bis 1963) stehen. Dort geht es nämlich um die (doppelte) Möglichkeit des Homicides:
“Some say the world will end in fire, /Some say in ice. /From what I 've tasted of desire/ I hold with those who favour fire. / But if it had to perish twice, / I think I know enough of hate / To say that for destruction ice / Is also great / And would suffice."5
[...]
1 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einl. v. A. Lorenzer u. B. Görlich, Frankfurt am Main 1996; alle Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe, S. 31-108
2 König, Heinz-Dieter ; Lorenzer, Alfred u.a. (Hrsg.): Kulturanalysen, Frankfurt am Main 1986; 1988², S. 11-98
3 Ottomeyer, Klaus: Prinzip Neugier. Einführung in eine andere Sozialpsychologie; u. Mitarb. v. M. Wieser, Heidelberg 1992, S. 25-55
4 So entgeht Sigmund Freud der gerade unter Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftlern immer gegenwärtigen Gefahr des Plagiierens. Was möglicherweise bei diesen 'soft sciences' bisher noch die Ausnahme war, dürfte inzwischen in der neuen deutschen großen Medienszene die Regel und damit die vorherrschende Arbeitsweise zehntausender Apparatschicks westlichen Typs sein. Im erstgenanten Feld weiß auch ein so hochgebildeter wie geschätzter Soziologe wie René König nicht, daß selbst seine zutreffende Kommentierung des Sachverhalts nicht originell, sondern Franz Kafka nachgeredet ist: „Sociology is by no means always the pioneer in opening up new fields of knowledge, but most often it seeks to follow up and systematize the insights gained by poets and novelists" (Sketches by a Cosmopolitan German Sociologist, in: International Social Science Journal, vol. 25, 1973, no. l, p. 57). „Viele sogenannte Wissenschaftler transponieren die Welt des Dichters auf eine andere, wissenschaftliche Ebene und gelangen so zu Ruhm und Bedeutung" (Janouch, Gustav: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Frankfurt am Main 1968, S. 109).
5 Meine Eindeutschung lautet: „Die Welt wird enden durch das Feuer / Es heißt auch: durch das Eis. / Und mein Geschmack, nicht Euer / Der hält´s bevorzugt mit dem Feuer. / Doch wenn die Welt zwei Mal verschwinden müßte, / Hätt´ ich noch immer so viel Hass, / Daß ich ganz sicher wüßte: Es tat auch Eis. Das / Reichte mir für meine Lüste“
- Arbeit zitieren
- Dr. Richard Albrecht (Autor:in), 2005, Leidverhütung und Leidensschutz. Sozial-psychologische Hinweise zu Sigmund Freuds „Unbehagen in der Kultur" und einigen seiner praktischen Konsequenzen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34905
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